PDF des Magazins - Hundertvierzehn.de

Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
wir reden, und beim Reden entstehen Ideen. Marlene S
­ treeruwitz
erwähnt bei einem Telefonat, so amüsiert wie erstaunt, einen
Auf­­­­­­tritt von Beyoncé. Im Gespräch mit Harald Welzer taucht die
Frage auf, wie »nachhaltiges Regieren« ganz konkret aussehen
könnte. Sjón erzählt von seiner kleinen Fischerhütte auf Island,
wo er in totaler Abgeschiedenheit seine Bücher schreibt. Reif Larsson
erlebt, wie aus seinem ersten Roman ein Film wird. Rainer Merkel
ist ein paar Wochen im Libanon und erlebt dort, wie es ist, wenn
Hunderttausende aus Syrien fliehen und in dem kleinen Land
plötzlich mehr Menschen aufgenommen werden als zur Zeit
in ganz Europa. Man hört den Autorinnen und Autoren zu und
denkt: Warum erfahre nur ich das?
114 ist die Hausnummer des S. Fischer Verlags in der
Frankfurter Hedderichstraße. Unter www.hundertvierzehn.de
haben wir, die Lektorinnen und Lektoren, seit zwei Jahren die
Möglichkeit, Leserinnen und Leser teilnehmen zu lassen an
Geschichten, die mit dem Blick der Literatur wahrgenommen
wurden und in ihrer Sprache erzählt werden. Alle zwei
Wochen verschicken wir einen Newsletter, der auf die neuesten Beiträge (neben Texten auch Interviews, Filme und Bilder)
in unserem Online-Magazin ›S. Fischer Hundertvierzehn‹
hinweist, auf unseren Social-Media-Kanälen erfahren Sie
täglich Neues aus dem Verlag, von den Autorinnen und
Autoren, und einmal im Jahr veröffentlichen wir eine Sonderausgabe mit einigen dieser Texte vorab in gedruckter Form
– nicht zuletzt, um neue Leser zu gewinnen. Den Newsletter
können Sie auf www.hundertvierzehn.de abonnieren.
Wir würden uns darüber freuen.
Herzliche Grüße aus dem Lektorat
des S. Fischer Verlags
Extra
GooDeed
Eine kurze Geschichte
von Etgar Keret
Eine reiche Frau umarmte einen armen Mann. Ganz spontan. Wirklich völlig ungeplant. Er kam auf sie zu und bat um
ein bisschen Geld für einen Kaffee. In ihrem Viertel gab es
keine Bettler, und es traf sie völlig unvorbereitet. Auch war
der Mann, der auf sie zutrat, kein typischer Bettler. Er war
weiß, sprach gutes Englisch, und obwohl er einen Einkaufswagen dabeihatte und klar war, dass er auf der Straße lebte,
sah er sauber und rasiert aus. Die reiche Frau kramte in ihrer
Geldbörse, doch sie fand keine Münzen, nur Hunderterscheine. Wenn sie einen Zehndollarschein, sogar einen
Zwanziger, gefunden hätte, hätte sie ihm diesen, ohne mit
der Wimper zu zucken, gegeben, doch ein Hunderter schien
ihr ein bisschen übertrieben, war vielleicht auch für den
Empfänger unangenehm.
Auch in der Beziehung zwischen einem Bettler und gewöhnlichen Passanten gibt es klare Spielregeln: Man spricht
höflich miteinander, schaut sich nicht direkt an, fragt nicht
nach dem Namen des anderen und gibt nicht mehr als zwanzig Dollar. Bis zu zwanzig bewegt sich das noch im Rahmen
normaler Großzügigkeit, doch darüber hinaus – das ist schon
ein Versuch, Aufsehen zu erregen, Eindruck zu schinden,
den Bettler dazu zu zwingen, »Sie sind eine wunderbare
Frau« zu sagen oder als undankbar dazustehen. Dazu wollte
sie es nicht kommen lassen, aber sie hatte weder kleine
Scheine noch Münzen. Sie sagte zu dem Mann mit dem Einkaufswagen:
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»Warten Sie einen Moment hier auf mich, ja?
Ich gehe nur schnell in das Geschäft, um Geld zu
wechseln.«
»Man wird es Ihnen nicht wechseln«, erwiderte
der Mann, »sie wechseln einem nie Geld. Und sie
lassen einen auch kein Wasser aus dem Hahn trinken oder das Klo benutzen.«
»Ach«, sagte die Frau, »soll ich es nicht trotzdem
mal versuchen?«
»Lassen Sie’s«, meinte der Obdachlose, »nicht so
wichtig. Geben Sie mir ein andermal was. Wie, sagten Sie, heißen Sie?«
Die reiche Frau hatte gar nicht gesagt, wie sie
hieß, aber nun schien ihr nichts anderes übrigzubleiben, als zu antworten.
»Sie sind eine gute Frau, Nora«, sagte der arme
Mann zu ihr, »ich bin sicher nicht der Erste, der
Ihnen das sagt. Sie haben ein gutes Herz.«
»Sie sind der Erste, der mir das sagt«, entgegnete
Nora. »Ich helfe sehr oft meinem älteren Bruder.
Hauptsächlich finanziell. Und meinen Eltern, das
heißt meinem Vater, meiner Mutter kann ich nicht
mehr helfen, sie ist tot. Aber niemand hat jemals
zu mir gesagt, ich hätte ein gutes Herz, oder wenigstens danke.«
»Das ist mies«, stieß der arme Mann aus, »frus­
trierend. Es führt dazu, dass man sich unsichtbar
fühlt. Oder wie ein Sklave. Es führt dazu, dass man
sich wie ein unsichtbarer Sklave fühlt. Jemand, den
man nur bemerkt, wenn er einem nicht das gibt,
was man von ihm zu kriegen erwartet.«
Die reiche Frau nickte. Sie wollte zu dem armen
Mann sagen, dass sie ihre Familie einmal sehr geliebt hatte und sie auch heute noch gerne geliebt
hätte, aber nicht mehr die Kraft dazu hatte. Und sie
wollte ihm auch erzählen, dass ihr Mann, als sie
ihn kennenlernte, gesagt hatte, »keine Kinder«,
denn es war seine zweite Ehe, und er hatte schon
eine problematische vierzehnjährige Tochter. Dass
sie also wirklich keine Kinder hatten, was ganz in
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»Sie haben
ein gutes Herz.«
Ordnung war, denn ihr Leben war auch so gut. Erfüllt. Doch was sie umbrachte, war, dass sie ihm nicht wenigstens einmal gesagt hatte, dass sie
durchaus welche gewollt hätte.
Der arme Mann sagte zu ihr:
»Kommen Sie, wir setzen uns irgendwo hin. An der Ecke ist eine Bank
und dort ganz in der Nähe ein Café, wo wir uns etwas holen können. Ich
lade Sie ein.«
Aber sie wollte nicht. Sie wollte keinen Kaffee oder irgendwohin gehen, wo sie nicht zu Hause war, denn sie wusste, dass sie nur zu Hause
die Tür hinter sich zumachen und weinen konnte. Verletzen wollte sie
den armen Mann aber auch nicht, er sollte nicht denken, dass sie auf
ihn herunterschaute. Und daraus, aus diesem ganzen Wollen und
Nichtwollen, resultierte am Ende die Umarmung. Eine überraschende
Umarmung, die sowohl Hingabe als auch Abgrenzung beinhaltete.
Als sagte sie, »Ich bin bei Ihnen«, gleichzeitig aber auch, »Hier bin ich«.
Es fühlte sich gut an. Ungeheuer gut. Dann gab
sie ihm siebenhundert Dollar, ohne auch nur
­einen Moment daran zu denken, wie das aufgeEtgar Keret wurde 1967 in Ramat
Gan, Israel, geboren und ist einer
fasst werden könnte oder ob das gegen die Reder bedeutendsten zeitgenössischen
geln ­verstieß. Sie hatten sie ohnehin vorher
Schriftsteller Israels. Er schreibt
schon gebrochen, als sie ihm ihren Namen
Kurzgeschichten, Graphic Novels
nannte. Der Mann sagte zu ihr, »Das ist zu viel«,
und Drehbücher. Sein neuer
doch sie antwortete, »Das stimmt ganz genau.«
Kurz­­geschichtenband ›Die sieben
Nachdem er das Geld genommen hatte, umguten Jahre‹ erscheint im Februar
armte sie ihn noch einmal, und damit ging sie.
2016. Keret lebt mit seiner Frau und
Ursprünglich hatte sie geplant, ein Taxi zu
seinem Sohn in Tel Aviv.
nehmen, um so schnell wie möglich nach Hause
zu kommen. Aber jetzt stand das nicht mehr
auf der Tagesordnung, jetzt wollte sie nur noch diesen besonderen Tag
genießen. Außerdem hatte sie kein Geld mehr übrig. Also ging sie den
ganzen Weg zu Fuß nach Hause, und jeder ihrer Schritte fühlte sich
trotz ihrer roten Jimmy-Choo-Schuhe an, als trete sie auf eine Wolke.
