«Ich bin unversöhnlich und dickköpfig»

Samstag, 16. Mai 2015 V Nr. 111
LITERATUR UND KUNST
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Neuö Zürcör Zäitung
«Ich bin unversöhnlich und dickköpfig»
Ein Gespräch mit dem bosnischen Regisseur Emir Kusturica über Politik und seinen Hang, andere an der Nase herumzuführen
Der aus Sarajevo stammende Regisseur
Emir Kusturica gilt vielen als ausgekochter serbischer Nationalist. Im Gespräch
mit der aus Bosnien stammenden Historikerin Armina Galijaš und Andreas Ernst
zeigt sich, dass sein Verhältnis zu Nationalismus und seiner Heimat komplexer
ist, als seine Kritiker meinen.
Sie drehen derzeit einen neuen Film: «On the Milky
Road», eine Geschichte über Liebe und Krieg.
Das stimmt. Zudem organisiert die Firma im Küstendorf, auf Mokra Gora, ein Festival. Wir bringen die besten Autoren in die westserbischen
Berge und veranstalten einen Wettbewerb für
Filmstudenten. Für eine Woche machen wir ein
grosses Klassenzimmer. Ohne roten Teppich,
ohne Festivalrummel. Das ist der Zweck der Firma:
Jetzt, wo ich sechzig bin, will ich zurückgeben, was
ich mit Film und Musik verdient habe. Wir sind
auch dabei, eine Kunstakademie für Theater und
Film zu gründen, die im Oktober in Andrićgrad
eröffnet wird.
«On the Milky Road» hat Verspätung im Zeitplan.
Ja, wir arbeiten an dem Film schon seit zwei Jahren.
Grund für die Verspätung ist das Wetter. Wir drehen in der Herzegowina. Dort gab es im letzten
Sommer 45 Regentage. Ich gehöre zur alten
Schule: Bilder ohne Sonnenlicht werden nicht mit
Bildern mit Sonnenlicht zusammengeschnitten.
Aber dieses Jahr wird der Film fertig. Er fusst auf
einer afghanischen Geschichte, spielt aber in der
Herzegowina: Ein Soldat geht jeden Tag 20 Kilo-
«Ich arbeite seit 1983 mit Politikern zusammen. Diese Methode ist
nur fragwürdig, wenn das Resultat
nicht stimmt.»
meter mit dem Esel, um Milch für seine Kameraden zu holen. Auf dem Weg trifft er auf Schlangen
und gibt ihnen jedes Mal etwas Milch. Eines Tages
sagt man ihm, der Krieg sei aus. Auf dem Heimweg
umschlingt ihn die grösste Schlange. Er fürchtet,
erwürgt zu werden, aber sie lässt ihn nach einer
Weile los. Als er zu seinem Dorf kommt, findet er
alle Bewohner tot, massakriert. Die Schlange hat
ihm das Leben gerettet. Natürlich verkompliziere
ich die Geschichte, indem sich der Soldat in
Monica Bellucci verliebt. Sie spioniert für den serbischen Geheimdienst. Auch ein General verliebt
sich in sie. Der bringt dann seine Frau um, was verständlich ist, wenn man Monica sieht.
Sie drehten Filme mit Jerry Lewis, Faye Dunaway,
Johnny Depp, Monica Bellucci, spielten Fussball
mit Maradona, bauten ein Dorf auf der Mokra Gora
und in Višegrad die Kunststadt Andrićgrad auf einer
Halbinsel der Drina. Es scheint, als ob Sie Ihre Knabenträume verwirklichten.
Das war nicht vorprogrammiert. Ich bin ein Kind
aus der oberen Mittelschicht Sarajevos. Meine
Freunde kamen aus der Unterschicht der Vorstadt.
