LESE- PROBE Leseprobe

Tanja Rudtke
Kulinarische Lektüren
Lettre
Tanja Rudtke ist Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Heinrich Heine, Holocaustliteratur, Literatur und Geologie sowie Gegenwartsliteratur und -kultur.
TANJA RUDTKE
Kulinarische Lektüren
Vom Essen und Trinken in der Literatur
[ transcript]
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Lektorat & Satz: Varun F. Ort
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ISBN 978-3-8376-2374-1
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Inhalt
Einleitung
I7
Mangel und Überfluss: Märchen der Brüder GrimmDas Schlaraffenlandmotiv: E. T.A. Hoffmann: »Nußknacker und
Mausekönig«, Gottfried Keller: »Spiegel, das Kätzchen<(, Walter
Moers: »Der Schrecksenmeisten( 113
Barocke Schauessen: Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj,
Siegmund von BirkenBürgerliche Feste: Jean Paul: >>Siebenkäs((, Johann Heinrich
Voß: »Luise« I 37
Punsch und Poesie: E. T.A. Hoffmann: "Der goldene Topf((Regionalküche und Nationalspeisen : Heinrich Heine: "Aus den
Memoiren des Herren von Schnabelewopskhl, "Deutschland. Ein
Wintermärchen« I 59
Tafelkultur und Tischgespräch: Theodor Fontane: "Jenny
Treibe/ll, "Effi Briest(( Gottfried Kellers Gasthäuser: "Kleider machen Leute((, "Romeo
und Julia auf dem Dorfe(( I 81
Essen und bürgerliche Dekadenz: Thomas Mann:
"BuddenbrookSll, >>Der Zauberberg(( 1 I 05
Abendmahl, Opfermahl und Jüdische Küche: Thomas Mann:
>>Der Zauberbergl(, Heinrich Heine: >> Vitzliputzlill, >>Disputation((,
"Der Rabbi von Bacherach(( 1 127
Hunger, Ekel und Appetit: Franz Kafka: >>Die Verwandlung((,
>>Der Hungerkünstlen(Familien bei Tisch: Franz Kafka: >>Brief an den Vater((, E. T.A.
Hoffmann: >>Der Sandmann«, Christoph Meckel: >>Suchbild.
Meine Mutter« I !51
Essen und soziales Milieu, männliches und weibliches
Essverhalten: Alfred Döblin: >>Berlin AlexanderplatZll, lrmgard
Keun: >>Das kunstseidene Mädchen((, Hans Fallada: >>Kleiner
Mann- was nun?(( I 175
Alltagsessen, Einverleibung und Ausscheidung: Günter Grass:
»Die Blechtrommeh(, »Der Butt((, »Das Treffen in Telgte(( I 199
Essstörungen: Ludwig Fels: »Ein Unding der Liebe((, Karen
Duve: '>Dies ist kein Liebeslied(( I 221
Kochen als Kunst, Heimatküche und fremde Speisen, Essen und
Erotik: Tania Blixen: »Babettes Fest((, Monique Truong: »Das
Buch vom Salz((, Martin Suter: »Der Koch« I 237
Essen und Ethik: Jonathan Safran Foer: I> Tiere essen«, Karen
Duve: '>Anständig essem( I 255
Bibliographie I 267
Einleitung
»Das Vergnügen der Tafel gehört jedem Alter, jedem Stande, jedem Lande und
jeder Zeit an. Es verträgt sich mit allen anderen Genüssen und bleibt bis ans Ende, um uns über deren Verlust zu trösten.« 1 Die Erkenntnis des französischen
Gastrosophen Brillat-Savarin beschreibt die Allgegenwart des Themas Essen für
den Menschen. Dieses Grundbedürfnis hat aber noch wesentlich mehr Eigenschaften:
Essen war inuner [ ... ]eine besondere Lust- und Leidquelle menschlicher Existenz, bedeutete Genuß und erregte Ekel, förderte Gemeinschaft und Individuation, stiftete Krieg und
Frieden, war Zeichen der Liebe und des Hasses, spiegelte Armut und materiellen Wohlstand, diente als Integral des Alltags und des Festtags, fungierte als Herrschaftsinstrument
und Sozialisationsmittel, Medium und Experimentierfeld sinnlicher, sozialer und ästhetischer Erfahrungen und Sehnsüchte. Nicht zuletzt war das Essen immer auch ein Mittel der
Erkenntnis ... 2
Diese Übersicht betont außer der gesellschaftlichen Komponente, die auch Brillat-Savarin erwähnt, die starke Verbindung des Essens mit Emotionen und Ereignissen unterschiedlichster Art. Hatte der Franzose auf das Verbindende der
Nahrungsaufnahme abgezielt, wird hier auf ihre Funktionen und die damit einhergehende Möglichkeit der Differenzierung und der besonderen Zuordnung von
Essen hingewiesen. Es kann Indikator für ein bestimmtes Alter des Menschen
sein und ihn als Individuum charakterisieren, die Zugehörigkeit zu einer sozialen
Schicht herausstellen und Nationalitäten kennzeichnen. Geht es Brillat-Savarin
in seiner Gastrosophie vor allem um ästhetische Aspekte, eine Art Esskultur, die
Jean Anthelme Brillat-Savarin: Physiologie des Geschmacks, Frankfurt a. M./Leipzig
1998, S. 15.
