Kriegsende 1945 in Waiblingen

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Hans Schultheiß
Kriegsende 1945 in Waiblingen
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Kriegsende in Waiblingen“
Am 21. April 1945 im Kulturhaus Schwanen
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
im Jahre 1945 kam der Frühling früh und war besonders schön. Der Waiblinger Schriftsteller, Herausgeber und Pädagoge Otto Heuschele schreibt am 11. April 1945 in sein Tagebuch:
Die Natur ist wunderbar in diesen Tagen. Fast stündlich nimmt die Pracht der blühenden Bäume zu,
die Mandelbäume stehen wie rosafarbene Wolken in den Gärten, die japanischen Quitten leuchten in
ihrem dunkleren Rot, die Krokusblüten und die Tulpen, vor allem die hochstieligen, schwanken in
leichtem Winde. Ich gebe mir Rechenschaft über viele frühere Jahre, und es will mir scheinen, als hätten wir in langen Zeiten keinen so reinen, reichen Frühling erlebt wie diesen.
Tagebuch führt auch die zwanzigjährige Waiblingerin Hannah Keyler:
Fein, dass ich nicht im Büro sitzen muss. Draußen blüht es in einer Pracht und Fülle wie selten. Die Luft
ist ein Wohlgeruch.
Mit ihrer Schwester unternimmt sie noch einen Abendspaziergang auf den Bahndamm. Sie sammeln
Wildgemüse, pflücken Vergißmeinnicht und finden am 18. April schon den ersten Maikäfer.
Seit fünfeinhalb Jahren aber war Krieg. Doch nun schien er endlich zu Ende zu gehen, und Hannah
Keyler und ihre Schwester fragen sich, ob jetzt noch alles sinnlos zusammengeschossen und zerstört
werden muss.
Wie die Lage war, erfuhren die Leute zumeist über den Rundfunk, Fernsehen gab es ja noch nicht.
Die wichtigste Informationsquelle war der sogenannte Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht,
der täglich im Rundfunk verlesen wurde und am nächsten Tag in den Zeitungen stand, wenn es noch
welche gab. Aber war der Bericht zutreffend? Und wurde er geglaubt?
Man muss unterscheiden zwischen der wirklichen Lage, wie wir sie heute kennen, und dem Bild der
Lage, das sich die Leute damals machten, und dabei muss man wieder unterscheiden, wie gut oder
wie schlecht sie informiert waren. Heute wissen wir, dass der Wehrmachtbericht im Allgemeinen die
Lage richtig wiedergab, manchmal mit etwas Verzögerung, auch in der Wortwahl beschönigend, aber
niemals ganz falsch.
Am 10. April meldet er:
Im Raum nordwestlich von Crailsheim versucht der Feind, die westlich der Stadt eingeschlossene
Kampfgruppe zu entsetzen. Heftige Kämpfe mit unseren zu Gegenangriffen angetretenen Kräften sind
im Gange. Im Abschnitt zwischen Heilbronn und Ettlingen hält der starke Druck an.
Am 19. April, also zwei Tage vor der Besetzung Waiblingens, ist vom dritten Tag der großen Abwehrschlacht vor Berlin die Rede, vom Angriff der Briten auf Lüneburg und Ülzen, von Angriffen der französischen Armee auf Bad Liebenzell, Calw, Nagold, Tübingen und von einem tieferen Einbruch der
Amerikaner in den Mainhardter Wald.
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Fast überall wurde also auf deutschem Boden gekämpft. Lange war die Zeit vorbei, da man im
Wehrmachtbericht Städtenamen wie Paris, Moskau, Oslo, oder Stalingrad gehört hatte. Jetzt kam der
Krieg nach Waiblingen vor die eigene Haustür, und die Menschen brauchten keinen Rundfunk mehr.
Sie brauchten nur ihre Fenster zu öffnen, dann hörten sie das Donnergrollen der immer näherkommenden Geschütze.
