28.09.2015 Fragestellungen des Vortrages Teil 1. Der Mythos einer narzisstischen Epidemie bzw. die Psychopathologisierung unserer Gesellschaft Ist die Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ in Bezug auf gesunde Individuen bzw. ganzen Gesellschaften angemessen und legitim? Claas-Hinrich Lammers Asklepios Klinik Nord - Ochsenzoll Teil 2. Gibt es empirische Befunde, welche eine reale Zunahme an „Narzissmus“ in unser Gesellschaft vermuten lassen? Heidberg Wandsbek Ochsenzoll 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 2 Zitate Die Zivilisation besteht darin, Dinge falsch zu benennen und anschließend über Teil 1 das Ergebnis nachzusinnen. Fernando Pessoa Die Verwendung psychopathologischer Begriffe im Alltag am Beispiel des Begriffes „Narzissmus“ Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten. Mark Twain 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 3 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 4 1 28.09.2015 Psychologisierung des Alltages Unser alltäglicher Sprachgebrauch „Der ist total narzisstisch!“ • Zunehmende Betrachtung und Erklärung von Ereignissen des normalen Lebens „Damit befriedigt die doch nur ihren Narzissmus.“ mittels psychologischer Erklärungsmodelle und Ausschaltung anderer Modelle de Vos, 2011 „In der Partnerschaft hört der Narzisst nicht auf die Wünsche seiner Partnerin.“ • Abtretung der individuellen Erklärungs- und Problemlösekompetenzen an „Dass er aber nicht ganz frei von narzisstischen Zügen war, professionell tätige Menschen (z.B. Psychologen, Psychiater, Pädagogen) zeigte sich in seinem Wunsch, seine Bücher publiziert zu sehen.“ „In unserer narzisstischen Gesellschaft denkt • Zunehmend Individualisierung der Erlebnisweisen von Menschen doch jeder nur an seinen eigenen Vorteil!“ • Eine zunehmende Ich-Bezogenheit gerade durch Psychotherapie? „Der Patient hat neben seiner sozialen Phobie auch noch narzisstische Züge.“ Rieff 1965, Paris, 2014 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 5 Typische Merkmale des Narzissmus 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 6 Sprechweisen sind Denkweisen – I • Hang zur Selbstdarstellung karriereorientiert bindungsunfähig empathiearm • Drang im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen unangenehm unsozial • Übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu sein ausbeuterisch Dieser Mensch ist „narzisstisch“ • Verführerisch in Erscheinung und Auftreten eitel selbstverliebt egozentrisch Nein! „Histrionische“ Persönlichkeitszüge! (?) arrogant 28. September 2015 PowerPoint® Guideline geldgierig eingebildet 7 2 28.09.2015 Sprechweisen sind Denkweisen - II Sprache und Welt • sog. Hammerbegriffe werden geschaffen, um eine bequeme Komplexitätsreduktion vorzunehmen (z.B. „Das ist ein Narzisst“) „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ • George Orwell prägte in seinem Buch „1984“ den Ausdruck des Neusprech. Dieses Ludwig Wittgenstein, 1963 Neusprech wurde entwickelt, um die Vielfalt der Gedanken zu verhindern • Die Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ ist normativ, d.h. bewertend und ababgrenzend zur Normalität • Die Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ beeinflusst unser Denken, Fühlen und Handeln 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 9 Psychopathologisierung des Alltages 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 10 Psychopathologisierung und Normativität Die „DieZivilisation Freudschebesteht Weigerung, darin,Normalität Dinge falsch undzuPathologie benennenvoneinander und anschließend zu isolieren, über das und Ergebnis die Freudsche nachzusinnen. Behauptung, beide grenzten zwangsläufig unmittelbar aneinander, Aus der Amazon-Rezension des Buches „Mehr Schein als Sein – Die vielen führten zu einer Verdachtshermeneutik gegenüber gewöhnlichem Verhalten.“ Spielarten des Narzissmus“ von Sprenger & Joraschky: Fernando Pessoa Eva Illouz (2009) Die Errettung der modernen Seele „In der Einleitung ist mir der Satz "...der unterhaltsame Redefluss eines Gastes Selbstsicherer, dominanter Persönlichkeitsstil? gewinnt unter dem bewundernden Interesse der Zuhörer an Fahrt und mündet in Narzissmus umfassenden Selbstdarstellungen..." besonders aufgefallen und hat mir bewusst Pathologie Persönlichkeitsstörung Normalität Persönlichkeitsvariable gemacht, wie oft man solchen Verhaltensmustern im täglichen Leben begegnet“ Dimensionales Modell 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 11 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 12 3 28.09.2015 Die Problematik einer Psychopathologisierung des Alltags Charakter vs. Kontext • Diskreditierung bzw. Stigmatisierung von Menschen, deren Verhalten einer bestimmten • „Ist“ jemand „narzisstisch“ oder handelt jemand „narzisstisch“ in einem bestimmten Norm nicht entspricht -> normative Eigenschaft des Begriffs „Narzissmus“ Kontext? • Entwertung von alternativen Handlungs- und Erklärungskonzepten, z.B. ökonomischen, • Verhaltensweisen lassen sich besser durch die situativen Umstände erklären, politischen, soziologischen Modellen (Stichwort „Hammerbegriff“) in welchen das Verhalten auftritt, als durch die Persönlichkeit des Betreffende • Suggestion eines erreichbaren „gesunden“ bzw. „idealen“ Zustandes von EinzelNisbett & Russ (2011) The Person and the Situation personen oder der Gesellschaft (definiert von Psychiatern und Psychotherapeuten?!?) • „Die Verwendung klinischer Begriffe (Narzissmus, Exhibitionismus, Körperbildstörung, Jugendwahn) für soziale Neubildungen ist zunächst einmal nur eine wilde Deutung“ Martin Dornes (2012). Die Modernisierung der Seele 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 13 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 14 Die angeblich narzisstische Gesellschaft Teil 2 Die angeblich neuzeitliche narzisstische Gesellschaft 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 15 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 16 4 28.09.2015 Die angeblich narzisstische moderne Gesellschaft Die angebliche Zunahme an „Narzissmus“ Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten. Mark Twain „Wir befinden uns in einer Zeit zwischenmenschlicher Verrohung, und das ist für mich einer der Hauptgründe für die eklatante Zunahme von Narzissmus.“ Prof. Reinhard Haller „Die Presse“ 2013 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 17 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 18 Das Narzisstische Persönlichkeitsinventar (NPI) Beispiel für Items Das Narzisstische Persönlichkeitsinventar (NPI) A „Ich will einfach nur glücklich sein“ B „Ich will etwas darstellen in der Welt“ Fragebogen zur Erfassung der Persönlichkeitsdimension des Narzissmus A „In vielerlei Hinsicht bin ich wie jeder andere Mensch“ (Raskin & Terry, 1988) B „Ich bin eine außergewöhnliche Persönlichkeit“ Faktorenstruktur A „Ich will erfolgreich sein“ 1. Autorität B „Mir ist Erfolg nicht besonders wichtig“ 2. Selbstsuffizienz A „In werde nie zufrieden sein, bis ich alles bekomme, was mir zusteht“ 3. Superiorität B „Ich bin zufrieden mit dem, was mir der Zufall gibt“ 4. Exhibitionismus A „Der Gedanke, dass ich über die Welt herrschen sollte, versetzt mich in Panik“ 5. Ausbeutung B „Wenn ich über die Welt herrschen würde, hätten wir eine bessere Welt“ 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 19 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 20 5 28.09.2015 Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie? Kritik am Narzisstischen Persönlichkeitsinventar (NPI) • Signifikanter (?) Anstieg der positiven NPI-Items um 1-2 (von 40) in den letzten 30 Jahren • Mit dem NPI lässt sich keine kategoriale Aussage über „Narzissmus“ treffen Twenge et al., 2008 • Der NPI dient nicht der Erfassung von krankhaften oder „negativen“ Persönlichkeits- • Dieser Anstieg besteht überwiegend bei Frauen eigenschaften! • Es gibt keine Aussage darüber, welche Items positiv geworden sind • Misst der NPI wirklich „Narzissmus“ oder vielmehr selbstbewusstes Verhalten? • Es gibt keine Hinweise, dass diese Zunahme an „Narzissmus“ mit den zu erwartenden •Die Faktorenstruktur des NPIs ist sehr heterogen Verhaltensweisen und Konflikten einhergeht Arnett, 2013 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 21 Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie? 