Später erzählte sie ihren Freundinnen davon. Von diesem Gefühl, zu
tun, was man wollte, sich zu erlauben, sich gut zu fühlen. Siebenhundert Dollar herzugeben, und jemand, der dir sagt: »Danke dir, Nora. Du
hast mir den Tag gerettet, vielleicht sogar die Woche.«
Wann hatte ihr jemand so etwas zum letzten Mal gesagt? Sie verstanden es alle sofort und hätten schrecklich gern etwas Ähnliches gefühlt.
Nicht nur auf diesen ermüdenden Empfängen spenden, zu denen ihre
Ehemänner sie immer schleppten, wo man am Ende eine goldene An5
stecknadel und irgendeinen Kollektivdank vom Bürgermeister der Stadt oder
einem alternden Filmstar erhielt, der zu diesem Zweck mobilisiert wurde. Sie
wollten den Dank, den Blick, vielleicht sogar, wenn es sich in diesem Moment
natürlich anfühlen würde, die Umarmung von dem Mann bekommen, dessen
Leben sie aus der Gosse gezogen, und selbst wenn nicht, so doch bedeutend aufgewertet hatten. Sie wollten sehen, wie er vielleicht weinte oder Jesus dafür
dankte, dass er ihm sie geschickt hatte, als seien sie irgendwelche Heilige und
nicht bloß sehr reiche Frauen.
Nora nahm zwei von ihnen mit in ihrem silbernen Mini Cooper. Es war nicht
der ideale Wagen für drei, und Susan musste ihre langen Beine einziehen und
sich hinten hineinquetschen, doch irgendwie klappte es.
Sie drehten ein paar Runden im südlichen Teil der Stadt, wo gewöhnlichere
Leute mit weniger Wachschutzfirmen wohnten. Nora hoffte, dass es dort leichter sein würde, Bettler zu finden, und sie fanden tatsächlich einen. Einen mit
Hund und ohne Bein. Susan und Karen stritten miteinander darum, wer ihm
Geld geben sollte, eine dieser künstlichen Streitigkeiten, bei der jeder dem anderen den Vortritt lassen will. Schließlich war es Karen, die ging. Sie näherte sich
dem Beinamputierten, auf dessen Pappschachtel mit schwarzem Filzstift
»Kriegsveteran« geschrieben stand, und steckte eintausendzweihundert Dollar
in seinen Plastikbecher.
Der beinlose Mann bemerkte, wie viel Geld es war. Vielleicht nicht, wie viel
genau, aber er erkannte einen Hunderterschein und sah, dass Karen mehr als
einen in den Becher gesteckt hatte. Er sagte nichts, sah Karen nur eine lange
Sekunde in die Augen und nickte dann zum Dank. Am selben Abend, als Karen
im Bett lag und alle schon eingeschlafen
waren, rief sie sich mit geschlossenen
Augen dieses Nicken in Erinnerung und
spürte ein Zittern durch ihren ganzen
Körper laufen. Es war das erste Mal seit
langer Zeit, dass jemand sie so angeschaut hatte.
Am nächsten Tag fanden sie einen für
Susan. Doch mit ihm lief es nicht so gut.
Das heißt, er nahm das Geld, sagte sogar
danke und lächelte zahnlos, aber Nora
hatte sofort das Gefühl, dass er ein Junkie war, der alles für Drogen rauswerfen
würde, und dass auch tatsächlich kein
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besonderer Augenblick zwischen ihm und Susan entstanden war. Obwohl es
auch in keinster Weise eine schlechte Erfahrung war.
Sie probierten es danach noch ein paarmal, und wenn auch weder bei Nora
noch bei Karen jemals mehr das Gefühl aufkam wie beim ersten Mal, fühlten
sie sich doch gut dabei. Auch die Menschen, die das Geld von ihnen bekamen,
fühlten sich gut. Wenigstens besser als vorher. Und sehr schnell kam Karen mit
dieser Idee der App an: Das Programm sollte alle Daten verarbeiten, die Leute
über Obdachlose oder einfach Bettler im Viertel einspeisten, und es könnte
­einem wie ein GPS jederzeit im gegebenen Moment sagen, wo sich der nächste
Bettler befand.
Das war genial. Es schlug ein. Die Leute flogen einfach darauf. Man interviewte die Freundinnen dazu in »Newsweek«, und Mark Zuckerberg wollte das
Unternehmen sogar von ihnen kaufen. Sie lehnten ab, waren aber damit einverstanden, es ihm zu überlassen, unter der Bedingung, dass er mögliche Einnahmen zu spenden und nicht für sich zu verwenden versprach. Er wirkte beleidigt, als sie ihm das sagten.
»Denken Sie, ich steige des Geldes wegen da ein?«, sagte er. »Geld habe ich
schon genug. Ich steige ein, um Gutes zu tun. Und wenn ich sage ›Gutes tun‹,
meine ich damit nicht irgendwas, wie den Sudanesen oder Indern am anderen
Ende der Welt Toiletten zu kaufen. Ich spreche davon, all diesen Menschen zu
helfen, die in unserer unmittelbaren Nähe sind, aber doch völlig unsichtbar.«
Er sagte das so schön, dass es Nora den Hals zuschnürte. Er war ein fähiger
Mensch. Nicht zufällig war er dort gelandet, wo er war. Sie sagte zu ihm, sie
bräuchte einen Moment, um das mit Karen allein zu besprechen, doch bevor
sie auch nur ein Wort von sich geben
konnte, packte Karen sie am Arm und
sagte: »Wir müssen es ihm geben.«
Bevor Zuckerberg die App übernahm,
hieß sie »Eine gute Tat pro Tag«, doch er
änderte das sofort zu »GooDeed«, was kürzer und eingängiger war, und innerhalb
von drei Monaten wurde sie ein großer
Renner. Kein WhatsApp, aber groß.
Per Zufall traf Nora sechs Jahre später
gleich vor dem Einkaufszentrum den
Mann wieder, den sie auf der Straße umarmt hatte. Ihr Mann und sie hatten erst
wenige Wochen zuvor eine Scheidungsver-
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einbarung unterschrieben, aber als der Mann sie fragte, ob bei ihr alles
in Ordnung sei, bejahte sie. Etwas in ihr wollte ihm erzählen, dass Walter und sie sich getrennt hatten und dass sie zum ersten Mal im Leben
begriff, was es hieß, allein zu sein, doch stattdessen erzählte sie ihm
von der App, und er konnte es nicht fassen. Er kannte diese App natürlich, alle kannten sie, aber er hatte sie nicht mit sich, mit jenem Treffen
in Zusammenhang gebracht. Bevor sie auseinandergingen, zog sie die
Geldbörse heraus und bot ihm nochmals Geld an.
»Ich bin kein Bettler mehr«, lächelte er sie an, »zum großen Teil dank
Ihnen, dank unserer Begegnung. Ich habe mein Leben selbst in die
Hand genommen, habe zu trinken aufgehört und leite jetzt
Freizeitgruppen im Gemeindezentrum. Meine Tante ist vor einigen
Jahren gestorben und hat mir eine kleine Erbschaft hinterlassen, und
mit dem Geld habe ich eine kleine Wohnung nicht weit von hier
gekauft. Hey!«, er wedelte mit seiner Hand, an der ein goldener Ring
glänzte, vor ihren Augen herum, »ich habe sogar geheiratet. Und raten
Sie mal! Ich bin Vater von Zwillingen.«
Nora stand immer noch mit den Scheinen in der Hand da.
»Ich brauch’s nicht mehr«, sagte er zu ihr, halb entschuldigend, »damals schon, aber jetzt ist alles in Ordnung bei mir. Wirklich.«
»Nehmen Sie«, flehte sie unter Tränen, »bitte, nehmen Sie es. Für
mich.«
Sie hatte ein paar hundert Dollar in der Hand, wie viel, wusste sie
nicht, sie hatte sie nicht mal gezählt. Erst als sie zu schluchzen anfing,
nahm er die Scheine aus ihrer Hand entgegen.
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Gedicht
Ein paar Worte zum Dabeisein des Körpers
Von Anne Carson
I
Ich finde meinen Platz im Zug,
verstaue die Tasche, sitze, warte.
Fenster schwarz,
Tunnel unter der Erde. Ein dicker
rothaariger Mann kommt
den Gang entlang. Dichter roter
Bart, rotes Karohemd, Brustkorb
gespannt und breit. Betritt die
Toilette, schließt die Tür. Zugbetrieb geht weiter, Leute
am Gang, Gepäck, Leselampen, Durchsagen
von wegen Rauchen und
Mittagsimbiss. Aber dann kommt
ein Geräusch auf. Wie Clownerien
eines Clowns – wilde
Überschläge, er muss springen,
den Kopf zurückwerfen – oder
ein in die Enge getriebenes Tier, das
alle Hoffnung verliert. Gedämpft
erst, dann lauter, es durchsticht
die Wand. Die Leute
blicken sich jetzt um. Er
schreit inzwischen ganze
Satzstrukturen, Wörter
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unkenntlich, einige
Refrains. Ist das ein Kind?
