Übung: Überwachung und Zensur in Deutschland im 19

Übung: Überwachung und Zensur in Deutschland im 19. Jahrhundert
Wintersemester 2015/16
Textvorlage für den Quellenkommentar (Länge: ca. 12.000 Zeichen)
Bitte verfassen Sie zu dem nachfolgenden Text einen Kommentar.
1. Erläutern Sie die Art, Herkunft, den Zweck und äußere Gestalt der Quelle.
2. Stellen Sie dar, worum es in der Quelle inhaltlich geht und welche Schlußfolgerungen man daraus für die politischen Verhältnisse der Zeit ziehen kann.
3. Ermitteln Sie die Angaben zu den Fußnoten 4, 9 und 10 mit Anführung der benutzten
Literatur.
4. Listen Sie am Ende des Kommentars alle von Ihnen benutzten Hilfsmittel mit vollständigen bibliographischen Angaben auf (Literatur, Webseiten)
5. Bitte geben Sie Ihren Kommentar als Textausdruck bis spätestens 28. Januar 2016
ab. Eine frühere Abgabe ist möglich.
Polizeibericht über die Frankfurter Karnevalsgesellschaft der „Bittern“
NLA Hannover, Dep. 103, Best. VIII, Nr. 93 I. Bericht. Reinschrift mit Korrekturen. Druck: Jürgen Müller, „Humor
ist Demagog!“ Politischer Karneval in Frankfurt 1850–1863, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 64,
1998, S. 242–246.
[Frankfurt am Main,] 12. Februar 1863
Die hiesige Carnewalsgesellschaft der „Bittern“1 besteht, wie schon aus früheren Berichten hervorgeht, aus demokratischen Elementen, meist den untern Klassen der
Handwerker u. kleinen Bürger angehörend, außerdem aus vielen Juden. In ihren Sitzungen beschäftigen sie sich mit Verspottung der Regierungen, und diese Sitzungen sind
eigentlich mehr revolutionäre Clubbs, als Carnewalssitzungen. So haben sie auch diesmal zum Gegenstande ihrer Carnewalsfeier die Verhöhnung des Bundestags gewählt, u.
ihre desfalls am 12. d. gehaltene Sitzung überstieg an Cynismus und politische[r] Roheit
alle Gränzen. Es wurden auch gegen Preußen die rohesten Angriffe geschleudert, und
deshalb ist es immerhin bedenklich, diese Menschen, die nichts als die Republick wol1
Die Karnevalsgesellschaft „Die Bittern“ wurde 1858 in Frankfurt von liberal und demokratisch gesinnten Bürgern gegründet. Seit 1859 organisierten die „Bittern“ öffentliche Fastnachtsveranstaltungen, die ab 1861 einen zunehmend politischen Charakter annahmen, wobei vor allem der unbefriedigende Zustand Deutschlands und die Politik des Deutschen Bundes zum Ziel der Satire wurden. Vgl.
dazu Jürgen Müller, „Humor ist Demagog!“ Politischer Karneval in Frankfurt 1850–1863, in: Archiv
für Frankfurts Geschichte und Kunst 64, 1998, S. 229–246, hier S. 237ff.
2
len, und denen jede monarchische Regierungsform ein Gräuel ist, mit diesen politischen
Satiren beschäftigt zu sehen.
Die Versammlung im Harmoni[e] Saale auf der Bockenheimer Straße2 bestand aus
cirka 600 Personen, geleitet wurde sie von den bekannten Demokraten: F. Fabricius3,
Stoltze4, Cron5, Nösel6, Bing7 etc. die das sogenannte „bittere Ministerium“ bilden.