Wir waren eine Gang. Höhepunkt unserer Karriere
war die Plünderung eines Kiosks, wo wir Rasierklingen und Kaugummis klauten und verkauften,
um ans Meer zu fahren. Wir waren kleine Rebellen,
verachteten die Spiesser, die von 7 bis 15 Uhr
arbeiteten, dann ihre Suppe löffelten, am Abend
ins Hotel Europa gingen, um sich ein bisschen zu
betrinken, und am Ende des Tages Stress zu Hause
hatten. Dank dem besten Freund meines Vaters,
dem Regisseur Hajrudin Krvavac, besuchte ich in
Prag die Filmschule. Danach wurde ich überall gut
aufgenommen, im Westen wie im Osten. Ich hielt
mich immer an die bosnische Maxime: bloss nicht
blamieren. Ich muss gestehen, dass mir alles gelungen ist, was ich vorhatte. Ob das etwas damit zu tun
hat, dass ich ein Einzelkind war? Aber es gibt ja
auch Briefträger, die Einzelkinder sind.
Ihr Erfolg hat aber auch mit Politik zu tun.
Bei uns auf dem Balkan gibt es kein Drama ohne
Politik. Wenn Sie unsere wichtigsten Werke anschauen, Selimovićs «Die Festung», die Arbeiten
von Aca Popović oder Dušan Kovačević, bei allen
ist Politik ein Hauptmotiv. Das ist anders in der
Schweiz. Dort kann ein Drama rein individuellen
Charakter haben. Aber hier lässt sich das individuelle Bewusstsein nicht von der gesellschaftlichen
Lage trennen. Hier ist der Einzelne unzertrennlich
an seine «Herde» gebunden.
Politik spielt nicht nur in Ihren Filmen eine Rolle.
Sie haben immer wieder eng mit Politikern zusammengearbeitet.
Wenn man hier einen erfolgreichen Film drehen
will, kommt man an der Politik nicht vorbei. Viele
Ein Querkopf: Der bosnische Regisseur Emir Kusturica bezieht Stellung gegen die Vorwürfe, ein Nationalist zu sein.
Kulturschaffende machen den Fehler, dass sie die
Zusammenarbeit mit dem Staat einstellen, wenn
sie mit den Politikern nicht einverstanden sind. Das
ist dumm. Ich arbeite seit 1983 mit Politikern zusammen. Damals wandte ich mich an Cvijetin
Mijatović, den späteren Vorsitzenden des Präsidiums des sozialistischen Jugoslawien. Später gelangte ich an Milošević, Koštunica und Dodik.
Diese Methode ist nur fragwürdig, wenn das Resultat nicht stimmt.
Das ist ziemlich provokativ. Provokationen gehören
zu Ihrem Leben. Damit ist oft – verzeihen Sie – eine
Verarschung ihres Gegenübers verbunden.
So ist es (lacht). Aber ich habe immer ein klares
Bild von dem, was ich will. Für mich zählt das Ergebnis. Ob es um den Bau von Andrićgrad geht, ein
Buch oder einen Film. Mich erleichtert diese Verarschung irgendwie.
Nehmen wir den Baubeginn von Andrićgrad. Zu
den Klängen der «Carmina Burana» liessen Sie
Bagger auffahren. Diese vollführten mit ihren
Schaufeln und Ketten ein Ballett im Lehm. Die Füh-
rung der Republika Srpska war aufgereiht und
schaute dem Spektakel ehrfürchtig zu. Da haben Sie
sich amüsiert.
Ja, sehr.
Schon beeindruckend: Die Politiker sitzen da, geben
sich kunstsinnig und applaudieren. Schliesslich
haben sie bezahlt und wollen sich nicht blamieren.
Die werden doch verarscht.
(Lacht) Ich bin wie Gogol, der das Komische mit
dem Dämonischen verbindet. Ich amüsiere mich,
aber ich bin mir des Ernstes der Situation bewusst.
Aber die Politiker verstehen das nicht.
Sie sind, was sie sind. Aber meist reagieren sie sehr
positiv. Sie verstehen das schon. Sie sind nur für
vier oder acht Jahre da, aber mein Kulturzentrum
in Andrićgrad bleibt. Vor allem in kleinen Staaten
ist viel besser mit dem Staat zu arbeiten als mit den
Tycoons. Die sind nur am Profit interessiert.
Sprechen wir von Andrićgrad.
Ivo Andrić wuchs in Višegrad auf. Durchs Fenster
schaute er auf die Brücke und bewunderte sie. Als
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Emir Kusturica – erfolgreich und umstritten
ahn. V Emir Kusturica ist der erfolgreichste und umstrittenste zeitgenössische Regisseur aus dem ehemaligen Jugoslawien. Er wurde 1954 in Sarajevo in
eine säkulare muslimische Familie geboren und
schloss 1978 die Filmschule in Prag ab. Bereits seine
ersten Filme waren international erfolgreich. 1981
wurde «Do You Remember, Dolly Bell» in Venedig
als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet. Mit der Goldenen Palme von Cannes wurde «When Father Was
Away on Business» 1985 ausgezeichnet. Es folgten
«Time of the Gypsies» (1989), «Arizona Dream»
(1993, Silberner Bär an der Berlinale), «Black Cat,
White Cat» (1998, Silberner Löwe). 2007 veröffent-
lichte er einen Dokumentarfilm über Maradona.
Seit 2008 findet jährlich sein Küstendorf-Filmfestival in einem serbischen Bergdorf statt, dass er für
«Life Is a Miracle» (2004) aufgebaut hatte. 2014
stellte er Andrićgrad fertig: eine Kunststadt auf
einer Halbinsel bei Višegrad, die dem jugoslawischen Nobelpreisträger gewidmet ist. Die Kontroversen um Kusturica begannen nach 1993, als er mit
Geldern, die er von Milošević bekommen hatte, seinen Film «Underground» (1995) drehte, während in
Bosnien der Krieg tobte. Einen weiteren Höhepunkt
der Auseinandersetzung in Bosnien und Serbien
provozierte 2005 seine serbisch-orthodoxe Taufe.
DEREK HUDSON / PREMIUM ARCHIVE / GETTY
er ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war,
schrieb er, die Wege seiner Kindheit seien die wichtigsten Wege gewesen und das Traurigste in seinem
Leben die roten Teppiche, über die er gegangen sei.
Er verstand das bosnische Schicksal. Egal wie hoch
du fliegst, am Schluss bleibst du dem Weg der
Kindheit verbunden. Ich will das Ansehen dieses
Titanen für mein Kultur- und Ausbildungszentrum
nutzen. Es geht um Erziehung. Sie ist der einzige
Weg, um dem gegenseitigen Abschlachten hier ein
Ende zu setzen. Aus Višegrad wurden im letzten
Krieg alle Muslime ausgesiedelt . . .
. . . und umgebracht.
Viele wurden umgebracht, die meisten vertrieben.
In anderen Teilen Ostbosniens war es schlimmer.
Višegrad ist eine depressive Stadt, unter anderem
deshalb, weil es dort keine Muslime mehr gibt. Was
ist meine Idee? Ich will diesen Dickschädeln, die
sich an die Entstehung der Welt erinnern können
und an alle Konflikte seither, etwas anbieten gegen
die Depression. Damit sie sich nicht wieder abschlachten. In jedem dieser Menschen stecken so
viele Kontroversen. Sie brauchen in Bosnien keine
verschiedenen ethnischen Gruppen, um diese
Spannung zu provozieren. Diese Wut hat nichts mit
den verschiedenen Religionen zu tun. Andrić beschreibt das: tief begraben wie in einem Berg, sedimentierte Wut. Wenn sie hochkommt, ist das wie
ein Feuerstoss. Meine Rückkehr nach Bosnien geschieht auf dieser Halbinsel in Višegrad. Hier will
ich etwas Gutes schaffen. Ich werde in Bosnien für
alles angegriffen, was ich nicht getan habe. Das
Schlimmste, was sie sagen: Ich hätte mit Milošević
Whisky getrunken, als Srebrenica fiel. Das ist total
verrückt und komplett erfunden.
Bleiben wir bei Andrićgrad. Ich habe dort das
grosse Wandmosaik angeschaut. Abgebildet ist ein
Tauziehen: Sie ziehen zusammen mit dem PräsidenFortsetzung auf Seite 58
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Fortsetzung von Seite 57
Emir Kusturica
im Gespräch
ten der Republika Srpska, Milorad Dodik, Chuck
Norris und ein paar andern am gleichen Strick.
Aber wenn man genau hinschaut, sieht man: Nur die
andern legen sich ins Zeug.
(Lacht laut) Ich verarsche? Nun, wenn Sie meinen.
Ich stehe daneben und schaue ein bisschen zu.
Den grössten Kampf um Andrićgrad hatte ich mit
den Višegradern, unglaublich. Aber jetzt haben
diese Provinzler ein Kaffeehaus in Andrićgrad,
das aussieht wie ein Kaffeehaus in Dubrovnik. Sie
sehen Menschen, die vorher nie den Fuss nach
Višegrad gesetzt hätten. Sie haben jetzt im Herzen
der Stadt einen türkischen Teil mit einem Minarett. Fünftausend islamische Gemeinschaften wären nicht in der Lage gewesen, das dort zu bauen.
Ich habe es gemacht. Ich werde auch ein Denkmal
aufstellen: Mehmed Paša Sokolović umarmt seinen Bruder Makarije, den serbischen Patriarchen
von Peć. Wenn unsere Völker nicht gemischt
leben, sind sie nicht gut, das hat sich gezeigt.
Schauen Sie Sarajevo an. Die Stadt täuscht multiethnisches Leben nur vor.
2005 liessen Sie sich serbisch-orthodox taufen. Warum sind Ihnen diese Identitäten so wichtig?
Ich habe meine Herkunft gesucht, als meine Mutter starb und mein Vater schon tot war. Für die in
Sarajevo bin ich ein Verräter. Ich wollte damals
«Das Schlimmste, was sie sagen:
Ich hätte mit Milošević Whisky
getrunken, als Srebrenica fiel. Das
ist total verrückt und erfunden.»
einfach wissen, wo ich hingehöre. Es war ein
Drang, wie nach Hygiene. Ich habe das dann
schnell abgeschlossen. Aber nun galt ich als schuldig, weil ich nach meiner Identität gesucht hatte.
Aber warum brauchen Sie diese klar definierte
Identität? Sie und ich kommen aus ähnlichen Verhältnissen. Wir wuchsen in Familien auf, in denen
der Islam kulturell präsent war, aber nicht praktiziert wurde. Ich wuchs wie Sie auf mit Schriftstellern wie Miloš Crnjanski, Ivo Andrić und Danilo
Kiš. Aber ich habe kein Bedürfnis, mich ethnisch
zu definieren.
Sie waren eben nie Zielscheibe, wie ich es war,
zwanzig Jahre lang. Und ich bin, wie ich bin: unversöhnlich, zielstrebig und dickköpfig. Man wirft
mir vor, ich hätte den Glauben gewechselt, auch
das stimmt nicht. Ich hatte nie einen Glauben. Ich
liess mich nur taufen, um zu wissen, wo ich begraben werde.
Hat Sarajevo Ihnen etwas zu vergeben?
Was sollen sie mir vergeben? Da ist nichts zu vergeben. Wie soll ich beweisen, dass ich etwas nicht
gemacht habe?
Haben Sie sich eingesetzt für die Menschen in Sarajevo während des Krieges?
Es stimmt, ich habe nicht laut aufgeschrien. Aber
ich habe gewarnt, als es losging. Ich habe in «Le
Monde» geschrieben, dass meine Stadt angegriffen
wird und brennt. Ich habe auch gesagt, dass Alija
Izetbegović ein General ohne Armee sei. Dann
schrieb ich noch einige Artikel, bis ich begriff, dass
das total sinnlos ist. Wenn du nicht bereit bist, selber in den Krieg zu ziehen, schweig besser.
Ich komme aus Banja Luka. Meine Geschichte hat
einen ähnlichen Anfang, aber einen andern Schluss.
