Zum gesamten Kompass - Dachverband Schweizer

Kompass für die Schweiz :
Ein Blick in die politische
Zukunft mit dem Sorgenbarometer
der Credit Suisse
Inhaltsverzeichnis
03
Vorwort Thomas Gottstein
04
Einführung René Buholzer
06
Arbeitslosigkeit
08
Die berufliche Karriere in Würde beenden können Jean Christophe Schwaab
10
Die ausgewogene, weitsichtige Politik bröckelt Valentin Vogt
12
Migration
14
Die Schweiz : Das Chancenland des 21. Jahrhunderts Flavia Kleiner
16
Die Schweiz ist das weltoffenste Land Luzi Stamm
18
Altersvorsorge
20
Von der Jugend lernen Maurus Blumenthal
22
Sinn macht gesund Hans Groth
24
Energie
26
Kein Sensorium für Risiken Armin Eberle
28
Die Energiewende : Unsere grösste Chance Adèle Thorens Goumaz
30
Resultate Sorgenbarometer 2015
Vo r w o r t
Liebe Leserin, lieber Leser
Wir durchleben turbulente und anspruchsvolle Zeiten : Die rasante Digitalisierung
ver­ändert unser Leben, unser Konsumverhalten und unser Arbeiten grundlegend.
Der starke Franken zwingt unsere Exportunternehmen, noch effizienter zu werden.
Die Negativzinsen sind eine Herausforderung für die Pensions- und die Kranken­
kassen. Unsere Beziehungen zu Europa müssen seit dem Ja zur Masseneinwander­
ungsinitiative neu definiert werden. Die Schweiz steht vor Entscheidungen, die
für die Zukunft unseres Landes von grösster Bedeutung sind.
Wir alle – Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – sind hierbei gefordert. Wir müssen
wegweisende Entscheide fällen, deren Konsequenzen auch noch unsere Kinder
und Enkel tragen werden. Wie stehen wir zur Frage der Personenfreizügigkeit, wie
zur Energiewende ? Wie sichern wir unsere Altersvorsorge, wie unsere Arbeitsplätze ?
Wie eng oder wie locker wollen wir mit unseren europäischen Nachbarn künftig
wirtschaftlich und politisch zusammenarbeiten ?
Auf diese wichtigen Fragen gibt es keine einfachen und keine schnellen Antworten.
Wir müssen uns – als Gemeinschaft – die Lösungen vielmehr erarbeiten, in offenen,
harten, aber fairen Diskussionen.
Wir haben acht Fachleute aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft eingeladen,
für das vorliegende Heft die für die Schweizerinnen und Schweizer seit Jahren drän­­g enden Themen aus ihrer Sichtweise zu beleuchten.
Unser Ziel ist eine von Respekt geprägte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen
Meinungen und Visionen. Natürlich, jede und jeder soll beherzt für die eigenen
Werte und für die eigenen Positionen einstehen – aber immer im Wissen, dass auch
in den Argumenten der Andersdenkenden ein Kern Wahrheit stecken kann.
Ich bin überzeugt, dass wir nur in einem fairen Wettstreit der Ideen und Konzepte zu
den besten Lösungen kommen – für unser Land und für die Menschen, die hier leben.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Thomas Gottstein
Chief Executive Officer Swiss Universal Bank
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 3
Einführung
Nachdenken über
die Sorgen von
bleibender Aktualität
Die Schweiz befindet sich im Wandel – und mit ihr die Sorgen der
Bürgerinnen und Bürger. Allerdings scheinen einige Sorgen nahezu
«zeitlos» zu sein. Was sind die Gründe dafür ? Und wie sehen
mögliche Lösungen aus ?
«Einige Themen
sind seit
fast vierzig Jahren
von geradezu
zeit­loser, bleibender
Aktualität.»
Natürlich, das Credit Suisse Sorgenbarometer ist immer auch eine
flüchtige Momentaufnahme, ein Spiegel des jeweiligen Zeitgeistes. Das
liegt in der Natur von Umfragen. Der Umweltschutz etwa, der in den
1980er- und 1990er-Jahren regelmässig als eine der Topsorgen genannt wurde, stiess in jüngster Zeit auf weniger Beachtung. Das Verhältnis zu Europa dagegen, früher kaum als Sorge wahrgenommen,
wird heute immer häufiger als Problem angesehen.
Was aber auffällt : Einige Themen sind seit fast vierzig Jahren von
geradezu zeitloser, bleibender Aktualität. 1976 liess die Credit Suisse
erstmals in einer repräsentativen Meinungsumfrage die Befindlichkeit
der Schweizer Bevölkerung untersuchen. Die meistgenannte Sorge
damals – die Arbeitslosigkeit – ist seither praktisch unangefochten
an der Spitze geblieben. 1976 ebenfalls unter den Top 3 figurierte
die Altersvorsorge, die auch dieses Jahr wieder weit vorn auf der
Sorgen-Liste erscheint.
Die Themen, die den Schweizerinnen und Schweizern in der langfristigen Perspektive unter den Nägeln brennen, interessieren uns dieses Jahr besonders. Wir haben darum vier der wichtigsten Sorgen
ausgewählt und lassen sie von jeweils zwei Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Anspruchsgruppen kontrovers diskutieren : Neben der Arbeitslosigkeit und der Altersvorsorge sind das Migrationsund Energiefragen. Was sind die Gründe für die Hartnäckigkeit dieser
Sorgen, wie könnten mögliche Lösungen aussehen ?
Die Angst vor Arbeitslosigkeit stehe symptomatisch für die bröckelnde Mittelschicht, die um ihre finanzielle Unabhängigkeit fürchte,
schreibt der Waadtländer SP-Nationalrat und Vorstand des Schweize­r­i schen Bankpersonalverbands Jean Christophe Schwaab. Die Politik
müsse dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmende ihre berufliche
Karrie­re würdevoll beenden könnten, ohne auf Sozialhilfe zurückgreifen zu müssen.
Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, interpretiert dies anders : Die herausragende Bedeutung der
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 4
Einführung
Arbeitslosigkeit verdeutliche, wie wichtig Beruf und Arbeit für die eigene Identität seien. Es müsse uns nachdenklich stimmen, dass wir mit
hemmenden Regulierungen daran seien, unseren dynamischen Arbeits­
markt – einen unserer grössten Trümpfe – zu verspielen.
Beim Thema Migration streicht Flavia Kleiner, Co-Präsidentin der
liberalen Bewegung «Operation Libero», den Erfolg der Weltoffenheit
der Schweiz heraus. Unser Land sei eine der innovativsten und konkurrenzfähigsten Volkswirtschaften der Welt – vor allem auch dank der
Leistung der zugewanderten Arbeitskräfte. Sie fordert : Wir sollten ihr
Potenzial möglichst gut nutzen.
Für Luzi Stamm dagegen, Vizepräsident der SVP und der AUNS
und Aargauer Nationalrat, werden die Probleme der Einwanderung seit
Jahren von den meisten Medien und Politikern heruntergespielt. Freie
Einwanderung, schreibt er, habe nichts mit offenen Märkten zu tun. Wir
müssten uns vielmehr dringend überlegen, wo die Grenzen der Einwanderung liegen.
Die aktuelle Alterspolitik, kritisiert Maurus Blumenthal, Geschäftsleiter des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente, sei zu stark auf
finanzielle und gesundheitliche Aspekte begrenzt. Das Potenzial der
Seniorinnen und Senioren müsse gefördert und ihre Erfahrung besser
genutzt werden.
Ganz ähnlich argumentiert Hans Groth vom Thinktank «World
Demographic & Ageing Forum». Die zunehmende Lebenserwartung
der Schweizer Bevölkerung konfrontiere Arbeitgeber und Politik mit
einer neuen Herausforderung : Nicht nur ein möglichst gesundes,
sondern auch ein sinnhaftes und produktives Altern zu ermöglichen.
Im Themenbereich Energie zeigt Armin Eberle, Geschäftsführer
der Energie-Agentur der Wirtschaft, die Diskrepanz im Umgang mit
Energiethemen zwischen der Öffentlichkeit und der Politik auf. Statt zu
diskutieren, welche Technik in 50 Jahren die Schweiz beherrschen
soll, müsse die Politik die richtigen Anreize setzen, damit die Energiekonsumenten selbstständig die richtigen Entscheide treffen.
Dagegen sieht Adèle Thorens Goumaz, Co-Präsidentin der
Schweizer Grünen und Waadtländer Nationalrätin, nach dem Entscheid des Bundesrats, keine neuen Kernkraftwerke zu bauen, auch
die Schliessung der alten Anlagen als dringlich an. Die Energiewende
sei eine grosse Chance, Mehrwert und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Mit diesen acht Beiträgen, die selbstverständlich nicht unbedingt
der Meinung der Credit Suisse entsprechen müssen, wollen wir als
Schweizer Bank den Dialog über die Zukunft unseres Landes aktiv fördern. Es würde uns freuen, wenn sich möglichst viele Bürgerinnen und
Bürger daran beteiligten. Es lohnt sich – für uns alle.
Dr. René Buholzer
Head Public
Policy & Sustainability
Credit Suisse
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 5
XXX
ARBEITSLOSIGKEIT
Die Arbeitslosigkeit steht seit über 10 Jahren unangefochten an der
Spitze der Sorgenrangliste der Schweizerinnen und Schweizer.
Auch 2015 wurde sie als einziges Problem von einer Mehrheit der
Befragten spontan zu den fünf wichtigsten Sorgen gezählt. Im
Langzeitvergleich wird jedoch klar, dass die Angst vor dem eigenen
Stellenverlust deutlich tiefer ist : Obschon 2015 die Arbeitslosigkeit von 56% der Befragten als Hauptsorge genannt wurde, befürchteten nur gerade 8% den Verlust ihres Arbeitsplatzes im Laufe
des nächsten Jahres.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 6
XXX
Kaum ein Indikator der Problemwahrnehmung korreliert so stark
mit einer verwandten realwirtschaftlichen Grösse wie die Sorge
um Arbeitslosigkeit mit der effektiven Arbeitslosenrate. Es scheint
fast, als wüssten die Schweizerinnen und Schweizer sehr genau,
wie sich die Arbeitslosenrate entwickelt.*
Hauptsorgen (2015)*
in % Stimmberechtigter
Arbeitslosigkeit/Jugendarbeitslosigkeit**
AusländerInnen
AHV/Altersvorsorge
Flüchtlinge/Asyl
EU/Bilaterale/Integration
Euro-Krise/Euro-Kurs
Gesundheit/Krankenkassen
Persönliche Sicherheit
Neue Armut
Umweltschutz
Sicherheit im Internet/Cyber-Spionage
Trend
Problem­­bewusstsein
(2010 – 2015)*
17
15
15
14
24
24
22
38
35
56
43
76
3.5
56
52
Problembewusstsein
Arbeitslosigkeit addiert
in % Stimmberechtigter 2.8
Arbeitslosenquote in %
49
2.9
2010
2011
2012
3.2
3.2
44
51
2013
2014
Trend Sorge Stellenverlust in den nächsten 12 Monaten (2015)*
in % erwerbstätiger Stimmberechtigter, (x) Vergleich 2014
Ja
Nein
1% (–) 8% (+1)
Weiss nicht / keine Antwort
91% (–1)
* gfs.bern. Credit Suisse Sorgenbarometer 2015.
** Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit seit 2014 getrennt befragt, für Darstellung addiert.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 7
3.1
2015
Arbeitslosigkeit
Die berufliche
Karriere in Würde
beenden können
Die Angst vor der Arbeitslosigkeit steht symptomatisch für
die bröckelnde Mittelschicht. Sie fürchtet um ihre finanzielle
Unabhängigkeit und ihren sozialen Status.
Es ist ein Paradoxon : Die grösste Angst der Bevölkerung in der Schweiz,
in einem Land also mit florierender Wirtschaft, ist die Arbeitslosigkeit.
Das spiegelt einerseits die Verbundenheit der Schweizer und Schweizerinnen mit der Arbeit wider. Gleichzeitig liegt dieser Verbundenheit
aber nicht nur der Wille zugrunde, seinen eigenen Unterhalt und den
der Familie zu gewährleisten. Es geht auch darum, seinen Beitrag zur
Schaffung des Wohlstands des Landes zu leisten.
Diese Angst zeigt jedoch, insbesondere durch ihre langjährige
Konstanz, dass die Arbeitslosigkeit nicht als vorübergehendes Übel
gesehen wird, von dem man sich schnell wieder erholt. Vielmehr ist es
die Angst vor einer langwierigen Arbeitslosigkeit, vor dem Verlust der
finanziellen Unabhängigkeit oder sogar des sozialen Status. Sie steht
symptomatisch für die Fragen, die sich die Mittelschicht stellt. Diese
sieht, wie sich ihre Situation verschlechtert, während ein kleiner Teil
reicher Menschen den Grossteil des aus dem Wirtschaftswachstum
resultierenden Gewinns abschöpft.