Otto Heuschele beobachtet Luftkämpfe mit feindlichen Flugzeugen, und
wie eines dieser Flugzeuge plötzlich brennend abstürzt. Er sieht flüchtende Einzelsoldaten, aus dem
Norden zurückflutende Truppenteile und endlose Züge von Kriegsgefangenen, die aus den Lagern von
Ludwigsburg kommend, ostwärts marschieren“.
Er schreibt:
Viele Hunderte Insassen von Zuchthäusern und wohl auch Konzentrationslagern passieren die Stadt,
um ebenfalls ostwärts gebracht zu werden. Ich werde diese Bilder des Schreckens, die sich mir hier
darbieten, lange nicht vergessen. Die Gefangenen werden von Wächtern, SS-Leuten mit Wachhunden,
begleitet und müssen in ihrer zebrafarbenen Sträflingskleidung durchs Land marschieren.
Und er hört, wie irgendwo die Frage laut wird: Warum hat man die nicht gleich erschossen?
Er wird zu einer Zusammenkunft des Volkssturms befohlen, dem alle ausgemusterten und nicht für
den Kampfeinsatz fähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren angehören. Er erfährt, dass vor seinem
Haus in der Korberstraße eine Panzersperre aus querliegenden Stammhölzern errichtet wird und die
Remsbrücken zur Sprengung vorbereitet werden, um den Vormarsch der Amerikaner aufzuhalten.
Hannah Keyler schreibt:
Die Nachrichten werden immer erregender und alarmierender. Die Russen dringen auf Berlin zu. Wo
stehen die Alliierten in unserem Gebiet? Man hört nichts Genaues. Werden wir umzingelt? Wenn wir
es doch schon hinter uns hätten! Leute von der Partei verlassen ihre Häuser und Heime und fliehen
einem ungewissen Schicksal entgegen. Wo ist man heute sicher? Wir bleiben auf jeden Fall. Wo sollten wir auch hin?
Anfang April war der Krieg für die deutsche Führung zweifellos verloren. Die vollständige Niederlage,
die vollständige Besetzung Deutschlands stand unmittelbar bevor.
Die Frage, von welchem Zeitpunkt an der Krieg verloren war, ist oft gestellt worden. Vieles spricht für
die Annahme, dass der Krieg bereits von Anfang an nicht gewonnen werden konnte, als Hitler am 1.
September 1939 Polen unter der Voraussetzung angegriffen hatte, dass die Westmächte, England
und Frankreich, nicht eingreifen würden. Im Sommer 1940 schienen die Siegesaussichten größer.
Frankreich war in einem überraschend kurzen Feldzug besiegt worden, England vom Festland vertrieben.
Nun aber wurde das eigentliche Ziel Hitlers, der Angriff auf die Sowjetunion vorbereitet. Er wurde im
Juni 1941 unter der Voraussetzung eingeleitet, dass Russland in wenigen Wochen zusammenbrechen
würde. Doch schon nach wenigen Monaten stockte der Vormarsch in Russland. Und es war es nicht
der Winter, an dem die Wehrmacht scheiterte. Der Widerstand der Roten Armee war schon im
Sommer viel stärker als erwartet. Historiker finden gute Anzeichen dafür, dass Hitler jetzt selbst eine
Niederlage wahrscheinlich hielt.
Aber einen Kompromiss schloss er immer aus, vermutlich schon deswegen, weil er noch ein anderes
Kriegsziel hatte, nämlich die Ermordung der europäischen Juden. Und war es nicht Wahnsinn gewesen, dass Hitler den Vereinigten Staaten von sich aus den Krieg erklärte, nachdem diese in den Krieg
mit Japan eingetreten waren? Zu einem Nachgeben war Hitler nie bereit. Andere wie Himmler oder
Göring dachten durchaus darüber nach, wie der Krieg durch Verhandlungen beendet werden könnte.
Aber davon wusste die Bevölkerung nichts. Es führte auch zu nichts, sondern nur zur Absetzung so-
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wohl von Göring wie von Himmler. Hitler blieb bis zuletzt die Autorität, die sich auch durchzusetzen
vermochte. Er gab die Befehle, und sie wurden befolgt.
