INHALTSVERZEICHNIS - Michael Imhof Verlag

INHALTSVERZEICHNIS
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Michael Eissenhauer, Bernd W. Lindemann, Heinrich Schulze Altcappenberg
Vorwort
Bernd Wolfgang Lindemann
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Im grünen Salon, im Alten Museum und anderswo – Holbein in Berlin
Michael Roth
14
Hans Holbein der Ältere und seine Söhne – Die Augsburger und Basler Jahre
Stephan Kemperdick
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Ein Meisterwerk, ein Rätsel.
Mutmaßungen über Hans Holbeins Madonnentafel des Jakob Meyer zum Hasen
Christine Seidel
42
Holbein als Porträtist
Georg Josef Dietz
52
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – neue Erkenntnisse zu den
Silberstiftzeichnungen Hans Holbeins des Älteren und seinem Einfluss
auf die Zeichentechnik seiner Söhne
63
KATALOG
130
Literaturverzeichnis
136
Bildnachweis
5
Stephan Kemperdick
EIN MEISTERWERK, EIN RÄTSEL.
MUTMASSUNGEN ÜBER HANS HOLBEINS MADONNENTAFEL
DES JAKOB MEYER ZUM HASEN
Es ist ein Bild, das in kaum einer Kunstgeschichte der
frühen Neuzeit fehlt und das mehrfach – zu Recht – als
eines der bedeutendsten Gemälde des 16. Jahrhunderts
aus dem Europa nördlich der Alpen bezeichnet wurde:
die Schutzmantelmadonna (Kat. 1), die Hans Holbein
der Jüngere für den Basler Wechsler und Ex-Bürgermeister Jakob Meyer zum Hasen malte und die bis vor
kurzem unter dem Namen Darmstädter Madonna bekannt war, der sich von ihrem Aufbewahrungsort zwischen 1852 und 2003, dem Residenzschloss in Darmstadt, ableitete. Eine Fülle an Texten und Reproduktionen begleitete bzw. beförderte das Interesse an dem Bild,
und so umfasst seine Bibliographie mittlerweile wohl
annähernd 300 Titel.1 Zudem spielte es eine markante
Rolle bei der Formierung des akademischen Fachs Kunstgeschichte. Seit dem 17. Jahrhundert nämlich waren zwei
ganz ähnliche Fassungen der Komposition bekannt,
deren eine, in der Gemäldegalerie Dresden befindliche,
lange Zeit bevorzugt und als das Original angesehen
worden war (Abb. 14). Ja, gerade die Dresdner Version
hatte nicht unerheblich zum Anwachsen des Ruhmes
von Hans Holbein im Allgemeinen und dem Meyer’schen Madonnenbild im Besonderen beigetragen, war
sie doch im 19. Jahrhundert in programmatischer Weise
gegenüber von Raffaels Sixtinischer Madonna gehängt
und damit als nördliches Pendant zu dem meistgeschätzten Gemälde der italienischen Renaissance inszeniert
worden.2 Im sogenannten „Holbeinstreit“, der in einer
Ausstellung beider Fassungen 1871 in Dresden kulminierte, konnte die noch junge Disziplin Kunstgeschichte
Abb. 13. Hans Holbein d. J., Meyer-Madonna, Detail: Jakob Meyer zum Hasen
mit einer wissenschaftlich-objektivierbaren Argumentation die Darmstädter Tafel als das Original erweisen, die
Dresdner, insbesondere von Künstlern und Liebhabern
hoch geschätzte Fassung dagegen als eine lange nach
Holbeins Lebzeiten entstandene Kopie. Später stellte
sich heraus, das letztere um 1635 in Den Haag von Bartholomäus Sarburgh (um 1590 – nach 1637) im Auftrag
des Malers Michel LeBlon, dem Besitzer des Originals,
ausgeführt worden war. Dies geschah offenbar in betrügerischer Absicht, denn LeBlon verkaufte anschließend
beide Fassungen des schon seinerzeit begehrten Gemäldes
als Werke Holbeins.3
Aus ungefähr derselben Zeit wie diese Kopie stammen
indes auch die ältesten bekannten Schriftzeugnisse zu
Holbeins Madonna. In seinen ab 1628 verfassten „Humanae Industriae Monumenta“ („Denkmälern menschlichen Fleißes“) wusste der Basler Jurist und Kunstsammler Remigius Faesch (1595–1667) Folgendes darüber zu
berichten: „An. 163• (…) Pictor Le Blond hic à vidua et
heredibus Lucae Iselii ad S. Martinum emit tabulam ligneam trium circiter ulnarum Basiliensium tum in altitud. tum longitud. in qua adumbratus praedictus Jac.
