Samstag, 16. Mai 2015 V Nr. 111 LITERATUR UND KUNST 57 Neuö Zürcör Zäitung «Ich bin unversöhnlich und dickköpfig» Ein Gespräch mit dem bosnischen Regisseur Emir Kusturica über Politik und seinen Hang, andere an der Nase herumzuführen Der aus Sarajevo stammende Regisseur Emir Kusturica gilt vielen als ausgekochter serbischer Nationalist. Im Gespräch mit der aus Bosnien stammenden Historikerin Armina Galijaš und Andreas Ernst zeigt sich, dass sein Verhältnis zu Nationalismus und seiner Heimat komplexer ist, als seine Kritiker meinen. Sie drehen derzeit einen neuen Film: «On the Milky Road», eine Geschichte über Liebe und Krieg. Das stimmt. Zudem organisiert die Firma im Küstendorf, auf Mokra Gora, ein Festival. Wir bringen die besten Autoren in die westserbischen Berge und veranstalten einen Wettbewerb für Filmstudenten. Für eine Woche machen wir ein grosses Klassenzimmer. Ohne roten Teppich, ohne Festivalrummel. Das ist der Zweck der Firma: Jetzt, wo ich sechzig bin, will ich zurückgeben, was ich mit Film und Musik verdient habe. Wir sind auch dabei, eine Kunstakademie für Theater und Film zu gründen, die im Oktober in Andrićgrad eröffnet wird. «On the Milky Road» hat Verspätung im Zeitplan. Ja, wir arbeiten an dem Film schon seit zwei Jahren. Grund für die Verspätung ist das Wetter. Wir drehen in der Herzegowina. Dort gab es im letzten Sommer 45 Regentage. Ich gehöre zur alten Schule: Bilder ohne Sonnenlicht werden nicht mit Bildern mit Sonnenlicht zusammengeschnitten. Aber dieses Jahr wird der Film fertig. Er fusst auf einer afghanischen Geschichte, spielt aber in der Herzegowina: Ein Soldat geht jeden Tag 20 Kilo- «Ich arbeite seit 1983 mit Politikern zusammen. Diese Methode ist nur fragwürdig, wenn das Resultat nicht stimmt.» meter mit dem Esel, um Milch für seine Kameraden zu holen. Auf dem Weg trifft er auf Schlangen und gibt ihnen jedes Mal etwas Milch. Eines Tages sagt man ihm, der Krieg sei aus. Auf dem Heimweg umschlingt ihn die grösste Schlange. Er fürchtet, erwürgt zu werden, aber sie lässt ihn nach einer Weile los. Als er zu seinem Dorf kommt, findet er alle Bewohner tot, massakriert. Die Schlange hat ihm das Leben gerettet. Natürlich verkompliziere ich die Geschichte, indem sich der Soldat in Monica Bellucci verliebt. Sie spioniert für den serbischen Geheimdienst. Auch ein General verliebt sich in sie. Der bringt dann seine Frau um, was verständlich ist, wenn man Monica sieht. Sie drehten Filme mit Jerry Lewis, Faye Dunaway, Johnny Depp, Monica Bellucci, spielten Fussball mit Maradona, bauten ein Dorf auf der Mokra Gora und in Višegrad die Kunststadt Andrićgrad auf einer Halbinsel der Drina. Es scheint, als ob Sie Ihre Knabenträume verwirklichten. Das war nicht vorprogrammiert. Ich bin ein Kind aus der oberen Mittelschicht Sarajevos. Meine Freunde kamen aus der Unterschicht der Vorstadt. Wir waren eine Gang. Höhepunkt unserer Karriere war die Plünderung eines Kiosks, wo wir Rasierklingen und Kaugummis klauten und verkauften, um ans Meer zu fahren. Wir waren kleine Rebellen, verachteten die Spiesser, die von 7 bis 15 Uhr arbeiteten, dann ihre Suppe löffelten, am Abend ins Hotel Europa gingen, um sich ein bisschen zu betrinken, und am Ende des Tages Stress zu Hause hatten. Dank dem besten Freund meines Vaters, dem Regisseur Hajrudin Krvavac, besuchte ich in Prag die Filmschule. Danach wurde ich überall gut aufgenommen, im Westen wie im Osten. Ich hielt mich immer an die bosnische Maxime: bloss nicht blamieren. Ich muss gestehen, dass mir alles gelungen ist, was ich vorhatte. Ob das etwas damit zu tun hat, dass ich ein Einzelkind war? Aber es gibt ja auch Briefträger, die Einzelkinder sind. Ihr Erfolg hat aber auch mit Politik zu tun. Bei uns auf dem Balkan gibt es kein Drama ohne Politik. Wenn Sie unsere wichtigsten Werke