Franziskus stößt die Tore auf - Heiliges Jahr der Barmherzigkeit

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Zeit des Aufbruchs,
Zeit der Verunsicherung
Mit lieben Worten
Zeichen setzen
„Ein wenig überladen und äußerlich“, empfand der junge Theologe
Joseph Ratzinger (Foto: KNA) die
Schlussfeier auf dem Petersplatz. Das
Zweite Vatikanische Konzil endete
vor 50 Jahren euphorisch. Seite 6
A
m Ende erwiesen sich alle
Sorgen als unbegründet –
zum Glück: Papst Franziskus
ist wohlbehalten aus der afrikanischen Krisenregion nach Rom
zurückgekehrt. Kein Terror, keine Gewalt überschattete den Besuch in Kenia, Uganda und der
Zentralafrikanischen Republik,
den ersten Besuch des Heiligen
Vaters auf dem „Schwarzen
Kontinent“ (Seite 8/9).
Gerade die Visite in der Zentralafrikanischen Republik, die
bis zuletzt aus Sicherheitsgründen fraglich war, entwickelte
sich zum Höhepunkt der ganzen
Reise: In Bangui, der Hauptstadt
des bürgerkriegsgeplagten Landes, rief Franziskus zur Versöhnung zwischen den Religionen
auf. Mit der Öffnung der Heiligen Pforte in der Kathedrale von
Bangui nahm er die Eröffnung
des Jahres der Barmherzigkeit
vorweg.
Offiziell beginnt das Jubiläum
am Dienstag. Seine Konzeption
als außerordentliches Heiliges
Jahr beweist: Für Franziskus ist
die Barmherzigkeit – politisch
gesprochen – eine Art Regierungsprogramm. Was dieser für
viele Menschen abstrakte Begriff
bedeutet, wollen wir Ihnen in
dieser und in weiteren Ausgaben
aufzeigen (Seite 4/5).
Thorsten Fels,
Chef vom Dienst
Unter der umsichtigen Leitung
von Kirchenpfleger Paul Mayr
(Foto: Mayr) wurde die Kirche
St. Johannes in Moosbach saniert.
Früher war sie eine bedeutende
Wallfahrtsstätte.
Seite 20
Franziskus stößt die Tore auf
I
n Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, hat Papst
Franziskus mit der Heiligen Pforte vorab das Jahr der Barmherzigkeit eröffnet. So wurde Bangui nach seinen Worten „die spirituelle Hauptstadt
der Welt“. Mit dem Aufstoßen der Heiligen Pforte im Petersdom
wird Franziskus am Dienstag das Heilige Jahr offiziell
beginnen. Seite 4/5 und 8/9
Termine
Liebe Leserin,
lieber Leser
Einst ein bedeutender
Wallfahrtsort
Allgäu
Vor allem …
Weihnachtskarten (Foto: imago)
gelten heutzutage manchen Menschen als verweltlichter Kitsch mit
nichtssagenden Floskeln. Dabei
steckt so viel mehr hinter dem alten
Brauch der Weihnachtspost. Seite 47
Einzelverkaufspreis 2,30 Euro, 6070
Bistum
5./6. Dezember 2015 / Nr. 49
ePaper
Foto: KNA
THEMA DER WOCHE
5./6. Dezember 2015 / Nr. 49
Das Bistum Augsburg bietet eine
eigene Internetseite rund um das
Heilige Jahr der Barmherzigkeit an:
http://www.barmherzigkeitsjahr.de/
HEILIGES JAHR
Das Maximum Gottes
Gedanken zum Beginn des Jubiläums der Barmherzigkeit am 8. Dezember
Barmherziges Erbarmen? So etwas hat der moderne Mensch
nicht nötig. Der profilierte Gläubige hingegen beargwöhnt inkonsequente Harmlosigkeit. Und
der Terrorist bombt weiter im
Namen eines Allbarmherzigen.
Zeit für eine Klärung.
„Jesus Christus ist das Antlitz
der Barmherzigkeit des Vaters“, beginnt Papst Franziskus seine Bulle
zum Heiligen Jahr, „das Geheimnis
des christlichen Glaubens scheint
in diesem Satz auf den Punkt gebracht.“ Das Geheimnis aber ist
zuerst ein Gefühl.
Wenn die Bibel von Barmherzigkeit und Erbarmen spricht,
spricht sie aus dem Bauch heraus.
Im griechischen Wort für „sich erbarmen“ stecken „die Eingeweide“
(tá splánchna). Im Deutschen geht
den Menschen etwas Ähnliches „an
die Nieren“. Die hebräische und
die arabische Sprache leiten Barmherzigkeit von einem Wort her, das
auch den Mutterschoß bezeichnet:
„raham“.