2
Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hrsg): Handbuch Interkulturelle Germanistik, Stuttgart2003, S.171.
8 I KULINARISCHE LEKTÜREN
Vielfalt und Verfeinerung von Genüssen, den Umgang damit und die Teilhabe
daran, schließen diese Gesichtspunkte auch die Kehrseite ein: Abneigung, Mangel, Tabu, Exklusion. Mahlzeiten sind außerdem ein wichtiger Faktor in der
Wahrnehmung von Zeit: ob als singuläres Ereignis oder im alltäglichen Leben
als ein zu festgelegten Zeiten wiederkehrendes Ritual. Essen kann aus historischer Perspektive betrachtet werden oder als persönliche Erinnerung fungieren.
Da verwundert es nicht, dass Essen und Trinken auch in die Literatur auf
ebenso vielfältige Weise Eingang gefunden haben. Die einzelnen Kapitel des
vorliegenden Bandes rücken jeweils bestimmte Aspekte des Themas in den Mittelpunkt, dazu werden ausgewählte Texte interpretiert und teilweise kulturgeschichtlich kommentiert. In diesen kulinarischen Lektüren wird gefragt: Welche
Nahrungsmittel, welche Speisen werden aufgetischt, inwieweit spielt ihre Beschaffung und Zubereitung eine Rolle, in welchem Zusammenhang erscheinen
sie und welcher Symbolgehalt wird ihnen zugesprochen? Welche Funktionen hat
das Thema, das Motiv innerhalb eines Textes, wie spiegelt sich darin auch der
epochengeschichtliche Kontext wider? Dabei lassen sich Parallelen herstellen zu
anderen Texten, Nahrungsaufnahme erscheint zudem als Diskurs, in dem das
Verhältnis von Körper und Geist durch wechselnde Einflussfaktoren fortwährend neu bestimmt wird.
Den Anfang macht das Thema Essen und Trinken im Märchen, da sich in
diesem Genre Grundmuster und -konstellationen menschlicher Existenz finden,
wie die Dichotomie von Mangel und Überfluss, die in der Literatur in abgewandelter Form wieder aufgenommen werden, dazu gehört beispielsweise das Schlaraffenlandmotiv als Utopie des Überflusses. Neben drei Grimm' schen Märchen
werden auch drei Kunstmärchen daraufhin gelesen, ausgewählt wurden: E.T.A.
Hoffmanns »Nußknacker und Mausekönig«, Gottfried Kellers »Spiegel, das
Kätzchen« und Walter Moers' »Der Schrecksenmeister«.
Schlaraffische Fülle bzw. Völlerei setzt sich im nächsten Kapitel fort, hier
geht es um barocke Schauessen innerhalb einer höfischen Festkultur und deren
Beschreibung, die selbst als Teil des Festes fungieren kann. Vom aufwendigen
Entwurf bis zum teilweise versifizierten Lobpreis ist die barocke Tafel immer
Teil eines Gesamtkunstwerkes.
Als hum01istische Reminiszenz auf barocke Schauessen lässt sich das Hochzeitsessen in Jean Pauls »Siebenkäs« lesen, das mit weit ausholender Geste beschrieben wird und doch recht kärglich ausfällt, ein »Schmaus-Luxus«, der mit
einer »kurfürstlich-sächsischen« Festtafel verglichen wird.