Meierus Consul ex latere dextro una cum filiis, ex opposito uxor cum filiabus omnes ad vivum depicti ad
altare procumbentes, unde habeo exempla filii et filiae
in Belgio à Joh. Ludi pictore ex ipsa tabula depicta (…)“
– „Im Jahre 163• kaufte der Maler Le Blond hierselbst
von der Witwe und den Erben des Lucas Iselin bei St.
Martin ein Gemälde auf Holz, etwa drei Basler Ellen
hoch wie breit, auf welcher der vorgenannte Bürgermeister Jacob Meyer auf der rechten Seite [= heraldisch
rechts] mit seinen Söhnen, gegenüber seine Gattin mit
ihren Töchtern dargestellt sind. Alle nach dem Leben
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EIN M EISTERWERK , EIN R ÄTSEL
Stephan Kemperdick
gemalt und vor einem Altar kniend, woraus ich Kopien
des Sohnes und der Tochter habe, in Belgien von dem
Maler Johannes Lüdin nach dem Gemälde selbst angefertigt“.4 Faesch setzte hinzu, dass sein Großvater, gleichfalls Remigius geheißen, das Gemälde ungefähr im Jahr
1606 für einhundert Goldkronen an Lucas Iselin verkauft
habe. Dieser ältere Remigius Faesch (1541–1610) wiederum war über seine Frau in den Besitz des Werkes gekommen, denn er hatte in zweiter Ehe Rosina Irmy geheiratet, die Tochter jener Anna Meyer, die als junges
Mädchen vorn rechts auf Holbeins Madonnenbild zu
sehen ist. Rosina Irmy war zwar lediglich die Stiefgroßmutter des jüngeren Faesch, doch war dieser damit so
etwas wie ein angeheirateter Verwandter der auf dem berühmten Gemälde dargestellten Familie. Dass Faesch
sich die beiden bis heute erhaltenen, künstlerisch eher
bescheidenen Kopien5 nach den Bildnissen der angeblichen Kinder Meyers – eines immerhin seine Stiefurgroßmutter – verschafft hatte, mag durchaus mit dem
Interesse an seinen Ahnen zusammenhängen.
Holbeins Madonnentafel schlägt ihr Publikum heute
ebenso in den Bann wie vor einhundertfünfzig, vor dreihundertachtzig oder vor beinahe fünfhundert Jahren.
Sowohl die Stifter wie die heiligen Gestalten werden in
der Komposition mit seltener Unmittelbarkeit vor den
Betrachter gerückt, wobei Holbein sich souverän über
räumliche und proportionale Wahrscheinlichkeiten hinwegsetzt – dennoch kommt alles so selbstverständlich
daher, dass gewisse Unstimmigkeiten gar nicht auffallen.
Sarburgh freilich hat sie bemerkt und in seiner Kopie
verbessern wollen, was zu einer akademisch „richtigeren“,
bildlich aber weit weniger wirksamen Lösung führte. Im
Original erscheinen die Porträts der Stifter, doch auch
die idealisierten Gesichter der Jungfrau und der Knaben
äußerst lebensnah. Die unterschiedlichen Materialien –
die Pelze, die Seiden und schweren Samte, der gläsern
schimmernde Rotmarmor und der raue Teppich – sind
mit einem stupenden Verismus der Oberflächen wiedergegeben. Ein tiefes, atmosphärisches Kolorit lässt die
weißen Kleidungsstücke, die weich modellierten, in den
Tönen stark variierten Inkarnate und einzelne, kräftig
rote Akzente hervorleuchten. Alle Partien sind in der
gleichen dichten Malweise ausgeführt, die keinen Pinselstrich sehen lässt und die Farbe in feinsten Übergängen
so gleichmäßig vertreibt, dass die gesamte, beinahe ein-
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einhalb Quadratmeter große Fläche einen emailhaften
Charakter erhält.
