Unterrichten als gouvermentale Aufgabe

Philipp Gonon • Rede zur Diplomfeier Sommer 2015
Unterrichten als gouvermentale Aufgabe
Philipp Gonon
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Heute will ich Ihnen ein Konzept vorstellen, dass man üblicherweise mit
Dienstleistungen in Zusammenhang bringt, genauer mit Gastrobetrieben,
Hotel und Haushalt. Es geht um eine Tätigkeit, für die sogar eine Berufsbezeichnung existiert: Gouvernante. Die Tätigkeit einer Gouvernante besteht
im «Gouvernieren», das heisst im Regieren und Zusehen, dass alles seine
Ordnung hat – nicht in einem Staate, sondern in der unmittelbaren häuslichen Umgebung. Das Wohlbefinden für Leib und Seele der Mitglieder des
Haushaltes, aber auch der Gäste bewerkstelligen, Dinge auf die Reihe kriegen, eine bestallte Ordnung im Hause aufrechterhalten, alles zur rechten Zeit
arrangieren und Abläufe nach Plan gestalten und bei Bedarf intervenieren,
das sind Tätigkeiten, die ein gouvernementales Verständnis erfordern. Auch
als Hauslehrer oder Erzieherin in einem Haushalt muss man ähnliche Eigenschaften mitbringen. Diese Kunst des Arrangierens und Gestaltens müssen
allerdings auch heutige Manager und andere Berufsleute, wie beispielsweise
auch die Berufsschullehrpersonen, beherrschen.
Gouvernante, so steht es in einem – wie ich finde – schönen WikipediaArtikel, sei eine veraltete Bezeichnung für Hauslehrerin oder Erzieherin.
«Der Begriff wird heutzutage nur noch selten benutzt und hat einen
negativen Beiklang bekommen. ‹Gouvernantenhaft› wird beispielsweise ein strenger, nicht unbedingt vorteilhaft wirkender
Kleidungsstil genannt. In abgewandelter Bedeutung ist er heute
noch in der Hotellerie gebräuchlich: Als Etagen-Gouvernante wird
in der Schweiz eine Angestellte eines Hotels bezeichnet, welche die
Zimmermädchen in ihrer Arbeit anleitet.»
Ursprünglich seien es Familien des Hochadels gewesen, welche die Erziehung ihrer Kinder einer Gouvernante anvertrauten, die nicht nur Kinder erzog, sondern auch in diesem Kreise wohnte und am Leben teilnahm. «Für
Frauen der gebildeten Mittelschicht war die Tätigkeit einer Gouvernante
über zwei Jahrhunderte eine der wenigen Möglichkeiten, einen standesgemässen Beruf auszuüben. Er wurde fast ausschliesslich von Frauen ergriffen,
die für sich selbst sorgen mussten oder wollten.» Viele, auch prominente
Schriftstellerinnen, Frauenrechtlerinnen und selbst Nobelpreisträgerinnen –
Philipp Gonon • Rede zur Diplomfeier Sommer 2015
einige Namen seien genannt: die Bronté-Schwestern, Mary Wollstonecraft,
Henriette Herz, Clara Zetkin und Marie Curie – übten zeitweise diesen Beruf aus, der zumindest zu Beginn keine pädagogische Ausbildung voraussetzte.
Nun, ich finde, wir können diese grundlegenden Fertigkeiten des Arrangierens, Organisierens und Gestaltens von Umgebungen und des Führens
von Schutzbefohlenen durchaus auf die heutige Schule und den Unterricht
übertragen. Auch Lehrpersonen wird der Unterricht (und damit verbunden
erziehliche Wirkungen) vonseiten der Gesellschaft anvertraut, sie wären, um
im Bild und in der Begrifflichkeit zu bleiben, sogenannte «Tagesgouvernanten», wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelten: tagsüber die Arbeit vor
Ort durchführen, abends dann in die eigene Privatheit und Räumlichkeit
zurückkehren.
Später wurden Gouvernanten auch ausgebildet und geschult – so in England, aber auch in Deutschland –, an speziellen Ausbildungsstätten und an
Lehrerseminarien. Hat das Lehrerinnen- und Gouvernantenleben einen solchen Reiz, fragte sich der liberale Pädagoge Adolph Diesterweg 1864, dass
so viele Frauen in diesen Beruf drängen? Eröffnet er Zukunftschancen, oder
ist es einfach pure Not?
Im Folgenden will ich aber weniger auf diese bedeutsamen frauenrechtlichen und sozialen Fragen eingehen, sondern ein umfassenderes Verständnis
in den Vordergrund rücken, wie es die neue Arbeitswelt und Gesellschaft
prägt. Nicht als Berufsbezeichnung, sondern als eine Haltung, die Dienstleistung und Selbstorganisation hervorhebt, wurde das Gouvermentale von
Michel Foucault für die moderne Gesellschaft aufgegriffen: Gouvermentalität. «Gouverner» ist das Regieren seiner selbst und anderer und das Sich-inden-Dienst-Stellen für eine Zielsetzung, sei es metaphysischer oder auch
ganz profaner Art. Im Sinne Foucaults unterwirft man sich einer Macht und
trägt selbst auch zum Erhalt und Aufbau dieser Macht bei.
Lehrerinnen und Lehrer sind im ursprünglichen Sinne diejenigen Personen, die im Dienste der Pastoralmacht eine Herde – nämlich die Schüler –
führen, in Sorge um ihr Seelenheil. Schafe, die sich verlieren, werden vom
Hirten wieder eingefangen. Daraus entwickelte sich im Zuge der Säkularisierung dann die auf das diesseitige Leben gerichtete Disziplinarmacht. Die
in der modernen Gesellschaft meist staatlich beauftragte Lehrperson muss
nun die Kunst des Regierens insofern ausüben, als sie sich auf das gute Zusammenleben ausrichtet und dafür den Einzelnen lenkt, der nun statistisch
und wissenschaftlich verortet wurde. Diese Einbindung in ein Netz von den
Betroffenen selbst anzunehmender Pflichten und Aufgaben im Rahmen
staatlich arrangierter Sicherheit ist nicht nur befreiend, sondern bindet den
Einzelnen in ein Kontrollsystem ein, so Foucault. Gouvermentalisierung
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heisst nun auch, dass Führung als Selbstführung, Regierung als Selbstregierung und der Einzelne, das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung
und Befreiung konstituiert. In einer Art freiwilliger Selbstkontrolle besteht
für diesen Einzelnen dann aber auch die Möglichkeit, Autonomie und Freiheit zu entwickeln. Dazu kann und soll im schulischen Rahmen von heute
die Lehrperson als Gouvernante und begleitende Dienstleisterin behilflich
sein (Lin Chiang).
Wem diese Überlegungen Foucaults und weiterer Gouvermentalitätsforscher etwas gar weit entfernt scheinen, dem möchte ich die oben entfaltete
Vorstellung insofern näherbringen, als ich abschliessend auf Gedankengänge von Johann Heinrich Pestalozzi verweise. 1826 schrieb er zum Beispiel
in «Erziehung zur Industrie», dass das Steuern als Staatskunst einherzugehen habe mit häuslicher Weisheit und Kindererziehung als Führung zur Anschauung. Lehrpersonen sollten insofern führen, als sie sich als im Dienste
der Kraftbildung der ihnen Anvertrauten begreifen, damit sich diese als
Werk ihrer selbst verstehen und auch in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlich sich wandelnden Umfeld behaupten können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit