Grundzüge einer Handlungstheorie des Alterns

Grundzüge einer Handlungstheorie des Alterns
H.J. Kaiser
1. Historische Wurzeln der „Erlanger Handlungstheorie“
Mitte der 19hdt60er Jahre
Zum Beginn meiner Studienzeit 1966 konnte man eine starke Absetzbewegung der
Psychologie in Deutschland von der überkommenen typologisch-tiefenpsychologisch
und hermeneutisch orientierten deutschen Psychologie (Klages, Lersch, Wellek) beobachten.
Die damaligen Hochschullehrer waren zu einem großen Teil auf der Suche nach Anschluss an die Entwicklung in den USA; die Übernahme der stärker quantitativ-experimentellen und behavioristischen Ausrichtung der Psychologie war ihr Programm.
Gleichzeitig jedoch gab es genau daran auch Kritik. Es begann eine Phase der Kritischen Rezeption dieser Art von Psychologie, z.T. unterhalten von der Kritischen Psychologie (Berlin: Klaus Holzkamp). Man kümmerte sich intensiv um die Widersprüche
und Ungereimtheiten in der behavioristischen Wissenschaftskonzeption. Das war insofern nicht schwierig, weil es diese Kritik in den USA ebenfalls gab, und es gab auch
schon Gegenentwürfe. So konnte Ende der 60er Jahre auch die deutsche Psychologie
beispielsweise die in den USA forcierte „kognitiven Wende“ aufgreifen.
Anfang 70er Jahre
Die 70er Jahre brachten das Erstarken einer Philosophischen Richtung, die vom wissenschaftstheoretischen Ansatz her und von ihrem Menschenbild gut zusammenging
mit der kritischen Selbstreflexionsphase in der Psychologie: Die Richtung der Konstruktiven Philosophie, Ethik und Wissenschaftstheorie Erlanger Prägung (Paul Lorenzen, Oswald Schwemmer). Diesen Zusammenhang erkannte jedenfalls der Inhaber
des Lehrstuhls II am Institut für Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg, Prof.
Dr. H. Werbik, der Anfang der 70er Jahre aus Wien nach Erlangen gekommen war.
Hans Werbik
Oswald Schwemmer
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In der Konstruktiven Philosophie begriff man die Wissenschaft als einen aus der Kon frontation mit der Lebenspraxis erwachsenen Versuch zur Lösung praktischer, d.h. mit
dem Handeln der Menschen und in ihm auftretenden Probleme. Damit war eine spezifische Ansicht über die Erkenntnisinteresse der (Sozial-)Wissenschaften nahegelegt:
In den (Sozial-)Wissenschaften geht es nicht einfach um die Aufstellung von „wahren
Sätzen“, die prinzipiell angesichts jeden beliebigen Gegenstandes möglich ist. Für die
Sozialwissenschaften wurde das Konfliktlösungsinteresse als allgemeinstes Erkenntnisinteresse formuliert, den Naturwissenschaften dagegen die Behebung von Mangelsituationen zugeordnet.
Selbstverständlich wurden Prinzipien entwickelt, die Formulierung eines allgemeinen
Prinzips zur Bewältigung von Konfliktsituationen: Moral- und Beratungsprinzip.
Die Voraussetzung für die Anwendung dieses Prinzips ist die Anerkennung eines
Handlungsmodells als Modell für menschliches Tun; das Handlungsmodell impliziert
ein rationales Menschenbild. Das heißt, dass der Mensch als zweckrational handelnde
und mittelauswählende Instanz angesehen wird. Als Mustersituation für den Aufweis
von Handlungen (im Gegensatz zu etwa reflexhaftem Verhalten) wurde die Aufforderungssituation angesehen. Das heißt, dass der Mensch prinzipiell in der Lage ist, auf
Aufforderung hin tätig zu sein. Die Aufforderungssituation ist auch eine Entscheidungssituation, denn der Mensch kann sich in dieser Situation für oder gegen die Befolgung einer Aufforderung entscheiden. Er hat hier, jedenfalls formal gesehen, Wahlfreiheit. Und die kennzeichnet das, was man „Handeln“ nennen kann.
Das Moral- und Beratungsprinzip als Grundlage für eine „gerechte“ Konfliktlösung
geht von einer hierarchischen Ordnung von Handlungen aus: best. Verhaltensweisen
sind Mittel für die Ereichung bestimmter Ziele, die wiederum Mittel zur Erreichung
spezifischer Oberziele sind; Oberziele sind Teil eines Oberzielsystems von Personen.
Eine gerechte oder echte Konfliktlösung ist dann erreicht, wenn es den Konfliktparteien gelingt, Mittel und „Unterziele“ so auszutauschen, dass ihr Oberziel(system) aufrechterhalten bleibt. In diesem Falle gibt es nämlich keine Gewinner oder Verlierer.
In intensiver Diskussion mit den Vertretern der Erlanger Konstruktiven Philosophie
kam es zur Übernahme dieser Grundideen in die Psychologie durch H. Werbik und damit zum Aufbau seiner psychologischen Handlungstheorie.
Mittlerweile hatte sich in Deutschland ein Krisendiskurs etabliert, man sprach von der
Krise der Psychologie. Es war eine, in die man die experimentell-behavioristische Psychologie (vor allem, aber nicht nur in den USA) geraten sah.
Was war passiert?
Anfang der 70er Jahre setzte eine eminent ethisch motivierte Kritik an der Praxis des
psychologischen Experimentierens ein. Dabei zeigte sich, dass Konzeption („Gegegenstandsverständnis“) der Psychologie und Forschungsethik eng zusammen hängen.
Einer der konkreten Ausgangspunkte für die harsche, wie gesagt überwiegend ethisch
motivierte Kritik an der damals modernen Psychologie war u.a. die Rezeption des Milgram-Experiments zum Gehorsam (obedience).
Folgende Probleme des Experiments wurden benannt:
1. Ethische Problematik (wie gesagt)
2. Problematik der Auswahl der Variablen
3. Problematik der impliziten Vorannahmen
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Zu 1: Die ethische Problematik entsteht durch das Erfordernis, die „Versuchsperson“
die Intentionen des Forschers nicht erkennen zu lassen, sie also ausdrücklich zu täuschen. Sie soll sich in einer Situation empfinden, die tatsächlich gar nicht besteht.
Ethisch Problematisch ist es auch, die Versuchsperson in einem solchen „setting“ leiden zu lassen, negative Gefühle zu induzieren, und sie höchstens erst hinterher über
die wahre Situation aufzuklären.
Zu 2: Die Setzung der UV ist sehr selektiv: Aus dem Universum aller möglichen Variablen, die einen Einfluss auf das untersuchte Verhalten haben könnten, nimmt der Versuchsleiter eine Auswahl vor. Diese Auswahl stammt bestenfalls aus einer Theorie. In
einem „Erkundungsexperiment“ wie dem ersten Milgram-Experiment allerdings liegt
diese Theorie nicht vor. Der Experimentator hat also ein Problem mit der Begründung
seiner Variablen-Auswahl.
Zu 3: Problem Nr. 2 führt zur Frage der Vorannahmen, die in Experimente eingehen.
Von welchen üblicherweise nicht hinterfragten Annahmen geht eine Experimentator
aus, damit sein Experiment funktioniert, d.h., damit er überhaupt seine Daten interpretieren kann? Die hier wesentliche Vorannahme ist die, dass der Versuchsleiter davon ausgehen muss, dass die Versuchperson die vom Vl hergestellte Situation so auffasst, wie Vl es aufgefasst haben will. Aber kann man davon einfach ausgehen? Die
genannte Vorannahme ist eigentlich nur unter der Geltung eines sehr einfachen S-RModells gültig, in dem letztlich Universalien von Reiz-Reaktionsbeziehung behauptet
werden, und ein aktiv reizverarbeitender Organismus nicht berücksichtigt wird. Was
ausgeblendet wird, sind Reflexionen der Versuchspersonen, sind ihre Versuche, hinter
den Sinn des Experiments zu kommen
Das Milgram-Experiment
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Das Problem des Experiments in der Psychologie ist, so gesehen, nicht einmal so
sehr ein ethisches oder moralisches, sondern eher ein erkenntnistheoretisches:
Ist es überhaupt möglich, die Realität menschlicher Existenz in einem Versuch zu erfassen, der nach dem Ideal des naturwissenschaftlichen Experiments konstruiert wurde?