Bei aller Begeisterung für Holbeins Kunst aber werden
sich dem interessierten Betrachter wohl nach kurzer Zeit
ähnliche Fragen aufdrängen, wie sie die Kunstwissenschaftler seit bald zweihundert Jahren beschäftigen: Wer
und was ist auf dem Bild überhaupt dargestellt, und wozu diente die Tafel? Trotz der Vielzahl an Studien und
Überlegungen ließen sich diese Fragen bis heute nicht
hinlänglich beantworten. Der Grund hierfür dürfte weniger im völligen Fehlen von zeitgenössischen Dokumenten zu dem Werk liegen als vielmehr darin, dass
Holbeins Madonna des Jakob Meyer nicht nur künstlerisch einzigartig, sondern auch ikonographisch einmalig
ist. Wir kennen nicht die Aufgabenstellung, der sich
Holbein gegenübersah, doch erkennen wir, dass er eine
glänzende Lösung für jene uns unbekannte Aufgabe gefunden hat.
Der Hauptgegenstand des Bildes freilich bereitet keine
Erklärungsschwierigkeiten: die Schutzmantelmadonna,
die die Stifter insbesondere vor Gottes Zorn schirmen
soll. Das Motiv ist so katholisch wie nur denkbar und
ein besonderes Ärgernis für Protestanten, werden damit
doch der Jungfrau eine aktive Rolle und gottähnliche
Macht zugesprochen. Jakob Meyer war denn auch ein
standfester Repräsentant der katholischen Fraktion in
Basel und blieb dem alten Glauben nach Einführung
der Reformation im Jahre 1529 treu. Schutzmantelmadonnen waren im 15. Jahrhundert in Italien, vor allem
aber in Süddeutschland geläufig, wofür die geschnitzte,
einst im Zentrum eines Schreins untergebrachte Figur
von Michel Erhart (Kat. 3) und der Holzschnitt des älteren Holbein (Kat. 2) künstlerisch hervorragende Beispiele abgeben. Anders als in diesen Darstellungen sind
jedoch die Stifter auf Holbeins Tafel ausgesprochen groß
und schon durch ihre geringe Zahl sehr prominent –
statt einer unbestimmten Menge von Schutzsuchenden,
die unter Mariens Mantel gleichsam hervorquellen, knien
hier groß gesehene Individuen. Ihre beinahe dominierende Präsenz widerspricht den im deutschsprachigen
Gebiet und letztlich auch in Italien und den Niederlanden üblichen Konventionen für Altarretabel, auf denen
die Stifter, selbst wenn sie im gleichen Maßstab gegeben
sein sollten, immer deutlich hinter den Heiligen zurückstehen. Äußerst plausibel erscheint deshalb der schon
Abb. 14. Bartholomäus Sarburgh, Kopie der MeyerMadonna, um 1635, Eichenholz, 159 x 103 cm, Dresden,
Gemäldegalerie Alte Meister
1866 von Alfred Woltmann gemachte und in jüngerer
Zeit allgemein akzeptierte Vorschlag, in der Tafel ein
Epitaph zu sehen.6 Vergleichbare Gestaltungen mit prominenten Stifterfiguren, die um die Madonna, Christus
oder auch eine Szene der Heilsgeschichte gruppiert werden, sind für deutsche und niederländische Epitaphien
und Memorialbilder geradezu typisch.7 Was dem Gemälde zu einem Epitaph fehlt, eine Inschrift mit den
Namen und Sterbedaten der zu gedenkenden Personen,
ist leicht auf einer separaten Tafel unterhalb des Bildes
vorstellbar. Dies gilt umso mehr, wenn man Christian
Müllers Rekonstruktion einer ähnlichen Anordnung um
Holbeins Toten Christus im Grabe von 1521 einbezieht,
der zufolge dieses Gemälde für das Epitaph der Familie
Amerbach bestimmt war und oberhalb einer gleich breiten steinernen Inschriftentafel im Kreuzgang des Basler
Kartäuserklosters aufgehängt werden sollte.8
Als Bestimmungsort eines Epitaphs wäre eine Kirche
anzunehmen, in oder bei der die Stifter bestattet werden
sollten. Oftmals verrät schon die Formel „Hic jacet“,
„Hier liegt begraben“, oder ähnlich am Beginn der Inschrift auf vielen Epitaphien, dass sie in nächster Nähe
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EIN M EISTERWERK , EIN R ÄTSEL
Stephan Kemperdick
Abb. 15. Hans Holbein d. J., Solothurner Madonna, 1522, Lindenholz, 144 x
105 cm, Solothurn, Kunstmuseum
des Grabes angebracht waren.9 Die Aufstellung der Madonnentafel in einer Privatkapelle an Meyers Wohnsitz,
dem Schlösschen Groß-Gundeldingen, die seit den
1940er Jahren immer wieder als unbewiesene, aber mögliche Alternative genannt wird, verliert dagegen entschieden an Wahrscheinlichkeit, wenn man von der Funktion
als Epitaph ausgeht, denn ein solches sollte per se öffentlich wirksam sein und die Aufmerksamkeit und das
Gedenken von möglichst vielen auf sich ziehen. Ohnehin
dürfte die angebliche „Kapelle“ in Groß-Gundeldingen
bereits aus einem anderen Grund ausscheiden, denn ihr
Fenster war rechts von der Stirnwand angebracht, was
der Lichtführung im Madonnenbild genau entgegengesetzt wäre.10 Als Epitaph wird die Tafel also sicherlich
für die Aufhängung in einer Kirche bestimmt gewesen
sein, wenngleich es fraglich ist, ob es je zu ihrer Installation kam, denn spätestens mit dem Bekenntnis der Stadt
zum Protestantismus im Jahr 1529 war ein so offenkun-
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dig katholisches Bild nicht mehr tragbar. Vermutlich
wurde es vor dem damals erfolgten Bildersturm von der
Familie an sich genommen, was wiederum die Voraussetzung dafür war, dass Meyers Nachkommen es erben
und weitergeben konnten.