Immer mehr Arbeitslosen gelingt der Wiedereinstieg in ihre Branche nach Ablauf der Rahmenfrist nicht, woraufhin sie sich mit einem
weniger anspruchsvollen Beruf abfinden müssen, der ausserdem noch
schlechter bezahlt ist. Diese Arbeit entspricht dann weder ihrem Knowhow noch ihrer Ausbildung. Manche müssen sogar dem «ersten Arbeitsmarkt» den Rücken kehren und Sozialhilfe beantragen. Für diese
Arbeitnehmenden ist dieser Zeitraum ohne Arbeit kein einfach zu überwindendes Hindernis, sondern das Ende einer Karriere.
Schlechte Chancen für Ältere
Sicher, die meisten Arbeitslosen schaffen den Wiedereinstieg in das
Berufsleben und erleben wieder dieselbe Zufriedenheit bei der Arbeit
oder erhalten dasselbe Gehalt wie zuvor. Alle fürchten sich jedoch davor, dass der Verlust der Arbeit gleichbedeutend mit einer erzwungenen
Umschulung ist. Diese Ängste werden durch die Arbeitslosenversicherung nur noch geschürt, da sie keine wirkliche berufliche Umorientierung ermöglicht und dazu verleitet, die erstbeste Stelle, die man «akzep-
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 8
Arbeitslosigkeit
tabel» findet, anzunehmen, selbst wenn sie nicht wirklich den eigenen
Erwartungen entspricht. Diese Schwelle der «akzeptablen» Stelle senkt
sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zunehmend.
Die geschilderten Ängste existieren insbesondere bei Arbeitnehmenden über 50 Jahren, denn sie wissen um ihre schlechten Chancen
auf eine neue Stelle, auch wenn sie noch so gut ausgebildet oder motiviert sind. In vielen Fällen werden sie ihr Arbeitsleben mit «Nebenjobs»
zu Ende bringen müssen. Diese Jobs sind oftmals unsicher und entsprechen weder der Ausbildung noch der Erfahrung der Arbeitnehmenden. Der Lohnrückgang ist dauerhaft, denn die Pensionskasse wird
schwächer ausgestattet sein. Eine vorzeitige Pensionierung kommt sie
teuer zu stehen. Jene, die am wenigsten Glück haben und Sozialhilfe
beantragen müssen, sind gezwungen, zunächst die 2. Säule aufzu­lösen,
das Gesparte aufzubrauchen und gegebenenfalls ihr Haus oder ihre
Wohnung zu verkaufen. So sieht sicherlich nicht das gewünschte Ende
einer Laufbahn aus !
Was die Politik tun kann
Was kann die Politik tun, um für alle Arbeitnehmenden eine berufliche
Karriere zu gewährleisten, die insbesondere würdevoll endet ? Einerseits muss die Arbeitsmarktfähigkeit während der gesamten Karriere
verstärkt werden. Die Weiterbildung sowie die Umschulung müssen für
alle Arbeitnehmenden gewährleistet sein, unabhängig von Alter, Funk­
tion und Arbeitgeber. Dabei muss die Arbeitslosenversicherung mitspielen und sich am dänischen Modell orientieren. Dieses Modell ermöglicht
eine wirkliche Umschulung, auch wenn dadurch die Versicherten, die
eine neue Ausbildung beginnen, langfristig entschädigt werden müssen. Das könnte auch eine Lösung für den Fachkräftemangel sein.
Die Sozialversicherung sollte zudem das Risiko besser abdecken,
dass man aufgrund fortgeschrittenen Alters keine neue Stelle mehr findet. So könnten beispielsweise die Überbrückungsrenten ausgeweitet
werden. Sie würden es älteren Arbeitnehmenden ermöglichen, ihre berufliche Karriere würdevoll zu beenden, ohne auf Sozialhilfe zurückgreifen zu müssen. Dieses System zeigt im Kanton Waadt bereits seine
positive Wirkung.
Auch sollte die Finanzierung der 2. Säule überdacht werden. Wir
müssen verhindern, dass man hauptsächlich auf seine letzten beruf­
lichen Jahre zählen muss, um sich ein ausreichendes Vorsorgegut­
haben aufzubauen.
Schliesslich müssen auch die Arbeitgeber eine soziale Verantwortung gegenüber ihren älteren Arbeitnehmenden übernehmen. Sollten die
Kündigungen ohne zwingenden Grund zunehmen, wäre ein gesetzlicher
Schutz gegen Entlassungen für Arbeitnehmende über 50 angemessen.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 9
«Die Weiter­bildung sowie die
Umschulung
müssen für alle
Arbeitnehmenden
gewährleistet
sein.»
Dr. jur. Jean
Christophe Schwaab
ist Waadtländer
SP-Natio­n alrat, Jurist,
Vor­s tandsmitglied
des Schweizerischen
Bank­p ersonalverbands
(SBPV), Vorsitzender
des Schweizerischen
Arbeiterhilfswerks
und ehemaliger
Zentral­s ekretär des
Schweizerischen
Gewerkschaftsbundes.
Arbeitslosigkeit
Die ausgewogene,
weitsichtige
Politik bröckelt
Das Erfolgsgeheimnis der Schweiz ist ihr dynamischer
Arbeitsmarkt. Diesen Trumpf dürfen wir nicht mit hemmenden
Regulier­ungen verspielen.
«Gerade in
der Schweiz
sind Beruf und
Arbeit Teil der
eigenen Identität
und mithin
sinnstiftend.»
Die Arbeitslosigkeit ist die grösste Sorge der Schweizerinnen und
Schweizer. Für viel Erstaunen hat dieser Spitzenplatz im diesjährigen
Sorgenbarometer der Credit Suisse aber nicht gesorgt. Seit 2003 liegt
die Arbeitslosigkeit jeweils zuvorderst, womit sie Themen wie Migration,
Sozialsysteme oder das bilaterale Verhältnis mit der EU von den Spitzenpositionen verdrängt. 2015 zählten 56% der Befragten die Arbeitslosigkeit zu den dringendsten fünf Problemen der Schweiz – mehr noch
als im vergangenen Jahr.
Dass die Arbeitslosigkeit noch stärker als Sorge wahrgenommen
wurde als in den vergangenen Jahren, ist aus meiner Sicht weniger
Ausdruck der gegenwärtigen Situation des Arbeitsmarkts. Vielmehr ist
es der Blick in die Zukunft, der die Schweizerinnen und Schweizer mit
Sorge erfüllt. Die weltweite Wirtschaftslage ist nach wie vor mit vielen
Fragezeichen behaftet. Mit Ausnahme der USA und Deutschlands sind
die Signale der wirtschaftlichen Entwicklung eher negativ. Weiterhin
unklar bleibt zudem, wie sich die Verhandlungen der Schweiz mit der
EU über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative entwickeln
werden. Es ist anzunehmen, dass der Schweizer Arbeitsmarkt – das
Herzstück unserer Volkswirtschaft – davon negativ tangiert wird.
Erfolgsgeheimnis Dynamik
Die herausragende Bedeutung der Arbeitslosigkeit in der Sorgenliste
der letzten Jahre verdeutlicht auch, wie wichtig und dominierend Arbeit
für das eigene Leben ist. Selbstverständlich spielt dabei der Lohn­
erwerb eine wesentliche Rolle. Aber eben nicht nur : Gerade in der
Schweiz sind Beruf und Arbeit Teil der eigenen Identität und mithin
sinnstiftend. Wer seine Arbeit verliert, verliert darum einen Teil seiner
Identität. Die Arbeitslosigkeit kann zugleich zu gesellschaftlicher Isolation führen. Meist sind damit gesundheitliche Risiken verbunden. Die
Arbeitslosigkeit bedeutet also weitaus mehr als Lohnverlust. Sie kann
den Sinn des eigenen Lebens fundamental in Frage stellen.
Mit einer Arbeitslosenquote von 3,3% und einer Jugendarbeitslosenquote von 3,5% (Stand Oktober 2015) trotzt die Schweiz den wirt-
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 10
Arbeitslosigkeit
schaftlichen Widrigkeiten besser als viele andere Länder. Dieser Erfolg
gründet auf der Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarkts. Die Ausgewogenheit der Schweizerischen Politik früherer Jahre sorgte dafür,
dass nur wesentliche und wichtige Regulierungen die Dynamik und
den Kreislauf des Arbeitsmarkts beschnitten. Diese Dynamik ist das
Erfolgsgeheimnis der Schweiz : Pro Jahr treten rund 550 000 Personen
– das entspricht 2500 Personen pro Arbeitstag – in ein neues Arbeitsverhältnis ein, davon rund 300 000 durch einen Stellenwechsel in der
bestehenden Firma oder bei einem neuen Arbeitgeber.
Diese eindrücklichen Zahlen beweisen, dass ein Austritt aus der
Arbeitswelt – gewollt oder ungewollt – in der Schweiz nicht zwangsläufig in eine Sackgasse führt. Gute Arbeitsmarktpolitik beschränkt sich
also nicht einfach darauf, den Status Quo zu erhalten. Gute Arbeitsmarktpolitik fördert vielmehr die Anpassung der Wirtschaft an die strukturellen Veränderungen. Die hohe Dynamik des Schweizer Arbeitsmarkts ist entsprechend Ausdruck seiner raschen Anpassungsfähigkeit.
Wenn nun die Arbeitslosigkeit im Sorgenbarometer 2015 trotzdem
als grösseres Problem wahrgenommen wird als in den vergangenen
Jahren, kann das auch als Befürchtung aufgefasst werden, dass eben
diese Dynamik des Arbeitsmarkts verloren gehen könnte. Dies ist im
Kern natürlich eine Kritik an der jetzigen Politik.
Gefährliche Regulierungen
Solche Einwände sind tatsächlich angebracht : Kontingente, Inländervorrang, Quoten oder Lohnpolizei sind nur einige Begriffe, die in jüngster Zeit wieder den Weg in den politischen Diskurs gefunden haben.
Hinter diesen Begriffen stehen politische Vorstösse, mit denen dem
Arbeitsmarkt unnütze Fesseln angelegt werden sollen. Wer die politischen Debatten der letzten Jahre verfolgt hat, konnte erkennen, in welchem Ausmass von verschiedenster Seite immer wieder versucht wurde, den Arbeitsmarkt mit tiefgreifenden und gefährlichen Regulierungen
zu belasten. Es muss uns alle sehr nachdenklich stimmen, dass wir mit
solchen Regulierungen unseren dynamischen Arbeitsmarkt – und damit
einen der grössten Trümpfe der Schweiz – zu verspielen drohen.
Die gestiegene Besorgnis über die Arbeitslosigkeit ist aus dieser
Warte auch ein Ausdruck eines übergeordneten Zweifels, dass die
Schweizer Politik derzeit einen Teil ihrer Besonnenheit, Ausgewogenheit und Weitsichtigkeit, durch die sie sich in der Vergangenheit auszeichnete, verloren hat. Diese Sorge, man muss es in aller Deutlichkeit
sagen, ist mehr als berechtigt.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 11
Valentin Vogt
ist Präsident des
Schwei­z erischen
Arbeitgeber­v erbands
sowie Präsident des
Verwaltungsrats
und Miteigentümer
der Burckhardt
Compression Holding
AG in Winterthur.
Er schloss sein Studium
an der Universität
St. Gallen im Jahr 1984
als lic. oec. HSG ab.
XXX
Eine klare Mehrheit der befragten Schweizerinnen und Schweizer
(47%) möchte in erster Priorität die bilateralen Verträge fortsetzen; nur 18% möchten sie dagegen künden. Überraschend viele
Anhänger findet die Idee, dem Europäischem Wirtschaftsraum
EWR beizutreten.*
Trend Problembewusstsein
(2010 – 2015)*
in % Stimmberechtigter
37
36
32
31
AusländerInnen Flüchtlinge/Asyl
EU/Europa
23
21
2011
2012
Trend Problembewusstsein
nach Sprachregion
(2010 – 2015)*
ICH
26
24
20
2013
2014
2015
66
58
46
46
39
36
36
33
24
39
50
41
23
35
36
2012
2013
2014
40
8
2010
Künftiges Verhältnis
Schweiz – EU (2015)*
28
62
in % Stimmberechtigter
FCH
35
16
14
2010
37
20
19
DCH 43
40
2011
2015
47
13
Bilaterale Verträge fortsetzen
in % Stimmberechtigter
18
28
EWR beitreten
1. Priorität
2. Priorität
18
6
Bilaterale Verträge kündigen
8
15
EU beitreten
9
37
Weiss nicht / keine Antwort
0
10
20
30
40
50
60
* gfs.bern. Credit Suisse Sorgenbarometer 2015.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 12
XXX
MIGRATION
Migrationsrelevante Fragen (hier subsumiert unter den Kategorien
«AusländerInnen», «Flüchtlinge & Asyl» und «EU/Bilaterale/ Integration»)
nehmen im Sorgenbarometer der Credit Suisse seit Jahren eine
wichtige Rolle ein. Die Tendenz ist weiter steigend : Die aktuelle Flüchtlingsdebatte und die Berichter­s tattung über Konflikte im Nahen und
Mittleren Osten oder in Afrika dürften dazu beigetragen haben, dass die
Migrations­t hematik deutlich stärker wahrgenommen wird.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 13
Migration
Die Schweiz :
Das Chancenland
des 21. Jahr­hunderts
Die heutige Schweiz ist nicht nur eine wirtschaftliche
Erfolgsgeschichte – sondern auch das Ergebnis erfolgreicher
Integration.