Ich musste auch weg von zu Hause, denn in Banja
Luka wurde es äusserst unangenehm. Aber jetzt
gehe ich trotzdem wieder hin.
Banja Luka ist etwas anderes als Sarajevo, meine
Liebe.
Herbert Meier
Der Apfelbaum,
ergraut, erinnert sich
Der Apfelbaum, ergraut, erinnert sich,
wie einst in Sommertagen
in seinem Schatten Liebende sich
küssten.
Er hat noch diesen Wunsch,
sie möchten doch nicht liebesarm
geworden sein.
Neuö Zürcör Zäitung
Samstag, 16. Mai 2015 V Nr. 111
Wenn die Sonne nicht wiederkommt
«Die Schleierkarawane» – Ismail Kadares osmanische Erzählungen zeigen seine alterslose Meisterschaft
Andreas Breitenstein V Viel, sehr viel Wasser ist
die Drina hinuntergeflossen, seit Ivo Andrić 1945
seinen epochalen Roman über die steinerne Brücke bei Višegrad veröffentlichte, für den er 1961
den Literaturnobelpreis bekam. Und natürlich
kam später wieder eine Zeit, da der Fluss an der
Grenze zwischen Bosnien und Serbien Blut und
Leichen mit sich führte – wie so oft in den Jahrhunderten zuvor, da das elfbogige Bauwerk die Naht
zwischen Orient und Okzident, islamischer und
christlicher Welt darstellte. Von Glück und Grauen, Macht und Wahn erzählt das Buch mit empathischem Blick für das Los der Menschen. Die Brücke
als Zentralmetapher wird zum Metronom des Aufstiegs und Falls der Imperien. Es sind versunkene
Welten, die Andrićs grandiose Chronik in episodischer Manier mythisch aufleuchten lässt.
Es ist, als habe Andrić in seiner märchenhaftfabulierenden Art zu erzählen damals einen gelehrigen Schüler gefunden. Seit den frühen sechziger
Jahren erreichen uns Nachrichten von der Welt
südlich der Drina aus der Feder des Albaners
Ismail Kadare. Vom Mittelalter über die osmanische Besatzung und die Nationswerdung bis zum
Kommunismus zeichnet Kadares Œuvre zwischen
Realismus und Phantastik, Historie und Legende
die Träume und Albträume seiner einsamen Heimat nach, wobei die parabelhafte Struktur seiner
Geschichten immer wieder darauf abzielt, die
Gegenwart kritisch zu kommentieren.
Allerdings bewegte sich Kadare allzu lange im
Dunst- und Gunstkreis des Diktators Enver Hoxha, um aus den Zeiten des stalinistischen Terrors
unbeschädigt hervorzugehen. Nicht nur versäumte
er es, während der politischen Wende von 1989
moralische Führung zu übernehmen, er vermochte
auch später seine Rolle im Gewaltstaat nie richtig
transparent zu machen. Es ist – neben einem gewissen Hang zum Nationalismus – dieses Versagen,
das den heute 79-jährigen Autor wohl den Nobelpreis kosten wird. Daran, dass seine stupende literarische Kunst diese höchste Auszeichnung verdient hätte, kann kein Zweifel bestehen.
Zweigeteilte menschliche Rasse
Es ehrt den S.-Fischer-Verlag, dass er die einst von
Egon Ammann begonnene Ausgabe von Ismail
Kadares Werken getreulich weiterführt. Mit den
Erzählungen «Die Schleierkarawane» legt er in der
tadellosen Übersetzung von Joachim Röhm einen
Band vor, der erstmals 1987 in der DDR das Licht
der deutschen Sprache erblickte. Mehr als dreissig
Jahre alt sind diese Stücke über das Schicksal Albaniens unter der osmanischen Herrschaft bis 1912,
und das Frappierende an ihnen ist zunächst, dass
sie keinerlei Patina angesetzt haben. Insbesondere
die im 15. Jahrhundert spielende Titelerzählung
aus dem Jahr 1983 über das Dekret, dass alle
Frauen auf dem neu eroberten Balkan zum Zwecke der Islamisierung zu verhüllen seien, liest sich
wie ein bös-ironischer Kommentar zu den notorischen Debatten über Sinn und Schrecken, Selbstwahl und Zwang, Militanz und Unschuld der Kopfbedeckung muslimischer Frauen in den modernen
westlichen Gesellschaften.