An jenem Abende wurde namentlich eine Sitzung des Bundestags und der Deligirten8 dargestellt. Nach einer einleitenden Rede des Präsidenten Cron über die „Niederträchtigkeit“ des „Narrenbundestags“ wurde derselbe nebst den „Deligirten“ zusammenberufen. Unter der Melodie des „Hecker-Liedes“9 traten die Deligirten und Bundestags-Gesandten ein, sie waren eskortirt von der Ranzen Garde, waren in diplomatischer
Uniform, reich mit Orden versehen, hatten aber alle Schafs- u. Ochsen Köpfe. Im Eintreten ruft der närrische Gesandte Darmstadts: er sei eben unten vom närrischen Gesandten Baierns durchgeprügelt worden, worauf sie sich gemeinschaftlich über denselben hergemacht und ihn ebenfalls durchgeprügelt hätten. Hierauf ruft Nössel: Zur Feier
dieses schönen Moments stimmt das Lied an „Schmeißt ihn hinaus den Juden Itzig etc.“
Die Deligirten folgten nun den Gesandten bei dem Eintreten in den Saal u. hatten auch
2
3
4
5
6
7
8
9
Der Gasthof zur Harmonie in der Großen Bockenheimer Gasse hatte ursprünglich den Namen „König
von Preußen“ getragen, war 1848 in „Deutscher Hof“ umbenannt worden und war in der Revolutionszeit Versammlungsort der gemäßigten Demokraten um Robert Blum (1807–1848) gewesen. Das
Haus wurde 1904 abgerissen. Vgl. Johannes Proelß, Friedrich Stoltze. Ein Bürger aus Frankfurt. Neu
bearb. v. Günther Vogt. Frankfurt am Main 1978 (erste Ausgabe unter dem Titel: Friedrich Stoltze
und Frankfurt am Main. Ein Zeit- und Lebensbild. Frankfurt am Main 1905), S. 155.
Johann Franz Fabricius (1822–1884) war ein Frankfurter Kaufmann. Er gehörte zu den Demokraten,
war seit 1850 Mitglied des Arbeiterlesevereins und Mitbegründer der Turn- und Schützenvereine in
Frankfurt, Hessen und Nassau und des Deutschen Schützenbundes. 1863 nahm er am Schützenfest im
schweizerischen La Chaux-de-Fonds teil, zu dem auch 300 deutsche Arbeiter kamen. Vgl. Friedrich
Beck/Walter Schmidt (Bearb.), Dokumente aus geheimen Archiven. Bd. 5: Die Polizeikonferenzen
deutscher Staaten 1851–1866. Präliminardokumente, Protokolle und Anlagen. Weimar 1993, S. 214
Anm. 75, S. 599 Anm. 126.
Gemeint ist der Schriftsteller Friedrich Stoltze (1816–1891). Bitte ermitteln Sie nähere Angaben zu
seiner Person: Lebensweg, berufliche und politische Aktivitäten. Fundquellen dazu: biographische
Nachschlagewerke, Artikel und Monographien über Stolze.
Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um den Kaufmann Johann Gerhard Cron, der bereits 1849
Mitglied des Patriotischen Vereins gewesen war. Cron ist im Frankfurter Adreßbuch von 1857 aufgeführt, nicht aber in den Ausgaben von 1862 bis 1864. Die Angaben zu seiner Person stellte mir
freundlicherweise Ralf Roth (Frankfurt am Main) zur Verfügung.
Louis Georg Nössell war ein Frankfurter Kaufmann mit ausgeprägten republikanischen Gesinnungen
und gehörte 1862 als Suppleant dem Wahlkolleg der 75er sowie der Gesetzgebenden Versammlung
an. Vgl. Adress-Handbuch von Frankfurt am Main 1863, S. 261; die Angaben zu den politischen
Mandaten verdanke ich Ralf Roth.
Michael Daniel Bing, geboren in Frankfurt 1840, besuchte das Philanthropin und trat danach die
kaufmännische Laufbahn an. Er war ein bekannter Humorist, Mitglied des Karnevalsvereins der „Bittern“ und des Frankfurter Liederkranzes, wo er häufig als Vortragskünstler auftrat. Vgl. Frankfurter
Biographie. Personengeschichtliches Lexikon. Hrsg. v. Wolfgang Klötzer. Bearb. v. Sabine Hock u.