Verlassen wir aber wieder den Blickwinkel der obersten Führung, die gut informiert war, der Militärs,
die Befehle erhielten und blicken wieder auf denjenigen der Bevölkerung, die auf wenige Informationen angewiesen war und umso mehr auf Gerüchte, wie etwa der letzten Hoffnung auf eine Wunderwaffe.
Wie die Bevölkerung die Lage einschätzte, können wir heute in den so genannten Geheimen Stimmungsberichten nachlesen. Es gab damals natürlich keine Meinungsumfragen. Doch die Führung
ermittelte auf vielen Wegen, wie die tatsächliche Stimmung war.
Der Kriegsbeginn war demnach ohne Begeisterung und mit Sorge aufgenommen worden. Mit dem
Sieg im Westen erreichte die Stimmung im Sommer 1940 einen Höhepunkt, von dem es langsam
wieder bergab ging. Die Unübersehbarkeit des Kriegsendes, die zunehmenden Ernährungsschwierigkeiten und die Luftangriffe auf die Städte riefen vom Sommer 1942 an pessimistische Stimmungen
hervor, die nach Stalingrad in Zweifel und Resignation und schließlich in einen freilich immer noch
hoffenden Fatalismus übergingen. Der tägliche Kampf ums Leben, ums Überleben, verdrängte die
Politik und beherrschte alles.
Nach Eberhard Jäckel verdient es jedoch Beachtung, dass das Attentat vom 20. Juli 1944 nicht nur von wenigen Ausnahmen abgesehen - einhellig wie es hieß, auf Ablehnung stieß, sondern sogar eine
Vertiefung der Bindung an den Führer bewirkte. Was immer an Kritik zum Vorschein kam, Hitler blieb
davon fast durchweg ausgenommen. Der letzte Bericht der Sicherheitspolizei stammt von Ende März
1945. Darin heißt es:
1. Niemand will den Krieg verlieren.
Jeder hat sehnlichst gewünscht, dass wir ihn gewinnen.
2. Keiner glaubt mehr, dass wir siegen. Der bisher bewahrte Hoffnungsfunke ist am Auslöschen.
3. Wenn wir den Krieg verlieren, sind wir nach allgemeiner Auffassung selber daran schuld, und
zwar nicht der kleine Mann, sondern die Führung.
4. Das Volk hat kein Vertrauen zur Führung mehr. Es übt scharfe Kritik an der Partei, an bestimmten Führungspositionen und an der Propaganda.
5. Der Führer ist für Millionen der letzte Halt und die letzte Hoffnung, aber auch der Führer wird
täglich stärker in die Vertrauensfrage und in die Kritik einbezogen.
6. Der Zweifel am Sinn des weiteren Kampfes zerfrisst die Einsatzbereitschaft, das Vertrauen der
Volksgenossen zu sich selber und untereinander.
Dieser Geheimbericht gibt wahrscheinlich die Stimmung der Deutschen und auch hier in Waiblingen
gut wieder, kurz bevor jede Ortschaft, jede Stadt ihrer eigenen bedingungslosen Kapitulation entgegensehen musste.
Der Historiker, der sich mit dem Kriegsende in Waiblingen befasst, kann auf mehrere Quellen zurückgreifen:
- die erwähnten Tagebücher von Otto Heuschele und Hannah Keyler,
- die Niederschrift von Hermann Täuber über die Verhinderung der Sprengung der Remsbrücken
vor dem Beinsteiner Tor,
- die Erinnerungen des katholischen Vikars der St. Antonius- Gemeinde Hans Böhringer, der den
von Korb heranrückenden Amerikanern entgegenging,
- den Bericht des evangelischen Pfarrers Karl Altenmüller über das Gemeindeleben in Waiblingen
von 1933 bis 1945,
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- die Visitationsberichte über das Dekanat Waiblingen im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart,
- die Erinnerungen von Adolf Bauer über sein Wirken in der Stadtverwaltung,
- das städtische Gemeinderatsprotoll über „Die Besetzung der Stadt Waiblingen durch die amerikanischen Truppen am 21. April 1945“,
- Personalakten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und Ludwigsburg,
- die Waiblinger Kreiszeitung, deren letzte gleichgeschaltete Ausgabe noch einen Tag vorher erscheinen konnte
- und die Geschichte der 100. US-Infanterie-Division, die auch Waiblingen eroberte.