Immerhin sollten wir uns daran erinnern, dass die Naturwissenschaften es mit einem Gegenstand zu tun haben, der nicht mit ihnen redet, der den Wissenschaftlern nichts von
den Gesetzmäßigkeiten seines Funktionierens verrät. Das ist beim Gegenstand Mensch
und seinem Verhalten anders (zumindest zu einem wesentlichen Teil). Wie der Wissenschaftler selbst erschließt sich auch das von ihm untersuchte „Objekt“ die Wirklichkeit in
ihm und außerhalb von ihm durch das Mittel der Sprache, und beide sind derselben Spra che mächtig. Deshalb ist es nicht unbedingt verständlich, warum die Beziehung zwischen
Forscher und dem erforschten Menschen auf eine Reiz-Reaktions-Beziehung bzw. auf die
Beobachtung einer Beziehung zwischen Unabhängigen (UV) und Abhängigen (AV) Variablen reduziert werden sollte.
Übrigens erweist sich das erkenntnistheoretische Problem auch wieder als verkappt
ethisches:
Warum eigentlich soll es dem wissenschaftlichen Psychologen als angemessen gelten,
sich selbst anders zu begreifen als seinem erforschten Objekt (Selbstanwendungsparadox)? Warum soll es zwei unterschiedliche „Modelle“ des Menschen in der Psychologie geben? Wie kommen die Wissenschaftler darauf, dass der untersuchte Mensch anders „funktioniert“ als der Untersucher? Bereits in den 50er Jahren hatte Kelly ja be kanntlich schon seine Konsequenz aus der Feststellung dieses Widerspruches formuliert: sein „Mensch-als-Wissenschaftler-Modell“ in Rahmen seines personal constructKonzepts (Kelly 1955).
Solche und ähnliche Fragen waren gewissermaßen die Krisenzeichen der Situation der
Psychologie in dieser Zeit.
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2. Die Erlanger Antwort auf die Krisenzeichen: Beratungsforschung
Ist es nicht so, dass die „herrschende“ Psychologie der damaligen Zeit letztlich eine
Psychologie des uneingeweihten, desorientierten und desinteressierten Individuums
gewesen ist? Ist es nicht möglich, eine Psychologie zu entwerfen, die das Selbstanwendungsparadox umgeht, die menschliches Verhalten nicht als Quasi-Zufallsvariable
ansieht, sondern als sinngehaltsgemäßes Tun, die diese Sinngehalte zu erfassen versucht, also die Selbstverständnisse des Individuums nicht ausblendet?
Auf der Basis der sich entwickelnden Erlanger Handlungstheorie von Werbik wurden
zwei Arbeiten an einer Anwort parallel unternommen:
o Der Aufbau eines allgemeinen Modells handlungspsychologischer Forschung
nicht-experimenteller Prägung (das später als „Beratungsforschung“ bekannt
geworden ist, Kaiser & Seel 1981).
o Die Konzipierung einer praktisch anwendbaren Methodik des Umgangs mit den
Sinngehalten von Personen, die miteinander in Konflikt stehen (Aufgreifen des
Moral- und Beratungsprinzips und Konkretisierung für den Bereich der Konflikt-/Partnerberatung; „Konfliktberatung nach handlungspsychologischen Prinzipien, Kaiser 1979).
Die Kernannahmen beider Arbeitsbereiche und damit der darin eingeschlossenen
Handlungstheorie könnte man in etwa wie folgt wiedergeben:
o Bei vielen Verhaltensweisen gehen die Psychologen, aber auch die Juristen
und eigentlich auch der „naive“ Beobachter davon aus, dass das Verhalten des
Menschen nicht nur aus biologischen Ursachen so und nicht anderes ausfällt,
sondern dass es auf der Grundlage von Entscheidungen zustande gekommen
ist, die der Mensch so und nicht anders getroffen hat, obwohl er sie anders
hätte treffen können. Insofern beziehen wir uns (auch im „Alltag“) auf einen
Teilaspekt aller als "Verhalten" bezeichneten Lebensäußerungen. Wissenschaftlich und umgangssprachlich bezeichnen wir diesen Aspekt oder diese "Fraktion" des Verhaltens (das Verhalten, für oder gegen dessen Ausführung man
sich entscheiden kann) als Handeln.
o Indem wir Verhalten Gründe zuordnen, gehen wir (auch außerhalb der wissenschaftlichen Psychologie) von einer prinzipiellen Entscheidungs- oder Willensfreiheit des Menschen aus. Das heißt nichts anderes als: Wir haben zwar häufig gute Gründe, A zu tun und/oder B zu lassen, und manchmal empfinden wir
die Gründe geradezu als zwingend; prinzipiell könnten wir uns aber auch anders entscheiden, wenn wir wollten.
o Handeln als ein Verhalten, dem man (gute) Gründe zuordnen kann, ist als „argumentationszugänglich“ zu betrachten, denn welche Gründe ein Verhalten
am ehesten charakterisieren können, und ob es gute Gründe sind, ist eine Frage der Argumente. Eine Person kann Argumenten folgen, d.h. auf Argumente
hin ihr Verhalten ändern. „Argumentationszugänglichkeit“ ist also ein treffend
benanntes Charakteristikum des Handelns.
o Handeln erscheint auf dieser Ebene der Erklärung nicht als gesetzmäßiges Tun
im Sinne der Naturgesetze, sondern als regelgeleitetes soziales Handeln, und
es ist nun einmal so: „... [soziales] Handeln kann ohne eine Bezugnahme auf
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die individuellen Sinnsetzungen der Akteure weder verstanden noch erklärt
werden“ (Kelle 1994, S. 15)
o In dieser Sicht erscheint, um es zu wiederholen, der Mensch nicht (nur) als
Organismus, sondern als ein Akteur, der auf der Grundlage von Auswahl- und
Entscheidungsakten seine Aktionen vollzieht. In der alltäglichen Lebenspraxis
bilden wir zum Zwecke der Verständnisbildung Hypothesen über das aus, was
"im Kopfe" der Akteure vor sich gehen könnte; das sind Hypothesen über innerpsychische Prozesse, die zu bestimmten Handlungsentscheidungen geführt
haben mögen.
In beiden Arbeitsbereichen spielte verständlicherweise die methodische Frage eine
große Rolle, wie die Hypothesen über die Gründe menschlichen Verhaltens in wissenschaftlicher korrekter Weise überprüft werden können.
Das methodische Konzept hierzu ist in einigen Aspekten vorgeprägt in H. Werbiks
Ausführungen zur Psychologie vs. Psychonomie zu finden (Werbik 1984). Hier wird ja
vorgeschlagen, den jeweiligen Gegenstand der Forschung aus drei Perspektiven in
den Blick zu nehmen:
o
o
o
Die Perspektive des Beobachters (Forschers),
die der handelnden Person (Forschungspartner) und
die eines dritten Neutralen.
Das aber heißt, dass auch die Handlungspsychologie dort beginnt, wo Natur- und Sozialwissenschaften üblicherweise immer beginnen: Bei einer (geregelten, systematischen) Beobachtung, in der selbstverständlich eine sinnvolle Rollenverteilung vorgenommen wird: die Unterscheidung zwischen (wissenschaftlichem) Beobachter und der
von ihm beobachtete Person.
Anders als in einer verhaltenswissenschaftlichen Konzeption aber ist die Rolle der beobachteten Person nicht passiv, und sie wird nicht dem Deutungsmonopol des Forschers unterworfen. Sie ist ja prinzipiell in der Lage, Auskunft über sich selbst zu geben. Wer wüsste im Prinzip besser Bescheid über ihre Handlungsgründe als sie selbst?