Die Leute diskutieren. Mal
probieren, ist die Tür von innen
abgeschlossen? Haben Sie ihn reingehen sehen, sah er nicht aus
wie ein Behinderter? Wo ist
der Schaffner? Ausführliche Absätze
vom Leben auf seinem Planeten
gehen nun gewinselt auf uns
nieder, die dünne Wand bekommt
fast Beulen. Lesen fällt schwer.
Ich stehe auf, gehe den Gang
hinunter, öffne die Tür. Einen Spalt
nur, Licht an da drinnen, Papiergeraschel, kein Schluchzen.
Ich schließe die Tür und kehre
an meinen Platz zurück. Normale Zuggeräusche. Wenige Augenblicke später
öffnet sich die Toilettentür. Er
tritt seinen Rückweg an zwischen
den Sitzen, krempelt die Ärmel
hinunter, strahlt, sagt zu
ein paar Leuten hallo.
II
Was dich verlässt im Tod sind 19
Gramm (= 7/8 Unze) von dir die
ein weiches blaues Licht
abstrahlen. Was zurückbleibt
ist variabel. Innerhalb eines
Jahres nach dem Tod von Emily
Dickinsons Hund Carlo (1848 –
1866) gab es 5 weitere Carlos in
Amherst und 2 in Romanen.
Nach einigen Jahrhunderten
förderten Arbeiter beim Bau der
Athener U-Bahn das Grab eines
Hundes zutage, die kleinen
Pfoten noch gefaltet, das Band
um den Hals gespickt mit blauen
Perlen. Solche Sachen sind mit
abwesendem Pinsel zu malen.
Nur einmal eintauchen.
III
Schau wie tausend-blautausend-weiß-tausend-blau
tausend-weiß-tausend-blau
tausend-weiß-tausend-blau
der Wind heute ist und
meine zwei Arme
weht es die Straße hinab!
Aus dem Amerikanischen
von Anja Utler
Anne Carson wird in Kanada und den USA längst als eine der wichtigsten
Stimmen der Gegenwart gefeiert. 1950 in Toronto geboren, studierte sie
Griechisch und unterrichtet als Altphilologin. Die Parallelität von Antike
und Gegenwart durchzieht ihr umfang­reiches Werk. 2014 erschien ihr
Gedichtband ›Decreation‹ bei S. Fischer.
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Fundstück
Stillstand und Veränderung
Sieben Skizzen von Roland Schimmelpfennig
aus unterschiedlichen Lebenswelten und Zeitzonen.
1.
Er hat einen Künstlernamen. Er nennt sich »El Rey«.
Er steht jeden Morgen um sieben auf, um die Schweine zu füttern.
Die Schweine sind nicht seine Schweine, und es sind auch nicht die
Schweine seines Vaters, auch wenn sie sich gemeinsam um die
Schweine kümmern. Die Schweine gehören der Kooperative. Er zieht
sich morgens den blauen Overall an und die Gummistiefel, und dann
fährt er mit dem Fahrrad los. Noch ist es nicht so heiß. Er wohnt bei
der Schwester seiner Mutter, denn seine Mutter hat ihn vor drei Jahren rausgeschmissen. Nach der Trennung von seinem Vater. El Rey ist
jetzt sechzehn. Wenn er zwei Stunden später auf seinem Fahrrad
ohne Bremsen zur Calle Propuesta zurückkommt, wird es heiß. Er
hat für den Rest des Tages nichts mehr zu tun. Genau genommen
wohnt er nicht in dem Haus der Tante. Er wohnt in einem Anbau, einer Garage, fast ein Schuppen, aber, immerhin, er hat sein eigenes
Klo. Er kommt zurück, zieht den Overall aus, die Gummistiefel. Jetzt
wie jeden Tag: Shorts. T-Shirt. Sandalen. Er bleibt im Schatten.
Er hat kein Geld. Er ist davon abhängig, ob ihm die Tante etwas
zum Frühstücken anbietet oder nicht. Manchmal ja. Manchmal
nein, je nach Laune oder je nachdem, was da ist. Meistens ja. Manchmal schreit sie ihn an, wenn er vergessen hat, den Müll rauszubringen. Das ist seine Aufgabe, denn er zahlt keine Miete.
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Der gepflasterte Hof des Hauses ist umgeben von einer Betonmauer. Zwei kleine Palmen, die die Leute irgendwo organisiert haben, bei den Gärtnern, die in den großen Hotels arbeiten.
Die Seiten des Schädels fast kahl, das Haar auf der Schädeldecke
senkrecht. Das ist der Stil der Reaggetoneros, Reaggeton ist eine
­Mischung aus Rap, Reggae und Hiphop, die aus allen Sammeltaxis
plärrt, aber so weit ist El Rey noch nicht. Er hat zwei Songs auf­
genommen, das hat ihn viel Geld gekostet.
Er sitzt im Schatten des Hauses, der zweite Stock ist nie fertig geworden, Rohbau.
Neben dem Tor zum Hof ein Altar aus Palmblättern, neulich ist
der Strohhut der schwarzen Puppe angebrannt, das war ein Zeichen.
Er legt japanische Yugioh-Karten auf den kleinen Metalltisch vor
sich. Noch ist es früh am Tag, und er muss niemandem Platz machen. Er sieht sich die Bilder der Superhelden an. Wo hat er die Karten her? In seinem Land kann man die Karten nicht kaufen. Er weiß
nicht, wie man das Spiel spielt, und er kann die Beschreibungen der
Spielfiguren auf den Karten nicht verstehen. Sie sind auf Englisch.
Ob ich ihm das nächste Mal Karten mitbringen könne.
Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967,
ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker
Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul
gearbeitet und war nach dem Regiestudium an
den Münchner Kammerspielen engagiert.
Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als
freier Autor. Weltweit werden seine Theater­
stücke mit großem Erfolg gespielt. Im Frühjahr
2016 erscheint bei S. Fischer sein erster Roman
›An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu
Beginn des 21. Jahrhunderts‹.
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2.
Green Street, Ecke Houston. Wenn man
aus dem Fenster sah, blickte man auf den
Verkehr Ecke Houston und Broadway. Kurz
vor Weihnachten, es war eiskalt in New
York, viel Schnee.
Sie sagte, bevor sie mir das Loft für zwei
Wochen überließ, eine Schlange sei in
ihrer Wohnung abhandengekommen, ein
paar Tage vorher.
Was für eine Schlange?
Etwa so lang.
Sie machte eine Geste, die Schlange war
etwa einen Meter lang.
Sie ist nicht giftig. Don’t worry.
»Die sagen im Radio
immer die Uhrzeit,
den ganzen Tag,
damit wir denken,
dass etwas weitergeht,
aber die Zeit,
was soll das sein?«
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3.
Draußen: Felsen, Steine, Sträucher.
Ziegen mit Glocken um den Hals.
Die Uhr ist stehengeblieben. Der Fernseher läuft ohne Ton. Eher Schatten als
Bilder. Gleichzeitig ist das Radio an. Es ist 11 Uhr. Es ist 11 Uhr dreißig. Es ist
12 Uhr. Die Nachrichten.
Mit einem Blick aus dem Fenster:
– Sieh mich an, sagte sie. Was siehst du? Wie alt bin ich? Wie alt bist du?
Das Geräusch eines Motors in der Ferne.
– Worauf warten? Nicht warten. Man darf nicht warten. Wartest du? Du musst
aufhören zu warten, sagte sie.
Es ist 12 Uhr dreißig.
– Die sagen im Radio immer die Uhrzeit, den ganzen Tag, damit wir denken,
dass etwas weitergeht, aber die Zeit, was soll das sein? Wer hat sich das
ausgedacht? Komplizierte Sache, ich habe darüber nachgedacht. Es gibt
keine Zeit. Es gibt nur den Anfang und das Ende von etwas, und das Ende
ist gleichzeitig der Anfang von etwas und der Anfang ein Ende.
Alles dreht sich im Kreis.
Die Ziegen mit den Glocken. Sie ruft etwas aus dem Fenster.
– Es gibt keine Zeit. Es gibt nur den Stillstand und die Veränderung.
4.
Was man aus Fukushima hören würde, frage ich in Iwaki.
Nichts, sagt der Mann, oder sehr wenig, aber abends kommen die Arbeiter
aus dem Katastrophengebiet zurück, und dann trinken sie nachts in den Kneipen, und dann fangen sie an zu reden.
Man fragt mich – wie so oft in Japan –, ob die Menschen in Deutschland wissen, was in Japan passiert ist.