Hinzu kommen
- die Waiblinger „Zeitzeugenbefragung“, welche der Waiblinger Gemeinderat 1995 in Auftrag gegeben hat,
- eigene Zeitzeugen-Interviews, die ich im Laufe meiner Waiblinger Tätigkeit durchgeführt habe,
etwa mit Alfred Rupp, der 1933 als Mitglied der KPD verhaftet über ein Jahr in den Lagern Heuberg und Oberer Kuhberg verbringen musste und der zusammen mit Vikar Hans Böhringer den
Amerikanern entgegenging.
- Dazu gibt es auch noch verdienstvolle Literatur, etwa von Winfried Mönch über den „Luftschutz
in Waiblingen“ oder die Zusammenstellung von Joachim Promies über die Luftangriffe.
Nimmt man alles zusammen, so bietet sich dem Historiker mit dem 21. April 1945 in Waiblingen das
Bild eines fast unwahrscheinlichen Glücksfalles, so dass wir an diesem 70. Jahrestag heute keiner
Opfer gedenken müssen, sondern diese Veranstaltung und die Ausstellung im Museum eher als eine
Feierstunde empfinden können.
Es war ein 4-facher Glücksfall. Und auf diese 4 Umstände will ich nun kurz eingehen.
Es sind dies:
1. die Besonnenheit und Zivilcourage Waiblinger Frauen und Männer,
2. die Abwesenheit fanatischer Nationalsozialisten, die ein Durchhalten um jeden Preis verlangten
und in ihren Augen Verräter mit Standgerichten verfolgten und mit dem Tode bestraften; damit
verbunden:
3. die allgemeine militärische Lage und Entwicklung, und schließlich
4. der Umstand, dass es die Amerikaner waren, die Waiblingen eroberten.
[Punkt 1]
Was Besonnenheit und Mut in Stadtbevölkerung betrifft, ist beispielhaft das erwähnte Engagement
der Waiblinger Frauen, die hundertfach auf dem Rathausplatz eine kampflose Übergabe der Stadt
verlangten und sich der Initiative von Erna Schaal, Erna Frank und Johanna Rupp angeschlossen haben. Sie wussten, dass von den Amerikanern - um das Risiko eigener Menschenopfer zu verringern Wohnorte, deren Zufahrt versperrt war, auch schon zusammengeschossen wurden.
Beispielhaft auch der Mut von Hans Böhringer und Alfred Rupp, den heranrückenden Truppen entgegenzugehen und der zeitgleiche der Einsatz von Hermann Täuber zum Erhalt der Remsbrücken vor
dem Beinsteiner Tor, wo ein Sprengkommando den Auftrag hatte, bei Ansicht der ersten Amerikaner
die Sprengung auszulösen. Kurz zuvor flog noch die große Brücke über die Talaue in die Luft, und die
Sprengung auch der Torturmbrücken hätte aller Voraussicht nach einen Beschuss der Stadt zur Folge
gehabt.
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Besonnen handelten inzwischen auch Waiblinger Parteileute, jedenfalls die, die sich nicht aus der
Stadt absetzten und schon die Zeit danach im Auge hatten. NSDAP-Ortsgruppenleiter Schöllkopf etwa
hatte durchaus Kenntnis von den Initiatorinnen der Frauendemonstration, auch davon, dass sich im
Waiblinger Dekanat ein jüdisches Ehepaar versteckt hielt – er unternahm aber nichts.
Die Titelschlagzeilen der Waiblinger Kreiszeitung
- Kampf bis zum letzten Atemzug! Siegen oder fallen!