«Es ist seit
jeher die
Viel­fältigkeit
unserer Kultur
und Gesellschaft,
welche die
Schweiz
ausmacht.»
Zum Einstieg zwei Fragen : Gibt es eine Region auf der Welt, in der Sie
die Schweiz lieber verorten würden als da, wo sie liegt ? Und : Gibt es
eine Zeit, in der Sie lieber in der Schweiz leben würden als heute ?
Ich selbst beantworte beide Fragen mit einem Nein. Ich tue es deshalb, weil ich der Ansicht bin, dass die Schweiz – mitten in Europa – unglaublich stark positioniert ist. Unsere Nachbarn garantieren für unsere
Sicherheit; ihre Volkswirtschaften und Konsumenten sind Abnehmer unserer Baumaschinen, Kochtöpfe oder Bankprodukte. Wir fühlen uns
heute sicherer und wohlhabender als je zuvor, gerade weil unsere Nachbarstaaten untereinander – und wir mit Ihnen – verbandelt sind.
Ich halte den Erfolg einer weltoffenen Schweiz für offensichtlich :
So ist die Schweiz eine der innovativsten und wettbewerbsfähigsten
Volkswirtschaften der Welt. Und dieser Erfolg basiert massgeblich auf
der Leistung zugewanderter Arbeitskräfte. Die aktuelle Zuwanderungspolitik, ein möglicher Wegfall der bilateralen Abkommen oder etwa
eine transatlantische Freihandelszone ohne Schweiz : Das alles bedroht die Innovationskraft der Schweiz und damit etwas, worauf wir die
künftigen Erfolge der Schweiz bauen wollen.
Es ist seit jeher die Vielfältigkeit unserer Kultur und Gesellschaft,
welche die Schweiz ausmacht. Es ist befremdlich, wenn gesagt wird,
es gebe eine einheitliche schweizerische Kultur, die so und so beschaffen sei und die es gegen fremde Einflüsse zu verteidigen gelte. Ich bin
stolz auf Schweizer Eigenheiten – sie machen uns aus –, aber ich sehe
darin keinen Anlass für die Abgrenzung gegen aussen.
Nicht bereit, die Kosten der Abgrenzung zu tragen
Wenn wir die wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren der Weltoffenheit übertragen auf die politisch notwendigen Rahmenbedingungen für
die Fortschreibung der Erfolgsgeschichte, so halte ich ein interessenbasiertes Verhältnis zur Europäischen Union, der wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partnerin der Schweiz, für unabdingbar. Dem
Streben nationalkonservativer Kräfte nach verlustbringender Selbst­
bestimmtheit trete ich entgegen : Ich bin nicht bereit, die Kosten einer
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 14
Migration
Abgrenzung zu tragen. Denn damit werden unweigerlich auch unsere
Chancen für die Zukunft kleiner. Und das möchten auch die Stimmbürger nicht. Im diesjährigen Sorgenbarometer der Credit Suisse wünschten sich 47% der Befragten in erster Priorität die Fortsetzung der bilateralen Verträge, nur 18% sprachen sich für eine Kündigung aus.
Mehr Probleme mit restriktiver Migrationspolitik
Ich möchte hier die Herausforderungen, mit denen die Schweiz konfrontiert ist, abwägen. So strömt eine beeindruckende Bilderflut durch mediale Kanäle. Bilder der Grausamkeit von islamistischen Terrormilizen im
Irak oder in Somalia etwa; von Menschen, die in grosser Armut leben
oder sich auf der Flucht befinden, und von immer neuen wirtschaftlichen
Krisenszenarien, die kaum zu überblicken sind. Der Anspruch an die
Bürgerin und den Bürger, diese Eindrücke einzuordnen und nicht in
Angst zu verfallen, ist gross. Doch was ist der Schlüssel, um mit dieser
komplexen Welt umzugehen ? Es ist nicht die Besitzstandwahrung.
Natürlich, die Welt wandelt sich und die schiere Masse an schwer einzuordnenden Ereignissen könnte uns erdrücken. Aber Abschottung
und Abgrenzung lösen keine Probleme.
Die Schweiz soll die sich verändernde Welt als Chance sehen für
noch grösseren Erfolg in der Zukunft. Das gilt auch für die Zuwanderung : Viele Einwanderer sind Menschen mit grossem Antrieb, sie wollen sich ein besseres Leben erarbeiten. Sie tragen zu wirtschaftlichem
Erfolg bei und wir sollten ihr Potenzial möglichst gut nutzen. Einwanderung ist nur dann ein Problem, wenn Einwanderer ausgegrenzt und in
ihren Möglichkeiten beschnitten werden. Dann finden sie keinen Platz
im Arbeitsmarkt und stehen sozial am Rand. Je restriktiver eine Migrationspolitik ist, umso mehr Probleme schafft die Migration, nicht umso
weniger Migration gibt es.
Hydraulische Metaphern
Schliesslich würde eine vernünftige Migrationsdebatte die zahlenmässigen Relationen wahren. Stattdessen greifen Politikerinnen und Politiker
auf entmenschlichende hydraulische Metaphern zurück, sie sprechen
gerne von Flüchtlingswellen, -fluten und -strömen.
Wenn also nationalkonservative Kräfte Feindbilder erschaffen, weil
sie keine Argumente haben, dann machen sie unser Land nicht fit für
die Zukunft in einer globalisierten Welt, sondern wollen uns an Bäume
im Hinterwald binden. Eine Schweiz, die zuversichtlich auf Veränderungen blickt und die Zukunft als Ort wachsenden Erfolgs sieht, kann
selbstbewusst vorangehen. Auf dass wir auch in zehn, in fünfzig, in
hundert Jahren mit Gewissheit sagen können : Wir liegen gut in Europa, und wir lieben es, in unserer Zeit zu leben !
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 15
Flavia Kleiner
ist Co-Präsidentin der
«Ope­r ation Libero».
Die Bewegung wurde nach
der Abstimmung über
die Masseneinwanderungs­ini­t iative gegründet, ist
wirtschafts- und gesellschaftsliberaler Gesinnung
und verfolgt das Ziel,
eine aktive Rolle in der
politischen Debatte
zu spielen.
Migration
Die Schweiz ist das
weltoffenste Land
Freie Einwanderung hat nichts mit offenen Märkten
zu tun. Wir müssen uns dringend überlegen, wo die Grenzen
der Einwanderung liegen.
Kein Wunder, wird die Einwanderung im Sorgenbarometer seit Jahren
als eines der wichtigsten Probleme des Landes wahrgenommen : Auch
wenn aus meiner Sicht die Zuwanderungsprobleme von den meisten
Medien lange heruntergespielt wurden, hat die Bevölkerung gemerkt,
wie bedrohlich die Lage wird.
Leider wird diese zentrale Debatte durch Schlagworte dominiert.
Die einen werden als «liberal» und «weltoffen» gepriesen, die anderen
als «isolationistisch» und «abschottend» abqualifiziert. Sachdienlicher
wäre es, wenn Fakten und Zahlen auf den Tisch gelegt würden. Selbst
Politiker in höchsten Ämtern, so meine Erfahrung, haben oft keine Ahnung von den Grössenordnungen. Und die Wirtschaftsführer haben begreiflicherweise nur sehr beschränkte Zeit, sich dem Thema zu widmen.
Unter den Staaten mit über einer Million Einwohnern ist die Schweiz
das weltoffenste Land der Welt. Man betrachte schon nur die Zahl der
Ausländer, die in der Schweiz wohnen : Gut zwei Millionen Menschen
ohne Schweizer Pass leben dauerhaft hier, das sind rund 25% der
ständigen Wohnbevölkerung (nur in einigen Kleinststaaten sind die
Werte höher). In keinem Land sind die Einwohner derart international
ausgerichtet, pflegen sie so viele internationale Kontakte und sind sie
mit so vielen ausländischen (Ehe-)Partnern liiert wie in der Schweiz.
«Wir beschäftigen über zwei Millionen Ausländer im In- und Ausland»,
schrieb der welsche Wirtschaftsprofessor François Schaller, «wir haben mit der EU 130 Abkommen geschlossen. Und das nennt man
Abkapselung, Alleingang und Réduit-Mentalität ?»
Wohlstand durch wirtschaftliche Öffnung
Unsere Elterngenerationen haben es geschafft, die Schweiz innerhalb
von nur rund 100 Jahren vom Armenhaus zum reichsten Land der Welt
zu machen (ebenfalls im Vergleich mit Ländern mit über 1 Mio. Einwohnern). Erreicht hat die Schweiz diese grossartige Leistung mit einer
­offenen, liberalen Politik. Ökonomisch ausgedrückt, ist unser Land das
Musterbeispiel einer «SMOPEC», einer SMall OPen EConomy.
Die Frage der Einwanderung wird oft mit der Frage der wirtschaftlichen Öffnung gleichgesetzt. Das ist ein Taschenspielertrick. Im Grunde genommen müsste jeder Politiker und jeder Ökonom wissen, dass
freie Einwanderung nicht das Geringste mit Marktöffnung zu tun hat.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 16
Migration
Trotzdem werden unter dem Slogan «Wir brauchen offene Märkte» diejenigen als wirtschaftsfeindlich dargestellt, die eine Kontrolle der Einwanderung fordern. Bei Leuten, die sich nur wenig mit der Politik oder
mit Ökonomie beschäftigen können, ist mangelndes Sach- und Fachwissen entschuldbar, nicht aber bei den Politikern, welche die massgebenden Entscheidungen treffen. Diese müssten zumindest die Zahlen
kennen.
Schlimm genug, dass sich der Bundesrat um bis das Zehnfache
verschätzt hat, als er die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit pro­
gnostizierte. Zumindest sollte die Landesregierung nun die weltweiten
Rekordwerte der Einwanderung offen kommunizieren : So ging er im
Jahr 2000 im Abstimmungsbüchlein zur Volksabstimmung «Bilaterale
Abkommen der Schweiz mit der Europäischen Union» von netto 8000
bis 10 000 Zuwanderern pro Jahr aus. In Realität hat die Netto-Zuwanderung in den letzten Jahren aber um die 80 000 Menschen betragen.
Jahr für Jahr werden mehr als 150 000 neue Aufenthaltsbewilligungen
ausgestellt – eine für die kleine Schweiz unglaublich hohe Zahl. Das ist,
als ob die EU Jahr für Jahr rund 10 Millionen neue ZuwanderungsBewilligungen erteilen würde – eine Zahl, die sie nie akzeptieren würde.
«Politiker und
Ökonomen
müssten wissen,
dass freie
Einwanderung
nichts mit
Marktöffnung zu
tun hat.»
Zuwanderung via Asyl
Neben der Personenfreizügigkeit, also der freien – für uns nicht mehr
steuerbaren – Zuwanderung aus der EU, wird für unser Land die «Zuwanderung via Asyl» immer problematischer. Welche Zahlen sich via
«Asyl-Schiene» entwickeln können, zeigt insbesondere das Beispiel
Kosovo. Heute leben rund 200 000 Menschen mit kosovarischem
«Migrationshintergrund» in der Schweiz. Wenn die Balkanstaaten in fünf,
zehn oder zwanzig Jahren der EU beitreten, wird die Personenfreizügigkeit auch mit diesen Ländern gelten. Werden dann zusätzliche 100 000,
500 000 oder sogar 1 000 000 Personen allein aus dem Kosovo nach­
ziehen ?
Kein Land verkraftet unlimitierte Einwanderung. Die Verantwortungsträger unseres Landes täten gut daran, darüber nachzudenken,
wo die Limiten liegen.
Luzi Stamm
Luzi Stamm ist Ökonom
und Rechtsanwalt. In
den 1980er-Jahren war er
Gerichtspräsident in
Baden, seit 24 Jahren ist
er SVP-Nationalrat.
Luzi Stamm ist dort Mitglied der Aussenpolitischen Kommission und
der Rechtskommission.