Es regnet. Vor dem Theater zeigt ein Strahlungsmesser die Radioaktivität an.
Scheinbar alles in Ordnung. Früher Nachmittag.
Der technische Direktor des Theaters von Iwaki zeigt uns eine Stelle an der
Küste, an der der Tsunami eine ganze Siedlung zerstört hat.
Ein Feld von vielen Fundamenten. Bunte Fliesen im Regen, wo einmal vielleicht die Küche, das Badezimmer gewesen sein könnte. Hellblau und rosa.
Eine zerstörte Schule. Wenige Meter daneben: ein riesiger Berg aus Schutt.
Weiter nördlich: der Strand, breit und wunderschön, aber man kann ihn nicht
mehr betreten, für Tausende von Jahren nicht mehr. Der Strand ist verseucht.
Wir trinken Kaffee und sehen auf das Meer.
Ein paar Kilometer weiter ist die Straße gesperrt: Hier beginnt die Sperrzone,
näher kommen wir an das zerstörte Atomkraftwerk nicht heran. Noch ist es
hell. Die Landschaft ist schön. Wir steigen aus. Ab und zu kommen Autos aus
der Sperrzone: Arbeiter in weißen Anzügen, sie fahren an uns vorbei. Sie haben
Feierabend, sie sehen angestrengt aus, und sie lachen, mit weit aufgerissenen
Mündern.
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5.
Ein paar auffällige Zellen im Rückenmark. Vielleicht Rezidive. Er wartet auf das Ergebnis, aber das wird noch ein paar
Tage dauern. Wir sind zu viert, wir sitzen auf dem Balkon
und sehen auf Havanna. Ein Stuhl ist frei. Seine Frau hat gekocht, es gibt Fisch, und wir trinken la bruja, ein kubanisches Bier, und Weißwein, und später Calvados, den ich mitgebracht habe. Es ist halb fünf am Nachmittag, und wir reden über das Theater, über Leute, über Wohnungen, über
Wein, das Wetter. Er hat Angst, das Warten zermürbt ihn,
aber er zeigt es nicht. Er versucht sich abzulenken. Und später reden wir über die Kirche, über den Katholizismus und
die Beichte und das Abendmahl, und er sagt, dass er nicht an
Gott glaubt, dass er der größte Atheist von allen ist, und die
junge Frau neben mir sagt, dass sie einen Glauben habe, aber
sie wisse nicht genau, an was sie glaube, aber einen Glauben
habe sie, und er sagt: Stellen wir uns vor, auf dem leeren
Stuhl hier sitzt Gott, was würden wir ihm sagen, was würden
wir dem leeren Stuhl sagen, und was würde er antworten.
»Die Frage ist,
ob man an zwei Orten
gleichzeitig sein kann.«
18
6.
Die Frage ist, ob man an zwei Orten gleichzeitig sein
kann, sagt Jacqueline und lächelt hinter der Bar. Sie
wiegt jetzt noch etwa 50 Kilo. Ist das viel oder
wenig?, frage ich, und sie sagt: zu wenig, aber es
wird nicht mehr, ich bekomme nichts drauf, ich
nehm einfach nicht zu.
›Das schwarze Herz‹, so heißt die Kneipe, Fehrbelliner Straße, im Osten Berlins.
Es ist elf Uhr vormittags, fast niemand da, nur ein
paar Leute am Fenster, die trinken Bier.
– Weniger geht nicht. Ich nehme gerade so viel, dass
ich nicht auf Entzug komme, das kannst du mir
glauben, sagt sie. Weniger geht nicht.
Sie ist vierunddreißig oder fünfunddreißig. Viele
dunkle Locken. Bleich.
Sehr lange, schmale Hände.
– Die Frage ist, ob man an zwei Orten gleichzeitig
sein kann, sagt sie dann wieder, zum Beispiel kannte
ich mal einen Jungen in Frankfurt am Main, sie
nennt ihn »Junge«, Moment, Frankfurt oder Köln,
ich hab’s gerade vergessen, den konnte ich nachts
besuchen, nachts, im Schlaf, er hat es gespürt, und
er war dort, und ich war hier, aber dann –
Der Satz bleibt in der Luft hängen. Sie serviert den
Männern am Fenster ein paar Bier und kommt
wieder zurück.
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– Aber dann – dann ging es nicht mehr. Ja, wie mit
den Emails, die sind auch gleichzeitig hier und dort,
weißt du, wie schnell eine Email ist? Eine Email rast
fast mit Lichtgeschwindigkeit durch das Kabel, Lichtgeschwindigkeit, okay, wie schnell ist Lichtgeschwindigkeit. Solche Dinge interessieren mich. Oder:
Warum heißt der Laden hier ›Das schwarze Herz‹,
ist das ein Märchen oder was, klingt so. Klingt nicht
schön, ›Das schwarze Herz‹.
Sie nimmt selbst einen Schluck Bier.
– Hast du gekifft, fragt Pauli. Pauli arbeitet als
Aushilfskoch in der Küche, der Koch ist weg, mit den
Köchen gibt’s immer Probleme, der vorletzte hat
gedealt, und der letzte ging mit der Bundeswehr
nach Afghanistan.
– Nein, sagt Jacqueline, ich kiffe nicht, ich kiffe
nie, weißt du doch.
– Ach Süße, sagt Pauli, du musst aufpassen, du
bist doch nur noch Haut und Knochen.
– Ist vielleicht eine Zyste, warum ich nicht zunehme, sagt sie.
– Ja – wo waren wir? Ob man an zwei Orten
gleichzeitig sein kann. Ich glaube, das geht,
lacht sie, hier sein und dort sein.
Sie macht eine Pause.
– Ich versuch nur klarzukommen.
Sie wischt mit einem Lappen über den Tresen.
– Bist du bei Facebook?, fragt sie.
– Gewesen, sage ich.
– Gewesen, warum? Wir könnten Freunde sein.
– Mich hat jemand über Facebook gefragt, ob ich
bereit wäre, einen Text zu lesen.
– Ja, und?
– Der Text hieß ›Der Kot Gottes‹.
– ›Der Code Gottes‹?
– Nein, mit t, nicht mit de.
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– Mit t? Fuck! FUCK! O Gott. O Gott!! ›Gott ist nicht
auf Facebook‹, wär das nicht ein Titel für dich, ich
schenk ihn dir.
– Ja. Danke.
– O Gott! Und deshalb bist du nicht mehr da?
– Ja. Das war erst der Anfang.
Sie trocknet ein paar Gläser ab.
– Mein Vater kam aus Algerien.
– Ich weiß. Da hast du die Locken her.
– Und ich hab ihn nie kennengelernt. Aber angeblich hat er immer gesagt: Gott sieht dich, Gott
gibt dir. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube,
Gott belohnt nicht, und Gott straft nicht.
Sie lächelt.
– Jeder versucht, überall gleichzeitig zu sein, das ist
der Erfolg von der ganzen Technik.
– Und du, Jacqueline? Bist du auch überall gleichzeitig?
– Ich bin hier und da. Sie nimmt einen Schluck Bier.
Alkohol, ja, sagt sie, ich trinke viel Alkohol, du ja
auch, wer nicht? Alle trinken hier viel, und weißt
du, warum?
Sie macht eine Pause.
– Die trinken alle viel, weil die alle überall gleichzeitig sind, und dann finden sie den Weg nicht zurück.
Und dann trinken sie was und glauben, sie hätten zu
sich zurückgefunden, aber das stimmt natürlich
nicht. Sie finden nicht zu sich zurück. Eher verlieren
sie die Hausschlüssel, die Geldbeutel. Die Telefone.
Obwohl –
– Ich kann mit der Sucht leben, sagt sie, plötzlich.
Aber ich kann nicht damit aufhören, das kann ich
nicht. Es ist zu furchtbar.
Ich muss immer drüben sein – und hier.
21
7.
Die Mutter hatte grußlos in dem Wartebereich
gesessen und auf eine der Zeitschriften gestarrt.
Teilnahmslos. Vielleicht erschöpft.
Sechs Stühle an der Wand, drei alte Zeitschriften.
Ein selbstgemachtes Brettspiel, Solitaire. Gegenüber
der Stuhlreihe die Kleiderhaken der Garderobe.
Berlin, Nikolaiviertel. Vorne in den Straßen ein paar
alte Fassaden, eine alte Kirche. In den Auslagen der
Geschäfte: Deko-Artikel.
In den Höfen hinter den Gassen: Plattenbau.
Der Junge mit der hohen Stimme kommt aus dem
Behandlungszimmer und rennt den fensterlosen
Flur runter zur Garderobe, wo seine Schuhe stehen.
Lässt sich auf die Knie fallen und rutscht über den
Linoleum-Boden an der Fußmatte vorbei, an seinen
Schuhen vorbei.
Er ist vielleicht fünf, höchstens sechs.