anschauen, Selimovićs «Die Festung», die Arbeiten von Aca Popović oder Dušan Kovačević, bei allen ist Politik ein Hauptmotiv. Das ist anders in der Schweiz. Dort kann ein Drama rein individuellen Charakter haben. Aber hier lässt sich das individuelle Bewusstsein nicht von der gesellschaftlichen Lage trennen. Hier ist der Einzelne unzertrennlich an seine «Herde» gebunden. Politik spielt nicht nur in Ihren Filmen eine Rolle. Sie haben immer wieder eng mit Politikern zusammengearbeitet. Wenn man hier einen erfolgreichen Film drehen will, kommt man an der Politik nicht vorbei. Viele Ein Querkopf: Der bosnische Regisseur Emir Kusturica bezieht Stellung gegen die Vorwürfe, ein Nationalist zu sein. Kulturschaffende machen den Fehler, dass sie die Zusammenarbeit mit dem Staat einstellen, wenn sie mit den Politikern nicht einverstanden sind. Das ist dumm. Ich arbeite seit 1983 mit Politikern zusammen. Damals wandte ich mich an Cvijetin Mijatović, den späteren Vorsitzenden des Präsidiums des sozialistischen Jugoslawien. Später gelangte ich an Milošević, Koštunica und Dodik. Diese Methode ist nur fragwürdig, wenn das Resultat nicht stimmt. Das ist ziemlich provokativ. Provokationen gehören zu Ihrem Leben. Damit ist oft – verzeihen Sie – eine Verarschung ihres Gegenübers verbunden. So ist es (lacht). Aber ich habe immer ein klares Bild von dem, was ich will. Für mich zählt das Ergebnis. Ob es um den Bau von Andrićgrad geht, ein Buch oder einen Film. Mich erleichtert diese Verarschung irgendwie. Nehmen wir den Baubeginn von Andrićgrad. Zu den Klängen der «Carmina Burana» liessen Sie Bagger auffahren. Diese vollführten mit ihren Schaufeln und Ketten ein Ballett im Lehm. Die Füh- rung der Republika Srpska war aufgereiht und schaute dem Spektakel ehrfürchtig zu. Da haben Sie sich amüsiert. Ja, sehr. Schon beeindruckend: Die Politiker sitzen da, geben sich kunstsinnig und applaudieren. Schliesslich haben sie bezahlt und wollen sich nicht blamieren. Die werden doch verarscht. (Lacht) Ich bin wie Gogol, der das Komische mit dem Dämonischen verbindet. Ich amüsiere mich, aber ich bin mir des Ernstes der Situation bewusst. Aber die Politiker verstehen das nicht. Sie sind, was sie sind. Aber meist reagieren sie sehr positiv. Sie verstehen das schon. Sie sind nur für vier oder acht Jahre da, aber mein Kulturzentrum in Andrićgrad bleibt. Vor allem in kleinen Staaten ist viel besser mit dem Staat zu arbeiten als mit den Tycoons. Die sind nur am Profit interessiert. Sprechen wir von Andrićgrad. Ivo Andrić wuchs in Višegrad auf. Durchs Fenster schaute er auf die Brücke und bewunderte sie. Als ...................................................................................................................................................................................................................... Emir Kusturica – erfolgreich und umstritten ahn. V Emir Kusturica ist der erfolgreichste und umstrittenste zeitgenössische Regisseur aus dem ehemaligen Jugoslawien. Er wurde 1954 in Sarajevo in eine säkulare muslimische Familie geboren und schloss 1978 die Filmschule in Prag ab. Bereits seine ersten Filme waren international erfolgreich. 1981 wurde «Do You Remember, Dolly Bell» in Venedig als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet. Mit der Goldenen Palme von Cannes wurde «When Father Was Away on Business» 1985 ausgezeichnet. Es folgten «Time of the Gypsies» (1989), «Arizona Dream» (1993, Silberner Bär an der Berlinale), «Black Cat, White Cat» (1998, Silberner Löwe). 2007 veröffent- lichte er einen Dokumentarfilm über Maradona. Seit 2008 findet jährlich sein Küstendorf-Filmfestival in einem serbischen Bergdorf statt, dass er für «Life Is a Miracle» (2004) aufgebaut hatte. 