2003 bis 2007 war er Mitglied des Europarats
und gehörte dort der Migrations-Kommission an.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 17
XXX
ALTERSVORSORGE
Der Zustand der Altersvorsorge bereitet den Schweizerinnen und
Schweizern seit vielen Jahren Sorgen. Im Jugendbarometer der
Credit Suisse belegt das Thema 2015 mit 43% den zweiten Platz
der Sorgenrangliste, im Sorgenbarometer gehört es – mit Ausnahme
des Jahres 2011 – seit mehreren Jahren zu den Top 3 der grössten
wahrgenommenen Probleme. Allerdings hat sich die Problematik
im Vergleich zum letzten Jahr nicht akzentuiert, trotz der grossen
Priorität, die dem umstrittenen Thema eingeräumt wird.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 18
XXX
Die von Bundesrat und Parlament angedachte Reform
«Alters­vorsorge 2020» scheint den angestauten Problemdruck
etwas verringert zu haben. Allerdings erachtet die Mehrheit
der Stimmbürger die Sanierung der Altersvorsorge immer noch
als prioritär, wenn es um die aktuellen politischen Ziele geht.*
Wichtigkeit aktueller politischer Ziele (2015)*
in % Stimmberechtigter
AHV/IV
15
Jugendarbeitslosigkeit
11
10
Kontrolle der Zuwanderung mit Kontingenten
Treibhausgasemissionen
8
8
8
Bildung fördern
Wirtschaftliches Wachstum
Geregelte Beziehungen zur EU
7
Attraktivierung Steuerstandort
6
Familie/Beruf
4
Integration
3
Offener Zugang zu ausländischen Märkten
Weiss nicht /keine Antwort
19
1
Trend Problembewusstsein Altersvorsorge (2010 – 2015)*
in % Stimmberechtigter
45
36
2011
38
2014
2015
29
27
2010
37
2012
2013
Hauptsorgen Jugendbarometer (2015)**
in % Jugendlicher
51
AusländerInnen/Personenfreizügigkeit/
Zuwanderung
43
AHV/Altersvorsorge
38
Flüchtlinge/Asylfragen
Umweltschutz/Klimaerwärmung/
Umweltkatastrophen
EU/Bilaterale/Europäische
Integrationsfragen
* gfs.bern. Credit Suisse Sorgenbarometer 2015.
** gfs.bern. Credit Suisse Jugendbarometer 2015.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 19
25
23
Altersvorsorge
Von der Jugend
lernen
Kindheit und Jugend wurde eine gesellschaftliche Funktion
verliehen – nun wird es Zeit, eine Vision für das Alter zu entwerfen.
Wenn es um die grössten politischen Probleme der Schweizerinnen und
Schweizer geht, erscheint die Altersvorsorge im Sorgenbarometer der
Credit Suisse immer auf einem der vorderen Ränge. Die Altersvorsorge
ist aber nicht ausschliesslich bei den Erwachsenen ein Thema, erstaunlicherweise wird sie auch im Jugendbarometer der Credit Suisse immer
wichtiger.
Dass bei der AHV Reformbedarf besteht, ist in der Politik zwar unumstritten. Alle wichtigen Reformen der letzten 20 Jahre dazu wurden
aber verworfen. Mit dem Reformprojekt Altersvorsorge 2020 hat der
Bundesrat nun einen neuen Anlauf genommen, der auch bei den
Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern eine Mehrheit finden soll. Doch
auch diesmal droht die Gefahr, dass die Neuerungen zwischen parteipolitischen Mühlen zermahlen werden; und was wieder fehlt, ist eine
gesellschaftspolitische Einbettung.
Alter ohne gesellschaftspolitische Funktion
Die demografische Entwicklung, die steigenden Pflege- und Gesundheitskosten sowie die Finanzierungsmodelle sind die bekanntesten
Herausforderungen in der Altersvorsorge. Die Folgen der technischen
und gesellschaftlichen Entwicklungen werden in Zukunft ihren Einfluss
auf das Leben im Alter, und somit auch auf die Altersvorsorge, noch
verstärken. Deshalb geht es bei der Altersvorsorge um mehr als nur um
die Finanzierung der Lebenshaltungskosten im Alter. Es geht um nicht
­w eniger als um das Leben im Alter an sich.
Das Alter ist vom Lebensabend, wo man früher aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeitstätig sein konnte, zu einer eigenständigen Lebensphase geworden, die heute ähnlich lange dauert wie
Kindheit und Jugend zusammen. Was man gerne vergisst : Kindheit/
Jugend sind erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts als eigenständige
Abschnitte mit klaren gesellschaftspolitischen Funktionen entstanden;
sie dienen der Sozialisation in der Gesellschaft (Kindheit) und der Ausbildung für das Berufsleben (Jugend). Was aber ist der Sinn und
Zweck der 10, 20, manchmal sogar 30 Jahre, die nach dem Berufsleben folgen ? Was ist ihre gesellschaftspolitische Funktion, abgesehen
vom privaten Leben und vielleicht der Betreuung der Enkelkinder ?
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 20
Altersvorsorge
Nationales Generationenprojekt «Leben im Alter»
Bei zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Schweizerischen
Seniorenrat, der Grossmütterrevolution oder den Grauen Panthern sowie in der Generationen- und Altersforschung sind diese Fragen sehr
aktuell. Die momentane Alterspolitik ist aber zum allergrössten Teil auf
finanzielle und gesundheitliche Aspekte begrenzt. Fragen zur Förderung des Potenzials der Senioren und Seniorinnen, zu ihrer Innovationskraft und den Möglichkeiten, die sich durch ihre Erfahrung ergeben,
werden meistens ausgeklammert. Wir sollten uns damit befassen, welchen Mehrwert diese Personen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
bringen können, und nicht nur damit, wie man sie pflegen und für sie
vorsorgen kann.
Was fehlt, ist eine generationenübergreifende Vision des Lebens im
Alter. Erst darauf aufbauend kann eine ganzheitliche, von der Zivilgesellschaft mitentwickelte Alterspolitik formuliert werden. Der Staat und
die Wirtschaft sollen dabei die Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer solchen Vision anbieten, um Initiativen sowie neue partizipa­
tive Instrumente zu fördern, die zum Ziel haben, einen gesellschaft­lichen
Kompass für das Leben im Alter in der Schweiz zu ent­wickeln.
Dabei könnten folgende Fragen im Zentrum stehen : Welche Funktion soll das Alter in unserer Gesellschaft haben ? Welche Bedürfnisse
haben Seniorinnen und Senioren gegenüber der Gesellschaft und der
Politik, und welche Ressourcen können sie dort einbringen ? Welchen
Einfluss werden die individuellen Lebensbiografien, die vielfach keine
klare Abtrennung der drei Lebensphasen aufweisen, auf das Alter haben ? Wie wird die Arbeitswelt das Leben im Alter beeinflussen ? Wird
es gar einen nicht monetären Markt der sozialen Interaktionen, der
Sinngebung und der Kreativität geben ? Wie sehen die Jugendlichen
von heute ihrem Alter entgegen ?
Um solche gesellschaftspolitische Fragen beantworten zu können,
braucht es ein nationales Generationenprojekt. Dafür müssen neue
­Instrumente der politischen Partizipation geschaffen werden, um die
Visionen, Bedürfnisse und Lösungsansätze der Schweizer Bevölkerung zu erfassen – ansonsten werden sie überhaupt nicht oder nur
durch die direkte Demokratie geäussert, was nicht unbedingt deren
Sinn und Zweck ist. Dabei sollen nicht nur Experten und Interessengruppen einbezogen werden, sondern die gesamte Bevölkerung. Neue
innovative Ideen und Ansätze sind nicht nur in der Wirtschaft nötig, um
den grossen Herausforderungen zu begegnen, sondern auch in der
Politik – dazu braucht es auch die richtigen Instrumente.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 21
«Was fehlt,
ist eine
generationen­ü ber­
greifende
Vision des Lebens
im Alter.»
Maurus Blumenthal
ist seit 2012 Geschäfts­
leiter des Dachverbands
Schweizer Jugend­par­lamente DSJ. Der DSJ
ist das nationale
Kompetenzzentrum im
Bereich Jugend und
Politik und fördert seit
20 Jahren die politische
Partizipation von Jugend­
lichen. Der DSJ arbeitet
unter dem Motto «von der
Jugend für die Jugend».
Altersvorsorge
Sinn macht gesund
Die Alterung zwingt die Schweiz, darüber nachzudenken, wie
zukünftig Wohlstand und Wohlfahrt für alle Generationen generiert
und erhalten werden sollen. Dies geht nur über die Veränderung
lieb gewonnener Lebenspläne und Ansprüche.
«Der Arbeits­markt für ältere
Menschen
muss flexibilisiert
werden. Die
Arbeitgeber sind
gefordert.»
Die Lebenserwartung der Schweizer Bevölkerung nimmt seit dem
18. Jahr­h undert stetig zu. Bereits in zehn Jahren werden die über 65Jährigen mehr als 20% der Bevölkerung ausmachen. 2050 werden sogar 2,8 Millionen Menschen oder 27% der Wohnbevölkerung 65 Jahre
und älter sein. Frauen und Männer in der Schweiz verbringen bereits
heute den überwiegenden Teil ihrer Pensionsjahre bei guter Gesundheit : Die Lebenserwartung im Alter von 65 beträgt heute ungefähr
20 Jahre (Männer 19,5; Frauen 21,1) und zwei Drittel dieser Zeit werden
bei «guter Gesundheit» verbracht. Lebensweise, soziales Umfeld,
Bildung, medizinische Versorgung, Umwelt sowie die Gene sind Faktoren eines zunehmend längeren Lebens.
Die Lebenserwartung nimmt jedoch nicht gleichmässig zu : Bildungsnahe Personen erreichen durchschnittlich ein höheres Alter (in
der Schweiz beträgt der Unterschied zwischen bildungsnahen und
-fernen Menschen 9 Jahre). Dies wohl auch deshalb, weil chronische
Krankheiten und schlecht kontrollierte Risikofaktoren bei bildungsfernen Bevölkerungsgruppen häufiger vorkommen. Und obwohl Frauen
eine höhere Lebenserwartung haben, sind sie im Alter im Durchschnitt
krankheitsanfälliger als Männer.
Potenzial nicht ausgeschöpft
Die zunehmende Lebenserwartung wirft neue Fragen im Hinblick auf
die Lebensgestaltung auf. Auch in der dritten Lebensphase (in der Regel ab 65) wollen die Menschen ein erfülltes Leben führen. Sinnhaftigkeit fördert die Gesundheit : Menschen, die «gebraucht werden» sind
weniger häufig krank und zufriedener als weniger aktive Personen. Dies
erklärt einen beachtlichen Anteil der Unterschiede bei der Lebenserwartung in Zusammenhang mit dem Bildungsstand : Je höher die Bildung, desto stärker sind die sozialen Netzwerke und die berufliche
Einbindung auch nach dem 65. Lebensjahr. Während besser qualifizierte Personen auch mit 70 Jahren noch eine berufliche Beschäftigung
finden können, ist dies oft unmöglich für Personen, die einen Beruf mit
hohen körperlichen Belastungen hatten oder deren Qualifikationen nicht
gefragt sind.
Arbeitgeber und Politik sind also mit einer Herausforderung konfrontiert, zu der ihnen die Erfahrungen fehlen : Ältere Menschen in
­ihrem Bestreben zu unterstützen, in ihren «Pensionsjahren» eine produktive Sinnhaftigkeit zu finden. Der sogenannte Ruhestand war ur­-
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 22
Altersvorsorge
sprünglich dafür gedacht, dass Menschen nach einem anstrengenden
und arbeitsreichen Leben die wenigen verbleibenden Jahre in Ruhe
verbringen können. Heute aber sind Menschen im Alter von 65 noch
10 bis 15 Jahre in guter körperlicher und geistiger Verfassung. Beschäftigung macht also einen grossen Teil der Sinnstiftung aus. Der
Arbeitsmarkt für ältere Menschen muss flexibilisiert werden. Die Arbeit­
geber sind gefordert, Stellen und Positionen zu schaffen, die ältere
Menschen ansprechen. Insbesondere müssen die Chancen für bildungsferne Menschen erhöht werden. Die neue Herausforderung ist
also nicht nur ein langes, möglichst gesundes Altern, sondern auch ein
sinnhaftes, produktives Altern. Derzeit ist dieses Potenzial bei weitem
nicht ausgeschöpft – mit innovativen Modellen könnte der Arbeitsmarkt
neu definiert werden. Und im Einklang mit gesellschaftlichen Entwicklungen könnten neue Märkte entstehen.
Der Schlüssel unserer Gesellschaft
Eine Veränderung von Strukturen und Regelwerken braucht im Arbeitsmarkt und auch in der Altersvorsorge eine Mehrheit der Stimmbürger.
Diese können politisch kaum überzeugt werden, solange nicht mit erfolgreichen Pilotprojekten Alternativen erprobt wurden. Unternehmen
und Einzelpersonen müssen vorangehen. Wenn sich die Einsicht
verbreitet, dass das Neue wirklich funktioniert, werden Innovationen
akzeptiert und mehrheitsfähig.