- Restlose Hingabe für Heimat und Volk!
- Männlich und deutsch dem Führer folgen!
erreichten wohl auch ihn nicht mehr.
[Punkt 2]
Was für ein Glück für Waiblingen, und damit zu Punkt 2, dass es hier zu keinem Endphaseterror mehr
kam.
Bevor ich meine Tätigkeit in Waiblingen aufgenommen habe, habe ich die Geschehnisse in dem Dorf
Brettheim bei Crailsheim erforscht. Dort fielen drei Männer Standgerichten anheim, weil auch sie
sinnloses Blutvergießen verhindern wollten. Bauern hatten Hitlerjungen die Panzerfäuste weggenommen, mit denen sie auf heranrückende amerikanische Panzer schießen sollten und wollten. Einer
der Bauern wurde ermittelt und zum Tode verurteilt. Der Brettheimer NSDAP-Ortsgruppenleiter und
der Bürgermeister wurden aufgefordert, das Todesurteil zu unterschreiben, weigerten sich jedoch.
Selbst dafür kamen auch sie vor ein Standgericht, und die drei Männer wurden in Brettheim vor dem
Friedhof erhängt, wo sie zur Abschreckung drei Tage hängen bleiben mussten. Und als ob dieser Preis
nicht schon hoch genug gewesen wäre, wurde der Ort auch noch von amerikanischen Jagdbombern
fast völlig zerstört; 13 weitere Todesopfer waren zu beklagen.
Sie können sich vorstellen, dass die Erinnerung an das Kriegsende in Brettheim – und vielen weiteren
Schicksalsorten – eine ganz andere ist als hier. Seit 1960 findet dort jedes Jahr am 10. April, dem Todestag der Männer von Brettheim, eine Gedenkveranstaltung statt. Die Gedenkrede in diesem Jahr
hielt der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel, und er sagte:
Es hätte auch in meiner Heimatgemeinde passieren können, was in Brettheim geschah.
Erwin Teufel stammt aus Zimmern bei Rottweil, im April 1945 war er fünfeinhalb Jahre alt, aber er
weiß noch, dass dort niemand eine weiße Fahne hissen wollte, aus Angst, die SS würde ihnen etwas
antun.
Vielleicht haben ja einige unter ihnen, das von mir verfasste Theaterstück Die Männer von Brettheim
gesehen, das anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes auch im hiesigen Bürgerzentrum zu sehen
war. Inzwischen hat eine Filmproduktionsfirma die Rechte daran erworben für einen Spielfilm.
Erwähnen wollte ich den Fall Brettheim aber vor allem deswegen, weil er unter der Überschrift Tod
den Verrätern am 16. April 1945 zur Abschreckung auch in der Waiblinger Kreiszeitung stand; zusammen mit einem Bericht aus Heilbronn, wo 14 Personen, darunter auch Frauen, wegen Zeigens
von weißen Fahnen standgerichtlich erschossen wurden. Erst vor dem Hintergrund solcher Geschehnisse kann man den Mut der Waiblinger Frauen, von Hans Böhringer, Alfred Rupp und Hermann Täuber angemessen bewerten.
Ein Segen für Waiblingen war es auch wohl, dass überzeugte Nationalsozialisten der ersten Stunde –
und dann leider auch der noch letzten – in Waiblingen jedenfalls nicht mehr in Erscheinung treten
konnten. Der erste Waiblinger NSDAP-Ortsgruppenleiter Hermann Weisbarth war jetzt Leiter des
Volkssturms in Fellbach. Dort hat er eigenhändig drei französische Kriegsgefangene nach angeblich
abgehaltenem Standgericht erschossen, nur weil ihm eine Unterhaltung der Franzosen zu Ohren
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gekommen war, wonach er selbst und der Fellbacher Ortsgruppenleiter wohl die ersten sind, die am
Kirchturm baumeln, wenn die Amis kommen.