Reinhard Frost. 2 Bde. Frankfurt am Main 1996, Bd. 1, S. 70f.
Die „Bittern“ bezogen sich hier auf die von Österreich und seinen Verbündeten seit dem Sommer
1862 geforderte Versammlung von Delegierten aus den Landtagen der Einzelstaaten.
Bitte ermitteln Sie den Text des Hecker-Liedes und machen Sie kurze biographische Angaben zu
Friedrich Hecker (mit Literaturangaben).
3
Köpfe von Eseln, Schafen, Füchsen u. Affen, sie werden unter der Melodie der bekannten Volkshimne („Gott erhalte etc.“)10 auf ihren Platz geleitet u. lassen sich an einem
grünen Tisch mit Akten belegt nieder. Nössel wird zum Präsidial-Gesandten gewählt,
als Attaché wird ihm ein Esel, als protokollführender Sekretair ein Ochse, und als Militärbedeckung einen Hanswurst zugetheilt.
Stoltze begrüßt hierauf die Deligirten u. Bundestagsgesandten mit einer Anrede in
Verben, die von Ausfällen gegen die deutschen Fürsten u. Regierungen, namentlich
gegen Preußen strotzt, besonders ist sie voll Persönlichkeiten gegen Herrn v. Bismarck,
Graf Eulenburg11 etc., die er „schuftige Junker“ nennt etc. Der Gesandte von Bingen
zeigt nun an, daß er eine Bundestagsregierungs-Maschine erfunden habe, an welcher
alle Esel des Bundestags ziehen könnten, und ihn doch nicht vom Platze brächten. Der
Darmstädter Gesandte erklärte zu Protokol[l], daß seine Regierung so „niederträchtig
schlecht“ sei, daß sich jeder Narr ihrer schämen müsse und daß sein schwarzer Uniforms-Frack vor Scham schon ganz roth geworden sei. Die lange, mit vielen Ausfällen
auf verschiedene Regierungen gespickte Verhandlung, die nun folgte, resultirte sich
dahin, daß weder der Bundestag noch die Deligirten etwas taugten.
Da aber das Volk auf die Erledigung der brennenden Tagesfrage dringt, ruft der B.Präsidial-Ges.12 neben der Deligirtenversammlung nun ein Profeßoren-Collegium ein,
das aber auch nichts durchzuführen vermag13. Schließlich wird der B.Tag14 durch eine
Revolution des Volkes verjagt, nachdem ein französischer Feldjäger im Namen Napoleons erscheint und mit der Intervention und Absendung eines Corps Gensdarmen droht,
um die deutschen Verhältnisse zu ordnen.15 Das stärkste in der ganzen Scene war die
10
11
12
13
14
15
Um welche Hymne handelt es sich? Wer hat die Melodie geschrieben?
Friedrich Albrecht Graf zu Eulenburg (1815–1881) war von 1862 bis 1878 preußischer Innenminister.
Er leitete Anfang Februar 1863 eine Untersuchung gegen die „Frankfurter Latern“ ein. Möglicherweise hatte ihn dazu die folgende „Meldung“ in der „Latern“ vom 24. Januar 1863 veranlaßt: „Der Herr
Minister Eulenburg, der seine japanesischen Studien sehr fleißig auf Preußen anwendet, wird wohl
auch wissen, daß sich in Japan ein entlassener Minister den Bauch aufzuschlitzen hat.“ Frankfurter
Latern Nr. 2 vom 24. Januar 1863, S. 6, Nr. 3 vom 6. Februar 1863, S. 10. – Die Anspielung auf Japan
bezieht sich auf Eulenburgs Tätigkeit als Leiter einer preußischen Delegation nach Ostasien. Während
dieser von 1859 bis 1862 dauernden Expedition hatte Eulenburg Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge mit Japan, China und Siam ausgehandelt. Er war im April 1862 nach Deutschland zurückgekehrt und wurde dann am 8. Dezember zum preußischen Innenminister im Bismarckschen
„Konfliktsministerium“ berufen. Vgl. ADB, Bd. 55, S. 743–747.