Eine Schlüsselfigur ist die des dritten Teilnehmers in einem Forschungssetting, das
sich verständlicherweise als Triade bezeichnen lässt. Der Dritte im Bunde hat die Auf gabe, die Ergebnisse der Bemühungen von Forscher und Forschungspartnern um eine
tragfähige Handlungsdeutung zu beurteilen und ggf. den „advocatus diaboli“ zu spielen, also Ergebnisse auch anzugreifen und anzuregen, nach besseren, plausibleren Ergebnissen zu suchen. Das Ergebnis der Forschung wird, so gesehen, im Rahmen einer
Beratung ermittelt (und nicht im „stillen Kämmerlein“ des Forschers). Mit diesen Gedanken war die Idee der „Beratungstriade“ geboren (zur Konkretisierung von Beratungstriaden im Rahmen handlungspsychologischer Forschung siehe Kaiser 1989, S.
84).
Die Beratungsforschung konzipiert die psychologische Forschung eindeutig als dialogische Forschung.
Nur: sind die Ergebnisse eines solchen Forschungsdialogs theoriezugänglich, d.h. erfüllen sie die Voraussetzung einer möglichst überprüfbaren Aussage über die (psychologische) Welt? Eine Aussage über menschliche Handlungsgründe ist nur dann theoriefähig, wenn in ihr die wahren Gründe des Handelns angegeben werden. Davon
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aber kann man nicht in jedem Fall ausgehen, und das macht ja gerade die Einführung
einer aussagenkritischen Beratungstriade notwendig. Schließlich weiß bereits die Alltagserfahrung, dass Menschen sich über ihre eigenen Handlungsgründe täuschen
können. In dieser Lage ist zunächst eine Minimalanforderung an die Aussagen einer
Person über ihr Handeln zu erfüllen. Es ist die der Wahrhaftigkeit der Aussagen. Die
Wahrhaftigkeit der Aussagen der untersuchten Personen stellt also gewissermaßen
eine Basis- und Minimalforderung dar für die Theoriezugänglichkeit handlungsinterpretierender Aussagen. Aussagen, die nicht wenigstens das wiedergeben, was eine
Person wirklich denkt, sind verständlicherweise nicht geeignet, in Theorien über ihr
Handeln Eingang zu finden. Anders ausgedrückt: Der Forscher, der sich auf Selbstauskünfte einer Person stützt, muss zumindest davon ausgehen können, dass die befragte Person nicht etwas anderes sagt als das, was sie auch denkt. Allerdings kann
der Forscher diese Wahrhaftigkeit der Aussagen nicht naiv unterstellen. Zuweilen haben Personen gute Gründe, etwas anderes zu sagen, als was sie meinen (das gilt besonders im Rahmen der Konfliktbearbeitungsversuche).
Daraus folgt die Aufgabe an die Methodologie, Bedingungen anzugeben, unter denen
Personen üblicherweise darauf verzichten, anderes zu reden als zu denken.
Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die Übereinstimmung der Interessen von Forscher und Erforschten. Wir können am ehesten von Wahrhaftigkeit ausgehen, wenn
die erforschten Personen selbst ein Interesse an den Ergebnissen der Forschung haben, wenn sie also „intrinsischen“ und nicht „extrinsischen“ Motiven bei der Teilnahme
an der Forschung folgen.
Aber extrinsische Motive scheinen in der psychologischen Forschung eher wirksam zu
sein als intrinsische. Das gilt gerade auch dann, wenn Studierende die „Studienobjekte“ darstellen, gewissermaßen als Modellpersonen für den Menschen an sich. Studierende nehmen an der Forschung häufig deswegen teil, weil dafür eine Studienleistung
attestiert wird. In dem Falle, in denen sie außerdem im Unklaren über Sinn und Zielsetzung des Forschungsvorhabens gelassen werden, könnte man deswegen polemisch, aber nicht ganz unzutreffend tatsächlich behaupten: Hier wird eine Psychologie
des desinteressierten und desorientierten Menschen aufgebaut (s.o.). Diesen kritischen Satz aus der Krisendiskussion der Psychologie müssten wir jetzt verstehen kön nen.
3. Konfrontation mit der Gerontologie / Gerontopsychologie
Das war in wenigen Grundzügen der Stand der Entwicklung (mit einigen interessanten
praktischen Lösungsansätzen, was die Realisierung einer handlungspsychologischen
Forschung anging), als ich mit den Fragen und der empirischen Forschung zur Geron tologie konfrontiert wurde. Es war eine Gerontologie, deren Interesse in der Messung
psychologischer Alternsphänomene lag, die die eindeutig quantitativ-behavioristisch,
ja szientistisch ausgerichtet war.
Es lag nahe, dieser wissenschaftlichen Orientierung, deren Probleme wir jahrelang untersucht und beschrieben hatten, eine handlungspsychologische gegenüberzustellen.
Aber: wie sollte sich eine solche in der Geronto(psychologie) artikulieren? Wie sollte
sie sich argumentativ begründen und etablieren?
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3.1 Nicht-interventionistische Gerontopsychologie
Etwa seit Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts und mit Veröffentli chungen von Baltes und Baltes hat sich die Leitidee des »erfolgreichen Alterns« als
Orientierungsrahmen in der Gerontologie durchgesetzt (z. B. Baltes & Baltes, 1989;
Dittmann-Kohli, 1989). Die moderne (psychologische) Alternsforschung konnte zeigen,
dass die Entwicklung des Menschen, auch und gerade im höheren Lebensalter, prinzipiell offen ist, nicht einseitig gerichtet hin auf Verluste und Defizite. Auch als Zugewinn, Verbesserung, Erneuerung sind einige der Veränderungen im Zeitverlauf zu bewerten.
Basis
dieser
Entwicklungschance
ist
einmal
die
erhebliche
»Reservekapazität«, die dem alternden Organismus Mensch seitens seiner Biologie
zur Verfügung steht. Gemeint ist, dass die vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten
prinzipiell auf einem Funktionsniveau stehen, das im Vollzug des Lebensalltages üblicherweise gar nicht ausgeschöpft werden muss, biologische Abbauprozesse deshalb
die Handlungsfähigkeit des Menschen nicht unbedingt alltagsrelevant begrenzen. Allerdings müssen Kapazitäten auch genutzt werden, wenn die Entwicklung der Person
im höheren Lebensalter dem normativen Modell des »erfolgreichen Alterns« entsprechen soll. Baltes (2002) meint, dass wir versuchen
»… in jedem Lebensalter unsere Entfaltungsmöglichkeiten und Gewinne zu optimieren. Ein von uns entwickeltes Modell beschreibt, wie wir dies am besten
mitgestalten können: durch selektive Optimierung mit Kompensation, abgekürzt SOK. Danach sind es drei Strategien, deren Zusammenspiel uns eine erfolgreiche lebenslange Entwicklung ermöglicht. Erstens Selektion: Wir wählen
aus den vorhandenen Lebensmöglichkeiten diejenigen aus, welche wir verwirklichen wollen. Zweitens Optimierung: Wir suchen geeignete Mittel, um das Gewählte möglichst gut zu tun. Und drittens Kompensation: Wenn Mittel wegfallen, reagieren wir darauf flexibel. Wir suchen neue Wege, unseren Zielen näherzukommen«.
Artur Rubinstein
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Damit kommt ausdrücklich der handelnde, sich entscheidende Mensch ins Spiel, von
dem man berechtigterweise annehmen darf, dass seine Handlungen und Entscheidungen nicht nur Ereignisse in jenem »Strom« von Ereignissen sind, den wir Lebenslauf
nennen, sondern dass im Rahmen von Lebenslauf und subjektiv konstruierter Biogra phie auch die Orientierungen oder Leitlinien erworben werden, die den Handlungen
und Entscheidungen ihre Richtung geben. »Wie groß ist die Macht des älteren Menschen über sein eigenes Leben? Ist er bereit und imstande, schmerzliche Verzichte zu
leisten, um sich für das frei zu machen, was er als seine eigentliche Herausforderung
erkennt, als seine innerste Gestaltungsfähigkeit?« fragt Rosenmayr (1990, S. 94). Als
Gerontologen haben Entwicklungspsychologen auch zu fragen, unter welchen Bedingungen oder Voraussetzungen Menschen auch im höheren Lebensalter zur Gestaltung
ihres Lebens »frei« sind oder erst »frei« werden. Und welche Menschen sind es, mit
welcher Biographie und welcher Umwelt?
