Der neue Trend: Jura plus Weil eine Reform der Juristenausbildung nie kommen wird, geht der Nachwuchs längst seinen eigenen Weg Text und Recherche: Nurelia Kather, Berlin Mitarbeit: Lisa Gut, Berlin trends Es ist ein alter Traum, der seit dem 19. Jahrhundert geträumt wird: Praxis und Theorie verschmelzen in einer Juristenausbildung. Der Absolvent kennt nicht nur die juristische Dogmatik, sondern auch das Leben. Was Justizverwaltungen und Jura-Fakultäten trotz vieler Reformversuche und Experimente nie geschafft haben, versuchen nun Jura-Studierende und Referendare über Umwege. Denn längst ist klar: Das zweite Staatsexamen reicht allein nicht mehr für ein langes Berufsleben. Von der Globalisierung der Gesellschaft bleibt das Recht nicht unberührt. Das gilt auch für die juristischen Berufe. Nicht nur ein Absolvent, der sich später als Anwalt oder Anwältin sieht, sollte sich dieser Entwicklungen bewusst sein und seine Ausbildung auch an den Anforderungen des zunehmend internationalisierten und europäisierten Arbeitsmarktes ausrichten. Auch eine Spezialisierung auf gewisse Rechtsgebiete und Branchen im Rahmen eines LL.M. wird nicht unbelohnt bleiben. Jenseits des ersten und zweiten Staatsexamens führen viele Wege zum Ziel. Anwaltsblatt Karriere stellt die Varianten vor, wie Internationalisierung und Spezialisierung in die heutige klassische zweistufige Ausbildung eingebaut werden können. Nur wer vorausschaut, kann von der Vielfalt der Angebote profitieren. Die Varianten bewerten zwei Experten aus Wissenschaft und Praxis: Prof. Dr. Martin Henssler kennt das Anwaltsrecht und den Anwaltsmarkt aus Sicht der Wissenschaft und Rechtsanwalt Uwe Hornung ist Rechtsanwalt bei Clifford Chance in Frankfurt am Main. Beide eint eine Perspektive, in der die nationale Sicht nur noch eine Facette des großen Ganzen ist. Interview mit Uwe Hornung und Prof. Dr. Martin Henssler 1. Staatsexamen + 2. Staatsexamen 1. Rein deutsche Juristenausblidung Für viele Absolventen des ersten Staatsexamens sind Referendariat und zweites Staatsexamen eine Lebensversicherung. Richtig oder falsch? Hornung: In Deutschland stehen die Ergebnisse des ersten und des zweiten Staatsexamens am besten noch auf dem Grabstein, das ist zum Schmunzeln aber auch Realität. Reicht eine Ausbildung im deutschen Recht heute noch für die Tätigkeit in einer internationalen Anwaltskanzlei? Hornung: Die Frage ist etwas schief gestellt. Würde sie lauten "Reicht eine rein deutsche Juristenausbildung …", würde ich antworten: Nein, man braucht die Sprach- und Kulturkompetenz eines längeren Auslandsaufenthalts. Ob der zum Titel führt und ob man dann wirklich „ausländisches Recht" kann, ist zweitrangig, wenn auch eine Erfahrung mit dem angloamerikanischen Rechtskreis immer gut ist, um Mandanten aus diesem später einmal besser zu verstehen. Welche Möglichkeiten bietet die Europäischen Union Juristen mit abgeschlossenem ersten und zweiten Staatsexamen? Henssler: Die Europäisierung des wichtigsten juristischen Berufes, nämlich des Anwaltsberufes, ist bereits weit fortgeschritten. Schon derzeit besteht die Möglichkeit, sich mit der deutschen Anwaltszulassung sofort in einem anderen EU-Mitgliedstaat niederzulassen, dort sofort im Recht des Aufnahmestaates anwaltlich tätig zu werden, und nach dreijähriger Tätigkeit automatisch den Anwaltstitel des Aufnahmestaates zu erwerben. Das spricht nach wie vor dafür, das zweite Staatsexamen anzustreben, mit dem man in Deutschland auch die Anwaltszulassung in der Tasche hat, und dann mit dieser Qualifikation ins Ausland zu gehen. Die Chancen, die der europäische Binnenmarkt hier bietet, werden noch ganz unzureichend genutzt. anwaltsblatt karriere / 35 trends 1. Staatsexamen + 2. Staatsexamen + Auslands-LL.M. 2. Klassische deutsche Juristenausbildung + Auslands-LL.M. Welche Ausbildung nach dem ersten Staatsexamen würden Sie einem Juristen raten, der seine Zukunft in einem vereinten