IM APFELPARADIES

RUBRIK KLEIN
ESSEN
Über 400 Jahre Apfelkultur: Im Thurgau
wird mit Leidenschaft
Obstanbau betrieben.
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IM APFELPARADIES
Willkommen in MOSTINDIEN. Die Region am Bodensee
lockt mit über 200 Apfelsorten, Most und Verjus. Verführerisch
sind auch hiesige Schüblige oder Bodenseefelchen.
Text Dominik Flammer Fotos Sylvan Müller
Schweizer Familie 42/2013
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ESSEN
ESSEN
Hans Oppikofer
produziert aus
unreifen Äpfeln
Apfelverjus.
D
utzende von Holzkisten stehen in
Neukirch an der Thur unter stattlichen Obstbäumen im Schatten.
Alle bis zum Rand gefüllt mit Äpfeln. Einige sind klein wie Pingpongbälle, andere
gross wie Honigmelonen. Feuerrot strahlen die einen, mit rötlichen Backen leuchten die anderen. Auch giftgrüne und solche in den unterschiedlichsten Gelbtönen
sind in den Kisten auszumachen.
Sie heissen Engishofer, Chüsenrainer,
Tobiässler. Rote Konstanzer, Rothenhauser oder Damasonrenette.
Im halbhohen Gras sieht man Spuren
von Rehen und Hasen. «Die sind mit
ihren Jungen immer hier, unter den weiten Kronen meiner hochstämmigen Apfelbäume sind sie vor den Raubvögeln geschützt», sagt Hansruedi Schweizer. Ohne
Eile stellt der hagere, gross gewachsene
Apfelbauer die Obstleiter an einen Baum.
«Die Ernte fällt etwas geringer aus als letztes Jahr», erzählt der 66-Jährige, der im
schmucken Thurgauer Obstbaudorf Neu-
Thomas Oeler
kontrolliert sein
Dörrobst (o.).
Er hat die Liebe zu
den Äpfeln in den
Genen: Hansruedi
Schweizer (u.).
kirch an der Thur einen der grössten Apfelsortengärten der Schweiz pflegt. Zu kalt
war der Frühling und zu nass der Frühsommer. «Das hat auch seine Vorteile»,
sagt Schweizer, «mein ärgster Feind, der
Feuerbrand, hatte bei dem kalten Klima
kaum eine Chance.» Wäre der Frühling
wärmer gewesen, wäre der Apfelbauer
täglich mehrere Stunden auf der Leiter gestanden, um die von der Bakterienkrankheit befallenen Äste herauszuschneiden.
Und das bei mehr als 400 Bäumen.
Das Thurgauer Apfelarchiv
Schweizers Äpfel wachsen ausschliess­lich
auf Hochstämmen, in einem vom Bund
und von der Stiftung Pro Specie Rara
unterstützten Sorten­garten. Oder, wie er es
ausdrückt, im «Thurgauer Apfelarchiv».
Für die mühselige Handarbeit wird
Schweizer vom Bund entschädigt; quasi
als Hüter der lange Zeit verloren geglaubten Schätze. 240 Sorten hegt und pflegt
der leidenschaftliche Obstbauer seit über
zwanzig Jahren, viele davon hat er bei befreundeten Landwirten in der Nachbarschaft gefunden und teilweise in letzter
Minute gerettet. Er schnitt einen gesunden Ast von den überalterten Bäumen ab
und propfte ihn auf einen jüngeren Stamm
auf. «Bei der einen oder anderen Sorte war
es der letzte Baum überhaupt, oft waren
die Stämme schon hohl», sagt er.
«Mostindien», wie man den Oberthurgau mit den angrenzenden Obstbaugebieten einst nannte, ist reich an Apfelsorten. Wegen der tiefen Böden werden
hier seit dem Spätmittelalter vorwiegend
Birnen und Äpfel angebaut. Fast jeder
Weiler hatte seinen eigenen Apfel. In grösseren Gemeinden kannte man bis zu
einem halben Dutzend einheimische
­Apfelsorten, die nirgendwo sonst angebaut wurden. Auch heute dürften es insgesamt immer noch einige hundert sein,
auch wenn zahlreiche bereits ausgestor- ➳
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Eine Entdeckung:
Apfelverjus, Saft aus
unreifen Äpfeln.