Aus dieser Überlegung heraus habe ich angeregt, biographische Erhebungen zum
Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Handlungs- und Lebensorientierungen alternder Menschen zu machen (Kaiser, 1989; zum Begriff der Handlungs- und Lebensorientierungen s. auch Kempf, 1982). Als Zweck solcher Rekonstruktionsversuche könnte
die bereits genannte »Verständnisbildung« genannt werden, die wiederum zur Grundlage für eine Beratung alter Menschen ebenso wie für die Gestaltung ihrer Umwelt
herangezogen werden könnte. Vor allem aber dient sie dazu, den alternden Menschen
ihr eigenes Leben zugänglich zu machen, Handlungsalternativen zu entdecken, Entscheidungen vorzubereiten, zu begründen und zu fällen. Veränderungen, die auf diesem Wege zustande kommen, nenne ich nicht-interventionistisch, sie beruhen nicht
auf Eingriffen durch andere Menschen, und stellen sich nicht als deren Folge naturgesetzlich oder quasi-naturgesetzlich her. Sie lassen sich nicht „herstellen“, sie ergeben
sich vielmehr auf der Grundlage des Handelns der betroffenen Personen.
Beispiele für die Bedeutung der Erfassung der subjektiven Welt alter Menschen:
•
Nicht immer ist es alten Menschen möglich, bis zum Tode in ihrer eigenen
Wohnung, in der vertrauten Umgebung zu bleiben. Wenn eine Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit eintritt, ist häufig ein Umzug in ein Pflegeheim unumgänglich.
Bereits aus einer der ersten empirischen Untersuchungen im Rahmen einer
sich entwickelnden Interventionsgerontologie (Langer & Rodin, 1976) ist bekannt, dass ältere Menschen in Institutionen gesundheitlich und hinsichtlich ihrer subjektiven Befindlichkeit davon profitieren, wenn sie bei der Einrichtung
ihrer Umgebung aktiv mitwirken können. Die Situation alter hilfs- oder pflegebedürftiger Menschen könnte demnach verbessert werden, wenn man ihr
(neues) persönliches Umfeld auf der Grundlage biographischer Interviews und
der Kenntnis ihrer zentralen Handlungs- und Lebensorientierungen einrichtet
und sie daran aktiv beteiligt 8soweit das noch möglich ist, selbstverständlich).
•
Wenn es zuweilen den Anschein hat, als seien ältere Menschen prinzipiell nicht
in der Lage, neu-, um- und dazuzulernen, sollten wir weniger fragen, ob sie
nicht umlernen können oder wollen, sondern eher, warum sie es denn tun sollten. Wir müssen also das Verhalten alternder Menschen in den Gesamtzusam menhang ihrer Handlungs- und Lebensorientierungen, d. h. der für sie verbindlichen Sinngehalte und ihrer konkreten Lebenssituation stellen und von
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daher zu verstehen versuchen, um sie dann im Umgang mit den Anforderungen ihres Lebens unterstützen zu können.
Als Fazit könnte man festhalten: Wichtige Themen der Alternsforschung, insbesondere
die Frage nach einem »erfolgreichen« Altern, den Anpassungsvorgängen im Alter, den
sozialen Beziehungen alter Menschen, den Formen der Auseinandersetzung mit Lebensproblemen, aber auch nach den Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen
lassen sich ohne Bezugnahme auf Handlungs- und Lebensorientierungen und ihre
Entstehung und Veränderung im Verlaufe der Biographie kaum sinnvoll abhandeln.
Gerontologische Interventionsprogramme würden den betroffenen alternden Menschen und ihren Problemen auch nicht gerecht, wenn sie ohne Berücksichtigung der
Gefühls-, Gedanken- und Urteilswelt alter Menschen, wie sie uns in den biographischen Berichten entgegentritt, geplant und durchgeführt würden. Somit stellt es eine
reizvolle Herausforderung für die Alternswissenschaften dar, die biographische Forschung mit ihren Möglichkeiten stärker als bisher zu berücksichtigen. Eine Herausforderung stellt auch die durch die handlungspsychologische Perspektive nötige Überwindung von mechanistischen und organismischen Menschenbildern und der Übergang
zu einer Konzeption dar, in der das »Subjekt« und das »Objekt« der Forschung ontologisch nicht unterscheidbar sind.
Allerdings: Handlungs- und Lebensorientierungen werfen als biographisch rekonstruierte Interpretationskonstrukte (zu diesem Begriff s. Groeben, 1981) methodische Fragen auf, die zufrieden stellend beantwortet werden müssen, um gegen die mächtige
argumentative Konkurrenz der quantitativ-experimentellen Forschungsansätze bestehen zu können.
3.2 Handlungspsychologisch-methodologische Überlegungen
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Aspekte handlungspsychologischer Methodik haben wir bereits kennengelernt: Dialoge
zur Interpretation von Verhaltensweisen als Handlungen unter Beteiligung der handelnden Personen selbst, einschließlich der Aktivitäten einer Kontrollinstanz namens
„Interpretationstriade“. Die Begründung dafür (die Methodologie) hat eine Rekonstruktion der Krisendiskussion in der Psychologie mit ihrer Konsequenz des Aufbaus
einer Handlungspsychologie geliefert.
Im Folgenden sollen die methodologischen Überlegungen auf das Gebiet der Alternsforschung ausgeweitet werden. Zu den methodologischen Überlegungen eines Konzepts gehören auch Aussagen zu den verfolgten Zielen, zu den Erkenntnisinteressen,
zu den Prämissen, die bestimmte Sachverhalte der realen Welt überhaupt als sinnvolle
Gegenstände der Forschung erscheinen lassen. Die Orientierung der empirischen Untersuchung an den methodologischen Überlegungen sollen gewährleisten, dass die in
der Untersuchung gewählten Methoden als „gegenstandsangemessen“ akzeptiert werden können.
Die Gegenstandesangemessenheit der Methodik ermisst sich nach
a) den allgemeinen Konzepten vom Menschen (Menschenbild), die in den Methoden (implizit) enthalten sind,
b) die Bestimmung dessen, was als Gegenstand der Forschung genau bestimmt
werden soll,
c) das Erkenntnisinteresse, das die Forschung anleiten soll.
Man könnte von „Paradigmenkonflikten“ sprechen, wenn methodologische Überlegungen auf der einen Seite und methodenimmanente Festlegungen auf der anderen
Seite unterschiedliche, miteinander nicht verträgliche Antworten geben würden.
Menschenbilder…
Als prämissenförmige Annahmen über den Gegenstand einer handlungspsychologischen Alternsforschung könnte man folgende Ideen festhalten:
Altern ist ein Prozess, der in seinem von „außen“, einem Beobachter zugänglichen
Aspekten ein von der Physis her bestimmter Vorgang ist. Altern kann man sehen. Diese Aufdringlichkeit der körperlichen, physischen Seite des Alterns rechtfertigt allerdings nicht eine Abkehr von einem aktionalen Menschenbild. Die Erforschung des Al-
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terns aus handlungspsychologischer Perspektive erfolgt deshalb unter Beachtung aller
Elemente, die im Rahmen der Handlungspsychologie dem menschlichen Subjekt zugeschrieben werden:
• Darstellung von Handlungen als sinngehaltsgemäßes, begründetes Tun,
• Ermittlung möglicher Zwecksetzungen und Mittelwahlen einer Person,
• daneben auch Berücksichtigung von Regeln, Normen und Traditionen als mög•
licherweise handlungsanleitend,
Unterstellung
o einer prinzipiellen Freiheit der Wahl zwischen spezifischen Handlungsalternativen,
o der Möglichkeit, auf Aufforderung hin tätig zu werden,
o der prinzipiellen Argumentationszugänglichkeit des Tuns, der Fähigkeit
zur Reflexion der eigenen Tätigkeit usw.