Ein weiteres Glück war, dass der zweite Waiblinger NSDAP-Ortsgruppenleiter Josef Huber, Parteimitglied schon 1923, bald Bürgermeister von Winnenden wurde. Seiner Personalakte im Hauptstaatsarchiv ist zu entnehmen, dass er zuletzt noch mit Volkssturm ausgerückt war und dabei ums Leben
kam.
[Punkt 3]
Glücksfall 3: Die militärische Lage
Nachdem Heilbronn am 12. April kapitulierte und die Front bei Crailsheim endgültig zusammengebrochen war, war der Weg für die amerikanischen Truppen vergleichsweise frei. Heftigen Widerstand
der Wehrmacht gab es noch in Waldenburg, aufgrund dessen strategischer Lage, von der aus sich die
Hohenloher Ebene kontrollieren ließ. Nachdem aber auch Waldenburg mit schwerem Artilleriefeuer
in Schutt und Asche gelegt worden war, war der weitere Weg Richtung Süden und damit Richtung
Waiblingen weniger umkämpft, und die Amerikaner konnten in raschem Tempo vorrücken. Die deutschen Wehrmachtverbände befanden sich nun in Rückzugsbewegungen, und es gab den Plan, erst
südlich der Schwäbischen Ostalb in Bayern wieder eine Widerstandsfront aufzubauen. Nicht auszudenken, man hätte bei der Rems eine Hauptkampflinie gezogen. So zogen sich auch der Waiblinger
Kampfkommandant, SS-Offizier Schmidt, und der Ortskommandant, Wehrmachtsmajor Wolff, der
Hermann Täuber immerhin noch den Befehl zur Nichtsprengung der Brücken ausstellte, vor der Ankunft der Amerikaner aus Waiblingen ab.
Diesem raschen Vormarsch der 100. US-Infantry-Division ist es zu verdanken, dass Waiblingen zuerst
von den Amerikanern und nicht von den Franzosen erreicht wurde. Denn am gleichen Tag, als die
Amerikaner Waiblingen besetzten, heute vor 70 Jahren, drang die 5. Französische Panzerdivision ins
Stuttgarter Stadtzentrum ein.
Hier berichten Stuttgarter Chroniken von großen Rachegelüsten, schließlich war Frankreich ein Land,
das von den Deutschen besetzt gewesen war und in dem Wehrmacht und SS furchtbare Verbrechen
begangen hatten. Und besonders die mitgeführten nordafrikanischen Soldaten, die sich als Soldaten
zweiter Klasse empfanden, meist an vorderster Front eingesetzt wurden und hohe Verluste hatten,
ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Es wurde rücksichtslos geplündert, und es kam zu ganzen Wellen
von Vergewaltigungen. Ein Los, das auch noch Frauen im benachbarten Fellbach ereilen sollte, nachdem dort die amerikanischen Besatzer den Ort wieder räumten und an ihrer Stelle eine französische
Einheit mit marokkanischen Soldaten einzog.
[Punkt 4]
Damit komme ich zu Glücksfall 4: Waiblingen unter den Amerikanern.
Ja, es waren Besatzer, ja, es wurde auch gestohlen, Fotoapparate, Teppiche, dies und das. Ja, es wurden Wohnungen beschlagnahmt, vorzugsweise von Parteimitgliedern, Ausgangssperren verhängt,
anwesende Wehrmachtangehörige und Polizisten verhaftet und abtransportiert. Und: klar, die haben auch mal ein Feuerle im Wohnzimmer gemacht, wie mir eine Waiblingerin erzählte, und sich im
Siegesrausch so verhalten, als säßen sie am offenen Feuer im Feld.
Aber meine Damen und Herren, viel bessere Besatzer konnte man sich doch in diesem Krieg kaum
wünschen! Und was hier geschehen ist, dies ist doch alles nichts gegen Vorkommnisse im Osten, wo
Hunderte Frauen oft mit ihren Kindern aus Angst vor den russischen Besatzern in die Flüsse gesprungen sind – ein ganz, ganz trauriges Kapitel dieser Endphase, das soeben ein Historiker auf Grundlage
von städtischen Sterbeeinträgen geschrieben hat.