Ein Renner: Der
währschafte, würzige
Bauernschüblig.
Schmaus aus der
Region: Geräucherte
Bodenseefelchen.
Gesuchte Delikatesse:
Die Dörrbirnen Comice
Conférence, Harrow Sweet
und Wasserbirne.
Allein von Äpfeln und Birnen lebten
sogar in dieser Hochburg des schweizerischen
Obstbaus nur die wenigsten Bauern.
ben sind. Dank der Arbeit von Hansruedi
Schweizer und anderen Apfelzüchtern
werden Jahr für Jahr längst verschollen
geglaubte Sorten wiederentdeckt. Im
Oberthurgau wachsen Tafelobst und
Mostobst – der Schweizer Apfelmost hat
hier seinen Ursprung. Der saure wie der
süsse. Dank der jahrhundertealten Erfahrung entwickelte sich die Region im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Hochburg
der schweizerischen Mostindustrie – mit
internationaler Ausstrahlung.
Die traditionelle Mostkultur hat bei
den Thurgauer Trinksitten ihre Spuren
hinterlassen. E
­ rwachsene wie auch Kinder
tranken bis weit ins 20. Jahrhundert hinein oft mehr sauren Most als Wasser. Und
die alkoholgeschädigte «Mostleber» war
bei Knechten und Bauern ein weit verbreitetes Leiden. Selbst die Patienten der
Thurgauer Spitäler erhielten im 17. Jahr-
hundert täglich drei Liter Apfelmost oder
Wein zugesprochen.
Eine Leidenschaft, die anhält
Nebst den traditionellen klaren, trüben
oder süssen Mostsorten gibt es im Oberthurgau unzählige weitere Obstdelikatessen: weich gedörrte Wasserbirnen,
­knackige Dörräpfel, unzählige Apfelmusrezepte, trockene Rotlänglerbirnen, Apfelschnäpse oder Birnenbrände, Birnbrot
und unterschiedlichste Apfelkonfekte.
Seine Leidenschaft für die Äpfel hat
Hansruedi Schweizer in der Kindheit entdeckt. «Unsere Familie baut in Neukirch
seit über 400 Jahren Obst an», sagt er. Viele seiner liebsten Sorten stammen denn
auch aus dem Garten seiner Vorfahren.
Sein Vater hielt noch Kühe, Schweizer
kümmert sich heute einzig um seinen Apfelwald. Früher arbeitete er neben seiner
Tätigkeit im Obstgarten Teilzeit in der
Milchpulverfabrik im benachbarten Sulgen, dann bei einer Käserei und verdiente
sich später sein Zubrot mit allerlei Arbeiten ausserhalb der Landwirtschaft.