2014 stellte er Andrićgrad fertig: eine Kunststadt auf einer Halbinsel bei Višegrad, die dem jugoslawischen Nobelpreisträger gewidmet ist. Die Kontroversen um Kusturica begannen nach 1993, als er mit Geldern, die er von Milošević bekommen hatte, seinen Film «Underground» (1995) drehte, während in Bosnien der Krieg tobte. Einen weiteren Höhepunkt der Auseinandersetzung in Bosnien und Serbien provozierte 2005 seine serbisch-orthodoxe Taufe. DEREK HUDSON / PREMIUM ARCHIVE / GETTY er ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war, schrieb er, die Wege seiner Kindheit seien die wichtigsten Wege gewesen und das Traurigste in seinem Leben die roten Teppiche, über die er gegangen sei. Er verstand das bosnische Schicksal. Egal wie hoch du fliegst, am Schluss bleibst du dem Weg der Kindheit verbunden. Ich will das Ansehen dieses Titanen für mein Kultur- und Ausbildungszentrum nutzen. Es geht um Erziehung. Sie ist der einzige Weg, um dem gegenseitigen Abschlachten hier ein Ende zu setzen. Aus Višegrad wurden im letzten Krieg alle Muslime ausgesiedelt . . . . . . und umgebracht. Viele wurden umgebracht, die meisten vertrieben. In anderen Teilen Ostbosniens war es schlimmer. Višegrad ist eine depressive Stadt, unter anderem deshalb, weil es dort keine Muslime mehr gibt. Was ist meine Idee? Ich will diesen Dickschädeln, die sich an die Entstehung der Welt erinnern können und an alle Konflikte seither, etwas anbieten gegen die Depression. Damit sie sich nicht wieder abschlachten. In jedem dieser Menschen stecken so viele Kontroversen. Sie brauchen in Bosnien keine verschiedenen ethnischen Gruppen, um diese Spannung zu provozieren. Diese Wut hat nichts mit den verschiedenen Religionen zu tun. Andrić beschreibt das: tief begraben wie in einem Berg, sedimentierte Wut. Wenn sie hochkommt, ist das wie ein Feuerstoss. Meine Rückkehr nach Bosnien geschieht auf dieser Halbinsel in Višegrad. Hier will ich etwas Gutes schaffen. Ich werde in Bosnien für alles angegriffen, was ich nicht getan habe. Das Schlimmste, was sie sagen: Ich hätte mit Milošević Whisky getrunken, als Srebrenica fiel. Das ist total verrückt und komplett erfunden. Bleiben wir bei Andrićgrad. Ich habe dort das grosse Wandmosaik angeschaut. Abgebildet ist ein Tauziehen: Sie ziehen zusammen mit dem PräsidenFortsetzung auf Seite 58 58 LITERATUR UND KUNST Fortsetzung von Seite 57 Emir Kusturica im Gespräch ten der Republika Srpska, Milorad Dodik, Chuck Norris und ein paar andern am gleichen Strick. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man: Nur die andern legen sich ins Zeug. (Lacht laut) Ich verarsche? Nun, wenn Sie meinen. Ich stehe daneben und schaue ein bisschen zu. Den grössten Kampf um Andrićgrad hatte ich mit den Višegradern, unglaublich. Aber jetzt haben diese Provinzler ein Kaffeehaus in Andrićgrad, das aussieht wie ein Kaffeehaus in Dubrovnik. Sie sehen Menschen, die vorher nie den Fuss nach Višegrad gesetzt hätten. Sie haben jetzt im Herzen der Stadt einen türkischen Teil mit einem Minarett. Fünftausend islamische Gemeinschaften wären nicht in der Lage gewesen, das dort zu bauen. Ich habe es gemacht. Ich werde auch ein Denkmal aufstellen: Mehmed Paša Sokolović umarmt seinen Bruder Makarije, den serbischen Patriarchen von Peć. Wenn unsere Völker nicht gemischt leben, sind sie nicht gut, das hat sich gezeigt. Schauen Sie Sarajevo an. Die Stadt täuscht multiethnisches Leben nur vor. 2005 liessen Sie sich serbisch-orthodox taufen. Warum sind Ihnen diese Identitäten so wichtig? Ich habe meine Herkunft gesucht, als meine Mutter starb und mein Vater schon tot war. Für die in Sarajevo bin ich ein Verräter. Ich wollte damals «Das Schlimmste, was sie sagen: Ich hätte mit Milošević Whisky getrunken, als Srebrenica fiel. Das ist total verrückt und erfunden.» einfach wissen, wo ich hingehöre. Es war ein Drang, wie nach Hygiene. Ich habe das dann schnell