Mit dem Mutterschoß, so schildern es Mütter, verbindet sich ein
Gefühl, das über einen hinausgeht:
die Macht und gleichzeitig die
Demut, Leben zu geben. Zudem
machen ihre hormonell bedingten
Stimmungsschwankungen werdende Mütter besonders empfänglich
für das Leid anderer: Empathie,
Mitleiden, das weit hinausgeht
über bloße Sympathie. So wird aus
dem Bauchgefühl der Barmherzigkeit eine Lebenshaltung.
Brüder“ gründeten. Etliche hatten
Elend am eigenen Leib erlebt.
Für viele ist Barmherzigkeit
„unvernünftiges“ Verhalten. Peter
Friedhofen (1819 bis 1860) zum
Beispiel, Gründer der „Barmherzigen Brüder von Maria Hilf“
in Koblenz, verlor mit eineinhalb Jahren seinen Vater und mit neun die
Mutter. Er und seine
fünf Geschwister litten
Not und Entbehrungen.
Als Schornsteinfegerlehrling
bekam er in den Häusern
das ganze Elend seiner Zeit
zu sehen – und erkannte
darin Christus. „Durch die
Krankenpflege“, schrieb Peter Friedhofen über die Mitglieder seiner Gemeinschaft,
„wollen sie ihrem Gott und
Heiland dienen, in-
dem sie in der Person der Kranken
ihn selbst erblicken und mit treuer Liebe pflegen, denn so wird der
Herr am Tag der Vergeltung sprechen: ‚Ich war krank, und ihr habt
mich besucht.‘“
Ärgernis und Torheit
Schon damals erschienen solche Initiativen unvernünftig, verlangte doch wirtschaftliche Räson,
dass reiche Patienten und großzügige Spender den „Barmherzigen
Brüdern“ die Pflege erst ermöglichten. Sein Werk, schrieb Friedhofen,
sei „dem einen ein Ärgernis, dem
anderen eine Torheit, anderen eine
Unmöglichkeit“ gewesen.
Seither hat Europa demokratische Sozialstaaten aufgebaut, ohne
die jene Nöte des 19. und 20. Jahrhunderts gar nicht zu bewältigen
Aus dem Innersten
Barmherzigkeit ist wie die „Liebe eines Vaters und einer Mutter“,
schreibt Franziskus. „Sie kommt
aus dem Innersten und ist tiefgehend, natürlich, bewegt von Zärtlichkeit und Mitleid, von Nachsicht und Vergebung.“ Auch wenn
die Religionen den barmherzigen
Gott immer wieder „ersäuft“ haben in Allmachtsfantasien und
Wahrheitspathos, bricht seine
Barmherzigkeit sich immer wieder
Bahn.
Etwa im Europa des 19. Jahrhunderts, als junge Menschen
auftraten, die sich ihrer verelendeten Mitmenschen erbarmten und
Gemeinschaften
„barmherziger
Schwestern“ und „barmherziger
Auch ein Papst braucht Barmherzigkeit. Das wusste Johannes Paul II. – hier im Gebet an der Heiligen Pforte des Petersdoms. Papst Franziskus wird sie zum ersten Mal
seit dem Jahr 2000 wieder öffnen.
Fotos: KNA
Hinweis
Barmherzigkeit
in der Bibel
In der Bibel handeln viele Geschichten von Gottes Barmherzigkeit. Eine kleine Auswahl: Gott
offenbart sich am Sinai (Exodus
32,30–34,10); Fasten, wie Gott
es liebt ( Jesaja 58,6–11); Gottes
große Liebe (Hosea 11,1–11); Berufung des Matthäus (Matthäus
9,9–13); Pflicht zur Vergebung
(Matthäus 18,21–35); Arbeiter im
Weinberg (Matthäus 20,1–16);
der barmherzige Samariter (Lukas
10,25–37); das verlorene Schaf
und die Drachme (Lukas 15,1–10);
der barmherzige Vater (Lukas
15,11–32).
gewesen wären. Mit ihnen entstand
die moderne Ansicht: Wer in Not
gerät, hat Rechtsanspruch auf Hilfe
und ist nicht auf die Barmherzigkeit angewiesen. Die weckt vielmehr Skepsis: Selbstbewusste und
selbstbestimmte Individuen wollen
nicht angewiesen sein auf gnädige
Herrscher und mildtätige Gönner.