Er rennt zurück zum Behandlungszimmer. Und rast
zurück zur Garderobe, lässt sich auf die Knie fallen,
rutscht am Fußabtreter vorbei, diesmal nimmt er
ihn mit.
Sie sieht nicht einmal auf.
Er rennt zurück zum Behandlungszimmer, holt
Anlauf, rast den fensterlosen Flur runter. So geht es
etwa fünf Minuten. Irgendwann steht sie auf und
sagt: Mirko, wir wollen gehen. Schuhe an. Jacke an.
Er rennt weiter durch den Flur, lässt sich auf die
Knie fallen, rutscht.
– Du weißt, wie viele Hosen du so schon kaputt
gemacht hast.
Er sieht auf, er trägt eine dünne Drahtbrille. Blau.
– Aber man kann sie auch reparieren, sagt er leise.
Rennt weiter.
– Dann gehe ich jetzt, sagt die Mutter nach ein paar
weiteren Minuten und geht ins Treppenhaus. Sie
lässt die Praxistür offen.
22
Er will sich die Schuhe anziehen, aber da ist noch ein Spiel aus Holz: Mensch
ärgere dich nicht.
Er beginnt, allein alle vier Parteien des Spiels zu spielen. Der Würfel wieder
und wieder auf dem Holzbrett. Fünf, drei, eins, sechs. Einer fliegt raus.
Zurück an den Anfang. Raus kommt man nur mit einer sechs.
Irgendwann fliegen alle Figuren nur noch im Kreis über dem Brett herum.
– Mama, sagt er, ohne aufzusehen.
– Ja, sagt die Frau, die die ganze Zeit im Treppenhaus wortlos gestanden
hatte.
Er verschwindet auf der Toilette, lässt die Tür offen. Fünfzehn Minuten.
Manchmal macht er Geräusche.
Sie bleibt im Treppenhaus des Plattenbaus stehen. Sie steht dort jetzt seit
50 Minuten.
Vor Saturn tragen zwei Männer schwere Grillkonstruktionen am Körper und
verkaufen billige Bratwürste. Die Würste sind billiger als an der Bude, weil
man sich den Stand spart. Das drückt den Preis. 1,20 statt 2,50.
Eine Berliner Erfindung: Der Verkäufer verwächst mit seinem Grill. Der
tragbare Grill. Aufschrift: Grillwalker. Oder: Der Grillrunner. 1200 brutto im
Monat. Das Gerät wiegt mit dem ganzen Zeug 30 Kilo.
Die Männer stehen fast ohne Bewegung da, etwas breitbeinig, das Einzige,
was sie bewegen können, sind die Hände.
Die Leute kommen aus dem Elektronikmarkt und wollen eine Bratwurst
kaufen.
Der Grillwalker. Der Grillrunner.
Die beiden Männer machen sich gegenseitig das Geschäft kaputt.
Sie stehen fast nebeneinander, aber sie sprechen miteinander kein Wort.
»Der Grillwalker.
Der Grillrunner.«
Das Fahrrad, das hätt ich gern, sagt der Grillrunner zu einem vorbeilaufenden Mann, der eine Rennmaschine schiebt. Basso Astra Carbon. 4000 Euro
oder mehr. Lacht ihn an. Das hätt ich wirklich gern.
23
Essay
Zeit ohne Zukunft
Das Jahrhundert, in dem die einst imaginierte
Science-Fiction spielt, erweist sich bislang als zaudernde
Heimat eines Wunsches nach ewiger Gegenwart.
Ein Plädoyer von Nils Minkmar
Drei Ereignisse haben unser Jahrhundert geprägt: die Anschläge vom 11. September
2001 und die darauffolgenden Kriege in Afghanistan und dem Irak, die amerikanische
Finanzkrise mit dem Untergang von Lehman Brothers und der daraus resultierenden
europäischen Staatsschuldenkrise sowie eine Wanderungsbewegung von dramatischen Ausmaßen und mit herzzerreißend untauglichen Mitteln – teils in Folge des
Arabischen Frühlings, teils als Resultat von Jahrzehnten verfehlter Nahost- und Afrikapolitik. Hinzu kamen weitere Trends, wie das erneuerte russische Expansionsstreben
und der zunehmend katastrophische Klimawandel – alles zusammen hat unsere Gegenwart tiefgreifend verändert.
Diese Erfahrungen verdichten sich zu einem bedrückenden Grundrauschen, von
dem der Alltag aber weitgehend isoliert ist. Das ist nicht nur eine Frage der individuellen Weltwahrnehmung oder der kulturellen Einstellungen, sondern genauso eine
Frage der politischen Praxis. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war die patriotische Ergriffenheit in den Vereinigten Staaten, ja, in der gesamten westlichen
Welt und darüber hinaus groß – Jassir Arafat spendete Blut für die amerikanischen
Opfer –, jede Form der Mithilfe wäre zu mobilisieren gewesen, etwa für energiesparende Maßnahmen, um die Unabhängigkeit von saudischem Öl zu erreichen. Doch der
damalige Präsident George W. Bush bat die Bürger lediglich darum, das gewohnte Konsumniveau zu halten und weiter einkaufen zu gehen. Es sollte außerdem Krieg geführt
werden, zur Rache – aber für die Mehrheit der Bürger blieb er ein entferntes Phänomen, ein special effect der Außenpolitik. Gegen wen es genau ging und ob es überhaupt
möglich war, gegen den Terror in den Krieg zu ziehen, durch solche Debatten sollte das
Publikum nicht verunsichert werden.
24
»Statt der Zukunft
beherrscht uns
der Wunsch
nach permanenter
Gegenwart.«
Die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Status quo ist seitdem
in diesem Jahrhundert immer mehr zum Leitbild des politischen
Handelns geworden.
Damit hat man sich gänzlich von der Vorstellung verabschiedet,
die Zukunft könne auch einen Fortschritt bringen. Der ansonsten
und natürlich auch darin glücklose Nicolas Sarkozy machte dazu,
lange vor seiner Amtszeit als französischer Staatspräsident, eine treffende Bemerkung: Als Kind habe ihm der Großvater immer von der
Zukunft vorgeschwärmt, um wie viel besser das Leben des Enkels
sein würde, mit all den neuen Erfindungen, dem Wohlstand, der verbesserten Kommunikation und einer friedlichen Welt. Und so ist es
ja auch gekommen. Kinder der fünfziger, sechziger Jahre leben heute
als Erwachsene in einer wohlhabenderen, freundlicheren Welt, in einer, die den Frieden höher schätzt als den Krieg. Das gilt für Europa,
aber auch darüber hinaus: Das Leben der meisten Menschen hat sich
in den letzten Jahrzehnten merklich verbessert. Das kam nicht von
alleine, sondern war auch das Resultat einer optimistischen politischen Kommunikation, die oft davon sprach, dass es morgen besser
sein müsste, als es zuvor war. Entsprechende Reden von John F. Kennedy und Willy Brandt prägten nicht nur die politische Sphäre, auch
Unternehmer wie Steve Jobs inspirierte dieser Gestus, dass mit Innovationen die Welt zum Besseren verändert werden kann. Es sollte
nicht bloß an der politischen Spitze, sondern überall unruhig zugehen, die Leute sollten – ein heute vergessenes Adjektiv – ihrer Umwelt »kritisch« begegnen und so dazu beitragen, sie zu verbessern.
Damals fiel ganzen Gruppen der Gesellschaft die Aufgabe zu, den jeweiligen Status quo zu dynamisieren, etwa den Studierenden, den
Intellektuellen und Künstlern. Auch den Arbeitern oder besser ihren
Kindern wurde keineswegs nur von Linken ein großes Interesse entgegengebracht. Von all diesen Gruppen erwartete man etwas, den
Umsturz oder die große politische Reform. Nun möchte niemand
mehr solch eine soziale Dynamik entfesseln. Obwohl das Jahr 2000
so vielen als die wahre Adresse der Zukunft galt, hat sich in den folgenden Jahren paradoxerweise der Gedanke festgesetzt, dass es immer so bleiben muss, wie es gerade ist – statt der Zukunft beherrscht
uns der Wunsch nach permanenter Gegenwart.
Das dynamische Verständnis der Gesellschaft, die sich Ziele setzt,
in der die Exekutive die Akteure zusammenbringt, motiviert, und
Bürger auf Neues vorbereitet, ist durch ein ganz in die Statik verliebtes Modell ersetzt worden.
27
Jeder halbwegs mit Geopolitik vertraute Politiker hätte ahnen können, dass die bundesdeutschen Kommunen, dass die
Städte überall in Europa mit einem Ansturm von Migranten
würden rechnen müssen. Dass ein instabiler Irak, ein instabiles Libyen und ein Syrien im Bürgerkrieg die Menschen dazu
nötigen würden, nach Europa zu kommen, ebenso wie aus
vielen Ländern Afrikas. Dass es ihnen gleich sein muss, welche Gründe hier akzeptiert werden, weil auch der Wunsch
nach einem materiell auskömmlicheren Leben, einem Leben
mit mehr Geld, ein legitimer menschlicher Wanderungsgrund ist. Und dass sie auch nach Deutschland kommen,
wenn man sie nicht mit Gewalt davon abhält.