Welche Basler Kirche Jakob Meyers Grab und damit vermutlich auch die Madonnentafel beherbergen sollte, ist
nicht dokumentiert. Anders liegt der Fall jedoch bei seiner
ersten Ehefrau, der bereits 1511 verstorbenen Magdalena
Baer, die höchstwahrscheinlich in der hinteren, weitgehend verhüllten Frau auf der Madonnentafel dargestellt
ist. Sie war in der Pfarrkirche St. Martin begraben.11 Es
dürfte also recht naheliegend sein, das Meyer St. Martin
als Familiengrablege vorgesehen hatte. Später fanden in
derselben Kirche auch seine Tochter Anna (1558) und ihr
Gatte Nikolaus Irmy (1552) ihre letzte Ruhestätte.12
Die Martinskirche, in der zahlreiche Basler Bürger ihre
Gräber hatten, dürfte somit als ursprünglicher Bestimmungsort der Madonnentafel Meyers zumindest sehr erwägenswert sein. Bereits am Karfreitag des Jahres 1528
entfernte man dort die Bilder, die von ihren Besitzern
jedoch abgeholt und in Sicherheit gebracht werden
konnten. So machte es jedenfalls der Basler Stadtschreiber Johannes Gerster mit seiner Tafel, die 1522 von
Hans Holbein gemalt worden war und heute als Solothurner Madonna bekannt ist (Abb. 15).13 Darüber hinaus gibt es eine interessante Parallele zwischen Gerster
und Meyer: Ersterer blieb nämlich ebenfalls altgläubig
und ließ sich, als er 1531 starb, in der zunächst weiterhin
katholischen Kartause von Klein-Basel bestatten.14 Möglicherweise hat es der wohl kurz zuvor verblichene Jakob
Meyer genauso gehalten.
Verfolgt man den Gedanken weiter, dass Meyers Madonna für St. Martin und damit für dieselbe Kirche bestimmt war wie Gersters Solothurner Madonna, stößt
man auf eine weitere, frappierende Übereinstimmung:
Die beiden fraglichen Madonnenbilder besitzen nicht
allein eine ähnliche Form mit eingezogenem Rundbogen,
sie sind auch so gut wie gleich groß.15 Möglicherweise
könnte dies bedeuten, dass die Bilder in irgendeinem
Verhältnis zueinander standen, etwa indem sie an ähnlichen Plätzen innerhalb der Kirche untergebracht waren,
die vielleicht durch ihre architektonischen Strukturen
diese Maße vorgaben. Falls Gersters Madonnentafel
ebenfalls ein Epitaph war, wie Bätschmann und Griener
meinen,16 hätten gleiche Dimensionen aber auch einen
Standard für eine derartige Funktion oder zumindest
eine Angleichung der einzelnen Stücke aneinander darstellen können – so entsprachen sich beispielsweise in
der Nürnberger Sebalduskirche etliche Epitaphien im
Format.17 In der Basler Martinskirche wären Epitaphien
von der Größe der beiden Madonnentafeln jedenfalls
hervorragend unterzubringen gewesen. Dort befinden
sich einige Grabnischen des späten 14. Jahrhunderts in
den Seitenschiffswänden, die sich in ungefähr einem
Meter Höhe in der Wand öffnen und in der Breite wie
in der Höhe ungefähr zwei Meter messen.18 Würde man
die Madonnentafeln dazwischen hängen – so wie jetzt
noch einige große, nach-reformatorische Epitaphien dort
angebracht sind –, würden sie bei gleicher Höhe der
Unterkante mit Rahmen gute 1,8 Meter aufragen und
damit annähernd die Höhe der Spitzbogen der Grabnischen erreichen; selbst unter den in ca. 3,5 Meter ansetzenden Seitenschiffsfenstern ließen sich die Tafeln noch
gut platzieren.
