2. Einheit: «1804 Ludwig Tieck, Der Runenberg»

2. Einheit: «1804 ­ Ludwig Tieck, Der Runenberg»
Autor
Lebenslauf
Ludwig Tieck (1773­1853), der Einzige, der alle Phasen der Romantik durchläuft und am Ende seines Schaffens Spuren des beginnenden Realismus aufweist.
Seine Familie entstammt dem Handwerkerstand → bürgerliche Aufsteiger, Schwester Sophie ebenfalls romantische Autorin, sein Bruder klassischer Bildhauer
Gemeinsame Arbeit mit Wilhelm Wackenroder und den Schlegel­Brüdern, er war als Herausgeber für Novalis tätig, Goethe, scharfer Kritiker der Romantik, war ihm gegenüber versöhnlich. Arbeitet auch mit Komponisten zusammen, u.a. Brahms, nachfolgende – politische – Autoren sahen in Tieck ein „Fossil“, als Vielschreiber war er auch verhasst („alte Scheherazade“), Heinrich Heine schätzte den „Runenberg“, Arno Schmidt beschrieb Tiecks Einfluss auf Poe; Werke
Tieck begann als Trivialschriftsteller, für einige blieb er auf diesem Niveau; viel und schnell geschrieben („Der Runenberg“ entstand in einer Nacht), im Gymnasium als Kopist gearbeitet, literarisches Schaffen beginnt in der Aufklärung (Betonung des Nützlichen), schreibt parallel schon frühromantische Texte, wir z.B. Der Gestiefelte Kater (1797), eines der wenigen romantischen Dramen. Franz Sternbalds Wanderungen (1798), erster künstlerischer Roman → Antwort auf Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“; Kunst als Ziel, während der Aufklärung vertrat man die Ansicht, dass Kunst nur durch menschlichen Verstand begreifbar sei.
Tieck war Shakespeare­Theologe, Herausgeber (Novalis, Kleist,...) schrieb Sonett­ und Erzählsammlungen,...
Seine größte Sammlung erschien 1812­1816: „Phantasus“, in dem fand „poetisches Recycling“ statt, ältere und neue Texte wurden vermischt und tlw. geändert, sein ursptünglicher Plan: Novellenkranz, sieben Personen, von denen jede sieben Beiträge liefert, dramatische Märchen und Volksbuchbearbeitung; Erscheinung von „Phantasus“ als Zäsur (politische Neustrukturierung Europas, Restaurierung), im Rahmen stehen die sieben kunstkritischen Figuren und ihre Zusammenkünfte spiegeln echte Treffen (das in Jena) und Stimmungslagen widerspiegeln
Die „Naturmärchen“ sind keine geschlossenen Hausmärchen, das Wunderbare wird von der Realität abgehoben (z.B. im Blonden Eckbert, wo bereits das ominöse Waldweib erscheint), sie haben auch kein typisch märchenhaftes Ende (Wahnisnn, Inzestenthüllung), Themen wie Waldeinsamkeit, Hingabe zu Gebirge & Mineralien (Der Getreue Eckhart und der Tannennhäuser, 2 Märchen, die am Venusberg spielen)
Textgestalt
Inhalt
Christian erlebt wechselnde Sehnsuchtsschübe und mehrfache Umpolung → Entgrenzung und Fernweh (zuerst anfangs, dann gegen Ende), er verlässt den Garten (domestizierte Natur) und zieht in die Wildnis (ungestüme Natur) → wieder Umschwung, Überdruss und häusliche Sehnsucht; er zieht eine Alraunenwurzel aus dem Boden und trifft einen freundlichen Fremden (Impulsgeber für Gebirgssehnsucht), der ihm vom Runenberg berichtet → Christian bricht zum Runenberg auf, durch ein Fenster beobachtet er die schöne schwarzhaarige Bergkönigin beim Entkleiden (Voyeurismus), er erhält eine mysteriöse Steintafel als Geschenk → Zäsur (Bindestrich!) neue Sehnsucht nach inneren Frieden, die Tafel ist unauffindbar, er deutet die Königin als Traumgestalt → Dorf und Aussicht auf konventionelles Leben, anfangs als Gärtner (wie Vater), Heirat der blonden Elisabeth und bald darauf ein Kind, Christian will seine Eltern aufsuchen, im Gebirge trifft er den Vater, der eine Blume gesucht hat, sie ziehen zusammen zu Christian → nach fünf Jahren erscheint ein Fremder, der sehr viel Gold zur Verwahrung hinterlässt, nach einem Jahr Frist darf Christian es behalten → materielle Sehnsucht, Christian entwickelt eine Art erotische Beziehung zum Geld, erliegt dem Irrsinn, er hört Ächzen und fühlt sich von Pflanzen bedroht, der Vater warnt ihn vor dem Gebirge → 7. Sehnsuchtsschub Christians nach dem Gebirge → trifft Waldweib, das er als Bergkönigin ansieht, er findet die Tafel wieder und verschwindet plötzlich, Elisabeth heiratet wieder und nach Jahren taucht ihr verschwundener Ehemann wieder auf – als irre Gestalt, die Kieselsteine für Juwelen hält; er verabschiedet sich von Elisabeth und dem gemeinsamen Kind für immer, in Begleitung des entsetzlichen Waldweibs.