Der handlungspsychologische Forscher geht also von der Voraussetzung aus, dass alle
diese Elemente im Tun des alternden Menschen prinzipiell aufgewiesen werden können.
Abstriche von diesen Annahmen, gedacht als Konsequenz aus beobachteten potentiellen Folgen des Alternsvorganges, darstellen zu können: das wäre dann eine der möglichen Fragestellungen einer handlungspsychologischen Alternsforschung.
Diese Überlegungen zu den Prämissen einer handlungspsychologischen Gerontopsychologie sind notwendige Bestandteile der Methodologie des Vorhabens, weil es darum gehen muss, die Methoden von den Zielsetzungen sowie von den Prämissen
(Menschenmodell) der Handlungspsychologie her zu wählen („Gegenstandsangemessenheit“). Es gilt nämlich, den Fehler einer Auswahl der Erkenntnisziele nach den vorhandenen methodischen Mitteln zu vermeiden, ein problematischer Aspekt psychologischer Forschung, der im Rahmen der Krisendiskussion aufgetaucht war.
Das Erkenntnisinteresse der Forschung könnte, unter Beachtung dieser Prämissen,
etwa so formuliert werden:
Im Kern geht es der Forschung vor allem darum, die subjektive Seite des Alterns zu
erhellen, Handlungsorientierungen und ihre Veränderungen darzustellen und damit
das Handeln des alternden Menschen aus seiner eigenen Perspektive verstehbar zu
machen. Die Art der Verständnisbildung trägt zu einem wissenschaftlich begründeten
Fundament zur Beurteilung und ggf. zur Veränderung von Alternsprozessen bei. Im
einzelnen geht es darum, Hinweise zu gewinnen für die Gestaltung einer physikalischen und sozialen Umwelt, die den Handlungsorientierungen des alternden Menschen und seinen Handlungsmöglichkeiten, ggf. aber auch seinen Handlungseinschränkungen gerecht wird. Der Einblick in die „Innenwelt“ des Alterns soll aber auch
Perspektiven zur Veränderung von Entwicklungsverläufen eröffnen und in diesem Rahmen zur Einflussnahme auf Handlungsorientierungen, die dysfunktional geworden
sind, also einem „erfolgreichen Altern“ entgegenstehen.
Der Zweck der Forschung ist demnach ein doppelter, denn es gibt gewissermaßen
einen Grundlagenzweck und einen anwendungsbezogenen Zweck. Als anwendungsbezogenen Zweck könnte man die Einrichtung einer „Handlungsberatung“ in Angriff neh men.
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Das Vorhaben, Einfluss zu nehmen auf Richtung und Verlauf des Alternsprozesses,
wird üblicherweise dem Bereich der Interventionsgerontologie zugeordnet. Die Beiträge der Interventionsgerontologie zur Bewältigung alternsspezifischer Probleme sind
dann relativ einfach und übersichtlich strukturiert, wenn Grundlagenforschung zur
Formulierung „technologischer Regeln“ genutzt werden kann, das heißt, wenn in der
Grundlagenforschung nachgewiesen werden konnte, dass auf der Basis von bestimmten Verlaufsgesetzen damit gerechnet werden kann, dass eine bestimmte Handlung
eines Interventionsagenten bzw. eine spezifische Gestaltung der Lebensumwelt alter
Menschen zu bestimmten erwünschten Ergebnisse führt, sei es im Bereich der physischen oder der psychischen oder sozialen Lebenswirklichkeit der „Zielpersonen“.
Dieses Wissenschaftsprogramm orientiert sich an der Vorstellung des Herstellens: Auf
der Basis von Gesetzen menschlichen Verhaltens (ähnlich den Naturgesetzen) möchte
der Forscher in psychische Sachverhalte oder Entwicklungen eingreifen. Das heißt,
dass die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens zu Interventionstechnologien transformiert werden sollen.
Das Leitbild der Herstellung
Das dazu alternative, hier methodologisch begründete Programm ist am Leitbild des
Umgangs (von Menschen miteinander) orientiert, die Erkenntnisgewinnung beruht auf
Interaktion eines Forschers mit seinem Forschungspartners. Dabei geht es darum, die
Hintergründe von Verhalten und Verhaltensproblemen in einem gemeinsamen Diskurs
zu erkennen und dieses „Handlungswissen“ zur Bewältigung von Konfliktsituationen
und Krisensituationen zu verwenden. Konfliktsituationen sind durch die Unvereinbarkeit der Strebungen (Handlungsorientierungen) von Personen gekennzeichnet, Krise
durch Orientierungslosigkeit.
Das Leitbild des Umgangs (mit Menschen)
Drei grundsätzliche Probleme stehen einer herstellungsorientierten „interventionistischen“ Gerontologie entgegen:
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o Erstens geht es bei der Intervention in Alternsprozesse oder Altersverhältnisse
nicht immer nur um die Erreichung zuvor festgelegter Ziele, sondern häufiger
auch um die Formulierung von Zielen, die erreicht werden sollen. Diese Zielformulierung kann nicht technologisch herbeigeführt werden, vielmehr können
Ziele, die verfolgt werden sollen, lediglich (argumentativ) aufgefunden werden.
o Zweitens stehen für die Erreichung bestimmter Ziele nicht immer bewährte
physikalische, biologische oder psychologische Gesetze zur Verfügung, die zwischen einer Handlung (einem Handlungsergebnis) und eine Handlungsfolge
deterministisch oder statistisch vermitteln.
o Drittens können viele erwünschte Ergebnisse der Interventionsgerontologie
nicht von den Fachleuten herbeigeführt werden, sondern die Zielpersonen haben die Aufgabe, die angestrebten Veränderungen bei sich selbst zu realisieren.
Damit aber werden die alten Menschen selbst als die entscheidende Agenten einer Interventionsgerontologie gesehen. Sie zu erreichen und zur erwünschten Änderung ihrer Lebenslage zu bewegen, ist ein argumentatives Vorhaben, das einen Einblick in
die von ihnen wahrgenommene Realität voraussetzt, also ein Wissen davon benötigt,
wie eine Person sich selbst und ihre Umwelt und ihre Stellung in und zu dieser Um welt interpretiert, welche Überzeugungen und Werthaltungen sie vertritt, und was sie
mit dem, was sie tut, erreichen will. Dass die erwünschten Veränderungen verträglich
sein sollen mit dem Ziel- und Oberzielsystem der Person, ergibt sich bereits aus dem
Moral- und Beratungsprinzip.
Damit kann mit einem Satz ausgedrückt werden, was die Methodik der handlungspsychologischen Gerontopsychologie leisten soll: Sie soll Aufklärung über die Handlungsund Lebensorientierungen der alternden bzw. alten Person geben, wobei Aufklärung
nicht allein auf die beteiligten Gerontopsychologen, sondern auch auf die betroffenen
Personen selbst gerichtet ist.
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4. Handlungspsychologie des Alterns: Aufklärung über Lebenswelten
Wohl wissend um die Tatsache, dass der Begriff der „Lebenswelt“ in der modernen
Soziologie eher in Verruf geraten ist, möchte ich dennoch nutzen, um verständlich
machen zu können, worum es bei der Handlungspsychologie des Alterns gehen soll.
In der Lebensweltperspektive treten die phänomenologischen Aspekte der Lebenssituation des alternden Menschen in den Vordergrund. Das sind die Aspekte, als die das
Altern, das Leben im Alter und das Leben in einer bestimmten Umwelt einem Menschen vor dem Hintergrund seiner Interessen, Werte und Gefühle erscheint. Es ist die
Welt, so wie sie vom handelnden Subjekt gemäß seiner Subjektivität interpretiert
wird.