Im Sorgenbarometer der Credit Suisse kommt deutlich zum Ausdruck : Das Thema Altersvorsorge ist seit über zehn Jahren eine der
Hauptsorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Was ist zu tun ? Die
neuen Lösungsansätze für ein produktives Altern sind nicht nur der
Schlüssel zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft – hier liegt auch
der Lösungsansatz für eine nachhaltige und demografietaugliche
Altersvorsorge in der Schweiz. Dieser Veränderungsprozess ist nicht
ohne Hürden. Er benötigt einen neu ausgerichteten Kompass für alle
Beteiligten mit angepassten Erwartungen und Einstellungen.
Dr. med.
Hans Groth,
MBA, ist Verwaltungsratspräsident des
mit der Universität
St. Gallen assoziierten
«World Demographic
& Ageing Forum» und
Verwaltungsrat der
RehaClinic Bad Zurzach.
Der demo­g rafische
Wandel bildet seit
14 Jahren den Fokus
seiner Arbeit.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 23
ENERGIE
Das Thema (Kern-)Energie nahm im Sorgenkatalog der
Schweizer Bevölkerung bis anhin keine Spitzenposition ein.
Zwar hat es in den letzten zehn Jahren kontinuierlich an
Relevanz gewonnen und rangierte in den «Top Ten» der
grössten Sorgen – wenn auch auf den hinteren Plätzen.
2015 rutschte die Sorge darüber allerdings klar ab und wird
heute nur noch an 12. Stelle der Hauptsorgen genannt.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 24
XXX
Die Energiefrage ist aktuell eines der Probleme, welche die
(politische) Elite stark beschäftigen. Das Stimmvolk indes zählt
diese Thematik nicht zu den wichtigsten Problemen, die es
in der Schweiz aktuell zu lösen gilt, sondern räumt ihr allenfalls
eine mittlere Dringlichkeit ein.*
Trend Problembewusstsein
(2010 – 2015)*
in % Stimmberechtigter
18
16
Energiefragen/Kernenergie/
Versorgungssicherheit
Umweltschutz/
Klimaerwärmung/
Umweltkatastrophen
15
18
16
19
16
17
15
16
13
11
2010
2011
2012
2013
2014
2015
Der Fukushima-Effekt ist zwischenzeitlich definitiv abgeklungen,
und nebst dem konstant nur wenig priorisierten Umweltschutz
(15%) sind auch Energiefragen (13%) zurück an das untere Ende
der Problem­hierarchie der Stimmbevölkerung gerutscht.*
Trend künftig erwartete
Probleme (2010 – 2015)*
in % Stimmberechtigter
62
55
55
47
Energiefragen
Arbeitslosigkeit/
Jugendarbeitslosigkeit
52
39
AHV/Altersvorsorge
37
29
AusländerInnen 31
17
2010
20
48
38
32
37
22
32
19
47
33
40
39
19
13
2011
* g fs.bern. Credit Suisse Sorgenbarometer 2015.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 25
2012
2013
2014
2015
Energie
Kein Sensorium
für Risiken
Wir diskutieren, welche Technik in 50 Jahren die richtige sein
soll. Doch die Zukunft ist kaum planbar. Nötig wären vielmehr die
richtigen Anreize.
Energie ist ein typisches Un-Thema. Dass sie jederzeit verfügbar ist,
wird als selbstverständlich erachtet. Die Konsumenten schätzen das
Produkt, mit der Infrastruktur möchten sie aber lieber nichts zu tun haben. Mehr noch : Sie stört. Handyantennen und Strommasten zum Beispiel. Auch die Kosten für Energie sind kaum bekannt. Wer kennt schon
die Höhe seiner Stromrechnung ? Dies gilt auch für viele Unternehmen.
Energie wird nur dann zum grossen Thema, wenn sie fehlt, unzuverlässig geliefert oder teurer wird («Ölpreisschock»). Solche Störungen
sind besonders für die rund 1000 energieintensiven Industrieunternehmen in der Schweiz ein Problem, denn für sie sind Energiepreise und die
Verfügbarkeit von Energie entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit.
In der Bevölkerung wird Energie vor allem dann Beachtung geschenkt, wenn ein neues Kraftwerk gebaut werden soll («nicht vor meiner Haustür»), es zu Blackouts oder zu Landschaftsbeeinträchtigungen
kommt. Im Normalfall aber steht Energie im Problembewusstsein der
Schweizerinnen und Schweizer nicht an vorderer Stelle. Im Sorgen­
barometer der Credit Suisse führte nicht einmal das Reaktorunglück in
Fukushima im Jahr 2011 zu einem markanten Anstieg des Problembewusstseins der Schweizer Bevölkerung. Ganz im Gegensatz zur Politik : «Fukushima» hat in der Schweiz die Energiewende und die «Energiestrategie 2050» eingeleitet, die das politische System auch in den
nächsten Jahren prägen werden.
Gegensätzliche Risikowahrnehmung
Möglicherweise liegt diese Diskrepanz im Umgang mit Energiethemen
im Unvermögen, Risiken objektiv wahrzunehmen. Das Bundesamt für
Bevölkerungsschutz hat in einer aktuellen Studie eine länger andauernde, schwere Strom-Mangellage als das grösste aller Risiken für die
Schweiz bezeichnet. Sowohl ihre Wahrscheinlichkeit als auch ihre Auswirkungen wären grösser als beispielsweise diejenigen von Pandemien,
Erdbeben oder Flüchtlingswellen. Die Bevölkerung reagiert allerdings
kaum, denn der Mensch hat kein exaktes Sensorium für Wahrscheinlichkeiten und Risiken. Im Gegenteil, die Intuition trügt oft. So haben viele
Reisende etwa Angst vor dem Fliegen, nicht aber vor der risikoreicheren Autofahrt zum Flughafen.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 26
Energie
Die Auswirkungen einer Strom-Mangellage mit all ihren Nebenwirkungen sind zudem schwer fassbar. Computer und Steuerungen würden
ausfallen, Heizungen, aber auch Lastwagen, denn ohne Strom für Pumpen könnten sie auch kein Diesel mehr tanken. Ähnlich verhält es sich
mit dem CO 2-Ausstoss. Die Folgen des Klimawandels sind noch kaum
spürbar. Wir sehen und riechen CO 2 nicht, Pflanzen brauchen es. Laut
Wissenschaftlern ist die Eintrittswahrscheinlichkeit des Klimawandels
sehr hoch. Doch wann trifft er wen wie hart ?
Kaum planbare Zukunft
Die Diskussion um die Energiezukunft und die Energieversorgung ist
deshalb vor allem ein Expertenthema. Hier greift die Politik ein, und das
ist gut so. Doch auch hier gilt : Die Zukunft ist kaum planbar. Sowohl die
Energiesysteme als auch die Klimaentwicklung sind langfristige, träge
Systeme. Umgekehrt werden regelmässig die Dynamik der Wirtschaft
und die technische Innovationskraft unterschätzt.
Etwas tun oder nichts tun, beides hat Konsequenzen, die erst in
Jahrzehnten sichtbar werden : Soll eine technische Lösung gesucht
werden, mit der beliebig viel Energie nahezu gefahr- und abfalllos produziert werden kann (Fusion) oder ist die Lösung dezentral und erneuerbar, rein sonnenbasiert ? Muss diese Entwicklung durch den Staat
definiert, gesteuert und subventioniert werden ? Oder sollten wir eher
auf «Schwarmintelligenz» setzen, auf dezentrale Entscheide, die in die
richtige Richtung gehen ? Entscheidend ist die aktuelle Diskussion der
künftigen Rahmenbedingungen; sei es durch die Energiestrategie
2050 oder die Einführung von Lenkungsabgaben in der Höhe der ungedeckten Umweltkosten und Risikoprämien.
Anreize zum Umdenken
Punkto Energieeffizienz hat sich etwa bei Firmen ein auf Anreizen beruhender Ansatz bewährt : Unternehmen, die sich verpflichten, ihre
CO2-Emissionen zu vermindern, erhalten dafür die CO 2-Abgabe rückerstattet. So haben sie konkrete finanzielle Anreize, verbessern ihre Wettbewerbsfähigkeit und leisten einen grossen Beitrag zum Klimaschutz.
Dank solchen Zielvereinbarungen, die wirtschaftliche Massnahmen mit
Lenkungsabgaben kombinieren, ist hier eine nachhaltige Lösung gelungen, die sowohl wirtschaftlich und gesellschaftlich als auch ökologisch
Mehrwert brachte.
Dieses erfolgreiche Beispiel zeigt : Statt zu diskutieren, welche
Technik in 50 Jahren die Schweiz oder die Erde beherrschen soll,
müsste die Politik die richtigen Anreize setzen, damit Energiekonsumenten selbstständig die richtigen Entscheide treffen.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 27
«Die Zukunft ist
kaum planbar :
Energiesysteme
und Klima­
entwicklung sind
langfristige, träge
Systeme.»
Dr. Armin Eberle
ist seit 2009 Geschäftsführer der EnergieAgentur der Wirtschaft.
Der promovierte
Volks­w irt und Ingenieur
ETH befasst sich seit
20 Jahren mit Fragen
der Energiewirtschaft
und -nutzung und kennt
so­w ohl die Anwenderals auch die Produktionsseite.
Energie
Die Energiewende :
Unsere grösste
Chance
Die Angst vor einem nuklearen Unfall ist verschwunden. Viele
glauben, dass die Energiewende auf gutem Wege und alles
geregelt ist. Falsch ! Diese Haltung gefährdet das Land und
ver­hindert 85 000 neue Arbeitsplätze.
«Es ist zu
befürchten, dass
die Umsetzung
des Atomausstiegs der nächsten Generation
überlassen wird.»
Die Energiewende wird seit dem Atomunfall in Fukushima, der sich einige Monate vor den eidgenössischen Wahlen 2011 ereignete, intensiv
im Parlament diskutiert. Dennoch scheint das Thema in der Bevölkerung
nicht die gleiche Priorität zu haben : Im Sorgenbarometer der Credit
Suisse wird es seit mehreren Jahren von nur knapp 20% der Befragten
als eines der Hauptprobleme der Schweiz angesehen. 2015 sank diese
Zahl gar auf 13%.
Wichtiger als Fukushima waren in den Augen der Schweizerinnen
und Schweizer im gleichen Zeitraum die Arbeitslosigkeit und Fragen
rund um die Einwanderung bzw. das Zusammenleben mit der auslän­
dischen Bevölkerung. Der Entscheid der SNB, den Euromindestkurs im
Verhältnis zum Franken aufzuheben, oder eine mögliche Wirtschafts­
krise infolge des Scheiterns der Bilateralen liegen dieses Jahr weit
vorn in der Sorgenrangliste der Bevölkerung – sie werden als eine grös­
sere Bedrohung wahrgenommen als ein potenzieller nuklearer Unfall.
Alte Werke schliessen
Der schnelle Entscheid des Bundesrats nach Fukushima, keine Neubauten von Kernkraftwerken mehr zu genehmigen, hat einen grossen
Teil der Bevölkerung beruhigt, viele betrachten das Problem als erledigt. Doch das ist es nicht. Es ist nicht genug, keine weiteren Kernkraftwerke zu bauen, um den beschlossenen Atomausstieg zu erreichen.
Auch die bestehenden alten Kraftwerke müssen geschlossen werden.
Vor Fukushima sahen die Betreiber Laufzeiten von etwa 40 bis 50 Jah­r­e
vor. Beim Kraftwerk Mühleberg bestehen bereits Sicherheitsprobleme,
und Beznau ist das älteste noch in Betrieb stehende Kernkraftwerk
der Welt.
Nach dem Entscheid des Bundesrats, keine neuen Kernkraftwerke
zu bauen, bekommt die Frage nach der Schliessung der alten Anlagen
eine neue Dringlichkeit : Sie dürfen nun nicht durch neue Kraftwerke
ersetzt werden, sondern man muss auf erneuerbare Energien und
Energieeffizienzmassnahmen setzen. Dadurch werden zusätzliche För-
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 28
Energie
dermassnahmen nötig, zumal die Schweiz in diesem Bereich anderen
Ländern hinterherhinkt.
Die seither im Parlament diskutierte Energiestrategie 2050 soll Lösungen für diese grossen Herausforderungen und gegen den Klimawandel liefern. Leider ist der Atomausstieg darin keineswegs abschlies­
send geregelt. Die Energiestrategie beinhaltet keine Laufzeitbegrenzung
für alte Kraftwerke und ermöglicht sogar Laufzeitverlängerungen auf
über 60 Jahre, während Kernkraftwerke weltweit im Schnitt nach weniger als 30 Jahren stillgelegt werden. Darüber hinaus werden die in der
Strategie enthaltenen, durchaus vernünftigen Massnahmen zur Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz von den konservativen Parteien angegriffen. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten,
dass die Umsetzung des Atomausstiegs der nächsten Generation
überlassen wird. Gleichzeitig wird in Kauf genommen, dass massive
Investitionen in eine veraltete Technologie erfolgen und dass das Risiko eines nuklearen Unfalls ansteigt.