In der Hexameterdichtung »Luise« schildert Johann Heinrich Voß im Zuge
der Aufklärung bzw. Empfindsamkeit ein opulentes Picknick im Grünen, einer
ländlichen Idylle. Dieses Festmahl versteht sich vor allem als Gegenentwurf zum
EIN LE ITU NG
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höfischen, das in seiner Inszenierung ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein
offenbart, von einer Fokussierung auf Gegenstände des Alltags bis hin zu moralischen Werten und sittlichen Prinzipien.
Punsch und Poesie: ln E.T.A. Hoffmanns Märchen vom »Goldenen Topf«
nimmt der Alkohol eine zentrale Rolle ein, feurige Getränke eröffnen den Zugang zur poetischen Welt, während der biedere Bierrausch der Philister nur
Kopfschmerzen verursacht.
Heinrich Reine hat sehr viel vom Essen und Trinken in sein Werk einfließen
lassen, er bedient dabei auch nationale Stereotypen, singt ein Loblied auf Frankreichs Küche und hadert mit der deutschen »Sauerkrautsippschaft«.
Durch eine ausgeprägte Tafelkultur und vor allem das Tischgespräch präsentiert sich die bürgerliche Gesellschaft, werden die sozialen Kontexte und politischen Positionen offen gelegt. Theodor Fontane bedient sich des Dialogs als eines seiner wichtigsten erzählerischen Mittel: Er nutzt die ausführliche Darstellung der Gespräche bei geselligen Mahlzeiten, um Personen zu charakterisieren,
den Verlauf der Handlung anzudeuten und polyphone Sttukturen zu etablieren.
Gasthäuser sind in Gottfried Kellers Novellen stark semantisierte Räume
(»Romeo und Julia auf dem Dorfe«, »Kleider machen Leute«). Sie dienen als
Kulminationspunkt sozialer Gemeinschaft und spiegeln die Stellung des Einzelnen darin wider. Die im Wirtshaus eingenommenen Mahlzeiten zeigen bei Keller
überdies als sinnlich erfahrbares Zeichen den Wunsch nach Integration und
Selbstvergewissetung, zudem den direkten Einfluss des Materiellen auf Geist
und Psyche.
Dekadenz und Krankheit: ln Thomas Manns »Buddenbrooks« und dem
»Zauberberg« wird das Bürgertum auf den Prüfstand gestellt: bürgerlichkaufmännische Traditionen, die in der Auflösung begriffen sind. Überreichliches
Essen verbindet sich da schon mit dem Pathologischen, gerät ins Abgründige,
rückt in Todesnähe. Das gilt vor allem für den »Zauberberg«. Hier nehmen die
Kranken ebenfalls in schlaraffischem Ausmaß Speisen zu sich, dieser Konsum
kontrastiert mit dem drohenden körperlichen Verfall und ist Teil einer Lebensmaxime.
Abendmahl, Opfermahl und Jüdische Küche: Bei Thomas Mann und Heinrich Reine wird das Abendmahl imitiert und parodiert, kannibalische Aspekte
fließen mit ein und werden zur Religionskritik verwendet. Heine beschäftigt sich
außerdem in sinnenfreudiger Weise mit jüdischer Küche und stellt sie als Ausdtuck einer sensualistischen Position dem freudlosen Spiritualismus gegenüber.
Hunger, Ekel und Appetit: Franz Kafka zeigt in seinen Erzählungen verstärkt
die Kehrseiten der Nahrungsaufnahme bzw. ihre Verweigerung. Gregor Samsas
Verwandlung in ein »ungeheures Ungeziefer« zieht auch eine Änderung seines
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Geschmacks nach sich, hier wird das Essmotiv außerdem an soziale Aspekte gekoppelt. Gregor verhungert, weil ihm die Speise nicht geboten wird, auf die er
Appetit hat, ebenso wie der Hungerkünstler, der mit seiner Kunst eine ganze
Reihe von Paradoxien durchexerziert.
Unter dem Aspekt Familien bei Tisch sollen drei Beispiele aus unterschiedlichen Jahrhunderten beleuchtet werden: E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Der
Sandmann«, Franz Kafkas »Brief an den Vater« und Christoph Meckels Porträt
»Suchbild. Meine Mutter«. Alle drei beinhalten ebenfalls das Motiv des Ekels,
resultierend aus verschiedenen familiären Zuständen und Zwängen, die sich aus
der Eltern-Kind-Beziehung ergeben.