Abkürzung für: Bundespräsidialgesandte.
Hier wird offenbar auf die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 angespielt, die als „Professorenparlament“ galt, was schon seit den 1850er Jahren Anlaß zu abfälligen Kommentaren über die
langatmigen und fruchtlosen Debatten und die daraus resultierende angebliche politische Ineffizienz
der Gelehrten gab.
Abkürzung für: Bundestag.
Gemeint ist Kaiser Napoleon III. (1808–1873), der seit dem österreichisch-italienischen Krieg von
1859 im Verdacht stand, sich bei einer günstigen Gelegenheit in die deutschen Verhältnisse einmischen und eventuell sogar Gebietsgewinne erzielen zu wollen. Im Hintergrund steht die Erinnerung an
Napoleon I. (1769–1821), der zu Beginn des Jahrhunderts den Untergang des alten deutschen Reiches
besiegelt und eine den französischen Interessen dienliche Neuordnung in Deutschland herbeigeführt
hatte. In Anlehnung an die „Rheinliedbewegung“ der 1840er Jahre hieß es 1859 in einem Mainzer
Karnevalslied: „Du welscher und krakehler Hahn, bleib fern vom deutschen Rhein“. Zitiert nach An-
4
Rede Bings gegen den Bundestag, der denselben, nachdem er seine Jämmerlichkeit dargestellt, endlich durch die deutsche Revolution aus dem Lande jagen läßt. Dieser B.T.16,
der 50 Jahre das Volk gequält habe. Er schloß seine Rede mit den Worten: der B.T. wird
nur noch solange dauern, als die deutsche Geduld; mit ihr werde auch er zerbrechen,
dann werden ewige Ferien eintreten17, und ein Hundstag dem andern Hundestag folgen.18 Nachdem nun schließlich die B.T.Ges.19 nach dem Schluß der Rede Bings, von
den anwesenden Narren mit Füßen getreten, geschlagen, u. hinaus geworfen waren,
schreit ihnen Nössel bei dem Hinauswerfen des letzten Ges.20 unter donnernden Hurras
der Anwesenden nach: „Möge der wirkl. B.T. ebenso durchfallen wie heute dieser Narren B.T., möge er ebenso aus Frankfurt hinausgejagt u. hinausgetreten werden!“ Episoden dieses Abends waren die ebenfalls von Angriffen gegen die deutschen Fürsten
strotzende Rede eines bekannten Demokraten Namens Hammberger (Mainz) und der
Vortrag eines sonst harmlosen Liedes eines Binger unter dem Titel: Des Deutschen
Hilfs Verein. Der Zug der Bittern am Fastnacht-Sonntag bot nichts Bemerkenswerthes
dar, als daß die auffahrenden Gesandten ebenfalls Schafs- u. Ochsen Köpfe, wie in der
Sitzung hatten, im Schützenhof in Bornheim selbst, wohin sich der Zug begab, strotzte
es jedoch von revolutionären Reden mit Hochs auf die Deutsche Narren Republik.
16
17
18
19
20
ton Keim, 11mal politischer Karneval. Weltgeschichte aus der Bütt. Geschichte der demokratischen
Narrentradition vom Rhein. 2. Aufl. Mainz 1981, S. 87; zur Kritik an Napoleon siehe ebd. S. 90f.
Abkürzung für: Bundestag.
Anspielung auf die Ferien der Bundesversammlung, die ihre Sitzungen im Sommer gewöhnlich für
drei Monate unterbrach.
Hier wird auf die sogenannten „Hundstage“, d.h. die hochsommerliche Hitzeperiode vom 24. Juli bis
23. August angespielt, in der die Sonne in der Nähe des Sirius (Hundsstern) steht.
Abkürzung für: Bundestagsgesandten.
Abkürzung für: Gesandten.