Allein von Äpfeln und Birnen lebten
sogar in dieser Hochburg des schweizerischen Obstbaus nur die wenigsten Bauern. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts
wurden hier auch Wein und Getreide kultiviert. Dem Oberthurgauer Wein allerdings machten die Reblaus und der Echte
Mehltau, Krankheiten, die mit amerikanischen Reben importiert wurden, fast vollständig den Garaus. Im 19. Jahrhundert
schrumpfte die gesamte Rebbaufläche des
Kantons Thurgau auf einen Zehntel ihrer
Ausdehnung von 1810 Hektaren auf 139
Hektaren. Und nach dem Bau der Eisen- ➳
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bahnstrecken wurden auch die Getreideflächen kleiner. Die Anbindung an die
europäischen Schienennetze brachte weit
billigeren Weizen und Roggen vor allem
aus dem östlichen Europa und später auch
aus den USA bis in die hintersten Ecken
des Landes. Einheimisches Getreide war
nicht mehr konkurrenzfähig. Heute haben sich viele der Oberthurgauer B
­ auern
ganz auf den Obstbau konzentriert. Viel
OBERTHURGAUER SPEZIALITÄTEN
OBST, GEMÜSE, HONIG
Apfelringli, Dörrobst,
Dörrbohnen, getrocknete
Tomaten
Öpfelfarm Roland und
Monika ­Kauderer
Olmishausen
9314 Steinebrunn
www.oepfelfarm.ch
Apfelverjus, Apfelsäfte,
Zwetschgencidre
Mausacker, Hans Oppikofer,
9314 Steinebrunn
www.mausacker.ch
Dörrbirnen, zwanzig
verschiedene Sorten
Thomas Oeler, Hinterberg
637, 9308 Lömmenschwil
Alte Apfelsorten, Apfelsaft, Apfelblütenhonig
Hansruedi Schweizer
Bühlstrasse 4
9217 Neukirch an der Thur
www.hr-schweizer.ch
FLEISCH
Bauernschüblig
Metzgerei Hälg, Bahnhofstr.
75, 9315 Neukirch-Egnach
www.egnimetzg.ch
FISCH
Geräucherte Felchen,
Forellen und Saiblinge
Bodenseefischerei
Erwin und Claudia Fischer
Kirchstrasse 14a
8599 Salmsach
www.schweizerfisch.ch/
berufsfischer.html
MARKT UND MESSE
Viele der alten Obstsorten,
unter anderem von Thomas
Oeler und Hansruedi
Schweizer, können am
26. Oktober am Obstsortenmarkt im Botanischen
Garten der Stadt Zürich
degustiert werden. Und
vom 8. bis 10. November
an der Slow-Food-Market
auf der Bio-Suisse-Plattform der Messe Zürich.
«Bei aller Liebe zu den alten,
traditionellen Sorten faszinieren
mich diese neuen Äpfel ebenso.»
allerdings lässt sich damit nicht verdienen. Maximal 25 Rappen pro Kilogramm
erhält Hansruedi Schweizer von der Mosterei für ­seine besten Mostäpfel, für viele
Sorten noch weniger. Wie viele Obstbauern hat er deshalb einen Teil der Vermarktung selbst in die Hand genommen.
tirol und später gegen jene aus Chile und
Argentinien behaupten. Stolz zeigt
Schweizer seine jüngste Kreation, die
«Sangria malus», einen mit Apfelblütenhonig gesüssten Most aus rotfleischigen
Äpfeln. Gewonnen hat er ihn aus Sorten,
die erst in den vergangenen Jahren in den
landwirtschaftlichen Forschungsanstalten
gezüchtet wurden. Acht dieser neuen
Züchtungen hat er vor seinem Haus angepflanzt, wo früher der Obstgarten seines Vaters stand. «Bei aller Liebe zu den
alten, traditionellen Sorten faszinieren
mich diese neuen Äpfel ebenso», erklärt er
fast etwas entschuldigend.
Schweizers Sortengarten ist nicht der
einzige in der Region. In Roggwil, einige
Kilometer östlicher, hegt ein Verein eben-
Kundschaft aus dem ganzen Land
Die einzigartige Vielfalt seines Sortengartens hilft ihm dabei. «Viele Kunden reisen
von weit her an, um die eine oder andere
Apfelsorte zu kaufen, die sie einst in ihrer
Kindheit gekostet haben», erzählt Schweizer. Oft nimmt er deshalb auch an Sortenmärkten teil, etwa an der Slow-FoodMesse im November in Zürich-Oerlikon
oder an den Märkten all jener Organisationen, die sich um die Sortenvielfalt und
das Erbe der Schweizer Bio­
diversität
kümmern.
Innovativ sind die Oberthurgauer Bauern in der Obstvermarktung seit je. Sie
mussten sich gegen die günstigere Konkurrenz aus Deutschland und dem Süd-
Hansruedi Schweizer, Obstbauer
falls eine grosse Obstsortensammlung.