abgeschlossen. Aber nun galt ich als schuldig, weil ich nach meiner Identität gesucht hatte. Aber warum brauchen Sie diese klar definierte Identität? Sie und ich kommen aus ähnlichen Verhältnissen. Wir wuchsen in Familien auf, in denen der Islam kulturell präsent war, aber nicht praktiziert wurde. Ich wuchs wie Sie auf mit Schriftstellern wie Miloš Crnjanski, Ivo Andrić und Danilo Kiš. Aber ich habe kein Bedürfnis, mich ethnisch zu definieren. Sie waren eben nie Zielscheibe, wie ich es war, zwanzig Jahre lang. Und ich bin, wie ich bin: unversöhnlich, zielstrebig und dickköpfig. Man wirft mir vor, ich hätte den Glauben gewechselt, auch das stimmt nicht. Ich hatte nie einen Glauben. Ich liess mich nur taufen, um zu wissen, wo ich begraben werde. Hat Sarajevo Ihnen etwas zu vergeben? Was sollen sie mir vergeben? Da ist nichts zu vergeben. Wie soll ich beweisen, dass ich etwas nicht gemacht habe? Haben Sie sich eingesetzt für die Menschen in Sarajevo während des Krieges? Es stimmt, ich habe nicht laut aufgeschrien. Aber ich habe gewarnt, als es losging. Ich habe in «Le Monde» geschrieben, dass meine Stadt angegriffen wird und brennt. Ich habe auch gesagt, dass Alija Izetbegović ein General ohne Armee sei. Dann schrieb ich noch einige Artikel, bis ich begriff, dass das total sinnlos ist. Wenn du nicht bereit bist, selber in den Krieg zu ziehen, schweig besser. Ich komme aus Banja Luka. Meine Geschichte hat einen ähnlichen Anfang, aber einen andern Schluss. Ich musste auch weg von zu Hause, denn in Banja Luka wurde es äusserst unangenehm. Aber jetzt gehe ich trotzdem wieder hin. Banja Luka ist etwas anderes als Sarajevo, meine Liebe. Herbert Meier Der Apfelbaum, ergraut, erinnert sich Der Apfelbaum, ergraut, erinnert sich, wie einst in Sommertagen in seinem Schatten Liebende sich küssten. Er hat noch diesen Wunsch, sie möchten doch nicht liebesarm geworden sein. Neuö Zürcör Zäitung Samstag, 16. Mai 2015 V Nr. 111 Wenn die Sonne nicht wiederkommt «Die Schleierkarawane» – Ismail Kadares osmanische Erzählungen zeigen seine alterslose Meisterschaft Andreas Breitenstein V Viel, sehr viel Wasser ist die Drina hinuntergeflossen, seit Ivo Andrić 1945 seinen epochalen Roman über die steinerne Brücke bei Višegrad veröffentlichte, für den er 1961 den Literaturnobelpreis bekam. Und natürlich kam später wieder eine Zeit, da der Fluss an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien Blut und Leichen mit sich führte – wie so oft in den Jahrhunderten zuvor, da das elfbogige Bauwerk die Naht zwischen Orient und Okzident, islamischer und christlicher Welt darstellte. Von Glück und Grauen, Macht und Wahn erzählt das Buch mit empathischem Blick für das Los der Menschen. Die Brücke als Zentralmetapher wird zum Metronom des Aufstiegs und Falls der Imperien. Es sind versunkene Welten, die Andrićs grandiose Chronik in episodischer Manier mythisch aufleuchten lässt. Es ist, als habe Andrić in seiner märchenhaftfabulierenden Art zu erzählen damals einen gelehrigen Schüler gefunden. Seit den frühen sechziger Jahren erreichen uns Nachrichten von der Welt südlich der Drina aus der Feder des Albaners Ismail Kadare. Vom Mittelalter über die osmanische Besatzung und die Nationswerdung bis zum Kommunismus zeichnet Kadares Œuvre zwischen Realismus und Phantastik, Historie und Legende die Träume und Albträume seiner einsamen Heimat nach, wobei die parabelhafte Struktur seiner Geschichten immer wieder darauf abzielt, die Gegenwart kritisch zu kommentieren. Allerdings bewegte sich Kadare allzu lange im Dunst- und Gunstkreis des Diktators Enver Hoxha, um aus den Zeiten des stalinistischen Terrors unbeschädigt hervorzugehen. Nicht nur versäumte er es, während der politischen Wende von 1989 moralische Führung zu übernehmen, er vermochte auch später seine Rolle im Gewaltstaat nie richtig transparent zu machen. Es ist – neben einem gewissen Hang zum Nationalismus – dieses Versagen, das den heute 79-jährigen Autor wohl den Nobelpreis kosten wird. Daran, dass seine stupende literarische Kunst diese höchste Auszeichnung verdient hätte, kann kein Zweifel bestehen. Zweigeteilte menschliche Rasse Es ehrt den S.-Fischer-Verlag, dass er die einst von Egon Ammann begonnene Ausgabe von Ismail Kadares Werken getreulich weiterführt. Mit den Erzählungen «Die Schleierkarawane» legt er in der tadellosen Übersetzung von Joachim Röhm einen Band vor, der erstmals 1987 in der DDR das Licht der deutschen Sprache erblickte. Mehr als dreissig Jahre alt sind diese Stücke über das Schicksal Albaniens unter der osmanischen Herrschaft bis 1912, und das Frappierende an ihnen ist zunächst, dass sie keinerlei Patina angesetzt haben. Insbesondere die im 15. Jahrhundert spielende Titelerzählung aus dem Jahr 1983 über das Dekret, dass alle Frauen auf dem neu eroberten Balkan zum Zwecke der Islamisierung zu verhüllen seien, liest sich wie ein bös-ironischer Kommentar zu den notorischen Debatten über Sinn und Schrecken, Selbstwahl und Zwang, Militanz und Unschuld der Kopfbedeckung muslimischer Frauen in den modernen westlichen Gesellschaften. Wo die Verbannung erotischer Weiblichkeit aus der Öffentlichkeit am Bosporus so selbstverständlich zum Dasein gehört wie die Nacht zum Tag, offenbart sich dem bewährten Karawanenführer und stolzen Beamten Hadschi Milet in Albanien eine andere Wirklichkeit. Er hat den Auftrag gefasst, mit einer Maultierkarawane eine halbe Million in Ballen verpackte schwarze «Gesichts- und Körperschleier zur Verhüllung der Frauen» auf den Balkan zu spedieren. Dem tuschelnden Volk in der osmanischen Hauptstadt ist es nur recht, dass die «bisher unverhüllten europäischen Dämchen», die ihre «Geschlechtsgenossinnen im Osten» verlacht haben, auch leiden sollen – nach der Weisheit Allahs, wonach die «menschliche Rasse aus zwei Teilen [besteht]: einem verhüllten und einem unverhüllten». «Monumental, von trauriger Feierlichkeit wie bei einem Leichenbegängnis» ist die Kabinettssitzung, in der das Dekret ergeht, dass Griechinnen, Bulgarinnen, Albanerinnen, Bosnierinnen und Ungarinnen fortan «vor ihrem eigenen Teufel» geschützt werden sollen. Geleitschutz besitzt Hadschi Milet für die «terra incognita» des Balkans, doch hat er von Anfang an ein mulmiges Gefühl, denn er weiss, dass die Lieferung eine Mission ist. Schlaflosigkeit plagt ihn nach einer Tagesreise am Kontrollpunkt Orman Ciftlig, an dem zwingend alle übernachten müssen, die sich in die Fremde begeben. Doch dann beschwingt ihn das «schaumige Licht» des Westens und verwirrt ihn der Anblick der Kirchen (zum Glück finden sich auch Minarette), und bald wird ihm an einer Quelle die Entdeckung des Unfassbaren zuteil: «Frauenaugen am hellen Tag», «Mädchen und Frauen mit unterschiedlicher Haartracht, Hälse und Beine unverhüllt, vor allem aber mit entblössten Gesichtern». Plötzlich ist alles nicht mehr es selbst: «Die Welt hatte sich verändert. Es war, als Radikal reizlos – Muslimin in einem Fotostudio im bosnischen Mostar, um 1880. erwache man eines Morgens im Licht zweier Sonnen . . . Er konnte den Blick gar nicht mehr abwenden. Das also waren die Balkanesinnen. Das düstere Raunen Tausender brünetter Frauen seines Landes zog in seiner Erinnerung auf wie eine schwarze Wolke.» Hin und her gerissen ist Hadschi Milet von nun an – zwischen Sein und Sollen, Wissen und Glauben, Wünschen und Gehorchen. Er hat sich neu verliebt ins Leben und in die Welt, doch obsiegt am Ende die Beamtenpflicht, die «Karawane der Errettung» (!) zu einem guten Ende zu führen. Als er mit dem Trotz des Aufrechten und der Trauer des Gebeugten Albanien wieder verlässt, kann er bereits erkennen, wie das Verschleierungsgebot der Hohen Pforte, der «Feredscheferman», Trostlosigkeit über das Land gebracht hat. Kaum noch Frauen sind auf den Strassen zu sehen, alles scheint unter einem Fluch erstarrt. Über der neuen «grossen Dunkelheit» verliert der Händler die Fassung und schier den Verstand. Hadschi Milet gerät «die Verfinsterung der Frauen» selbst zum Verderben, als seine nächtliche Unruhe am Kontrollpunkt Verdacht weckt – die Folgen sind mörderisch. Perversionen der Macht Mit stupender Wort- und Bildkraft, profundem historischem Wissen und Sinn für das Tragische, aber auch Abgründig-Komische der Vorgänge bringt Ismail Kadare eine vergessene Episode aus dem Innern des ewigen albanischen Unglücks zum Leuchten, wobei die politische Kritik neben dem islamkritischen Impetus auf jede Art von System zielt, dessen Herrschaft auf Paranoia und Angst, Opportunismus und Denunziation, Überwachung und Gewalt beruht. Was die dichte Beschreibung der Dämonie kommunistischer Systeme angeht, steht die Kunst Kadares immer noch ziemlich einsam da – vielleicht deswegen, weil die bedeutungsoffene Form der Parabel hervorragend geeignet ist, das Surreale einer totalitär formatierten Lebenswelt zu fassen, in der keiner jemals sicher weiss, ob er dem anderen vertrauen kann oder nicht. Dass Kadare auch ein Meister des Suspense ist, zeigt die Erzählung «Der Festausschuss» von 1977, der eine wahre Begebenheit zugrunde liegt. Nachdem es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Albanien ROGER VIOLLET / KEYSTONE und anderen Balkan-Gegenden zu Aufständen gegen die osmanische Herrschaft gekommen war, schwenkte der Sultan scheinbar auf einen Friedenskurs um. 1830 liess er 1000 albanische Würdenträger unter dem Vorwand, ein grosses Versöhnungsfest ausrichten zu wollen, nach Monastir im heutigen Mazedonien einladen – und, sobald sie auf der Leimrute sassen, bestialisch abschlachten. Nichts ahnt der Leser von dieser Ungeheuerlichkeit, wenn er zu Beginn aus dem pathetischblumig, despotisch-sanft gehaltenen Rundschreiben des Sultans Mahmud II. erfährt, dass Albanien «ein kostbarer Teil unseres Staates, ein Juwel in der kaiserlich osmanischen Krone» sei und entsprechende Wertschätzung verdiene. Es gilt daher, den «süssen Frieden» feierlich zu besiegeln, was die kaiserliche Bürokratie und das Kaiserliche Protokollamt nicht nur der komplexen Organisation wegen, sondern auch im Kampf gegen den eigenen Byzantinismus auf Trab hält. Erzählt wird aus der beflissen-dummen, blind-eitlen, banal-dämonischen Mitte des Machtapparates – mit heiterer Ironie und absurdem Witz. Der Kampf zwischen den diversen Vorsitzenden der diversen Ausschüsse und Unterausschüsse, der Rausch der eigenen Wichtigkeit und die Besessenheit, die Vorgaben am besten zu erfüllen, artet so aus, dass keiner Verdacht schöpft. Der Furor der Subalternen war Teil des Plans, weshalb diese über die jähe Schicksalswende nicht weniger schockiert sind als der Leser. Es fügt sich sodann hinzu «Das Geschlecht der Hankonen», ein etwas additiv wirkender MiniaturRoman, der in einem grossen, 200 Jahre umfassenden Bilderbogen lakonisch-melancholisch die Geschichte einer Familie aus Kadares Heimatstadt Gjirokastra schildert, deren Dasein der «Faden des Wahnsinns» eingewoben ist. Aus anfangs verachteten Ortsfremden, deren Stammhalter sich durch einen Meineid Grund und Boden angeeignet hat, wird am Ende eine honorige Sippschaft, was sich in der Zahl ihrer Gräber auf dem Friedhof spiegelt. Was bei Kadare immer auch spielt, ist das Lied vom Tod. Keiner entgeht ihm, weder der Mächtige noch der Ohnmächtige – dagegen hält nur die Kunst. Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Erzählungen. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2015. 208 S., Fr. 29.90.
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