Wie entscheidend der Einblick in die Lebenswelt älterer Menschen für die Erreichung
praktischer Problemlösungen sein kann, soll ein Beispiel zeigen:
Eine Psychogerontologin, tätig in einem Alten- und Pflegeheim, hat mir einmal in einem Brief
enttäuscht mitgeteilt, dass ältere Menschen sich in dem ihr gegebenen Umfeld leider allzu
häufig gegen das entscheiden, was aus ihrer Sicht geboten wäre zur Erhöhung von Kompetenz
und Lebensqualität der Betroffenen. Sie entscheiden sich gegen ihr Angebot an Ernährungsberatung, Gedächtnistrainings, Gehirnjogging oder Altensport. Sie entscheiden sich ausdrücklich
dafür, „sich für den Rest des Lebens ‚bedienen‘ zu lassen” , wie sie schrieb. Man erreiche mit
den doch vernünftigen und sinnvollen Programmen leider meist jene nicht, die ihrer am meisten bedürften.
Die Analyse ist zwar sicher richtig, bleibt aber in einer Beurteilung „von außen“, in der
Sicht des Beobachters, stecken. Sie berücksichtigt nicht den Lebenswelt-Aspekt der
Situation, in der sich die Betroffenen befinden. Die Situation als diejenige Lage des
Menschen, die sich aus den Merkmalen der Person, ihrer Umgebung und der Interpretation dieser Komponenten durch die Person selbst ergibt, verhindert möglicherweise
eine Kompetenzentwicklung, wie sie die Gerontologin anstrebt.
Ein Mensch, der im höheren Alter sein Leben kompetent zu führen weiß, ist nach
übereinstimmender gerontologischer Auffassung eine Person, die in der Lage ist, etwaig auftretende gesundheitliche Einschränkungen und soziale Verluste zumindest
teilweise durch geeignete Handlungsweisen zu kompensieren und „trotz der Verluste
und Einschränkungen subjektiv bedeutsame Aufgaben wahrzunehmen“ (Mittelstraß et
al. 1992, S. 703). Aber sie ist auch fähig, das anzunehmen, was nicht zu ändern ist.
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Angeleitet von einer Lebenswelt-Theorie (als die man z.B. durchaus die „Kognitive Alternstheorie“ Thomaes ansprechen könnte) würde man im zitierten kritischen Fall nach
den subjektiven Anteilen der Situation wie folgt fragen können:
• Werden die gesundheitlichen (oder kognitiven) Einschränkungen von den Personen überhaupt wahrgenommen?
• Werden Einschränkungen (auch Veränderungen in der Umwelt), als solche
wahrgenommen und als beeinflussbar interpretiert?
• Befinden sich kompensationsgeeignete Handlungsweisen überhaupt im Handlungsrepertoire der Person?
• Erleben Personen mit Einschränkungen tatsächlich soziale Verluste oder, im
Gegenteil, Gewinne („sich bedienen lassen“!)?
• Wird die Übernahme oder nicht vielmehr das Loswerden von Aufgaben als vor
dem Hintergrund der eigenen Zielsysteme überhaupt als erstrebenswert beurteilt?
Möglicherweise haben die interventionsresistenten Personen gute Gründe, sich so zu
entscheiden, wie sie es tun. Sie scheinen zwar argumentationsunzugänglich, ohne es
aber wirklich zu sein. Wir sind nicht gezwungen, unser Menschenbild aufzugeben,
sondern sind lediglich genötigt einzusehen, dass unsere Argumente nicht die ihren
sind.
Auf diesem Wege führt die Lebenswelt-Perspektive im übrigen auch dazu, die ethische
Frage nach der Berechtigung unserer gerontologischen Zielsetzungen für das Leben
älterer Menschen in ihrer Welt zu stellen.
5. Die Realisierung einer dialogischen Forschung
Eine handlungspsychologisch-interpretative Forschung, für die es noch keine Vorbilder
und Erfahrungen gibt, beginnt am besten mit einer Erkundungsstudie, und das heißt,
mit sehr offenen und grundsätzlichen Fragestellungen.
Als Komplexe spezifischer Fragestellungen im Rahmen der geplanten Erkundungsstudie wurden die folgenden vier formuliert:
A. Grundsatzfragen
Welche Handlungs- bzw. Lebensorientierungen der Befragten lassen sich überhaupt
aus einem biographieorientierten Gespräch heraus erheben? Ergeben sich Übereinstimmungen und/oder Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremddeutungen? Welche
methodischen Probleme und Besonderheiten konnten beobachtet werden?
B. Abstraktionsniveau von Orientierungen
Welchen Stellenwert im Orientierungssystem der Befragten haben „abstrakte“ Leitlinien des Handelns, die sich beispielsweise in Wertbegriffen ausdrücken lassen? Wie
werden Orientierungen präsentiert (z.B. in Erzählungen, vielleicht aber auch nur in
collageartigen Reminiszenzen)?
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C. Veränderbarkeit von Orientierungen
Erscheinen die erhobenen Orientierungen eher als offene (veränderungsfähige) oder
als geschlossene (veränderungsresistente) Konstruktsysteme (im Sinne von Kelly)?
D. Zukunftsrelevanz von Orientierungen
Inwieweit reflektiert der lebensgeschichtliche Entstehungszusammenhang der erhobenen Orientierungen zukünftige Lebensbedingungen? Lassen sich alternsgünstige und
alternsungünstige Orientierungen unterscheiden (was zum Beispiel für eine Entwicklungsberatung von Bedeutung wäre)?
Versteht man diese Fragestellungen als Aufgabenstellungen und die Erledigung der
Aufgaben als Ziele, dann kann man als gemeinsames Oberziel der Ziele das der Lö sung intra- und interpersonaler Konflikte postulieren.
Überblick über das methodische Konzept zur Beantwortung der Fragestellungen
Das methodische Konzept der Untersuchung stützt sich auf folgende Prinzipien:
- Die Erforschung der Handlungsorientierungen alter Menschen ist als dialogische
Forschung durchzuführen.
- Die dialogische Forschung erarbeitet handlungsdeutende Aussagen über eine Person a) aus ihrer eigenen Sicht, b) aus Sicht des Pflegepersonals
- Die mögliche unterschiedliche Qualität handlungsdeutender Aussagen ist zu beachten; deswegen ist die Einrichtung einer Interpretationstriade zu fordern.
- Dialogorientierte Fragebögen werden zur Unterstützung der Interpretationsarbeit
mit genutzt.
- Die Rekonstruktion von Handlungsorientierungen wird durch biographiebezogene
Gesprächsleitfäden unterstützt, die auf einer allgemeinen Form beruhen, aber individualisierte Teile entsprechend den Selbstdeutungen der Forschungspartner
enthalten.
Als Instrumentarium für die Untersuchung wurde im Einzelnen verwendet:
1) Ein spezifisches Auswahlverfahren zur Ermittlung von "Handlungspartnern" (Personal-Bewohner-Dyade) (NAR - Form K)
2) Die Einrichtung eines einführenden, Ziel und Ablauf der Untersuchung darlegenden "Konvents" aller potentiellen Teilnehmer zur endgültigen „Anwerbung" und
Aufklärung
3) Ein Fragebogenverfahren, welches besteht aus:
- einem Persönlichkeitsrating
- einer Art "schriftlichen Dialogs" über das Rating.
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4) Ein Verfahren des biografischen Interviews / der Nachbefragung unter Verwendung
des biografieorientierten Gesprächsleitfaden des Beispiels B in Teil II der Arbeit
"Handlungsorientierungen alter Menschen"
5) Eine Ergebniskonferenz, in der die Ergebnisse der Untersuchung grob gesichtet
und inhaltliche Leitlinien für die Interpretationstriaden erarbeitet werden
6) Eine Interpretationstriade aus jeweils zwei Untersuchern und einer Heimpsychologin
Als Untersucher fungierten fünf Diplom-Psychologen bzw. Psychologinnen, davon eine
tätig als Altenheim-Psychologin; die anderen Fachleute kamen aus der Beratungspraxis.
Ablaufplan
Die Untersuchung verlief nach folgendem Plan:
1. Schritt:
Auswahl möglicher Beteiligter anhand der Ergebnisse einer leistungspsychologischen
Untersuchung. Es sollte zunächst sichergestellt sein, dass die an der Untersuchung zu
beteiligenden alten Menschen keine schwerwiegenden (dementiellen) Abbauerscheinungen zeigten, die die Verwirklichung des dialogischen Prinzips erschweren würden.