Die runden oberen Abschlüsse beider Madonnentafeln
unterscheiden sich indes in ihrer Breite und sind auch
motivisch verschiedenartig ausgedeutet. Auf der „Solothurner“ Tafel stellt der Rundbogen die Öffnung eines
tonnengewölbten Bauwerks dar, während die Muschelnische hinter der Meyer’schen Madonna mitsamt der
halbrunden rückwärtigen Wand und den mächtigen seitlichen Konsolen kein Gebäude, sondern, wie Max Imdahl
erkannt hat,19 eine Art Möbel konstituiert, einen frei stehenden Baldachin, der, so Imdahl, zu einem Thronsitz gehört
haben müsse, mit dem sich schließlich auch der über die
vorderen Stufen gebreitete Teppich einzig sinnvoll in Verbindung bringen ließe. Gezeigt wäre demnach die Muttergottes als gekrönte Himmelskönigin, die sich von ihrem
Thron erhoben hat, um an die Stifter heranzutreten und
sie unter ihren schützenden Mantel zu nehmen. Das erscheint plausibel, zumal es auch eine Rechtfertigung für
die so ausgesprochen bildwirksame Teppichfalte zu Füßen
der Jungfrau böte, denn diese wäre als Hinweis auf die
stattgefundene Bewegung Mariens zu begreifen.
Über die Entstehungsumstände des Gemäldes fehlen sämtliche Schriftquellen. Dass dessen heutiges Aussehen nicht
mühelos und in einem Zuge zustande kam, wurde bereits
von den Kunsthistorikern im Holbein-Streit erkannt. Bei
dem rechts vorn knienden Mädchen lässt sich selbst mit
bloßem Auge erkennen, dass ihr zunächst langes, offenes
Haar erst im Zuge einer Umarbeitung unter einem Häubchen, dem „Schapel“, verschwand (Abb. 17). Technische
Untersuchungen haben seither eine höchst komplexe Entstehungsgeschichte erkennbar gemacht, deren Auflösung
in eine sinnvolle Abfolge indes schwierig bleibt. Auf den
ersten, gegen 1950 gefertigten Röntgenaufnahmen der
Tafel zeigten sich bei allen drei Frauen rechts (Abb. 16)
gravierende Veränderungen im Malprozess, die zunächst
dahingehend interpretiert wurden, dass die hintere Frau –
mutmaßlich Magdalena Baer, die 1511 verstorbene erste
Gattin Meyers – dem Bild nachträglich hinzugefügt worden sei und dieser Eingriff wiederum die Umgestaltung
auch der zweiten Frau notwendig gemacht habe.20 Die
Identitäten dieser Dame und des jungen Mädchens vor
ihr gehören zu den wenigen gesicherten Fakten um das
Gemälde: Es handelt sich um Meyers zweite Gattin Dorothea Kannengießer (um 1490–um 1549) und die gemeinsame Tochter Anna (um 1513/15–1558); beider Züge sowie das Antlitz von Jakob Meyer (1482–1530/31)
selbst sind in drei großen, von Holbein nach der Natur
gefertigten Zeichnungen festgehalten,21 die bei der Ausführung des Gemäldes benutzt wurden (Abb. 19, 20).