Wo die Verbannung erotischer Weiblichkeit aus
der Öffentlichkeit am Bosporus so selbstverständlich zum Dasein gehört wie die Nacht zum Tag,
offenbart sich dem bewährten Karawanenführer
und stolzen Beamten Hadschi Milet in Albanien
eine andere Wirklichkeit. Er hat den Auftrag gefasst, mit einer Maultierkarawane eine halbe Million in Ballen verpackte schwarze «Gesichts- und
Körperschleier zur Verhüllung der Frauen» auf
den Balkan zu spedieren. Dem tuschelnden Volk in
der osmanischen Hauptstadt ist es nur recht, dass
die «bisher unverhüllten europäischen Dämchen»,
die ihre «Geschlechtsgenossinnen im Osten» verlacht haben, auch leiden sollen – nach der Weisheit
Allahs, wonach die «menschliche Rasse aus zwei
Teilen [besteht]: einem verhüllten und einem unverhüllten». «Monumental, von trauriger Feierlichkeit wie bei einem Leichenbegängnis» ist die
Kabinettssitzung, in der das Dekret ergeht, dass
Griechinnen, Bulgarinnen, Albanerinnen, Bosnierinnen und Ungarinnen fortan «vor ihrem eigenen
Teufel» geschützt werden sollen.
Geleitschutz besitzt Hadschi Milet für die «terra
incognita» des Balkans, doch hat er von Anfang an
ein mulmiges Gefühl, denn er weiss, dass die Lieferung eine Mission ist. Schlaflosigkeit plagt ihn nach
einer Tagesreise am Kontrollpunkt Orman Ciftlig,
an dem zwingend alle übernachten müssen, die sich
in die Fremde begeben. Doch dann beschwingt ihn
das «schaumige Licht» des Westens und verwirrt
ihn der Anblick der Kirchen (zum Glück finden
sich auch Minarette), und bald wird ihm an einer
Quelle die Entdeckung des Unfassbaren zuteil:
«Frauenaugen am hellen Tag», «Mädchen und
Frauen mit unterschiedlicher Haartracht, Hälse
und Beine unverhüllt, vor allem aber mit entblössten Gesichtern». Plötzlich ist alles nicht mehr es
selbst: «Die Welt hatte sich verändert. Es war, als
Radikal reizlos – Muslimin in einem Fotostudio im bosnischen Mostar, um 1880.
erwache man eines Morgens im Licht zweier Sonnen . . . Er konnte den Blick gar nicht mehr abwenden. Das also waren die Balkanesinnen. Das düstere Raunen Tausender brünetter Frauen seines
Landes zog in seiner Erinnerung auf wie eine
schwarze Wolke.»
Hin und her gerissen ist Hadschi Milet von nun
an – zwischen Sein und Sollen, Wissen und Glauben, Wünschen und Gehorchen. Er hat sich neu
verliebt ins Leben und in die Welt, doch obsiegt am
Ende die Beamtenpflicht, die «Karawane der Errettung» (!) zu einem guten Ende zu führen. Als er
mit dem Trotz des Aufrechten und der Trauer des
Gebeugten Albanien wieder verlässt, kann er bereits erkennen, wie das Verschleierungsgebot der
Hohen Pforte, der «Feredscheferman», Trostlosigkeit über das Land gebracht hat. Kaum noch
Frauen sind auf den Strassen zu sehen, alles scheint
unter einem Fluch erstarrt. Über der neuen «grossen Dunkelheit» verliert der Händler die Fassung
und schier den Verstand. Hadschi Milet gerät «die
Verfinsterung der Frauen» selbst zum Verderben,
als seine nächtliche Unruhe am Kontrollpunkt Verdacht weckt – die Folgen sind mörderisch.