Europa sieht? Hornung: Eine abgeschlossene nationale Juristenausbildung und „noch was Ausländisches dazu". Klingt schlimm konservativ, aber die klassische deutsche Juristenausbildung hat in vielen nicht-deutschen Ländern einen durchaus hohen Status. Henssler: Ich würde es dringend empfehlen, einen LL.M. im Ausland zu machen und dabei ein weiteres Rechtssystem kennen zu lernen und eine weitere Sprache fließend zu erlernen. Englisch ist heute ohnehin ein „Muss“, ohne Englisch ist eine erfolgreiche Tätigkeit sowohl in einem international ausgerichteten Unternehmen oder in einer wirtschaftsorientierten Anwaltskanzlei nicht möglich. Auch das Verständnis des wachsenden Geflechtes aus europarechtlichen Vorschriften, die unsere nationalen Rechtssysteme durchdringen und verändern, wird durch einen Auslandsaufenthalt deutlich verbessert werden. Übrigens: Auch in Verwaltung und Justiz wird nicht nur in Spitzenfunktionen der grenzüberschreitende Austausch und das Wissen über das europäische Recht und das Recht in Europa wichtiger. + Inlands-LL.M. 3. Klassische deutsche Juristenausbildung + Inlands-LL.M. Fast alle deutschen Jura-Fakultäten bieten inzwischen einen LL.M.: Warum? Henssler: Teilweise handelt es sich bei den Angeboten auch um Studiengänge für deutsche Studenten, denen auf diese Weise eine weitere Spezialisierung, etwa im Wirtschaftsrecht, Steuerrecht oder ähnlichem ermöglicht wird. Die Arbeitsmarktchancen verbessern sich mit entsprechenden Abschlüssen signifikant. Hier geht es nicht nur darum, juristische Vertiefung zu bieten, sondern auch Komplementärkompetenzen zu vermitteln. Wie wertvoll ist ein branchenbezogener inländischer LL.M. nach dem ersten Staatsexamen? Hornung: Der inländische LL.M. zeigt einen gewissen Interes- senschwerpunkt auf und die Bereitschaft, sich zu spezialisieren. Er ersetzt aber keinen Auslands-LL.M. und ist in der Regel für die dann folgende spätere Tätigkeit in einer Sozietät nicht wirklich relevant. Henssler: Die Weichen sollten in der Tat schon viel früher und Doppeldiplomstudiengang + 1. Staatsexamen + 2. Staatsexamen (Abschluss) 4. Internationalisierung im Rahmen des Studiums: Doppeldiplomstudiengang Gibt es Alternativen zum LL.M., mit denen man die heute erforderlichen internationalen Zusatzkompetenzen erlangen kann? 36 / anwaltsblatt karriere nicht erst nach dem Examen gestellt werden. Den Königsweg bieten nämlich die Doppeldiplomstudiengänge wie wir sie in Köln im Verbund mit Universitäten in Paris, London, Istanbul und Florenz anbieten. Hier studieren deutsche und französische Studierende gemeinsam zwei Jahre in Köln und anschließend zwei Jahre an der Sorbonne, um im Ergebnis zwei Abschlüsse zu erwerben. Aufgrund des Erfolgs dieses Studienganges haben wir nach dem gleichen Muster inzwischen einen deutsch-englischen, einen deutsch-türkischen und einen deutsch-italienischen Studiengang eingerichtet. Dass ein Teil der Studierenden anschließend nicht mehr nach Deutschland zurückkommt, sondern im Ausland ein attraktives Berufsangebot annimmt, spricht für die internationale Anerkennung dieser Ausbildungsgänge. trends 1. Staatsexamen + Inlands-LL.M. oder Auslands-LL.M. 5. Spezialisierung ohne 2. Staatsexamen Angenommen, ein Kandidat will nicht Anwalt werden. Können Sie sich vorstellen, dass ein LL.M. statt Referendariat und zweitem Staatsexamen der bessere Ausbildungsweg ist? Hornung: Für was? Außer man macht zum Beispiel eine Ausbildung zum Solicitor und will dann in England in einer law firm dauerhaft Karriere machen, ist das ein bisschen wie die Diplom-Juristenausbildung, es langt zum „Transaction Attorney“, aber Partner in einer bedeutenden deutschen Sozietät kann man so nicht werden. Und wenn man nicht als Anwalt arbeiten will, dann hat man in einer Rechtsabteilung, Bank oder Versicherung mit der klassischen Juristenausbildung noch immer das bessere Gehalt und die besseren Karrierechancen. Ist die Spezialisierung