Mit der Auswertung der Röntgenbefunde hat sich die
Vorstellung von einer Entstehung des Werkes in zwei
distinkten Phasen etabliert, sogar von einer ersten und
einer zweiten Fassung des Bildes. Dieses Modell gilt im
Prinzip bis heute, wenngleich Stephanie Buck anhand
derselben Röntgenaufnahmen erkannt hat, dass auch die
hintere Frau bereits frühzeitig in Farbe angelegt war.22
Jochen Sander konnte dann vor einigen Jahren die Werkgenese weiter enthüllen, die sich dabei als erheblich
komplizierter erwies, als zuvor angenommen.23 In der
Unterzeichnung der Tafel, die in Sanders Infrarotreflektogrammen (Abb. 18) gut sichtbar wird, ist die hintere
Frau tatsächlich von Anfang an vorgesehen, doch wurden
alle drei Frauen sowohl in der Unterzeichnung als auch
in der Malerei mehrmals abgeändert. Dies gilt vor allem
für die Büste der Dorothea Kannengießer, deren Haltung
und Kostüm in den verschiedenen Bildschichten markant variieren. Sander konnte zudem die erstaunliche
Feststellung machen, dass die drei erhaltenen Porträtzeichnungen der Eltern und der Tochter (Abb. 19, 20)
nicht etwa am Beginn der Arbeit standen, sondern dass
sie während der Überarbeitung des Gemäldes angefertigt
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KAT. 9
Hans Holbein der Ältere
MADONNA MIT DEM SCHLAFENDEN
CHRISTUSKIND (MADONNA AUF DEM ALTAN),
UM 1520
Lindenholz, 74,1 x 56,2 cm
Gemäldegalerie SMB, Kat. Nr. 91.2
Provenienz: Kunsthandel; Slg. Böhler, München; 1991 von
den Staatlichen Museen zu Berlin erworben
Literatur: Glaser 1924, S. 333–335 – Lieb/Stange 1960,
S. 28, S. 70, Nr. 37 – Köhler 1992 – Rasch 1999
Auf einer Bank sitzt die Muttergottes in einem modischen
blauen Gewand, über der Taille gegürtet und mit hermelinbesetzten Ärmeln, das nackte, halb schlafende Christuskind an ihre enthüllte Brust gelegt. Auf einer Mantelfalte
über ihrem Schoß deuten sich in goldenen Lettern die Anfangsverse des Regina coeli, des Lobes der Himmelskönigin,
an. Drei Putten tragen an goldenen Ringen einen mit
Goldfäden durchwirkten und mit Blumenmustern verzierten graublauen Vorhang, der Maria wie eine prächtige
Thronlehne hinterfängt. Die spielerische Natur dieser antikischen Kindlein, an die sich auch die Erscheinung des
Christuskindes anlehnt, zeigt der Maler mit dem linken
Putto, dem soeben ein Ring aus der Hand gerutscht ist, so
dass man meint, im nächsten Moment müsse das prachtvolle Arrangement in sich zusammenfallen.
Dahinter zeigt der Maler eine weite Ebene mit verfugtem
Steinplattenbelag, die durch zwei bildparallele Balustraden
gegliedert wird, die unterschiedlich tief im Raum verlaufen. Dazwischen tragen zwei mit Vasen und Blattmotiven
ornamentierte Pfeiler einen angeschnittenen Architrav,
der wohl zum ursprünglichen Rahmen des Bildes vermitteln sollte. Unvermittelt bricht der Boden kurz hinter der
letzten Balustrade ab und trifft auf den blauen Fond, der
hier eine überirdische Sphäre meint.
Mit Blick auf die vor allem in Venedig seit dem 14. Jahrhundert verbreiteten Darstellungen der betenden Muttergottes vor dem schlafenden Christuskind als Ankündigung der Beweinung unter dem Kreuz wurde auch das
Berliner Bild gern als vorausweisendes Sinnbild für den
Opfertod Christi gedeutet.1 Das Regina coeli allerdings
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gemahnt nicht an die Kreuzigung, sondern an die Auferstehung Christi, und in Kombination mit dem Motiv
der Maria lactans, der milchspendenden Madonna, wird
das zeitlose Bild Mariens als himmlische Gottesmutter
und Fürbitterin zum zentralen Thema der Darstellung.