Es ist daher zu erwarten, dass das Thema wieder in den Fokus der
Bevölkerung rückt. Die Grünen haben eine Volksinitiative gestartet, die
verlangt, dass Atomkraftwerke nach 45 Jahren vom Netz genommen
und durch saubere Energien ersetzt werden müssen. Sie wird dem
Volk als Ergänzung zur Energiestrategie 2050 vorgelegt, da diese hinsichtlich der Schliessung der alten Kraftwerke keine befriedigende
Lösung bereithält. Die Energiestrategie selbst könnte zudem durch
konservative Bewegungen mit einem Referendum attackiert werden.
Sie ist deshalb mit aller Vehemenz vor dem Volk zu verteidigen.
Neue Arbeitsplätze
Somit könnte die Energiewende schnell ihren hinteren Platz, den sie
derzeit – wie ich finde – zu Unrecht in der Prioritätenliste der Schweize­
r­
innen und Schweizer einnimmt, verlassen und in den Vordergrund
­treten. Das Thema ist ausserdem hochaktuell und für die Zukunft unserer
Volkswirtschaft von enormer Bedeutung. 85 000 neue Arbeitsplätze können nach Schätzungen der Schweizerischen Energie-Stiftung bis 2035
in der Schweiz durch die Energiewende geschaffen werden. Durch
­höhere Energieeffizienz werden zudem finanzielle Mittel frei, die Wett­
bewerbsfähigkeit unserer Unternehmen wird grösser und die Kaufkraft
der Haushalte nimmt zu. Die Energiewende markiert nicht nur den Übergang von einer veralteten und gefährlichen Technologie hin zu sauberen
und innovativen Technologien. Sie ist auch unsere grösste Chance,
Mehrwert und neue Arbeitsplätze für die schweizerische Volkswirtschaft
zu schaffen, deren Zustand uns derzeit so grosse Sorgen bereitet.
Adèle Thorens
Goumaz
ist seit 2007 Waadtländer
Nationalrätin und seit
2012 Kopräsidentin der
Schweizer Grünen. Sie ist
Mitglied der Kommission
für Umwelt, Raumplanung
und Energie.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 29
R e sXuXlX
tate
Resultate Credit Suisse
Sorgenbarometer 2015
Das Land hat gewählt, jetzt stehen wichtige Aufgaben an : Die
Be­ziehungen zur EU sind unter Druck, der Gotthard-Basistunnel,
das grösste eidgenössische Bauprojekt aller Zeiten, geht 2016
auf, die Immigration wird Volk und Politik weiterhin beschäftigen.
Der passende Moment, um zu fragen, wie es um die Befindlichkeit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger steht.
Die repräsentative Umfrage wurde vom Forschungsinstitut gfs.bern durchgeführt;
die Sorgenbarometer­t exte verfasste Andreas Schiendorfer (schi) unter Mitarbeit von Simon Brunner.
Die vollständigen Resultate des Sorgenbarometers finden Sie unter folgendem Link :
www.credit-suisse.com/sorgenbarometer
1 – Die Sorgen der Schweizer
Ausländer, Arbeitslosigkeit,
Altersvorsorge
Was beschäftigt die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ? Die Zu­
wanderung erscheint zu­nehmend
bedrohlich, man fürchtet sich
vor dem Verlust der Arbeitsstelle
und sieht die Rente gefährdet.
Die Schweiz gehört zu den europäischen Ländern mit einem besonders
hohen Ausländer­a nteil, welcher in den
letzten 30 Jahren stark zugenommen
hat : Anfang der 1980er Jahre betrug
der Anteil der ständigen ausländischen Wohnbevöl­k erung weniger als
15%, heute sind es fast 25%. Diese
Entwicklung wird laut der aktuellen
Um­f rage im Rahmen des diesjährigen
Credit Suisse Sorgenbarometers zunehmend als belastend wahrgenommen. 2003 bezeichneten erst 18%
«Ausländer» als ein Hauptproblem der
Schweiz, heute sind es 43%. Die Annahme der Volksini­tiative «Gegen Masseneinwanderung» im Februar 2014
hat die Wahrnehmung nicht verändert
– im Gegenteil, das Thema «Ausländer» stieg seither in zwei Befragungen nochmals um 6 Prozentpunkte
(pp) in der Sorgenrangliste und befindet sich damit auf einem Rekordhoch.
Zudem wird die Verschärfung der
weltweiten Flüchtlingssituation auch
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 30
in der Schweiz wahrgenommen. 35%
der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bezeichnen Flüchtlinge als Pro­
blem; mehr waren es letztmals 2006
(39%), die Spitzen in den Jahren 1999
bis 2004 lagen jedoch mit bis zu 56%
noch deutlich höher. Der hohe Anteil
an Zuzügern verunsichert also die
Bevölkerung.
Seit 2003 stellt die Arbeitslosigkeit ununterbrochen die Hauptsorge
der Schweizerinnen und Schweizer
dar. Um dies besser zu verstehen, wird
seit letztem Jahr im Sorgenbarometer
zwischen Arbeitslosigkeit (41%, +5 pp*)
und Jugendarbeitslosigkeit (26%, +4 pp)
unterschieden**.
Während die Jugendarbeitslosigkeit erwartungsgemäss bei potenziell
direkt betroffenen jungen Menschen
bis 25 Jahre eine weit verbreitete
Sorge darstellt (47%), gibt es bei der
Arbeitslosigkeit als allgemeinem, nicht
altersspezifischem Thema einen markanten Unterschied zwischen der
Romandie (48%) und der Deutschschweiz (38%).
R e sXuXlX
tate
Im Durchschnitt der letzten 20 Jahre
bezeichneten 60% der Befragten die
Arbeitslosigkeit als eine ihrer Haupt­
sorgen. Und in der Nähe dieses Wertes befinden sich auch die neusten
Resultate. Der Spitzenwert des Jahres 1993 (89%) ist allerdings weit
entfernt wie auch der höchste Wert
aus jüngerer Vergangenheit (2010 :
76%). Dazu passt, dass die Arbeitslosenquote seit zwei Jahren stabil bei
3,2% liegt.
AHV beschäftigt
mehr als Gesundheit
Drei weitere Phänomene sind seit Jahren vorne in der «Hitparade» der
Sorgen. Im Durchschnitt der letzten
20 Jahre folgen der Arbeitslosigkeit
(60%) nach wie vor das Gesundheitswesen (44%) und die AHV (42%).
Die Sicherung der Altersvorsorge
zählt auch 2015 zu den Hauptsorgen
der Schweizerinnen und Schweizer.
Diesmal wurde die AHV von 38%
(+1pp) thematisiert; mehr waren es
letztmals im Jahr 2010 (45%). Beim
Gesundheitswesen hingegen kann man
seit 2003 einen beinahe linear verlaufenden, starken Rückgang von 64% auf
heute 22% feststellen. Die Massnahmen gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen scheinen das Vertrauen der Bevölkerung in die betreffenden
Akteure gestärkt zu haben. Die Sorgen
um die Europäische Union nehmen zu,
auf derzeit 24% (+10pp seit 2011). Das
könnte im Zusamme­nhang mit der Umsetzung der Masseneinwanderungs­
initiative und den Unsicherheiten rund
um die bilateralen Verträge stehen.
Doch das aktuelle Niveau ist weit entfernt von jenem der Jahre direkt nach
der Ablehnung des EWR-Beitritts und
während der Aushandlung der ersten
bilateralen Abkommen (1999) : Durchschnittlich sorgten sich 40,5% zwischen 1995 und 2000 um die Beziehung zur Europäischen Union.
Und welche Probleme werden
die Schweizerinnen und Schweizer in
zehn Jahren beschäftigen ? Nach heutigem Empfinden sieht die Rangliste
wie folgt aus : Arbeitslosigkeit (55%),
Altersvorsorge (46%), Ausländer
Abb. 1 : Hauptsorgen der Schweizer Bevölkerung
Wo der Schuh drückt
«Legen Sie bitte von allen Kärtchen jene fünf heraus, die Sie persönlich
als die fünf wichtigsten Probleme der Schweiz ansehen.»
1. Jugend-/Arbeitslosigkeit
56% (+5)
2. Ausländerfragen
43% (+3)
3. AHV/Altersvorsorge
4. Flüchtlinge/Asyl
35% (+9)
5. Eurokrise/Eurokurs
24% (+8)
5. EU/Bilaterale
24% (+4)
7. Gesundheit/Krankenkasse
9. Umweltschutz
15% (–1)
9. Neue Armut
15% (+1)
12. Drogen/
Alkohol
22% (–1)
17% (–)
8. Persönl. Sicherheit
11. Sicherheit
im Netz
38% (+1)
14% (–)
13% (–3)
12. (Kern-)Energie 13% (–4)
14. Soz.
Sicherheit
15. Inflation/
Teuerung
12% (–4)
11% (–2)
(39%), Flüchtlinge (32%), neue Armut
(24%), Gesundheitswesen (22%), so­
ziale Sicherheit (19%) sowie persönliche Sicherheit und die Europä­ische
Union (beide 18%). In einer Schweiz
im Umbruch bleibt etwas also konstant : die Hauptsorgen der Bevölkerung. (schi) Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 31
* Wo nicht anders angegeben, beziehen sich
die Prozentpunkte-Vergleiche auf 2014.
** Einige Befragte nennen Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit als Problem, darum
ist der kumulierte Wert 56% und nicht 26%
(Jugendarbeitslosigkeit) plus 41% (Arbeits­
losigkeit).
R e sXuXlX
tate
2 . Ve r t r a u e n u n d S t ä r k e n d e r S c h w e i z
Auf die Politik ist Verlass
Regierung und Parlament geniessen
einmaliges Vertrauen, Banken und
Kirchen haben ihren Ruf verbessert.
Gewerkschaften und Arbeitgeber­
organisationen hingegen verlieren
an Glaubwürdigkeit.
Das Bundesgericht führt zum siebten
Mal in den letzten zehn Jahren die Vertrauensrangliste an. 68% (+6pp) der
Schweizerinnen und Schweizer spre-
chen dem obersten Gericht in Lau­
sanne ihr Vertrauen aus. Der letztjährige Spitzenreiter, die Schweizerische
Nationalbank, wurde zurückgestuft,
möglicherweise wegen der Aufhebung des Frankenmindestkurses,
und rutschte mit 52% (–12pp) auf
Rang 8 ab. Die Polizei, welche 2012
letztmals die Rangliste anführte, belegt mit 57% (–3pp) wie im Vorjahr
den dritten Platz. Auf sie ist – wie
Abb. 2 : Wem die Schweizer vertrauen
Bundesgericht zurück
an der Spitze des Vertrauens
«Von 1 (kein Vertrauen) bis 7 (grosses Vertrauen), wie gross ist Ihr persönliches
Vertrauen in die hier vorgelegten Institutionen ?»
1. Bundesgericht
68%
(+6)
2. Bundesrat
63% (+6)
3. Banken 57% (+11)
3. Nationalrat 57% (+1)
3. Polizei 57% (–3)
57%
ich
findet s
lizei be en Top 3.
o
P
ie
D
in d
Jahren
seit 20
6. Kirchen 56% (+10)
7. Ständerat 55% (–)
8. Radio 52% (–2)
8. SNB 52% (–12)
10. Bezahlte Ztg. 51% (+3)
10. Armee 51% (+1)
12. Fernsehen 50% (–9)
13. Staatl. Verwaltung 49% (–1)
14. Internet 48% (+3)
15. NGO 47% (–)
15. Arbeitnehmerorg. 47% (–9)
17. Politische Parteien 46% (+4)
17. Gratiszeitungen 46% (–3)
19. Europäische Union 42% (+5)
20. Arbeitgeberorg. 38% (–15)
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 32
auch auf das Bundesgericht – Verlass, finden die Befragten.
Die grosse Siegerin ist die Landes­r egierung, die seit dem Tiefpunkt
von 2003 (37%) die Vertrauensbasis
im Volk kontinuierlich steigern konnte.
Mit 63% (+6pp) belegt der Bundesrat
damit erstmals überhaupt den zweiten
Platz. Von einem derart hohen Ver­
t­
r auen können andere Regierungen
nur träumen (in ähnlichen Umfragen in
Deutschland und Österreich vertrauen
weniger als 50% der jeweiligen Re­
gierung). Auch das eidgenössische
Parlament konnte das Vertrauen der
Stimmbürgerinnen und Stimmbürger
auf hohem Niveau halten, der Nationalrat mit 57% (+1pp) auf Rang 3 und
der Ständerat mit unverändert 55%
auf Platz 7. Die politischen Parteien
verzeichneten einen Vertrauenszuwachs auf 46% (+4pp) und kommen
damit der Verwaltung (49%, –1pp)
recht nahe.