Dass sich dadurch auch unser Land verändern würde, war
ebenfalls abzusehen. Trotzdem war die Bundesregierung hier
nur reaktiv tätig, wenn überhaupt. Sie erklärte nicht, wie sie
sich alles denkt. Besonders deutlich wurde diese Leerstelle
der Kommunikation in der Begegnung der Bundeskanzlerin
mit dem Flüchtlingsmädchen Reem in einer Rostocker Schule.
Daran war ja nicht verblüffend, dass die Kanzlerin nicht sofort, wie ein Potentat alter Zeiten, einen Gnadenerweis aussprach und der Familie das Bleiben gestattete. Verblüffend
war, dass ihr jede Phantasie fehlte, um das Mädchen davon
unabhängig mit dem Verweis auf bessere Zeiten zu trösten,
die ja doch gut vorstellbar sind – selbst im Libanon.
28
Die Bürger sind längst weiter. Sie testen im privaten Leben
viele Formen des familiären Zusammenlebens, verändern
Karrieren, Konsumgewohnheiten und machen sich über die
moralischen Implikationen ihres Lebensstils seit vielen Jahren Gedanken. Und es scheint, als seien sie zwar nicht mehr
so parteipolitisch gebunden, dafür aber entschlossen, soziale Plagen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und sexistische Diskriminierung ebenso
wenig zu dulden wie eine ver- Nils Minkmar, geboren 1966, promovierte
antwortungslose
Plünderung 1996 in Neuer Geschichte und arbeitete
von Ressourcen. Sie wären u. a. als Redakteur bei der »Zeit« und als
längst bereit, sich die anfallen- Feuilletonist der »Frankfurter Allgemeinen
Sonntags­zeitung«. 2012 wurde er als
den Aufgaben mit den professiKulturjournalist des Jahres ausgezeichnet
onellen Politikern zu teilen, sie
und wurde Feuilletonchef der »Frankfurter
erwarten an der Spitze der Re- Allgemeinen Zeitung«. Seit Mai 2015
gierung nicht mehr den Erlöser. schreibt er für den »Spiegel«. Bei S. Fischer
Das käme auch dem politischen sind von ihm ›Mit dem Kopf durch die Welt‹
Personal zugute, dass in der sä- und ›Der Zirkus‹ erschienen.
kularen Gesellschaft die sozialen Verpflichtungen übernommen hat, welche früher Pfarrern, Adligen und Offizieren zukamen, also Feierlichkeiten
durch ihre Anwesenheit zu bereichern, zu eröffnen, zu grüßen und Dank auszusprechen. Überforderte ­Politiker können aber nur noch kleinteilig denken, die Folgen davon sind
seit Jahren zu spüren. Sie reiben sich auf. Eine für größere
Linien zuständige Politik sollte auch gar nicht mehr in den
nationalen Hauptstädten erwartet werden, sondern muss in
Brüssel gestaltet werden, kontrolliert durch ein starkes Europäisches Parlament. Die Zeit ist reif für eine Politik, die
sich wieder etwas vornimmt und nicht davon träumt, sich
selbst zu privatisieren.
29
Bericht
V 50
In seinem Debütroman ›Lärm und Wälder‹
bereiten sich Prepper auf den Zusammenbruch der Gesellschaft vor. Juan S. Guse
erklärt, was ihn an diesem Phänomen
interessiert.
Wie die meisten technischen Apparate ist auch ein Vakuumiergerät
wie die Allpax V50 nicht zuletzt ein übermächtiges Versprechen der
Menschen an die Menschen: Nichts von euren Gütern muss zu Staub
verfallen, keine eurer mühsam zusammengetragenen Lebensmittel
müssen zwischen euren Händen verderben, modrig und faul werden, und eure Glocks nicht rosten, die Früchte eurer Arbeit, der angehäufte Besitz, niemand wird euch all dies nehmen können, denn
der Sieg über das Sterben der Dinge durch die Zeit, er ist möglich.
Richtig ist zumindest, dass man nahezu alles vakuumieren1
und dadurch bis zu einem gewissen Grad vor Oxidation und Bakterien- bzw. Pilzsporen schützen kann, wodurch Verwesungsprozesse
­mitunter signifikant verlangsamt werden. Das ja. Das Besondere an
­Maschinen wie der V50, die bis zu 50 cm breite Kunststoffbeutel verschließen kann, ist, dass sie nicht nur in der Lage sind, größere Mengen an Fleisch oder Gemüse, sondern ebenso auch eine MossbergSchrotflinte zu versiegeln wie einen Schmetterling.
1 Das Verb »vakuumieren« wird in Wörterbüchern zwar aufgeführt, gerade in technischen Texten spricht man jedoch häufiger von »evakuieren«; was – wie vielleicht noch deutlich werden sollte – brutal ist.
30
Das macht die V50 gerade für sog. Prepper interessant,
s­ pielen doch die Konservierung sowie das Horten von ebensolchen Dingen eine zentrale Rolle in deren Kultur, deren Logik und Rhetorik. Als Prepper werden gemeinhin Menschen
verstanden, die sich systematisch auf Katastrophen im großen Stil vor­bereiten, indem sie horrende Mengen an
­Lebensmitteln und Überlebensutensilien
(Wasserreinigungstabletten, Verbandszeug, Juan S. Guse, geboren 1989, studiert
Waffen usw.) lagern; gerne auch in kleine- derzeit Literaturwissenschaft und
ren Schutzbunkern oder -räumen. Prepper Sozialwissenschaften an der Leibniz
befinden sich entsprechend in ­einem Zu- Universität Hannover. Sein Debütstand der permanenten Vorbereitung auf roman ›Lärm und Wälder‹ ist im Juli
2015 bei S. Fischer erschienen.
den vermeintlich unmittelbar bevorste­­hen­
den Untergang durch Krieg, ­Natur­­­­katastrophen, Untote, Viren oder ­einen
wirtschaftlichen Kollaps.
So banane ein derart konkretes teleologisches Herbeiphantasieren eines Zivilisationszusammenbruchs erscheinen
mag, ist diese Sehnsucht nach Lärm, nach Katastrophen
(und dem Zustand der Welt nach ebendiesen) bekanntermaßen ubiquitär. Wir finden dasselbe Schwelgen in all jenen kathartischen Bildern wieder – von menschenleeren Städten,
ausgebrannten Autos und geplünderten Supermärkten –,
wie man sie zur Genüge aus Filmen, Videospielen und
­Romanen kennt, die eine solche Sehnsucht bedienen und ja
ungebrochen Konjunktur haben.2
2 Eva Horn hat ein sehr gutes Buch darüber geschrieben, in dem sie
viel genauer darauf eingeht, als ich das je könnte. Auch gut: Kathrin Rögglas Essay ›Geisterstädte, Geisterfilme‹. Wobei ich hinzufügen würde, dass die Vision vom Reboot der Menschheit (hinter der
ja zunächst nur der Wunsch nach der Abwesenheit einer komplexen Gesellschaft bzw. die Sehnsucht nach archaischeren / kausaleren / selbstbestimmteren Verhältnissen steht) im Grunde nichts
anderes als eine etwas pragmatischere Variante der romantischvolkstümlichen Sehnsucht nach Natur, Archaik und Einfachheit
im Sinne Hamsuns, Waggerls oder dem Sommerfest der Volksmusik ist. Ich schwöre, dass ich mir das nicht einbilde.
31
Und obwohl wir natürlich alle auf Fallout und den ganzen
Kram stehen, schien es mir immer interessanter, nicht eine
weitere Iteration dieses Untergangsnarratives zu erzählen,
sondern das Phänomen als solches. Sich also zu fragen, was
für eine Funktion diese Fiktion erfüllt, warum die Leute ums
Verrecken nicht genug davon kriegen können und was es
über die Gesellschaft verrät, in der sie kultiviert wird. Denn
auch wenn die Prä-Apokalypse nicht mit annähernd so heftigen Bildern auffahren kann wie
der Untergang dieser
Welt, so kann sie uns vermutlich dennoch mehr
über die Ängste der Menschen erzählen. Zum
­Beispiel im Anblick eines
Familienvaters, der zwischen
eingelagertem
Milch- und Kartoffel­
pulver sitzend sich über
sein
Vakuumiergerät
beugt und seine Mossberg 500 in einem reißfesten PE-Beutel
versiegelt. Vielleicht hat auch er manchmal einfach nur das
Gefühl, dass seine eigene Arbeit an den Docks von Miami zu
nichts führt, dass alles verworren, leer und sinnlos erscheint,
dass die Kündigung eines Kollegen nicht gerecht und dessen
Verabschiedung herzlos war, und womöglich lag auch er
schon mehr als einmal in seinem Bett und hat sich gefragt,
wie lange es wohl dauert, bis ein Mensch an einem Bauchschuss verblutet.