Den so vorausgewählten alten Menschen wurden diejenigen Betreuer zugeordnet, die
besonders häufig mit ihnen (beruflichen) Umgang pflegen. Es wurde darauf geachtet,
dass die Betreuer bereits längere Zeit im Heim tätig waren und die betreuten alten
Menschen entsprechend längere Zeit kannten.
2. Schritt:
Einladung der so festgestellten möglichen Teilnehmer zu einem einführenden "Konvent". Pflegepersonal und Heimbewohner werden zu getrennten Zusammenkünften
eingeladen, um zu vermeiden, dass bereits im Vorfeld der Untersuchung Konflikte zwischen Heimbewohnern und Personal aufbrechen, deren Bewältigung nicht in der Kompetenz der Untersucher liegt.
3. Schritt:
Durchführung des "Konvents". Aufklärung über Ziele und Ablauf der Untersuchung;
Beantwortung aller Fragen der Erschienenen; Terminabsprachen usw.
Austeilung der beiden Fragebögen Fragenbogen für Pflegepersonal FfP bzw. Fragebogen zum Selbstverständnis alter Menschen FzSV ; für jeden Teilnehmer soll eine Hilfestellung bei der Ausfüllung ermöglicht sein. Dies gilt vor allem für die Heimbewohner, die Sehschwierigkeiten haben oder selbst nur noch schlecht schreiben können.
Einsammeln der ausgefüllten Fragebögen
4. Schritt:
Zusammenkunft der Untersucher; Sichtung aller eingegangenen Fragebögen. Durchsicht der Antworten. Markierung aller fraglichen Stellen; Zusammenstellung aller spezifischen Fragen für die Nachbefragung in jedem individuellen Fall.
5. Schritt:
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Biografische Interviews (darin eingebettet: ggf. Nachbefragung zu den Ergebnissen
des „Fragebogens zum Selbstverständnis alter Menschen“ FzSV) mit dem Ziel der Eruierung und Sicherung von Handlungsdeutungen. Klären von Unklarheiten entsprechend der Ergebnisse der ersten Interpretationstriade. Biographische Rekonstruktion
von Handlungsorientierungen entsprechend Gesprächsleitfaden.
6. Schritt:
Zusammenkunft der Interpretationstriaden. Kritische Diskussion der in Schritt 5 aufge stellten Deutungen. Zusammenstellung der Endergebnisse.
7. Schritt:
Durchführung von "Dialogischen Klärungen", wo nötig.
8. Schritt
Formulierung der endgültigen Ergebnisse dieser Untersuchung, Bericht des Untersuchungsleiters an die Untersucher.
Nach diesem Plan wurden biographische Gespräche und Gespräche über die aktuelle
Situation mit insgesamt 15 Heimbewohnern (zwischen 61 und 84 Jahren, davon 5
männlich) durchgeführt, und zwar auf der Basis eines Selbstdeutungsfragebogens und
eines Leitfadens, der teilweise mithilfe dieses Fragebogens individualisiert worden war.
6. Ergebnisse
Die Gespräche und selbst- bzw. fremddeutenden Fragebögen lieferten ein sehr vielfältiges und sehr komplexes Material. Das wurde in verschiedener Weise geordnet. Zunächst war es erforderlich, die in dem verbalen Material gefundenen Themen den vier
Komplexen von Fragestellungen zuzuordnen:
(s. nächste Seite)
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Danach wurden die Materialien einzelfallbezogen durchgeschaut um zu ermitteln, welcher „Fall“ welchen Beitrag zu welchem Erkenntnisinteresse leisten könnte. Es ergab
sich folgende Übersicht:
(s. wiederum nächste Seite)
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Für den Leser überschaubar wurden die Ergebnisse aber erst nach weiteren Abstraktionsschritten. Sie orientierten sich an den oben formulierten „Problemperspektiven“.
Es kam zu folgender thematischer Ordnung der Ergebnisse:
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Auf drei allgemeine Erkenntnisse der Untersuchung möchte ich etwas näher eingehen:
1. Personale Geschlossenheit
Kurz:
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• Personale Geschlossenheit
= die Stimmigkeit vieler Handlungs- und
Lebensorientierungen einer Person
zueinander
2. Zwei-Ebenen-Existenz
Kurz:
• Die Zwei-Ebenen-Existenz
= die Tatsache, dass alte Menschen (im Heim)
in zwei subjektiv ganz unterschiedlich
konstruierten Lebenswelten existieren können
und nach Bedarf von der einen in die andere
Existenz wechseln.
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3. Erschwernisse der Anpassung an die Alterssituation aufgrund prognostischer Unsicherheiten
Kurz:
• Prognostische Unsicherheit
= die Tatsache, dass die Voraussicht des
Kommenden zunehmend unsicherer wird und
die Anpassungsleistungen der Menschen an die
Lebenssituation erschwert.
Bereits vor der Buchveröffentlichung der Untersuchung (Kaiser 1989) wurden einige
wichtige Ergebnisse in Form von zwei Zeitschriftenaufsätzen veröffentlicht (Kaiser
1988a und b). Im ersten Aufsatz ging es um die „erlebte Subjektrolle“, die den biografischen Berichten der Forschungspartner zu entnehmen war und die vom Interpretati onsgremium (Interpretationstriade) in eine verständliche sprachliche Form gegeben
wurde
(selbstverständlich
nach
dialogischer
Absicherung
mit
den
Forschungspartnern). Es fanden sich zehn unterschiedliche Typen der Interpretation
der eigenen Person als handelnde Akteure, wobei die Typenbildung durch ein zweidimensionales Schema möglich wurde (Kaiser 1988a, S. 251):
24
„Bilanzierung“ bedeutet, dass die Forschungspartner sich aus der Rückschau als Han delnde darstellen, „Aktualität“, dass sie dies für die Gegenwart tun. „Objektivierbar keit“ bezieht sich auf die Verwirklichung der Handlungsorientierung, „Intentionalität“
auf die bloß gewünschte oder angestrebte Orientierung an einem bestimmten Subjektrollenverständnis. „Fremdinterpretation“ meint die Tatsache, dass Forschungspartner
nicht nur sich selbst ein bestimmtes Subjektrollenverständnis zuschreiben, sondern
davon ausgehen, dass dies auch andere Menschen tun. Sie interpretieren andere gewissermaßen „nach ihrem Bilde“.
„Aktional-aktiv heißt eine Orientierung, nach der sich eine Person als jemand versteht,
der bewusster Akteur in der Welt ist, reaktiv-passiv eher das Gegenteil: ein Person
nimmt sich als jemand wahr, der kaum Möglichkeiten hat, das Leben nach eigenen
Vorstellungen zu gestalten.
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Dieses Schema der Typisierung von Subjektrollenverständnisse reicht noch nicht aus,
um die individuellen Varianten zu erfassen. Beispielsweise war es außerdem nötig, für
die Subjektrollenverständnisse eine situationsspezifische Differenzierung vorzusehen.
Die zweite Veröffentlichung beschäftigte sich mit möglichen Unverträglichkeiten zwischen der Interpretation der Handlungen der Akteure aus der Eigen- und der Fremd sicht und den möglichen Konflikten, die daraus resultieren können.
Die vorgestellten Untersuchungen überdenkend, komme ich zu folgender Einschätzung des Ansatzes:
Der Wert von handlungspsychologischen Untersuchungen der beschriebenen Art in
der Gerontologie könnte unter anderem darin liegen, Konfliktkonstellationen in gesell schaftlichen und individuellen Zusammenhängen zu erfassen (z.B. eine Projektion zukünftiger generationenspezifischer Konfliktlagen auf der Basis miteinander nicht zu
vereinbarender Orientierungen heutiger Generationen zu erstellen).
Eine handlungsrekonstruierende Forschung böte auch die Möglichkeit, die Chancen argumentationsbasierter Interventionen abzuschätzen.
Vor allem aber diente ein solcher Ansatz der Entwicklung einer größeren Reflektiertheit des Handelns in dieser Welt und insbesondere angesichts des Älterwerdens.
Dieser letzte Punkt wurde in einer der späteren Veröffentlichung näher ausgeführt
(vgl. Kaiser 1991).
7. Schlusswort
Zur Sicherung oder Wiedergewinnung eines kompetenten Lebens (im Alter) haben wir
bisher vor allem Untersuchungen vertraut, deren Erkenntnisse in den Aufbau von Aufklärungs- und Trainingsmaßnahmen münden oder ökologisch-technische Eingriffsmaßnahmen und -möglichkeiten erkennen lassen. Wir kennen Ernährungsberatung, Gedächtnistrainings, Altensport, barrierefreie Wohnungen und altengerechte Automobile.
Wir dürfen allerdings nicht übersehen, dass die Nutzung all dieser Angebote etwas
sehr Kompliziertes und schwer zu Erringendes voraussetzt. Als „selbstkritisches Bewusstsein“ wurde exemplarisch das Vermögen eingeführt, sich über eigene Ziele und
Interessen, Wünsche, Fähigkeiten und Schwächen Rechenschaft abzulegen und das
zur Disposition zu stellen, was eine flexible subjektive Anpassung an objektive Gegebenheiten erschweren würde. Damit aber tritt viel deutlicher als bisher in den Vordergrund, was ein alternder Mensch will (und aus welchen Gründen), während das, was
er (noch) kann, etwas in den Hintergrund tritt.
Vielleicht entdeckt die Gerontologie der Zukunft jene alten Menschen, die nicht „wollen“ (so wie wir), die der kritischen Selbstbetrachtung zum Zwecke einer flexiblen
Neuorientierung nicht fähig sind und sich selbst damit am meisten schaden. Das Ziel
wäre eine Veränderung der „Selbstgespräche“, die die Betroffenen über die eigene
Person führen, eine Eröffnung neuer Sichtweisen und Perspektiven, eine Neubewertung der Geschichten, mit deren Hilfe sie sich selbst verstehen. Aber eine Veränderung der Selbstgespräche setzt eine Kenntnis der Selbstgespräche voraus. Wie die zu
erlangen sei, das ist das Anliegen der dargestellten Handlungstheorie des Alter(n)s.
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Ihre Aufgabe bestünde darin, das weite Feld der orientierungsgebenden Sinngehalte
zu erforschen, und zu entdecken, welche Zugangsmöglichkeiten sich zur Welt eines
anderen Individuums eröffnen. „Man versteht erst einen Menschen, wenn man dessen Lebenswelt so durchschaut wie die eigene Lebenswelt, in der man aufgewachsen
ist. Verstehen heißt also, sich Sinnzusammenhänge zu erschließen.“ (Schützendorf
1997, S. 180)
Man könnte eine solche Forschung als eine „systematische Verständnisbildung“ bezeichnen. Wer lernt, den alten Menschen in seiner subjektiven Welt zu verstehen, hilft
ihm zugleich, sich selbst zu verstehen. Das ist die große Chance, auf die ich setze,
wenn ich über die Anregung eines selbstkritischen Bewusstseins zur Kompetenzerhöhung und über diese zur einer zufriedenstellenden Lebensqualität gelangen will. Denn
wer sich verstanden fühlt, hat es leichter, dysfunktional gewordene Leitideen zur Disposition zu stellen.
Das handlungspsychologische Gerontologiekonzept ist nicht einfach ein weiteres, alternatives Konzept, sondern führt geradezu „von selbst“ zu einer interdisziplinären Zu sammenarbeit. Das mag ein Zitat aus einem Kapitel einer Veröffentlichung von 2002
verdeutlichen:
„Das Bedürfnis nach willensstarken, vernünftigen, nicht irrational oder bloß emotional handelnden „Kunden“ der Angewandten Gerontologie führt allerdings noch weiter, nämlich zu einem
Grundsatzproblem menschlichen Verhaltens überhaupt.
Willensstärke setzt doch zunächst die Existenz von Willens freiheit voraus. Sind Menschen, insbesondere, wenn sie nach ereignisreichem Leben alt geworden sind, überhaupt frei, das zu
wollen, was im eigenen Interesse wie im Interesse der Gemeinschaft zu tun ist? Hier begegnet
uns ein altes philosophisches Problem, auf das auch die Gerontologie achten sollte, gerade
weil es immer noch nicht erledigt ist und immer noch kontrovers diskutiert wird (vgl. Hartmann 2000; Kuhl 1996; Lange 2000; Sokolowski 1996).
Bekanntlich hat schon Schopenhauer die immer noch aktuelle Frage der „Willensfreiheit” des
Menschen skeptisch beantwortet:
“Ich kann thun, was ich will: ich kann, wenn ich will. Alles was ich habe den Armen geben und
dadurch selbst einer werden, - wenn ich will! - Aber ich vermag nicht, es zu wollen; weil die
entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte. Hinge gen wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maaße, daß ich ein Heiliger
wäre, dann würde ich es wollen können, dann habe ich aber auch nicht umhin können, es zu
wollen, würde es also thun müssen” (zit. nach Wiener 1999, S. 38).
Offenbar vermag man manches nicht zu wollen, auch wenn wir es glauben, es wollen zu kön nen, wenn es darauf ankäme. So mancher lernt die Kunst des erfolgreichen Alterns und hat sie
im Kopf – und scheitert dann im alltäglichen Tun.
Bei Schopenhauer ist bereits das Wollen des Menschen für diesen nicht frei verhandelbar. Der
Mensch tut das, was er aus seinem „Charakter“ (also: den Merkmalen seiner Persönlichkeit)
heraus tun muss.1 Der aber ist über ein langes Leben hinweg ausgeprägt und gefestigt. Deswegen trifft das vernünftige Handeln auf viele „entgegenstehende Motive“, wie wir demnach
nicht erst seit Freud oder Rückert (s.o.) wissen.
Im Tun das Menschen im Alter wird nicht nur die Gestaltungskraft bisher gelebten Lebens offenbar, es meldet sich möglicherweise auch ein transzendentaler oder besser: transpersonaler
Wille („Weltwille” bei Schopenhauer). Als Psychologe wird man bei Schopenhauer damit soDieses Tunmüssen, das sich aus der charakterlichen Konstellation und Konstitution des Menschen ergibt, ist nicht in der selben Art zwingend, wie dies ein physischer Zwang wäre. Das Prinzip der formalen
Wahlfreiheit menschlichen Handelns wird dadurch also nicht berührt. Wir haben es mit Handeln, nicht mit
bloßem Verhalten zu tun, auch wenn es die Betroffenen als Widerfahrnis erleben.
1
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wohl auf die Macht der biographisch gebildeten Persönlichkeit gestoßen als auch auf das, was
das Individuum übersteigt, seine Natur etwa oder gesellschaftliche Kräfte. Biologie und Biographie, Kultur und Gesellschaft sorgen nicht nur dafür, dass das Individuum mit bestimmten Motiven ausgestattet wird (die ggf. miteinander in Konflikt geraten können), sondern auch dafür,
dass gerade diese und keine anderen als Handlungsorientierungen fungieren.“ (Kaiser 2002, S.
Eine Forschung, die die Fähigkeit der Menschen zum erfolgreicheren Umgang mit ihrem Alternsprozess verbessern will, hat nicht nur den Einzelnen und seinen individuellen Willen in seiner ihm gegebenen subjektiven Realität zu berücksichtigen, sie muss
vor allem zunächst einmal zu erfassen versuchen, welche Ziele und Werte, welche
Leitlinien und Bilder, welche Wünsche und Träume die Betroffenen mit dem, was sie
tun und nicht tun, verbinden. Das genau ist die Aufgabe eine Handlungspsychologie
des Alterns, die als empirische Theorie in ihrer Forschung interpretativ und dialogisch
vorgeht und keinem interventionistisch-technologischem Denkmodell folgt. An ihren
Grenzen reicht sie gewissermaßen anderen Theorien und Disziplinen die Hand. Das
folgt aus ihrem Selbstverständnis, und das könnte sie interessant machen für eine in terdisziplinäre Wissenschaft wie die Gerontologie.
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