Nahrungsaufnahme und soziales Milieu: In den Romanen der 1930er Jahre
stehen Typen im Mittelpunkt, die ein bestimmtes soziales Umfeld repräsentieren.
Es sind Antihelden wie der ehemalige Gefängnisinsasse Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« oder der Angestellte Pinneberg in
Hans Falladas Roman »Kleiner Mann- was nun?«. Zum Leben in der Großstadt
gehört der Besuch von Speisegaststätten, der Küchenalltag der kleinen Leute,
auch der Mangel an Essen, der durch Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen sozialen Abstieg verursacht wird. Hier wird das Stereotyp vom männlichen
und weiblichen Essen erkennbar: Doris, das einfache Mädchen, das »ein Glanz
werden will«, aus Irmgard Keuns Roman »Das kunstseidene Mädchen« legt
dementsprechend ein ganz anderes Essverhalten an den Tag als beispielsweise
Franz Biberkopf, auch wenn sie sich durchaus in den Aschirrger-Restaurants begegnen könnten, da beide in der Großstadtmetropole Berlin auf der Suche nach
Auskommen und Aufstieg unterwegs sind.
Günter Grass ist einer der Autoren, dessen Texte stark in der Sphäre des Materiell-Leiblichen angesiedelt sind, besonders im Roman »Der Butt«, in dem
nicht nur Kochen und Essen immer wiederkehrende, durch alle Zeiten bestehende Tätigkeiten des Alltags sind, sondern auch der Verdauung große Aufmerksamkeit zuteil wird. Grass' literarischer Küchenzettel besteht aus spezieller Kost,
die teilweise als Arme-Leute-Essen gilt. Fleisch, insbesondere Innereien, Fisch,
Suppen, Hirsebrei sind darin alimentäre Konstanten. In ihre Darstellung mischt
sich oft der Ekel, aber zuweilen eine starke Sinnlichkeit, nicht zuletzt, wenn sie
mit Sexualität verbunden ist, wobei auch hier die Grenzen fließend sind.
Mit Ludwig Fels' »Ein Unding der Liebe« und Karen Duves »Dies ist kein
Liebeslied« liegen exemplarisch zwei Texte für Essstörungen in der Gegenwart
vor: der eine Fresssucht, der andere Magersucht und Bulimie behandelnd. Nicht
von ungefähr wird im Titel jeweils die Liebe negiert, denn hier ist die Essstörung
vor allem mit der Sehnsucht nach Liebe und ihrer Nichterfüllung in Beziehung
gesetzt. Das Gefühl nicht zu genügen, nicht attraktiv genug zu sein, geht sowohl
EINLEITU NG
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bei der männlichen als auch der weiblichen Hauptfigur mit einer umfassenden
Lebensangst und -enttäuschung einher. Georg Bleistein wird solange herausgefüttert, bis er Essen als Lebenszweck verinnerlicht hat, Anne Strelau beschließt
dagegen immer wieder vergebens: »Schöner zu werden, also weniger«.
Kochen als Kunst: Das Zubereiten von Speisen erhält in neueren Texten wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Eine der bekanntesten kulinarischen Erzählungen handelt von Babette, der französischen Spitzenköchin aus Paris, die es nach
Norwegen verschlägt und die die Bier und Stockfisch-Gemeinde mit einem
Feinschmeckermenü erster Güte verwöhnt, ohne dass sie es recht merken, aber
durch dessen Genuss sie wundersam verwandelt werden (Tania Blixen: »Babettes Fest«).
Zwei Texte aus der jüngeren Gegenwart thematisieren ebenfalls das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Koch- und Esskulturen, in Monique Truongs Roman »Das Buch vom Salz« kocht der Vietnamese Binh für das Paar Gertrude
Stein und Alice B. Toklas in Paris, die französische und die vietnamesische
Kochkunst werden u.a. im kolonialen Kontext beleuchtet. - In Martin Suters
Roman »Der Koch« kreiert Maravan, ein vor dem Bürgerkrieg geflohener Koch
aus Sri Lanka, aphrodisierende Molekular-Menüs für Schweizer Geschäftsleute.
Neben den kulturellen Unterschieden werden auch Verflechtungen von Politik
und Wirtschaft offenbar. Besonderes Augenmerk liegt außerdem bei beiden auf
der Darstellung des Kochens und der spezifischen Wirkung der Gerichte.