»Denn auch wenn die PräApokalypse nicht mit annähernd
so heftigen Bildern auffahren
kann wie der Untergang dieser
Welt, so kann sie uns vermutlich
dennoch mehr über die Ängste
der Menschen erzählen.«
33
Fundstück
Langweilige Freunde
Eine Kürzestgeschichte von Lydia Davis
Wir kennen nur vier langweilige Leute. Alle übrigen Freunde
finden wir interessant. Aber die meisten Freunde, die wir
­interessant finden, finden uns langweilig: Die interessantesten finden uns am allerlangweiligsten. Den wenigen, die
irgend­wo in der Mitte stehen und die ein wechselseitiges
Inter­esse haben, misstrauen wir: Wir haben das Gefühl, sie
könnten von einem Moment zum nächsten zu interessant
für uns werden oder wir zu interessant für sie.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer
Lydia Davis ist vor allem für ihre Kurzgeschichten
bekannt, aber auch als Übersetzerin von Marcel Proust
und Gustave Flaubert, wofür sie mit dem Orden des
»Chevalier des Arts et Lettres« ausgezeichnet wurde.
2013 erhielt Davis den Man Booker International Prize.
Die beiden hier abgedruckten Erzählungen erscheinen
2016 in dem Band ›Reise über die stille Seite‹
bei Fischer Taschenbuch.
34
»Die meisten Freunde,
die wir interessant finden,
finden uns langweilig.«
Fundstück
Bericht
Mildred und die Oboe
Geistergrenze
Eine Kürzestgeschichte von Lydia Davis
Eine Erinnerung von Antje Rávic Strubel
Letzte Nacht hat Mildred, meine Nachbarin im Stockwerk
unter mir, mit einer Oboe masturbiert. Die Oboe röchelte
und quietschte in ihrer Vagina. Mildred stöhnte. Später, als
ich dachte, sie sei fertig, fing sie zu schreien an. Ich lag mit
einem Buch über Indien im Bett. Ich konnte spüren, wie ihre
Lust durch die Dielenbretter in mein Zimmer hochstieg. Natürlich hätte es für das, was ich gehört hatte, auch eine andere Erklärung geben können. Vielleicht war es nicht die
Oboe, sondern der Oboist, der Mildred penetrierte. Oder vielleicht schlug Mildred ihren kleinen, nervösen Hund mit etwas Schmalem und Musikalischem wie einer Oboe.
Die schreiende Mildred wohnt unter mir. Drei junge
Frauen aus Connecticut wohnen über mir. Dann gibt es noch
eine Pianistin mit zwei Töchtern in der Belle Etage und ein
paar Lesben im Untergeschoss. Ich bin ein nüchterner
Mensch, eine Mutter, und ich gehe gern früh schlafen – aber
wie soll ich in diesem Gebäude ein geregeltes Leben führen?
Es ist ein Zirkus von hoch und nieder hüpfenden, herumtanzenden Vaginas: dreizehn Vaginas und nur ein einziger Penis, mein kleiner Sohn.
Herbst in Panmunjom. Die Blätter färben sich, lassen die
Idylle leuchten, färben die Landschaft flussaufwärts von
­Seoul. Die Temperatur liegt bei 18 Grad. Ein paar Vögel, wehendes Laub, Felder, auf denen gerade die Ernte eingeholt
wurde. In der Ferne das Ortseingangsschild eines Dorfes, dahinter Büsche, Bäume, so unberührt, als wüchsen sie in einem naturbelassenen Gebiet. Aber wir haben soeben eine
Panzersperre und ein Minenfeld passiert
und einen Todesstreifen überquert, der mit Antje Rávic Strubel wurde 1974
mehrfachem Stacheldraht, mit Wachpos- geboren und lebt in Potsdam. Für
ten, die Handfeuerwaffen auf »Habt Acht«, ihr literarisches Werk wurde sie mit
und Hundebahnen den Wald in einer zahlreichen Preisen geehrt. Im Februar
2016 erscheint ihr Episodenroman
Länge von 241 Kilometern aufreißt. Wir be›In den Wäldern des menschlichen
finden uns in der demilitarisierten Zone
Herzens‹ bei S. Fischer.
zwischen Süd- und Nordkorea. Ein Schweizer Soldat ist unser Reiseleiter im gepanzerten Minibus, später werden ihn amerikanische Soldaten
ersetzen. Wir werden durch ein großes leeres Gebäude geschleust, in dem es außer Toiletten nichts zu geben scheint.
Dahinter herrschen gleißende Sonne und Feindschaft.
Südkoreanische Soldaten in lichtgrünen Uniformen sind
in der Grundstellung des Taekwondo postiert. Die Arme
leicht angewinkelt, die Fäuste geballt, ein schwarzer Topfhelm auf dem Kopf, der Blick starr nach Norden. Der Norden
beginnt hinter dem Bordstein, der zwischen zwei blauen Baracken ein Kiesbett begrenzt. Der Norden ist nicht weiter entfernt als ein Steinwurf und doch unerreichbar für uns. Auch
Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer
36
37
im Norden gibt es ein großes Gebäude. Dort kommen drei
Soldaten die Stufen herab. Sie nähern sich langsam. Sie
schlendern heran, während einer von ihnen mit einer Canon-Kamera immerzu Fotos macht. »Die ist doch nicht echt«,
sagt jemand. »Der macht doch gar nicht wirklich Bilder!«
Die drei Nordkoreaner posen nah vor uns und den strammen Taekwondo-Soldaten des Südens, beinahe lässig, als
wollten sie ihre Überlegenheit gerade dadurch demonstrie-
»Der Norden beginnt hinter dem Bordstein,
der zwischen zwei blauen Baracken
ein Kiesbett begrenzt.«
ren, dass sie militärische Gesten nicht nötig haben, oder als
wären sie nicht die Verteidiger eines brutalen totalitären
­Regimes, sondern Touristen wie wir, die sich vor uns, der seltsamen Sehenswürdigkeit einer anderen Welt, gegenseitig
­fotografieren. Es ist sehr still. Dann bellt ein amerikanischer
Offizier einen Befehl. Der Befehl gilt uns. Er erinnert daran,
dass wir in dieser fried­lichen Szenerie mitten im Krieg sind.
Und so ist es. An dieser Grenze gilt nur eine Waffenstillstandsvereinbarung, die von Militärs unterschrieben wurde,
nicht von Politikern. An dieser Konfrontationslinie ist der
Kalte Krieg noch immer im Gang.
Der amerikanische Offizier eskortiert uns in eine der
blauen Baracken, in einen Konferenzraum, die sogenannte
Gemeinsame Sicherheitszone. Die Demarkationslinie verläuft hier mitten durch den Besprechungstisch, allein die Mikrophone markieren den Grenzverlauf. Die verfeindeten
Staaten nutzen diesen Raum gemeinsam. Wer ihn zuerst betritt, stellt zwei seiner Soldaten hinein und macht die Tür auf
der feindlichen Seite zu. Ich gehe am Besprechungstisch vorbei, nach Nordkorea hinüber. Es ist ganz einfach. Ich betrete
nordkoreanisches Gebiet, auf dem derselbe Fußbodenbelag
liegt, dieselbe Luft in der Luft hängt, über mir derselbe Himmel, geteilt. Auf dem Tisch steht eine Fahne der UN. 1976 war
die Frage, welche Fahne dort stehen darf, äußerst umstritten.
Daran entzündete sich ein »Blasenkrieg«, tobte elf Stunden.
»Blasenkrieg?«, fragt jemand. Ja, erklärt uns ein Schweizer Ge38
neral: »Im Raum damals nur Männer. Auf beiden Seiten Politiker, von denen sich keiner traute, aufs Klo zu gehen, um
dem Gegner durch Verlassen des Raums nicht einen Vorteil
einzuräumen.« Die Schweiz, Schweden und Polen bilden seither die Kommission neutraler Staaten, die die Waffenstillstandsvereinbarung überwacht. Meistens sind sie damit beschäftigt, Touristen oder offiziellen Delegationen wie uns die
Grenze zu erklären.
Die nordkoreanischen Soldaten schauen aus dem Herbstlicht zu uns in die Baracke herein. Früher, muss ich unwillkürlich denken, stand ich auch mal dort. Früher hatte ich
mir vorgestellt, wie es wäre, auf der anderen, der freien Seite
zu sein und mir von dort, wo ich jetzt bin, die Mauer anzuschauen. Als die Mauer in Deutschland fiel, hatte ich dazu
keine Gelegenheit mehr.
Jetzt kommt es mir vor, als wäre diese Vorstellung verspätet
Wirklichkeit geworden. Ich gehöre nun zur anderen Seite,
von wo aus ich mir die zugemauerten Soldatengesichter ansehe. Einer der Nordkoreaner ist dicht ans Fenster getreten.