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 22 Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie? • Studien gleicher Fragestellung und mit ähnlichem Design erbrachten negative Resultate (Trzesniewski et al., 2008) • Einschluss dieser Studien in die ursprüngliche Metaanalyse von Twenge brachten deren positives Resultat zum Verschwinden (Roberts et al., 2010) Metanalyse von Twenge Einschluss von neuen Studien in die Metanalyse von Twenge 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 23 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 24 6 28.09.2015 Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie? Shell-Jugendstudie 2010 Zugenommen haben bei Jugendlichen in Deutschland u.a.: Jährliche Untersuchung an insgesamt 477.380 Highschool-Absolventen von • das politische Interesse 1976–2006 haben nahezu keine Anzeichen von Veränderungen über die Jahre • ihr soziales Engagement für die folgenden Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen gefunden: • ihre Wertschätzung von Freundschaft • Egoismus • ihre Wertschätzung einer vertrauensvollen Partnerschaft und • Individualismus eines guten Familienlebens • Selbstüberschätzung • fleißig und ehrgeizig sein • Hoffnungslosigkeit • das Leben in vollen Zügen zu genießen • Freude • eigenverantwortlich leben und handeln • Lebenszufriedenheit • sozial Benachteiligten und Randgruppen helfen • antisoziales Verhalten • Zeit verbracht mit Arbeit oder Fernsehen • politische Aktivitäten Abgenommen haben u.a.: • Bedeutung der Religion • Meinungen tolerieren, denen man nicht zustimmen kann • eigene Bedürfnisse gegenüber anderen durchzusetzen • Bedeutung des sozialen Status (Trzesniewski u. Donnellan, 2010) 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 25 Individualität und Gemeinschaft (Beispiele) 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 26 Geschichtlicher Exkurs – Die Hysterie Es gibt eine positive Korrelation zwischen individualistischer Selbstverwirklichungs- Die Hysterie war Ende des 19 Jhd. eine populäre psychische orientierung und sozialem Engagement (kooperativer Individualismus) Erkrankung, welche von Wissenschaftlern erforscht und von Dalton, 2009 (zit. nach Dornes, 2013) Therapeuten behandelt wurde. Vielfach wurde damals vom sog. Zeitalter der Hysterie in Bezug auf die damalige Gesellschaft 33% der Jugendlichen gehen regelmäßig einer freiwilligen sozialen Tätigkeit nach und 42% gesprochen. gelegentlich (1950 waren es knapp 8%...) Shell-Studie, 2006 (zit. nach Dornes, 2013) Jean Marie Charcot (1825-1893) Die Bedeutung sozialer Werte (Prosozialität) hat bei Jugendlichen seit 1992 zugenommen Der Begriff der Hysterie geriet Anfang des 20 Jhrd. aus der Mode und wurde in die Gaiser & de Rijke, 2006 (zit. nach Dornes, 2013) folgenden Erkrankungen unterteilt: • histrionische Persönlichkeitsstörung • Somatisierungsstörung • Konversionsstörung • dissoziative Störungen • artifizielle Störung 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 27 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 28 7 28.09.2015 Die Generationenkritik - seit Generationen Gesellschaften im Vergleich • Die angeblich Zunahme an Narzissmus in der modernen Gesellschaft impliziert eine weniger narzisstische Gesellschaft in der Vergangenheit (Stichwort „Werteverfall“). • Gleichstellung der Frauen? • Umgang mit Minderheiten (u.a. Schwule, Lesben, „uneheliche“ Kinder) 2013 1976 • ehrenamtliche Tätigkeiten bzw. soziales Engagement? „Der Felsen, an dem die meisten blumengeschmückten Ehen zerbrechen, ist der moderne Kult des Individualismus; die Verehrung des unverschämten Kalbes des Selbst.