Dazu passt auch die Lilienvase neben Maria, während es
sich bei den etwas wild auf der anderen Seite ausgebreiteten weißen Blumen um eine spätere Übermalung handelt. Auch das Wappen in der linken Ecke wurde nachträglich, wohl im späten 16. Jahrhundert, hinzugefügt.2
Holbeins Madonna ist eines der frühesten Beispiele dieser Ikonographie in Süddeutschland, mit der sich einige
Jahre später auch Hans Baldung Grien und Lucas Cranach auseinandergesetzt haben.3
Das Andachtsbild gehört in die letzte Schaffensphase Hans
Holbeins des Älteren, der zwar bis zu seinem Tod im
Jahre 1524 an verschiedenen Orten tätig war, so in Isenheim und wohl auch in der Schweiz, sein Haus in Augsburg aber behielt.4 Wie auch der Lebensbrunnen in Lissabon von 1519 (Abb. 12) ist die Madonnentafel ein bemerkenswertes Zeugnis von Holbeins Auseinandersetzung
mit den neuen Renaissance-Dekorformen aus Italien, wie
sie Hans Burgkmair oder die Bildhauer Sebastian Loscher
und Hans Daucher im frühen 16. Jahrhundert in Augsburg bekannt machten.5 Sicherlich wird Holbein der Ältere die Balustrade aus rotbunten Marmorsäulen über der
Epitaphienwand in der Fuggerkapelle in Sankt Annen in
Augsburg gekannt haben, die zwischen 1509 und 1521
im Auftrag von Jakob Fugger und seinen Brüdern errichtet
wurde.6 Auch Holbein der Jüngere hat sich in seinen frühesten Basler Arbeiten mit der Darstellung von Kuppeln
und Säulenordnungen vor leuchtend blauen Gründen beschäftigt, wobei das künstlerische Interesse nicht in der
Wiederholung eines realen Baus, sondern der Kombination von modernen Architekturkonzepten, wie der Balustrade oder Pfeilern mit Kandelaberdekor, und verschiedenen Blickpunkten liegt.7
83
Abb. 9-1. Infrarotreflektogramm, Detail: Kopf des
Christuskindes (Aufnahme Christoph Schmidt)
Bemerkenswert ist die Art, wie Holbein dieses komplexe
Bild der Himmelskönigin angelegt hat. Mit einem schwarzen Stift hat er alle Teile der Komposition nicht nur umrissen, sondern auch durch intensive Schraffuren modelliert, die an das dichte Liniennetzwerk seiner Porträtstudien denken lassen. Danach hat er in einem flüssigen Medium nur die wichtigsten dieser Konturen verstärkt (Abb.
9-1).8 Auf den ersten Blick wirkt es, als sei die ganz erstaunliche Abfolge von Bodenfluchten und Durchblicken
durch die Säulenbalustraden perspektivisch exakt konstruiert. Tatsächlich aber ist sie nicht streng zentralperspektivisch angelegt: Die Fugen der Bodenplatten und
andere Hauptlinien fluchten nicht in einem gemeinsamen
Punkt. In der Unterzeichnung wirken die Konturen der
Architektur an vielen Stellen eher unregelmäßig. Einen
wichtigen Hinweis auf die Entstehung dieses ungewöhnlichen Bildes liefert ein Raster von Markierungen, das offenbar dazu diente, die Komposition von einer Vorzeichnung auf die Tafel zu übertragen (Abb. 9-2). Dieses Punktraster bezieht sich weder allein auf die Hauptlinien der
Architektur noch auf die Konturen der Maria mit Kind
oder der Putten, so dass man annehmen kann, dass Holbein die gesamte Komposition nach einer Vorlage, vermutlich einer kleineren Zeichnung, übertragen hat.
CS
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6
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Köhler 1992, S. 335f. Zur venezianischen Ikonographie des schlafenden
Christuskindes als Ankündigung des Opfertodes Christi, die in den Werken von Giovanni Bellini einen Höhepunkt erreicht, siehe Firestone 1942.
Eine Silberstiftzeichnung Hans Holbeins d. Ä. mit einem an der Brust
Mariens eingeschlafenen Christuskind ist in Basel erhalten, aber keine
Vorstudie zu dem Berliner Bild: Kupferstichkabinett, Inv. 1662.204:
Lieb/Stange 1962, Kat. 82.
Bei dem Wappen, das einen nach links steigenden Eber auf Gold zeigt, handelt es sich um jenes der bayerischen Familie Schweinbeck: Rasch 1999, S. 7.
Rasch 1999, S. 29–33. Etwa zeitgleich wurde die Milch spendende Maria
mit dem schlafenden Christuskind auch in den Werkstätten von Joos
van Cleve und Quentin Massys variiert, dort war es aber vor allem das
kleine Halbfigurenbild, das in zahlreichen Kopien des frühen 16. Jahrhunderts Verbreitung fand.
Rasch 1999, S. 2.
Ausführlich dazu Bushart 1977, der die im Lissaboner Lebensbrunnen auftauchenden Wappen als jene der Augsburger Familien Königsberger und
Arzt identifizierte. Die möglichen Auftraggeber seien demnach Georg
Königsberger und Regina Arzt, die am 8.2.1507 heirateten: ebd., S. 59f.
Allgemein dazu: Bushart 1994.