Doch wo soziale und gesundheitliche Hilfe professionalisiert
und klar geregelt sind, da „scheinen
Erbarmen und Barmherzigkeit keinen Platz mehr zu haben“, schrieb
das Zentralkomitee der deutschen
Katholiken (ZdK) 1995 in einer
Erklärung über Barmherzigkeit im
modernen Sozialstaat. Dort gingen
Barmherzigkeit und Mitgefühl im
normalen alltäglichen Leben verloren. „Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit breiten sich aus, werden
ihrerseits zur Norm.“
„Dennoch sind wir weiterhin
auf Barmherzigkeit angewiesen“,
so das ZdK. Ohne sie gehe überhaupt die Motivation für Sozialgesetzgebung verloren und „werden
neue Notlagen überhaupt nicht
entdeckt“. Zudem gibt es genügend Not, für die sozialgesetzlich
nicht gesorgt ist und auch nicht
gesorgt werden kann.
Barmherzigkeit ist aber auch
mehr als Almosen, als die sie oft
missverstanden wird. Weil es einfacher ist, etwas in Klingelbeutel
und Spendendose zu tun, als dem
anderen direkt ins Gesicht zu se-
JA H R
DER BARMHERZIGKEIT
THEMA DER WOCHE
5./6. Dezember 2015 / Nr. 49
hen, Geduld zu haben und Zeit
zu schenken. Auf diesen blinden
Fleck wies auch Johannes Paul II.
hin, als er 1980 seine zweite Enzyklika „Dives in misericordia“ veröffentlichte und im Jahr 2000 den
„Sonntag der Barmherzigkeit“ eine
Woche nach Ostern einführte.
Mit einem weiteren Aspekt von
Barmherzigkeit tut der postmoderne Mensch sich ebenfalls schwer:
dass sie mit Schuld zu tun hat. „Auf
die Schwere der Sünde antwortet Gott mit der Fülle der Barmherzigkeit“, schreibt Franziskus
in seiner Bulle. Doch befreit von
falschen Schuldgefühlen früherer
Tage scheint vielen Christen auch
ein angemessenes Schuldbewusstsein weitgehend abhandengekommen zu sein. Das aber ist nötig, um
Barmherzigkeit zu verstehen.
Ausdruck der Liebe
„Die Vergebung von begangenem Unrecht“, schreibt der Papst,
„wird zum sichtbarsten Ausdruck
der barmherzigen Liebe, und für
uns Christen wird sie zum Imperativ, von dem wir nicht absehen
können.“ Zudem soll die Vergebung großzügig sein, „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“ ist dem anderen zu vergeben,
macht Jesus klar.
Verkommt unter so viel Barmherzigkeit der Allmächtige nicht
Kalender
Termine im
Heiligen Jahr
29. November: Beim Besuch in der
zentralafrikanischen
Hauptstadt
Bangui hat Papst Franziskus vorzeitig eine erste Heilige Pforte der
Barmherzigkeit geöffnet.
8. Dezember: Das Heilige Jahr der
Barmherzigkeit beginnt offiziell,
im Petersdom in Rom, wird die
Heilige Pforte geöffnet.
13. Dezember: Die Heilige Pforte in
San Giovanni in Laterano wird geöffnet. Gleichzeitig soll weltweit in
allen Bischofskirchen – oder einer
anderen Kirche des Bistums – eine
„Pforte der Barmherzigkeit“ geöffnet werden.
Fastenzeit 2016: Der Papst sendet
„Missionare der Barmherzigkeit“
aus, Beichtseelsorger, die auch
von Sünden lossprechen dürfen,
die sonst dem Apostolischen Stuhl
vorbehalten sind.
26. November: Am Christkönigssonntag endet das Heilige Jahr.
Weitere Termine und Infos bietet
die Bischofskonferenz unter: www.
heiligjahrkalender.de
zum harmlosen „lieben Gott“,
schwankend zwischen laxer Nachgiebigkeit und herablassender Souveränität? „Nein“, sagte schon im
Mittelalter Thomas von Aquin:
„Gerade in der Barmherzigkeit
zeigt sich Gottes Allmacht.“ Und
in einem der ältesten Tagesgebete der christlichen Liturgie aus
dem achten Jahrhundert heißt es:
„Großer Gott, du offenbarst deine
Macht vor allem im Erbarmen und
Verschonen.“
Rache und Aufrechnen, erkannten gottesfürchtige Menschen, ist
eher etwas für Kleingeister. Kleingeistig aber sind Götzen, nicht
Gott. Das zeigt sich beim Ringen zwischen Barmherzigkeit und
Gerechtigkeit. Während für viele
Menschen Gerechtigkeit schon das
höchste erreichbare Gut ist, geht
Barmherzigkeit darüber hinaus
– über den Legalismus korrekter
Schriftgelehrter, Juristen und Verwaltungen. Gerechtigkeit ist der
Maßstab für Falsches und Böses,
Barmherzigkeit die göttliche Weise, damit umzugehen. Deswegen
spricht Jesus in seinen Gleichnissen
nicht von Strafen, die nicht erteilt
werden, sondern von unverhofft
empfangener Gunst.