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Und ja, es gab am Einmarschtag auch Plünderungen durch Waiblinger Zwangsarbeiter, besonders in
der Karolingerschule, woran sich selbst Waiblinger Bürger beteiligten. Doch konnten diese von den
Amerikanern rasch beendet werden. Exzesse wie in Fellbach gab es nicht. Mein Fellbacher Kollege
Ralf Beckmann schreibt:
Die schlimmen Erfahrungen von Entbehrung und Unterdrückung, die diese Menschen in unserem Land
machen mussten, entluden sich nach dem Einmarsch der Franzosen [...] in tagelangen Plünderungen
von Fellbacher Geschäften. Zehn Fellbacher und eine unbekannte Zahl von Fremdarbeitern verloren
bei den teilweise bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen ihr Leben.
Ich kann Ihnen aus Waiblingen eigentlich von keinem Geschehnis im Zusammenhang mit dem 21.
April 1945 berichten, von keiner materiellen, körperlichen oder seelischen Wunde, die nicht schon
bald hätte heilen können. Für die verrußten Wohnzimmerwände, für manchen Diebstahl gab es später Entschädigungen. Und auch Polizeileutnant Bassler, der bei der Übergabe der Stadt auf dem
Marktplatz, als er mit vorgehaltenem Gewehr verhaftet wurde, eine Ohnmacht erlitt und umfiel,
dürfte sich bald wieder erholt haben.
Seine plötzliche Ohnmacht kann hier durchaus als Sinnbild dienen. Er, jahrelang VollstreckungsAutorität in der Stadt, der 1938 diensteifrig den Bürgermeister darüber informierte, dass auf dem
Waiblinger Krämermarkt entgegen den Vorschriften Juden immer noch einen Stand hätten, der 1941
Berta Kahn, die letzte noch in Waiblingen lebende Jüdin, auf den Bahnhof brachte und ihr Vermögen
beschlagnahmte, - jetzt ohnmächtig.
Und damit nähere ich mich dem Schluss, nicht ohne wenigstens kurz noch, wie der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum Kriegsende ermahnt hat, den Zusammenhang mit 1933 zu vergessen.
Und hier muss man leider sagen: Der Nationalsozialismus und vor allem Hitler waren weithin populär
gewesen - auch in Waiblingen. Liest man im Tagebuch von Otto Heuschele, so hat er die letzten Wochen vor der Besatzung durchaus treffend beschrieben und die nationalsozialistische Führung für ihre
Haltung verurteilt. Dem aufmerksamen Historiker können aber auch solche Passagen nicht entgehen,
in denen er schreibt:
Möge es uns gegeben sein, der Jugend die seelischen und geistigen Kräfte zu vermitteln, derer sie jetzt
bedarf.
Oder wenn er sich wundert:
…dass man nun allenthalben Menschen begegnet, die heute verbrennen, was sie gestern anbeteten.
Oder wenn er sich fragt, warum ein früherer Verfechter des Volkssturm-Gedankens
sich seines damaligen Standpunktes in keiner Weise mehr erinnern wollte.
Offensichtlich hatte er selbst schon verdrängt, wie er auch 1933 schon die deutsche Jugend auf die
Zukunft im Dritten Reich Adolf Hitlers einstimmen wollte, wie er vom Besuch des Führers 1933 in
Stuttgart so angetan war, dass er ihn sogar als „von Gott gesandt“ verherrlicht hatte. Aber dies war ja
1933. Und vom Erlebnis des damaligen Hitlerbesuches war auch ein gewisser Claus Schenk Graf von
Stauffenberg mehr als begeistert gewesen. Dieser sah nach den Beschränkungen der Weimarer Republik einem nun offenstehenden militärischen Werdegang entgegen, Otto Heuschele einer besonderen Zukunft als Schriftsteller. Wohl auch aus diesem Grund hatte er 1933 die Bücherverbrennung
vom 10. Mai nicht verurteilt. Der eine, wir wissen es, hat schließlich das Attentat auf Hitler ausgeführt und dafür mit dem Leben bezahlt; und Otto Heuschele, über das Attentat vom 20. Juli wie die
meisten Deutschen noch erschüttert, hat sich dann ebenfalls vom Nationalsozialismus distanziert. Es
waren vor allem die Gespräche mit Vikar Hans Böhringer, der nationalsozialistische Endphaseterror
und die durchsickernden Schreckensnachrichten aus den Konzentrationslagern. Nein, so etwas konn-
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te er niemals absehen und hätte es niemals gutheißen können, mit so etwas hatte er nichts zu tun.