Perversionen der Macht
Mit stupender Wort- und Bildkraft, profundem historischem Wissen und Sinn für das Tragische, aber
auch Abgründig-Komische der Vorgänge bringt
Ismail Kadare eine vergessene Episode aus dem
Innern des ewigen albanischen Unglücks zum
Leuchten, wobei die politische Kritik neben dem
islamkritischen Impetus auf jede Art von System
zielt, dessen Herrschaft auf Paranoia und Angst,
Opportunismus und Denunziation, Überwachung
und Gewalt beruht. Was die dichte Beschreibung
der Dämonie kommunistischer Systeme angeht,
steht die Kunst Kadares immer noch ziemlich einsam da – vielleicht deswegen, weil die bedeutungsoffene Form der Parabel hervorragend geeignet ist,
das Surreale einer totalitär formatierten Lebenswelt zu fassen, in der keiner jemals sicher weiss, ob
er dem anderen vertrauen kann oder nicht.
Dass Kadare auch ein Meister des Suspense ist,
zeigt die Erzählung «Der Festausschuss» von 1977,
der eine wahre Begebenheit zugrunde liegt. Nachdem es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Albanien
ROGER VIOLLET / KEYSTONE
und anderen Balkan-Gegenden zu Aufständen
gegen die osmanische Herrschaft gekommen war,
schwenkte der Sultan scheinbar auf einen Friedenskurs um. 1830 liess er 1000 albanische Würdenträger unter dem Vorwand, ein grosses Versöhnungsfest ausrichten zu wollen, nach Monastir im
heutigen Mazedonien einladen – und, sobald sie
auf der Leimrute sassen, bestialisch abschlachten.
Nichts ahnt der Leser von dieser Ungeheuerlichkeit, wenn er zu Beginn aus dem pathetischblumig, despotisch-sanft gehaltenen Rundschreiben des Sultans Mahmud II. erfährt, dass Albanien
«ein kostbarer Teil unseres Staates, ein Juwel in der
kaiserlich osmanischen Krone» sei und entsprechende Wertschätzung verdiene. Es gilt daher, den
«süssen Frieden» feierlich zu besiegeln, was die
kaiserliche Bürokratie und das Kaiserliche Protokollamt nicht nur der komplexen Organisation
wegen, sondern auch im Kampf gegen den eigenen
Byzantinismus auf Trab hält. Erzählt wird aus der
beflissen-dummen, blind-eitlen, banal-dämonischen Mitte des Machtapparates – mit heiterer Ironie und absurdem Witz. Der Kampf zwischen den
diversen Vorsitzenden der diversen Ausschüsse
und Unterausschüsse, der Rausch der eigenen
Wichtigkeit und die Besessenheit, die Vorgaben
am besten zu erfüllen, artet so aus, dass keiner Verdacht schöpft. Der Furor der Subalternen war Teil
des Plans, weshalb diese über die jähe Schicksalswende nicht weniger schockiert sind als der Leser.
Es fügt sich sodann hinzu «Das Geschlecht der
Hankonen», ein etwas additiv wirkender MiniaturRoman, der in einem grossen, 200 Jahre umfassenden Bilderbogen lakonisch-melancholisch die Geschichte einer Familie aus Kadares Heimatstadt
Gjirokastra schildert, deren Dasein der «Faden des
Wahnsinns» eingewoben ist. Aus anfangs verachteten Ortsfremden, deren Stammhalter sich durch
einen Meineid Grund und Boden angeeignet hat,
wird am Ende eine honorige Sippschaft, was sich in
der Zahl ihrer Gräber auf dem Friedhof spiegelt.
Was bei Kadare immer auch spielt, ist das Lied vom
Tod. Keiner entgeht ihm, weder der Mächtige noch
der Ohnmächtige – dagegen hält nur die Kunst.
Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Erzählungen. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2015.
208 S., Fr. 29.90.