Das ist eben eine andere Perspektive. „Barmherzigkeit steht über allen Regeln, auch wenn diese Regeln
an sich ihren Sinn haben“, schreibt
die Theologin Susanne Krahe. Und
Kardinal Walter Kasper sagt: „Gerechtigkeit ist das Minimalmaß, wie
man sich verhalten muss gegenüber
anderen, die Barmherzigkeit ist das
Maximum.“ Zugleich warnt er vor
„falscher Barmherzigkeit, wenn
man sich scheut, einen anderen darauf aufmerksam zu machen, dass er
falsch handelt“.
Barmherzigkeit heißt schließlich: nie über jemanden endgültig
den Stab brechen. Am Ende, so der
Glaube, richtet ein anderer. Dieser
Richter aber wird ein barmherziger sein. „Es ist leichter, dass Gott
seinen Zorn zurückhält als seine
Barmherzigkeit“, schrieb der Kirchenvater Augustinus (gestorben
430).
Was Gott überwältigt
Der Prophet Hosea beschreibt,
wie Gott selbst von Barmherzigkeit
überwältigt wird: „Wie könnte ich
dich preisgeben ... wie dich aufgeben, Israel? ... Mein Herz wendet
sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und
Efraím nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein
Mensch“ (Hos 11,8–9).
Für den Verstand und das Herz
vieler Gläubiger ist das etliche Nummern zu groß. Tausendfach hat die
H E I L IG E S JAH R
D E R BA R M H E R Z I G K E I T
H E I L IG E S JAH R
D E R BA R M H E R Z I G K E I T
H E I L IG E S
JA H R
DER BARMHERZIGKEIT
H E I L IG E S
JA H R
DER BARMHERZIGKEIT
Letzte Vorbereitungen für die Öffnung der Heiligen Pforte am 8. Dezember.
Geschichte es gezeigt – und tut es
noch: in Kreuzzügen, religiöser Verfolgung, kleingeistiger Rechtgläubigkeit. Kaum irgendwo wird jedoch
derzeit so viel Schindluder betrieben
mit dem Wort Barmherzigkeit wie
im Terror religiös verblendeter Fanatiker, die einen allerbarmenden und
allbarmherzigen Gott anrufen und
jeden, der anders ist als sie, hassen,
unterdrücken, morden. Dabei sei
Barmherzigkeit, sagt der islamische
Theologe Mouhanad Khorchide, das
Einzige, zu dem Gott sich selber verpflichtet hat: den Menschen zu erschaffen, sich ihm zu offenbaren und
ihn in Liebe zur Gemeinschaft mit
Gott einzuladen.
Die katholische Kirche hat vor
gut 50 Jahren wiederentdeckt, dass
sie „lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden (soll) als die
Waffen der Strenge“, wie Johannes
XXIII. zur Eröffnung des Zweiten
Vatikanischen Konzils sagte.
Wie wenig herablassend, entmündigend oder berechnend wahre
Barmherzigkeit ist, schildert Jesus
mit dem barmherzigen Vater, der
seinen reuigen Sohn in die Arme
schließt: ohne Vorhaltungen, ohne
Ermahnungen, ohne Ansprüche an
Rechtfertigung. Nur mit Nachsicht,
Verzeihung, Liebe. Es ist jene Augenhöhe mit Bauchgefühl und Herzenswärme, die sich immer wieder spontan äußern kann. Sie sollte es oft tun,
denn durch barmherziges Handeln
wird der Mensch barmherzig.
Inwendige Nähe
Benedikt von Nursia (gestorben
547) riet seinen Mönchsbrüdern,
„an Gottes Barmherzigkeit niemals
zu verzweifeln“, so schwer sie zu verstehen sein mag. Die Benediktinerin
Raphaela Brüggenthies beschreibt
Barmherzigkeit als „inwendige
Nähe“, die eine Ahnung hinterlässt.
Eine Ahnung, „die sowohl wandeln
und heilen als auch korrigieren und
überraschen kann“. Barmherzigkeit
stellt eingefahrene Perspektiven auf
den Kopf und sprengt die Grenzen
menschlicher Logik. „Dabei lässt
sie nicht ein Trümmerfeld erstarrter
Leere zurück“, sondern schenkt Erfahrungen voll „Heil, Trost und Segen“.
Roland Juchem