Banken : grösster Vertrauensgewinn
Den grössten Vertrauensgewinn von
+11pp (innert Jahresfrist) verzeichneten die Banken mit nunmehr 57%, was
zusammen mit der Polizei und dem
Nationalrat den dritten Platz bedeutet.
Im Gegensatz zur Dotcom-Krise, die
2001 zum Tiefstwert von 33% geführt
hatte, überstanden die Banken die Finanzkrise in den Augen der Schweizer
Bevölkerung ausgesprochen gut. Die
Kirchen gewannen in diesen Jahren
der Verunsicherung an Zuspruch und
vermochten das Vertrauen der Be­
völkerung seit 2008 (36%) kontinuierlich zu steigern, in diesem Jahr sogar
um 10pp auf 56%. Auch der Armee
vertraut mit 51% (+1pp) noch eine Be­
völkerungsmehrheit.
Die erstmals zur Auswahl stehenden Nichtregierungsorganisationen vermocht­en diese Grenze nicht zu über­
treffen (47%). Dies gilt auch für die EU
mit einer angesichts der Griechenlandund der Flüchtlingskrise eher über­
raschenden Steigerung um 5pp auf
den bisher höchsten Wert von 42% (das
langjährige Mittel liegt bei 29%).
Den Vergleich innerhalb der Medien gewinnt das Radio mit 52%
R e sXuXlX
tate
Abb. 3 : Stärken der Schweiz
Politik besser in Form als die Wirtschaft
«Auf diesen Kärtchen sehen Sie einige Stärken der Schweiz. Legen Sie bitte
die fünf heraus, die Sie persönlich als die fünf wichtigsten ansehen.»
platz
Finanz
rke
als Stä
r
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d
ie
w
wird
nden.
empfu
Wirtschaft
Schweizer Qualität
28% (+4)
Politik
Neutralität
Pharmaindustrie
Bildung
Finanzplatz/
Banken
Frieden
18% (+1)
Uhrenindustrie
Zusammenleben
der Kulturen
17% (–2)
Tourismus
Demokratie
Wirtschaft
generell
Stabilität
25% (+6)
22% (+9)
16% (–1)
15% (+3)
Landwirtschaft
Ordnung
und Sauberkeit
(–2pp), dies aber nur, weil das Fernsehen einen noch grösseren Vertrauensverlust auf den bisherigen Tief­s t­
wert von 50% (–9pp) erlebte. Die
bezahl­t e­­n Zeitungen gewannen nicht
nur an Vertrauen (51%, +3pp), sondern konnten auch die Gratiszeitungen
(46%, –3pp) überholen. Ebenfalls
an Glaubwürdigkeit gewonnen hat das
Internet (48%, +3pp).
Die massiven Rückschläge der
Arbeitnehmerorganisationen in der
Vertrauensrangliste um –9pp auf 47%
und der Arbeitgeberorganisationen
um sogar –15pp auf 38% sind gravierend und schwierig zu deuten. Eine
Erklärung könnte der an die Wirtschaftsvertreter gerichtete Vorwurf
sein, in schwierigen Zeiten das Gemeinwohl zu wenig zu verfolgen.
Trotzdem vertreten wie schon im
48% (+15)
32% (–6)
30% (+2)
29% (–2)
27% (–8)
26% (–)
25% (+6)
Vorjahr 65% der Befragten die Ansicht, die Wirtschaft versage in entscheidenden Dingen nie (14%) oder
nur selten (51%). Zuvor hatte die
Wirtschaft letztmals im Jahr 2000 eine
vergleichbar gute Bewertung erhalten.
Schweiz steht für Neutralität
Bei den Stärken der Schweiz liegen
politische Merkmale vorne, vor allem
die Neu­tralität mit 48% (+15pp), die
Bildung mit 32% (–6pp), der Frieden
mit 30% (+2pp) sowie das Zusammenleben der Kulturen mit 29% (–2pp).
Erst dann folgt als stärkster wirtschaftlicher Aspekt die Schweizer Qualität
mit 28% (+4pp). Zwischen 2006 und
2011 hatte dieser Begriff stets den ersten oder zweiten Platz mit Spitzenwerten bis zu 50% belegt. Immerhin konnte der letztjährige Wert wieder leicht
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 33
gesteigert werden, was auch für die
meisten Branchen gilt : die Pharmaindustrie um +6pp auf 25%, der
Finanzplatz um +9pp auf 22%, die
Uhrenindustrie um +1pp auf 18% und
die Landwirtschaft um +3pp auf 15%.
Einzig das Gesundheitswesen
(24%, –2pp) und der Tourismus werden etwas schlechter eingestuft (17%,
–2pp). Wie ambivalent die Einstellung
gegenüber der Wirtschaft momentan
allerdings ist, unterstreicht die Tatsache, dass nur 16% (–1pp) der Befragten von einer generell starken Wirtschaft als einer der Hauptstärken des
Landes sprechen. (schi) R e sXuXlX
tate
3 . D a s We s e n d e r S c h w e i z
Jahr der Neutralität
Einem Land, das für Neutralität,
Sicherheit und Frieden steht, kann
sich scheinbar niemand entzie­hen : Der Nationalstolz ist weiterhin
auf Rekordhoch.
«Machet den Zun nit zu wit» soll
Bruder Klaus (1417–1487), Eremit und
Schutzpatron der Schweiz, seine
Landsleute frühzeitig zur Selbstbeschränkung ermahnt haben, er meinte
damit so viel wie «Mischt euch nicht
in fremde Händel». Ein bis heute viel
zitiertes Wort, auf das sich die Eidgenossen nach der verlorenen Schlacht
bei Marignano (1515) angeblich besannen. Die sich daraus entwickelnde
Neutralität ist für viele ein zentraler Bestandteil des Erfolgs des alpinen Kleinstaates. Dauerhaft etabliert wurde
die Neutralität der Schweiz 1815 am
Wiener Kongress durch den Willen
und die Schutzgarantien der mächtigen Bezwinger Napoleons.
Unabhängigkeit zeitgemäss ?
Die mit der Beendigung des Kalten
Krieges aufkeimenden Diskussionen
über den Ursprung, den Sinn und das
Wesen der Neutralität sind im Zusammenhang mit dem diesjährigen Doppeljubiläum «500 Jahre Schlacht bei Marignano» und «200 Jahre Wiener Kongress» wieder intensiv geführt worden.
Relevant ist dabei vor allem die Frage,
ob die Schweizer Neutralität noch zeitgemäss ist. Das Sorgenbarometer
vermittelt eine klare Botschaft : Für die
Stimmbürgerinnen und Stimmbürger
ist die Neutralität ein unverrückbarer
Wert, sie erklären 2015 gewissermassen zum «Jahr der Neutralität». Wie
schon im Vorjahr sind 96% der Befragten stolz oder sehr stolz auf die Neutra-
lität. Zude­­­m wird sie von 48% (+15pp)
als Hauptstärke der Schweiz empfunden. Dazu beigetragen hat möglicherweise die international gelobte Ver­
mittlerrolle der Schweiz als Vorsitzen­de der OSZE im Ukraine-Konflikt.
Schliesslich wurde auch bei den
Dingen, für die die Schweiz steht, kein
anderer Begriff so oft genannt wie die
Neutralität mit 32% (+12pp; Durchschnitt seit 2004 : 20%).
Sicherheit und Frieden
Für 19% (+1pp) der Stimmbürger
steht die Schweiz aber auch für
Sicherheit und Frieden. Das ist keine
Überraschung, im langjährigen Durchschnitt waren sogar 22% dieser Meinung. Auf Rang 3 liegt die Landschaft,
die für 13% der Befragten typisch
schweizerisch ist (–1pp; Durchschnitt
seit 2004 : 16%). Der artverwandte
Begriff Alpen/Berge hingegen kam
diesmal mit 5% (–6pp; Durchschnitt
seit 2004 : 10%) nicht ganz nach
oben. Dafür machten die Banken mit
12% (+7pp; Durchschnitt seit 2004 :
7%) einen grossen Schritt nach vorne. Sie gehören nach Ansicht des
Souveräns untrennbar zur Schweiz.
Neben den Banken wurde auch der
Finanzplatz (6%, + 3pp) häufiger als
im Vorjahr genannt. Das Bankkundengeheimnis blieb stabil bei 1%.
Das 21. Jahrhundert zeichnet sich
durch einen ausgeprägten Schweizer
Nationalstolz aus. Zwischen 2004 und
2006 äus­
s erten im Schnitt bereits
75% der Befragten ihren Stolz auf das
Land. Bis 2013 stieg der Durchschnitt
auf 84% an. Im Jahr 2014 erreichte der
Swissness-Trend mit der Durchbrechung der 90%-Marke eine neue Dimension, und nun sind es sogar 94%.
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 34
Wie einzigartig dieser Wert ist, wird
offensichtlich, wenn man das Gegenteil betrachtet : Lediglich 5% der Befragten sind explizit nicht stolz darauf,
Schweizerin oder Schweizer zu sein
(1% ohne Antwort).
Für den grossen Anstieg zeichnen
vor allem die Westschweiz und die
politische Linke verantwortlich. Betrug
der Unterschied zwischen der stolzen
deutschsprachigen Mehrheit und der
skeptischeren französischsprachigen
Minderheit im langjährigen Schnitt 29
Prozentpunkte, so ist es 2015 zum
Gleichstand gekommen. Eine ähnliche
Entwicklung zeigt sich bei den politisch Interessierten : Die Differenz zwischen rechts und links betrug bisher
im Durchschnitt 21 Prozentpunkte, nun
herrscht praktisch Gleichstand. Erst
zum zweiten Mal zeichnet sich übrigens die politische Mitte durch den am
stärksten ausgeprägten Nationalstolz
aus, normalerweise liegen deren Werte leicht unter jenen der Rechten.
Noch verblüffender ist die Entwicklung in der Gruppe der Befragten,
die «sehr stolz» auf die Schweiz sind.
Betrug 2005 die Differenz zwischen
rechts und links 41 Prozentpunkte, so
sind es nun noch deren 13pp – aber
mit umgekehrtem Vorzeichen ! 51% der
linksstehenden Stimmbürger sind sehr
stolz auf ihr Schweizersein; bei den
rechtsstehenden
sind
es
nur
38% (gegenüber 64% im Jahr 2009).
Typisch schweizerische Branchen
Besonders stolz sind die Schweizer
nicht nur auf die Neutralität (96%
sehr / ziemlich stolz), sondern auch
auf die Bundesverfassung (93%), die
Volksrechte (89%), die Unabhängigkeit (84%) sowie den Föderalismus
und das Zusammenleben (je 81%). Etwas tiefere Werte erreichen die Konkordanz (79%) sowie das Milizsystem
und die Sozialpartnerschaft (je 77%).
Bei der Beurteilung der Wirtschaft
ist der Stolz auf verschiedene Branchen
sehr ausgeprägt. Branchen, die von
grossen Teilen der Bevölkerung als typisch schweizerisch angesehen werden, geniessen in der Regel auch einen
sehr guten Ruf. An der Spitze liegt die
R e sXuXlX
tate
Uhren­
i ndustrie (97% der Befragten
sind stolz auf diese) vor den Themen
«Internationaler Qualitätsruf» und «Starke Schweizer Marken im Ausland» (je
96%), den KMU und der Maschinenindustrie (je 95%) sowie der Forschung
(93%). Geringfügig tiefere Werte erreichen die Pharmaindustrie und die Innovationskraft (je 89%) sowie die Service-public-Unternehmen (88%). Auf
hohem Niveau, aber etwas distanziert
sind die internationalen Konzerne in der
Schweiz (82%), der Finanzplatz (80%)
und das Bankkundengeheimnis (78%).
Die politischen Begriffe erreichen
bei der Frage, worauf man stolz sei,
eine ansehnliche Durchschnittsquote
von 84% (–4pp). Wirtschaftliche Begriffe werden mit 90% (+2pp) sogar
noch etwas höher eingestuft, obwohl
sie bei den Stärken etwas schwächer
abschneiden als die politischen Faktoren. Die Wirtschaft trägt demnach stark
zum hohen Nationalstolz bei. (schi) Abb. 4 : Identität
Wer sind wir ?
32%
(+12)
«Sagen Sie mir bitte drei Dinge, wofür die Schweiz für Sie persönlich steht.»
+7pp
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 35
6% (+3)
6% (+4)
Schokolade
Freundlichkeit
6% (+3)
Industrie
6% (–1)
Tradition
6% (+3)
Finanzplatz
7% (+5)
8% (+2)
Sauberkeit
Wohlstand
8% (+2)
Freiheit
8% (–)
Demokratie
9% (+2)
10% (+3)
Schulsystem
Solidarität
10% (+4)
Ordnunsbewusst
10%
Qualitätsbewusst
(+3)
10%
Heimat
(–8)
(+7)
12%
Banken
Landschaft
Sicherheit
Neutralität
13%
(–1)
19%
(+1)
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R e sXuXlX
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4. Die Innensicht
Abb. 5 : Gefahren für die
Heimat ist ein Gefühl
Schweizer Identität
Was uns bedroht
«Durch welche Ursachen sehen Sie die
Schweizer Identität gefährdet ?»
Wo sind die Schweizerinnen und
Schweizer zu Hause ? Wie schätzen
sie die eigene wirtschaftliche
Situation ein ? Und was gefährdet
ihre Identität ? Überraschende
Antworten zur Gefühlslage der
Befragten.
Seit 1990 sind in der Schweiz nicht
weniger als 707 Gemeinden – fast ein
Viertel der Gesamtzahl – durch Fusionen verschwunden. Diese Zusammenschlüsse könnten, verbunden mit einer
generell erhöhten Mobilität, ein Grund
dafür sein, warum die Gemeinden
nicht mehr das unbestrittene Zentrum
der Identifikation darstellen. Hatten
sich im Jahr 2011 44% der Stimmbürger in erster Linie der Gemeinde zugehörig gefühlt, so sind es heute nur
19% (+2pp).
Die Swissness-Kurve der letzten
Jahre steigt laut Sorgenbarometer nicht
weiter an : Das Gefühl der Zugehö­
rigkeit zur Schweiz als Ganzem hat
2015 um 2pp auf 26% abgenommen.
Mit 24% liegen die Sprachregion
(+5pp) und der Kanton (+2pp) praktisch gleichauf. Die Resultate werden
aus­sagekräftiger, wenn man auch noch
hinzunimmt, wem sich die Befragten
in zweiter Linie zugehörig fühlen : Die
Schweiz mit 50% (–6pp) und die e
­ igene
Sprachregion mit 47% (+12pp) liegen nun deutlich vor dem Wohnkanton
mit 36% (–5pp) und der Wohngemeinde mit 31% (+3pp). Europa mit 15%
(–2pp) und die Welt mit 9% (–2pp)
bieten nur für wenige eine Identifika­
tionsmöglichkeit.
Werden die Sprachregionen also
zunehmend wichtiger? Der langjährige
Trend ist klar : 2007 fühlten sich nur
8% in erster Linie der Romandie, dem
1. Egoismus 71% (+4)
2. EU-Probleme 71% (–5)
3. Einwanderung 70% (–3)
4. Reformstau 67% (+3)
5. Inter. Öffnung 66% (–4)
6. Polarisierung 58% (+3)
Tessin oder der Deutschschweiz zugehörig, heute sind es dreimal mehr.
Dieser Trend zu grösseren Ein­
heiten beinhaltet anscheinend auch
die Gefahr der Entsolidarisierung.
Mittlerweile wird der Egoismus mit
71% (+4pp) als ebenso grosse Gefahr
für die Schweizer Identität angesehen
wie das Verhältnis zur EU; in der
Romandie wird der Egoismus als noch
etwas grössere Gefahr wahrgenommen (75%) als in der Deutschschweiz
(71%). In dieses Bild passt, dass bei
der offenen Befragung nach den
Hauptproblemen der Schweiz das
Desinteresse an wichtigen politischen
Themen (14%) praktisch gleich oft
genannt wurde wie die Altersvorsorge
(16%). Zugenommen haben auch die
Identitätsgefährdung durch Reformstau
(67%, +4pp) und die Polarisierung
(58%, +4pp).
Steuern weniger selbstverständlich
Auch bei der Frage nach Steuergerechtigkeit scheinen gewisse individualistische Tendenzen erkennbar. Natürlich zahlt niemand gerne Steuern, doch
im Jahr 2011 bezeichneten immerhin
40% die Steuerbelastung als gerade
richtig. Jetzt sind es noch 27%. Dementsprechend beklagten sich vor vier
Jahren nur 54% über zu hohe Steuern,
jetzt sind es 70%. Nimmt das Zu­
sammengehörigkeitsgefühl ab, werden wohl auch Steuern weniger selbstverständlich.
Doch es gibt allenfalls auch einen
Zusammenhang zwischen Steuerfragen und der Beurteilung der allgemeinen und der individuellen Wirtschaftslage. Hier lässt sich, auf sehr hohem
Niveau, eine etwas pessimistischere
Einschätzung der Zukunft feststellen,
Abb. 6 : Zugehörigkeit
Meine Scholle
«Welcher geografischen Einheit fühlen
Sie sich in erster Linie zugehörig ?»
Schweiz
Wohnkanton
Sprachregion
Wohngemeinde
39%
26%
18%
26%
24%
19%
12%
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 36
2010
lt
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Land 2015
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an Kon
R e sXuXlX
tate
obwohl nur 8% (+1pp) konkret befürchten, im Laufe der nächsten zwölf Mo­
nate die Arbeitsstelle zu verlieren. 63%
(+3pp) bezeichnen ihre aktuelle wirtschaftliche Situation als gut oder sehr
gut. Und dass sie im nächsten Jahr
besser oder zumindest gleich gut sein
wird, glauben 86% (–6pp). Umgekehrt
beklagen sich zwar nur 6% (–1pp) über
eine finanziell schlechte Situation; aber
13% (+6pp) befürchten eine Verschlechterung – so viele wie seit 2002
nicht mehr (1% gab keine Antwort).
Nur 20% glauben an Aufschwung
Noch etwas düsterer wird die allgemeine Konjunkturentwicklung gesehen. 28% (+11pp) haben eine Verschlechterung der allgemeinen Wirt­
schaftslage festgestellt, und 23%
(+8pp) gehen davon aus, dass eine
weitere Verschlechterung eintreten
wird. Das ist zwar noch nicht beängstigend, aber an einen wirtschaftlichen
Aufschwung glauben derzeit unverändert lediglich 20%.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist
der Ansicht, dass es der Schweiz in
zehn Jahren besser gehen wird in
Bezug auf den Zusammenhalt der
Sprachregionen (65%, –8pp), die Umwelt (61%, +8pp) sowie die Zusammenarbeit der wichtigsten Parteien
(51%, –4pp). Von einer Verschlechterung gehen die Befragten hinsichtlich
der Verbreitung von Armut (64%, +0pp)
und der Altersstruktur der Gesellschaft
(57%, +2pp) aus. Eine Pattsituation
gibt es bei der Frage, ob sich das
Zusammenleben mit den Auslände­
rinnen und Ausländern verbessern
(48%, –2pp) oder verschlechtern (48%,
+3pp) wird. (schi) Abb. 7 : Persönliche Wirtschaftslage heute und morgen
Geht gut und das bleibt so
«Was würden Sie sagen, wie es Ihnen wirtschaftlich gesehen im Moment geht ?
Und in den nächsten 12 Monaten ?»
1%
0%
(–1)
(–)
5%
(–1)
1%
(–)
10%
14%
13%
(–)
(–4)
(+6)
31%
(–1)
53%
(+3)
72%
(–2)
Individuell heute
sehr gut schlecht gut recht
sehr schlecht weiss nicht
Individuell Zukunft
besser gleich weiss nicht
schlechter
Abb. 8 : Allgemeine Wirtschaftslage heute und morgen
Die generelle Lage ist weniger gut
«Wie hat sich Ihrer Ansicht nach die allgemeine Wirtschaftslage in der Schweiz
in den vergangenen 12 Monaten entwickelt ? Und wie wird sie sich in den kommenden 12 Monaten entwickeln ?»
5%
(+2)
1%
(–1)
16%
28%
(–2)
(+11)
20%
23%
(–)
(+8)
52%
(–10)
55%
(–8)
Allgemein heute
verbessert weiss nicht
gleich verschlechtert
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 37
Allgemein Zukunft
verbessern weiss nicht
gleich verschlechtern
R e sXuXlX
tate
5. Der Blick nach aussen
Besser als die anderen
Die Politik solle sich im Ausland
offensiv verhalten, denn das Image
der Schweiz sei nach wie vor
sehr gut, findet eine Mehrheit der
Stimmbürgerinnen und Stimm­
bürger. Doch das Selbstvertrauen
bekommt Risse.
Hat das Ansehen der Schweiz nach
der Annahme der Initiative gegen die
Masseneinwanderung gelitten ? Ja,
aber nicht in dramatischem Ausmass,
lautet die Einschätzung der Befragten. Glaubten vor zwei Jahren 31%
der Schweizerinnen und Schweizer,
das Image im Ausland habe sich innert Jahresfrist verschlechtert, so
sind es nun 38%. Dieser Minderheit
steht jedoch mit 40% eine grössere
Anzahl an Stimmbürgern gegenüber,
die meinen, eine Image­v erbesserung
festgestellt zu haben.
Folgerichtig geht eine Mehrheit
von 73% (–3pp) davon aus, dass
das Bild der Schweiz im Ausland gut
oder sogar sehr gut ist. Allerdings
haben die Stimmbürgerinnen und
Stimmbürger mit einer kritischen Sicht
deutlich zugenommen auf nunmehr
25% (+14pp).
Abb. 9 : Verhalten der Politik
gegenüber dem Ausland
Abb. 10 : Schweizer Wirtschaft
Angriff oder
Verteidigung ?
Starke Wirtschaft
«Wie sollte sich die Schweizer
Politik gegenüber dem Ausland
verhalten ?»
«Wie steht die Schweizer Wirtschaft da im Vergleich zur auslän­
dischen Wirtschaft ?»
0% (–1)
1% (+1)
6% (+4)
7% (+3)
12% (+5)
37% (–3)
33% (–8)
11% (+3)
65% (–4)
sehr offensiv
eher offensiv
eher defensiv
sehr defensiv
weiss nicht / keine
Antwort
28% (–)
sehr gut
eher gut
schlecht
sehr schlecht
weiss nicht/keine
Antwort
Credit Suisse · Kompass für die Schweiz ― Seite 38
Wirtschaftlich überlegen
Nach wie vor sind 93% der Meinung,
die hiesige Wirtschaft stehe besser
da als die ausländische; für 28%
schneidet sie im Vergleich sogar «sehr
gut» ab. Dennoch relativieren zunehmend kritische Stimmen diesen Optimismus, und gerade in Bezug auf
das politische Verhalten der Schweiz
scheint eine gewisse Verunsicherung
spürbar. Hielten noch 2013 zwei Drittel der Stimmbürger das Vorgehen
der Politik für defensiv, so liegt dieses
Lager inzwischen etwa gleichauf mit
jenem, welches das Gegenteil für den
Fall hält : Derzeit sind für 44% (–5pp)
die Schweizer Politikerinnen und
Politiker im Ausland eher offensiv, für
49% (+2%) hingegen eher defensiv.
Nach wie vor stärkt aber eine
Mehrheit von 64% (–15pp) der Politik
den Rücken und wünscht sich in den
kommenden zwölf Monaten ein (noch)
offensiveres Vorgehen. Gleichzeitig
haben sich noch nie so viele Befragte
wie jetzt ein besonnenes, eher de­
fensives Agieren gewünscht : 30%
(+13pp) im Vergleich zur bisherigen
Höchstmarke von 22% im Jahr 2012.
Wäre der EWR eine Alternative ?
Konkret zum künftigen Verhältnis mit
der Europäischen Union befragt, befürworten die meisten Schweizerinnen
und Schweizer den Status quo, also
die Fortsetzung der bilateralen Verträge. In erster Priorität sind 47% (–3pp)
dafür, in zweiter Priorität würden weitere 13% (–3pp) den bilateralen Verträgen zustimmen. Als ernsthaft zu prüfende Alternative wird der Beitritt zum
EWR von 18% (+6pp) der Befragten in
erster Priorität sowie weiteren 28%
(–1pp) in zweiter Priorität in Erwägung
gezogen. Noch einen Schritt weiter
gehen und Mitglied der Europäischen
Union werden möchten lediglich 8%
(+4pp) in erster beziehungsweise weitere 15% (+5pp) in zweiter Priorität.
Für die Kündigung der bilateralen
Verträge sind 18% (–6pp) in erster sowie 6% (–1pp) in zweiter Priorität.
(schi) Dieses Dokument wurde von der Credit Suisse AG einzig zu Informationszwecken und zur Verwendung durch den Empfänger erstellt. Die
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MMMM 12 1234567 01.2015
Impressum
Herausgeberin Credit Suisse AG, Public Policy & Sustainability, Projektverantwortung Dr. René Buholzer (Leitung), Elena Scherrer
(stv. Leitung), Urs Reich, Mandana Razavi, Simon Staufer, Kontakt [email protected], Konzept und Gestaltung Crafft
Kommunikation AG (www.crafft.ch), Textredaktion und -produktion Ammann, Brunner & Krobath AG (www.abk.ch), Bilder/Illustrationen
Stefan Huwiler/Keystone, Blagovesta Bakardjieva, Wendy Kay/Alamy Stock Photo, Christian Beirle González/Getty Images, Izabela Habur/
Getty Images, Maskot/Getty Images, Druck­vorstufe n c ag (www.ncag.ch), Druckerei galledia ag (www.galledia.ch), Auflage 4500