Und in Lömmenschwil, einem kleinen
St. Galler Weiler an der Grenze zum
Oberthurgau, baut der Jungbauer Thomas
­Oeler zwanzig verschiedene Birnensorten
an. Die Früchte trocknet der 43-Jährige
nach einem traditionellen Verfahren in
einem achtzigjährigen Ofen, der mit Holz
befeuert wird. So, wie es bis in die Sechzigerjahre in vielen Teilen der Schweiz gemacht wurde. Oelers Dörrbirnen gehören
wegen der Sortenvielfalt zu den gesuchten
Delikatessen aus dieser Region.
Am Obstsortenmarkt, der jeweils im
Herbst im Botanischen Garten der Stadt
Zürich stattfindet, reissen ihm die Besucher die Früchte förmlich aus den Händen. «Meistens ist unsere Ware schon am
Nachmittag ausverkauft», sagt Oeler.
«Auch die Sorten, für die sich zu Hause
kaum jemand interessiert.» Die Wiederentdeckung der Sortenvielfalt hat einigen
Obstbauern neue Vertriebswege und eine
neue Kundschaft beschert. Dörrobst oder
Obstblütenhonig sind sehr begehrt und
erzielen Preise, von denen die Bauern früher nur träumen konnten.
Noch gibt es in «Mostindien» viele
Obstdelikatessen zu entdecken. Den Apfelverjus vom Mausacker in Steinebrunn
etwa, den Saft aus unreifen Äpfeln, den
Hans Oppikofer, 42, produziert. Einst war
der Verjus ein Grundnahrungsmittel, das
man bis weit ins 19. Jahrhundert hier noch ➳
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Datum/Unterschrift
Prachtfang: Claudia Fischer hat eine grosse Seeforelle gefangen.
Passend zu den Räucherfischen gibt
es einen Apfel-Meerrettich-Schaum,
gemacht aus den süsssäuerlichen
Äpfeln der Region.
überall hergestellt hat. Denn zum Säuern
der Speisen konnte man sich keine Zitronen leisten; eine einzige kostete mehr, als
ein Knecht pro Tag verdiente. Einen Aufschwung erleben auch Apfel­
säfte aus
einzelnen alten Sorten, wie man sie
früher in den Thurgauer Mostereien produzierte. Viele davon werden dank den
wieder erstarkten regionalen ­Koch- und
Ernährungs­traditionen neu entdeckt.
Besucher, die im Oberthurgau in den
Gasthöfen und den Gartenbeizen einkehren, gönnen sich zu einheimischen Spezialitäten wie den geräucherten Bodenseefelchen oder dem in der Ostschweiz
weit verbreiteten Bauernschüblig in der
Regel einen Most – das Getränk, das hier
nach wie vor am beliebtesten ist. Passend
zu den Räucherfischen, zu denen die
Oberthurgauer Fischer Saibling, Felchen,
Forellen und gelegentlich Karpfen ver-
arbeiten, gibt es auch mal einen ApfelMeerrettich-Schaum, gemacht aus den
süsssäuerlichen Äpfeln aus der Region.
Mit Sicherheit bekommt der eine oder andere Gast auch Hansruedi Schweizers Äpfel zu kosten. Von den rund 50 Tonnen,
die er jährlich erntet, landen 80 bis 90 Prozent in der Mostpresse. So wie bei den
meisten Obstbauern.
●
Vom Autor Dominik Flammer und vom Fotografen
Sylvan Müller erscheint in diesen Tagen «Das
kulinarische Erbe der Alpen – das Kochbuch». Bis
zum 25. Oktober ist dieses Buch exklusiv erhältlich
in der Leseraktion auf Seite 62 und im Globus am
Bellevue in Zürich. Mit der Veröffentlichung und der
Präsentation des Kochbuchs, dem zweiten Band
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Globus am Bellevue in den Herbst. Exklusiv werden
viele der Kleinstproduzenten aus dem Buch ihre
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