“ • soziale Unterstützung und Projekte? • Selbstbestimmung? • Friedfertigkeit der Menschen? • autoritäre Strukturen? • Umweltbewusstsein? Anna Rogers „The Atlantic“ • u.v.m. 1906 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 29 Die Generationenkritik - Seit Generationen 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 30 Die Generationenkritik August Hermann Niemeyer diagnostizierte (1787) bei der jüngeren Generation einen Mangel an Bereitschaft, sich anzustrengen und eine schleichende Erschlaffung der ganzen Denkungsart, die zu einer Verschiebung des Tugendkanons von Arbeit, Wissenschaft und Pflichterfüllung hin zu Trägheit, Sinnlichkeit und Hedonismus führe. zit. nach Dornes (2006) „Die Modernisierung der Seele“ „Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein sollte. Denn diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich, rücksichtslos und altklug. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor den Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besser wissen.“ Hesiod 700 v. Christus 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 31 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 32 8 28.09.2015 Baseline-Shift Informationsverzerrung Bestätigungs-Fehler (confirmation bias) „Unser Begriff des Normalen orientiert sich an der Übereinstimmung mit allgemein akzeptierten Maßstäben des Verhaltens und der Gefühle innerhalb einer bestimmten Informationen werden so wahrgenommen und verarbeitet, dass diese den eigenen Erwartungen und Ansichten entsprechen. Widersprechende Gruppe, die diese Maßstäbe ihrer Gruppe auferlegt. Jedoch verändern sie sich mit Informationen werden nicht wahrgenommen, fehlinterpretiert und unterdrückt. einer Kultur, einer Periode, einer Klasse und dem Geschlecht.“ Karen Horney, 1937 Beispiele Beispiel: Bedeutet das gepostete „Selfie“ auf Facebook • Diesen Bias findet man in allen Texten zur angeblichen narzisstischen Epidemie etc. für die jüngere Generation das gleiche wie für • Der NPS-Wert eines Facebook- Mitglieds hängt entgegen den Erwartungen die ältere Generation? von Laien und Experten nicht mit der Häufigkeit von geposteten Selfies zusammen (Deters et al., 2014) 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 33 Informationsverzerrung 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 34 Fazit Verfügbarkeits-Bias (availabiliy-bias) 1. Der Gebrauch des Begriffes „Narzissmus“ für die Beschreibung von alltäglichen, Die Häufigkeit bzw. Ausprägung von Ereignissen wird anhand normalen Ereignissen und Verhaltensweisen ist bestenfalls als problematisch zu be- der präsentierten Informationen beurteilt. werten Beispiele 2. Psychiater und Psychotherapeuten haben keine Deutungshoheit bzgl. der Definition • Psychiater und Psychotherapeuten sehen berufsbedingt häufiger narzisstisch gestörte von Normalität Menschen • Im Fernsehen werden überproportional Menschen gezeigt, welche sich selbst darstellen 3. Es gibt keine überzeugende empirischen Evidenzen für eine Zunahme narzisstischer Eigenschaften in unser Gesellschaft 4. Jede Generation ist eine „Ich-Generation“ (bis sie ein gewisses Lebensalter erreicht hat) 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 35 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 36 9 28.09.2015 Persönliches Was ist Gesundheit? Was ist Normalität? „Dem Referenten ist dieses Thema doch nur so wichtig, weil er selbst so narzisstisch ist und sich mit der Normalisierung dieser Eigenschaft Gesundheit von dem etwaigen Vorwurf reinwaschen will!“ Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen Mein persönlicher NPI-Wert (16 von 40) WHO, 1948 Abnormität Abweichung von einer jeweiligen Bezugsgruppe, die durch ihren soziokulturellen Kontext definiert ist (Wer aber definiert diese Abweichung von der Norm?) 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 37 28. September 2015 PowerPoint® Guideline 38 10
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