Liedeinlagen
Progressive Universalpoesie: Texte gehören nicht mehr nur einer Gattung an, Epik verschmilzt mit Lyrik (erstmals bei Tiecks „Die Schöne Magelone“, vertont von Brahms)
1. Lied:
poetischer Stimmungszauber – lyrische Versprachlichung Christians, Waldeinsamkeit als Thema, später negativer konnotiert als anfangs; Sehnsüchte, Natur sehr positiv, Mensch und Natur im Einklang, mythologisch­erotische Stimmungen, ein Ort der Bewegung (Wind, Hund, Jäger); vermittelt unbeschwerte Stimmung
2. Lied: Bergkönigin während der Entkleidung, sie besingt Anorganisches, spricht die Geister an. Zweck: Betörung von Christian, Anthropomorphisierung des Unbelebten (weinende Kristalle)
3. Lied:
Vater will Chrisitan – erfolglos – aus dem Bannkreis der Tafel befreien, diesmal kein Monolog, poetische Argumentation, spontaner Appell in Versform (ähnlich einer Opernarie); Anthropomorphisierung des Vegetativen (Vater als Gärtner „konnte mit Pflanzen sprechen“)
Konzentration romantischer Diskurse
Schrift
Unleserliche Schrift war faszinierend und geheimnisvoll, großer Symbolwert in der Romantik →
„Verdinglichung des Unfassbaren“ (zur selben Zeit entdeckte man den Stein von Rosette, Hieroglyphen aber nocht nicht entzifferbar!) → hermetisches Wissen; Runen, Aura des Okkulten (Grimm schreibt z.B. über deutsche Runen), in theoretischen Texten (z.B. bei Wackeroder) von zwei verschiedenen Sprachen und deren Kraft → wie teilt Gott den Menschen das Transzendente mit? Kunst und Natur, Kunst bedient sich der Hieroglyphenschrift (als „unbegreiflich“ konnotiert), die irrationale Komponente; Thematik auch bei Schlegel (Hieroglyphen mit sakraler Aura), E.T.A. Hoffmann und die hieroglyphische Natur der Musik (Der goldne Topf) oder auch bei Goethe (Wilhelm Meisters Wanderjahre, „Schrift der Natur“) Schrifttafel im Runenberg: Parodie einer biblischen Szene (10 Gebote – Gesetzestafeln), Christian mit christlichem Namen, Tafel mit unvergänglichem Wesen, Irreführung der Übergabe, die Zeichen und Symbole wirkten „kalt und grausam“, sie ist unbegrenzter Sinnspender, die endgültige letzte Bedeutung ist nicht erkennbar
Berg
Ein zentrales romantisches Symbol, manifestiert die Grenzüberschreitung, Anreicherung von Spiritualität und Magie, das Bergwerk wird mit der Tiefe der Seele in Verbindung gebracht, das Unbewusste (verborgen) als Schacht umschrieben; in Deutschland war zu der Zeit der Edelsteinbergbau im Vordegrund (in England der Kohlebergbau), zeitlicher Beginn der Geologie & Mineralogie (Goethe und Novalis waren Sammler). In Novalis' „Heinrich von Ofterdingen“ der Bergbau als Sinnbild des menschlichen Lebens, ästhetisch und begierdelos.
Im Runenberg: Berg die zentrifugale Kraft, verbirgt kein Glück oder Frömmigkeit, er ist Existenzvernichter → Obsession nach Materiellem, Thematik Natur und Besitz, „Schein“ der Bergschätze doppeldeutig zu verstehen, der aufgeklärte Leser weiß: Besitz schadet!
Natur
Wald als ungezähmte Kraft der Natur, zwielichtige Beschreibung, andere Wahrnehmung in der Dämmerung, Bachrauschen und andere Geräusche → Dämonisierung, Anreicherung mit Irrationalem
Belebtes und Unbelebtes
wilde Natur des Gebirges, anfangs kein Differenzieren zwischen Anorganischem und Organischem, Abgrenzung scheint sogar eher problematisch (im Titel schon: Runenberg (Rune/Alraune + Berg))
Schelling, der großen Einfluss auf die Romantiker hatte, meinte: Alles was ist, ist eins. Der Mensch ist nicht der Natur entgegengerichtet. Das Niedrigste (anorganisches) übernimmt das Höchste (menschlicher Geist)
Traum und Wahnsinn
Verunsicherte Eindrücke, Mensch nicht eindeutig beschrieben, der Traum als Verschwendung; → Waldweib wird verschönert, Wahrnehmung ist getrübt (Juwelen, Weib), die Tafel hingegen ist echt;
das eigene Ich wird in Frage gestellt (was in Volsmärchen nicht vorkommt)
Veränderung/Maschinisierung von Christian, das Wunderbare hat den Menschen vernichtet