39
Seine Wimpern glitzern in der Sonne. Wäre die
Scheibe nicht zwischen uns, könnte ich ihn berühren, seine leicht geöffneten Lippen, die Uniform
aus grobem Stoff, ein schattiges Braun. Der Nord-
»Ich gehöre nun
zur anderen Seite.«
koreaner sieht mir, ohne zu blinzeln, in die Augen,
sein Blick streift mein Gesicht, warm, ernst, offen.
Flirtet der? Ich schaue auf seinen Kragen, die Schulterklappen, die Knöpfe der Uniform, die, seltsame
Verschiebung, einem Soldaten der NVA gehören,
und ich, die Neuntklässlerin, robbe unter seinem
Kommando über den Waldboden, voll uniformiert,
es ist Hochsommer, wir haben Zivilverteidigung,
der brandenburgische Karnickelsand staubt, und
aus dieser plötzlichen Starre kann ich mich nur lösen, indem ich zum Handy greife und Fotos mache.
Ich fotografiere diesen Soldaten wie verrückt, als
wäre er ein Geistwesen, ein lebender Toter, von
dem ich ein Beweisfoto brauche, um zu beglaubigen, was es nicht geben kann. Ich mache Fotos, und
dann flüchte ich, flüchte aus diesem aus der Zeit
gefallenen Raum zurück in den Süden, dorthin,
wo früher der Westen war.
40
Novelle
Endgültiger Beweis,
dass das Leben zu lang ist.
Und die Kunst zu kurz.
Extra
Kleines Buch-Glossar
Von Eric Jarosinski
Autor
Laut der Literaturtheorie: tot.
Laut der Philosophie: lebendig.
Laut Gott: J. K. Rowling.
Autobiographie
Ein Selbstbewusstsein
bestimmt vom Lebenslauf.
Roman
Dichtung plus Wahrheit.
Minus Liebe. Durch Tod.
Taschenbuch
Zu groß für die Hosentasche.
Zu gut für die Tüte.
Für den Schrank zu ungebunden.
Verlag
Die Verlegenheitslösung
des Unverlegten.
Biographie
Ein Leben
bestimmt vom Bewusstsein.
Buch
Ein häufiger Druckfehler.
Buchkritik
Die unerträgliche Leichtigkeit
des Neins.
Mängelexemplar
Ein Buch, das seine Abstemplung
mit Fassung trägt.
42
Eric Jarosinski wurde mit seiner
Kunstfigur »NeinQuarterly« welt­
bekannt. Bevor er sich ganz dem
Twittern verschrieb, lehrte er
an der University of Pennsylvania
Philosophie und Germanistik.
Seine Texte erscheinen u. a. im
»New Yorker«, der »Frankfurter
Allgemeinen Zeitung«, dem
»Spiegel«, der »Neuen Zürcher
Zeitung« und der »Zeit«. Im August
2015 erschien ›NEIN. Ein Manifest.‹
im S. Fischer Verlag.
43
Essay
Stell dir vor, es ist Messe ...
Ein Blitzlicht von Soziologe Tilman Allert
auf den Messebesuch als hohe Stunde der Wahrnehmung
Messen sind Kultstätten der Neugier – eine Neugier, die sich auf das richtet, was der
Markt bietet und als deren vornehmer Repräsentant der Messebesucher in Erscheinung tritt, ein Typus unserer Zeit. Es müssen nicht Bücher sein, regelmäßig ziehen im
Rhythmus der Jahreszeiten auch Bremsen oder Campingwagen Scharen von Besuchern an. Jedoch über die Differenz der Branchen
und entsprechend der Vorlieben hinweg kommuTilman Allert, geboren 1947, ist
seit dem Jahr 2000 Professor für
niziert der Messebesuch etwas Gemeinsames, eiSoziologie und Sozialpsychologie
nen komplexen Auftritt in der Masse. Wer sich von
an der Goethe-Universität in
Stand zu Stand in den Strom des treibenden GeFrankfurt am Main und lehrt als
triebenseins begibt, folgt nicht etwa einem KonGastdozent an den Universitäten
formitätszwang. Vielmehr folgt der Messebesuch
von Tiflis und Eriwan sowie an der
einem Kooperationsangebot, das den ErlebnisInternational Psychoanalytical
raum der Attraktion – gleichsam entlastet und
University in Berlin. Er schreibt
blind der Spur aller anderen folgend – ebenso erregelmäßig Beiträge u. a. für die
öffnet wie das Abenteuer der Distraktion, des ego»Frankfurter Allgemeine Zeitung«,
zentrischen Vagabundierens auf eigene Faust. Im
»Brand Eins« und die »Neue Zürcher
Messebesuch erwirbt man einen Teilnahmeschein
Zeitung«.
in »instant sociology«.
Die Choreographie des Auftritts, das Schreiten, das im Strom der anderen erzwungene oder gewollte Stehenbleiben, das Schauen im räumlichen Horizont dessen, was
alle anderen bewegt, begründen den Reiz des Messebesuchs. Der Handlungstypus, das
Jagen und Sammeln, kombiniert dabei auf faszinierende Weise Phasen der Weltaneignung aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, aus den aufregenden Zeiten beginnender Sesshaftigkeit und deren Komplement, dem Schweifen und Streunen – mit
dem Prospekt als Trophäe, die man nach Hause trägt.
44
Beinahe vertraut und alles andere als archaisch, ist es eine moderne
Version des Flaneurs, die einem in den Gängen begegnet. Dieser legendären Sozialfigur des Übergangs vom altständischen ins bürgerliche leistungsdiktierte Leben ist in der Sozialordnung der Gegenwart der Boden entzogen. Die durchgesetzte Moderne prämiert die durch Arbeit
erbrachte Leistung und nicht das passagere Beschäftigtsein derjenigen, die es sich leisten können, gegenüber dem geschäftigen Gewusel
der Masse schnöde aufs Kopfschütteln zu setzen. Während das Flanieren zu einem verstiegenen Privileg verdampft ist, liegt im Messebesuch eine Kompromissbildung vor, die Elemente der Distanz zum
Treiben kombiniert mit engagierter Partizipation.
Was vom Flaneur geblieben ist, ist zweifellos die Bezugnahme auf die
Masse. Schaulustig und – bleiben wir bei den Büchern – auf geistige Delikatessen aus, begibt man sich in den Konformitätsrausch, den erst die
Masse aller anderen ermöglicht. Wobei man die fluide Präsenz im Geschiebe der Menge im Selbstgefühl desjenigen überlebt, der auf der
Lauer liegt, der mit nur einem Schritt aus dem Strom ausbricht, um an
einer Einzigartigkeit hängenzubleiben, ihr die Aufmerksamkeit des Tages zu widmen, so dass das ungute Gefühl, vielleicht just im Mut zum
Zwischenstopp, in der entschlossenen Bitte um den Katalog doch wieder nur dem gefolgt zu sein, was auch die anderen tun, im Stolz auf
eine Distanz zur Blödheit der anderen transzendiert wird.
Im Messebesuch erleben wir eine Minimalgeselligkeit, eine kommunikative Konstellation mit Akteuren in camouflierter Interessenlage –
man weiß gar nicht genau, was man will, die Schaulust hat das Sagen.
Von daher ist man auf eines schlecht vorbereitet: auf das Angesprochenwerden, »... man weiß gar nicht genau,
gar auf ein ausdrückliches Interesse. Bei
was man will, die Schaulust
aller Sehnsucht der Moderne nach authentischer Selbstdarstellung rücken hat das Sagen.«
von daher nicht zufällig Klatsch und
Tratsch als die typischen rhetorischen
Formate nach vorn, in denen die Kult­gemeinschaft der Messebesucher ihre Gespräche führt. So erscheint der Messebesuch, ewig anstrengend und in der Haltung unangestrengt, als eine Schule der Daseinsfreude: Der Vielfalt der Empfindungen zwischen Attraktion und
Distraktion ausgeliefert, eröffnet die Messe denjenigen, die eintauchen, Distinktionschancen in einer Welt schwärmender Gleichgesinnter – ein Schwarm, der als Masse jeden Anschein von Bedrohlichkeit verliert. Stell dir vor, es ist Messe, und jeder geht hin!
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Impressum
Redaktion: Juliane Beckmann, Jasmin Düring, Max
Farr, Albert Henrichs, Jasmin Rackl, Friederike Schilbach,
Alexandra Strohmeier, Jacob Thomas, Esther Wichelhaus
Layout, Satz, Herstellung: Katja Biallaß, Frank Geck,
Anja Johannsen, S. Fischer Verlag
Umschlaggestaltung: Stefan Gelberg
Fotos: © Stefan Gelberg
Druck: NK Druck + Medien GmbH, Hammersbach
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht
unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
© 2015 S. Fischer Verlag GmbH
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