Auch dies ist durchaus typisch. Die vollständigen Verdrängungen eigener Verstrickungen gingen
schnell und fielen leicht. Nicht von ungefähr wunderte sich daher auch die Publizistin Hannah Arendt,
die Deutschland nach dem Krieg bereiste, dass sie hier aber auch gar keine Nazis mehr antraf; und
später als sie Eichmann-Prozesse verfolgte, von der vielzitierten Banalität des Bösen schrieb.
Aus diesem Rahmen fällt schon fast die Geschichte des Waiblinger SS-Sturmbannführers Ernst Ellwanger. Ein überzeugter Nationalsozialist, der sich schon vor der Machtergreifung in Saal-Schlachten
mit den Kommunisten hervortat, Waiblinger dann bei NS-Umzügen auch schon mal ins Gesicht
schlug, wenn sie den Führergruß verweigerten. Dies alles in bester erzieherischer Absicht, wie er
schrieb. Doch schon 1936, nachdem er die Wahrheit, warum sich sein ehemaliger SS-Kamerad Dr.
Walter Müller drei Jahre zuvor das Leben genommen hatte, hat er die Führung des SS-Sturmbanns
niedergelegt. Nicht wegen jüdischer Anschuldigungen, am Krankenhaus illegale Abtreibungen durchgeführt zu haben, hatte sich Walter Müller erschossen, sondern weil ihm eine jüdische Abstammung
nachgewiesen worden war. In seinem Beruf als Schlachtermeister war Ellwanger dann 1945 in einem
Schlachthof in Krakau beschäftigt, wo er jüdischen Zwangsarbeitern verbotenerweise mit heimlich
zugesteckten Schlachtabfällen zum Überleben verhalf, wie diese später in seinem Spruchkammerverfahren aussagten. Ich habe viele Spruchkammerakten gelesen, aber eigentlich nur hier das Eingeständnis, Schuld auf sich geladen zu haben, und die Bereitschaft, den festgelegten Sühnebetrag anzuerkennen - mit der Bitte um Ratenzahlung. Nach Waiblingen ist Ellwanger nicht mehr zurückgekehrt.
Der 21. April 1945 war kein großer Tag in der Geschichte. Für Waiblingen aber hat er eine große und
besonders glückliche Bedeutung. Und da ist es nur eine kleine Randnotiz, dass ausgerechnet am
Nachmittag dieses Tages ein Jahrhundertfrühling sein Ende finden sollte, und wie Otto Heuschele
schreibt:
ein Sturm über das Land läuft, der die weißen Blütenblätter von den Bäumen mit sich fortträgt, am
Abend zwar der Himmel noch einmal aufhellt, allein die wolkenlose Klarheit der letzten Wochen nicht
wieder erscheinen will.
Erst mit Adolf Hitlers Tod am 30. April ging der Krieg dann endgültig zu Ende. Er hatte Admiral Dönitz
zu seinem Nachfolger ernannt und dieser ließ dann die bedingungslose Kapitulation unterzeichnen:
in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945.
Die Deutschen und auch die Waiblinger nannten das damals den Zusammenbruch. Viele meinten
damit auch den Zusammenbruch ihrer Wünsche und Hoffnungen. Es dauerte lange, bis sie einsahen,
dass sie eigentlich befreit worden waren. Damals sahen es nur wenige so.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.