So der Architekturfond im Doppelbildnis des Jakob Meyer zum Hasen
und seiner Frau Dorothea Kannengießer (Basel, Kunstmuseum, Inv. 312)
oder im Diptychon mit Christus im Elend und Maria (Basel, Kunstmuseum, Inv. 317): zuletzt Ausst. Kat. Basel 2006, Nrn. 25, 51; sehr einleuchtend hat zuletzt Müller in Ausst. Kat. Basel 2006, S. 239f., mit Bramantes
phantastischen Architekturen verglichen.
Diese Art der Kombination wurde auch in den Tafeln der Grauen Passion
(Staatsgalerie Stuttgart) beobachtet: Dietz/Autzen/Baumer u.a. 2011,
S. 91–92. Nur eine größere Veränderung lässt sich im Berliner Bild beobachten: die Position der linken Hand Mariens, die nach dem Ärmchen
des Christuskindes fasst.
Abb. 9-2. Infrarotreflektogramm, Markierungen des Raster rot hervorgehoben (Aufnahme Christoph Schmidt)
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KAT. 10
Hans Holbein der Ältere
KOPF EINES AUFBLICKENDEN BARTLOSEN MANNES
MIT MÜTZE, UM 1510
Silberstift und Bleigriffel, Pinsel in Grau, Lichter teils in die
Grundierung gekratzt, teils mit dem Pinsel weiß gehöht, Inkarnat mit rotem Stift (Rötel) koloriert auf beidseitig grauweiß grundiertem Papier, 13,9 x 10,1 cm
Beschriftung mit Graphit: u.r. „95“ (alte Skizzenbuchzählung)
Kupferstichkabinett SMB, KdZ 2568
Provenienz: Slg. von Nagler (Lugt 2529)
Literatur: Woltmann 1874/76, Bd. 2, S. 77, Nr. 168 – Glaser
1908, S. 204, Nr. 189 – Friedländer-Bock 1921, S. 52 –
Lieb/Stange 1960, S. 102, Kat. 233 – Ausst. Kat. Basel/Berlin
1997, S. 82f., Kat. 8.13 – Ausst. Kat. Washington 1999,
S. 100f., Kat. 36 – Krause 2002, S. 233 – Ausst. Kat.
Wien/München 2011/12, S. 116, Kat. 103
Für die sorgsam ausgeführte Studie eines aufwärtsblickenden
Jünglings wurde eine geplante Verwendung als Assistenzfigur
oder gar als Johannes unter dem Kreuz Christi in einem
Gemälde erwogen. Ungeachtet einer solchen denkbaren
thematischen Widmung der Bildnisstudie wurde das Konterfei direkt und erstaunlich treffsicher mit dem Silberstift
aufgenommen. Die Erfassung der gespannten Physiognomie
und die Schilderung der unterschiedlichen Texturen, Lichtwerte und Farbtöne in Gesicht und Gewand stehen hier
ganz offensichtlich im Vordergrund des zeichnerischen Interesses. Auch kleine Details, wie etwa die geflochtene
Hemdborte mit kurzen Fransen am Halsausschnitt, werden
sorgsam skizziert.
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Die Metallstiftlinie gräbt sich in die Grundierungsschicht
ein und hinterlässt einen feinen, zarten Strich, der im
Rahmen der fortschreitenden Korrosion des abgeriebenen Metalls an Intensität gewinnt. Breitere Metallstiftstriche erreichen einen geringeren Deckungsgrad und
wirken bisweilen wie transparente Linien einer Pinsellavierung. Zurückhaltende Ergänzungen der Stiftlinien
durch partiellen Rötelauftrag an den Wangen sowie in
der Augen-, Nasen- und Mundregion erwecken den Eindruck eines zwar fahlen, gleichwohl aber natürlichen
Hauttons. Der ebenfalls sehr maßvolle Einsatz von Deckweiß zur Markierung hellster Gesichtspartien verleiht
dem Inkarnat zusätzlichen Glanz und den Augen wohlgesetzte Reflexpunkte. Hinzu tritt ein sehr überlegter
Einsatz von Tuschfeder und Pinsel. Besonders wichtige
Konturen und markante Gesichtsdetails, wie die Iris
oder die Lidkanten und wenige Brauenhärchen sowie
die Tiefen der Nasenlöcher und die innere Lippenlinie,
werden verstärkend markiert. Auch die tiefen Schatten
am Hutansatz auf der Stirn akzentuiert eine Tuschelinie.
Dieses hier besonders gelungene Zusammenspiel der
grundlegenden Silberstiftzeichnung mit einer sorgsamen
Überarbeitung mit anderen Zeichenmitteln spricht für
die Eigenhändigkeit auch der Weiterbearbeitungen mit
dem Pinsel.
MR
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