durch den LL.M. eine Alternative zum Referendariat, wenn ich keinen klassischen volljuristischen Beruf anstrebe? Henssler: Da habe ich Zweifel. Die Berufswahl ist ohne das zweite Staatsexamen dauerhaft ganz erheblich eingeschränkt. Man sollte schon sehr genaue Vorstellungen und vor allem entsprechende Qualifikationen haben, wenn man von vornherein auf deutlich über 90 Prozent der potentiellen Berufsfelder verzichtet. Außerdem ist das Referendariat nicht nur eine Vervollständigung der juristischen Ausbildung, sondern eine klare Horizonterweiterung auch für jene, die nicht in einen juristischen Beruf im engen Sinne gehen. Allerdings lässt sich beobachten, dass der Andrang auf das Referendariat aus unterschiedlichen Gründen abnimmt. Langfristig wird hier bereits die Sorge artikuliert, nicht mehr genügend hochqualifizierten Nachwuchs etwa für die Justiz auszubilden. Sind Referendariat und zweites Staatsexamen nicht Vergeudung von Zeit und Mühe? Henssler: Man kann sich darüber streiten, ob das deutsche System im Zuge der Europäisierung auch der juristischen Ausbildung dauerhaft Bestand haben wird. Derzeit überwiegen meines Erachtens auch im internationalen Vergleich noch die Vorteile. Im Grunde ist es ja ein luxuriöses Angebot: den Absolventen des erstes Examens wird die ganze Bandbreite der juristischen Berufe präsentiert, bevor sie sich endgültig für einen Beruf entscheiden müssen. Und dies mit einer zwar inzwischen recht kargen, aber doch nicht unbedeutenden staatlichen Unterstützung. Über ein solches Angebot wäre so mancher Absolvent eines anderen Studiums hocherfreut. Ergebnis Tipps für Studentinnen und Studenten Der Praxistest von Anwaltsblatt Karriere ergibt: • Die klassische Juristenausbildung alleine überzeugt nicht mehr. Sie sollte vielmehr als Sprungbrett genutzt werden. Der Trend geht hin zum „Jura plus“. • Überzeugen kann beim Start ins Berufsleben, wer in der Lage ist Sprachkenntnisse, Auslandserfahrung und Kenntnisse eines anderen Rechtskreises aufzuweisen, entweder durch Abschluss eines Doppelstudiums, eines LL.M. oder durch Tätigkeiten als Rechtsanwalt im Ausland. • Die Spezialisierung nimmt in allen Bereichen zu. Oder anders gesagt: Nicht alle Wege müssen offen bleiben. Überzeugen kann außerdem, wer sich spezialisiert, etwa mittels eines Inlands-LL.M.. • Die Entscheidung gegen Referendariat und 2. Staatsexamen ist nur für diejenigen eine Option, die nicht Anwältin oder Anwalt werden möchten und ihren alternativen Berufswunsch deutlich vor Augen haben und genauso zielstrebig angehen (zum Beispiel als Human Resource-Manager in Personalabteilungen oder PR-Berater). Zur Person: Uwe Hornung Uwe Hornung studierte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main Rechtswissenschaften. 1988 folgte ein neunmonatiger Auslandsaufenthalt in New York, wo er für die Clifford ChanceVorläufersozietät Pünder, Vollhard & Weber tätig war. Nach seiner Rückkehr arbeitete er weiter bei der Kanzlei und wurde 1994 Partner. Er ist seit 1990 als Rechtsanwalt in Deutschland zugelassen und hat den Wandel von der Bildung der ersten überörtlichen Sozietäten in Deutschland 1989 bis zur Internationalisierung des deutschen Anwaltsmarkts unmittelbar miterlebt. Zur Person: Prof. Dr. Martin Henssler Professor Dr. Martin Henssler gehört zu den wenigen Absolventen der einstufigen Juristenausbildung (eines Experiments, das trotz seiner Erfolge ab 1984 aus politischen Gründen abgewickelt wurde). Sein Staatsexamen machte er 1983 in Konstanz. Daraufhin folgten staatsanwaltliche und richterliche Tätigkeiten. Henssler ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Anwaltsrecht (des ersten Anwaltsinstituts in Deutschland) sowie Direktor des interdisziplinären Europäischen Zentrums der Freien Berufe der Universität Köln. Von 2006 bis 2012 war er Präsident des Deutschen Juristentages. anwaltsblatt karriere / 37
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