Den Abschluss bilden zwei Publikationen, die von Schriftstellern stammen,
die beide ihr erstes Sachbuch dem Thema Essen widmeten. Dem amerikanischen
Autor Jonathan Safran Foer (»Tiere essen«) geht es um vegetarische Ernährung;
der deutschen Autorin Karen Duve darum, »anständig« zu essen. Der Frage nach
einer Ethik des Essens wächst zunehmend Bedeutung zu. Damit werden eine
Vielzahl von Problemstellungen erörteii: Nahrungsüberschuss auf der einen und
Hunger auf der anderen Seite: Essen auf Kosten anderer Menschen, Massentierhaltung als Bestandteil der Nahrungsmittelindustrie. Die Politisierung von Nahrung, bedingt durch die Art ihrer Herstellung und ihres Vertriebs unter dem
Blickwinkel der Gewinnmaximierung und deren globale Folgen sind nur einige
der Themen, die es dabei zu verhandeln gilt. Sowie »das Vergnügen der Tafel«
nach Brillat-Savarin jedem offen steht, sollte j eder einzelne im Rahmen seiner
Möglichkeiten auch über ethische Aspekte des Essens reflektieren, die Autoren
dieser Bücher haben dies exemplarisch vorgeführt.
Der Konzeption dieses Buches liegt eine Vorlesung zugrunde, gehalten an der
Universität Erlangen-Nürnberg im Wintersemester 2012/13.
12 I KULINARISCHE LEKTÜREN
Über viele der behandelten Texte könnte wesentlich intensiver und ausgreifender gesprochen werden, doch soll ein kulinarischer Gang durch die Literaturgeschichte unternommen werden (vom barocken Schauessen bis zur Molekularküche der Gegenwart), was eine Beschränkung in mehrfacher Hinsicht, u.a. auch
die Auswahl der Texte betreffend, mit sich bringt. In der Zusammenschau aber
ergibt sich ein anregender Überblick über Wandel und Beständigkeit des Themas
gleichermaßen in der Literatur. 3
Der Fokus richtet sich bei den einzelnen Texten naturgemäß auf Passagen, in
denen vom Essen die Rede ist und die in irgendeiner Form Aufschluss geben
über die Rolle, die es einnimmt. Oft handelt es sich bei den kulinarischen Einlassungen zunächst um scheinbare Nebensächlichkeiten und eine motivische Einzelheit neben vielen weiteren, die einen Text mitgestalten - außer natürlich, es
ist das zentrale Thema des Buches - , daher werden diese Stellen ausführlich zitiert, um den Blick gerade auf dieses Nebensächliche zu lenken und es hervorzuheben. Auch die Eigenheit der jeweiligen literarischen Texte ist damit unmittelbar präsent und zeigt aufwelche Weise der Autor über das Essen schreibt, welche Bildlichkeit er benutzt. Die Konzentration auf diese Mikrostruktur erhellt
zugleich den dahinter liegenden kulturgeschichtlichen Kontext, aus dem sie
letztlich auch hervorgegangen ist. Gleichzeitig wird versucht, soviel Information
zum Inhalt des Ganzen mitzuteilen, wie zur Beurteilung und Einordnung der
ausgewählten Passagen nötig ist.
Zuletzt möchte ich Vamn F. Ort fur Iaitische Lektüre und praktische Unterstützung beim Layout danken.
3
Die Literaturhinweise nennen zur Vertiefung bereits existierende ausführliche Studien, etwa zu kulturgeschichtlichen Aspekten und umfassendere Darstellungen der
Essmotivik zu in dieser Hinsicht besonders ergiebigen Autoren wie beispielsweise
Thomas Mann und Heinrich Reine.
Mangel und Überfluss: Märchen der Brüder
Grimm- Das Schlaraffenlandmotiv: E. T.A.
Hoffmann: »Nußknacker und Mausekönig«,
Gottfried Keller: »Spiegel, das Kätzchen«,
Wa/ter Moers: »Der Schrecksenmeister<<
Essen und Trinken ist fester Bestandteil vieler Märchen, in manchen steht es gar
an zentraler Stelle. Das gilt für Märchen aus allen Kulturkreisen. 1
Konsultiert man die Enzyklopädie des Märchens unter dem Schlagwort Speise und Trank, werden als Obergruppen Mangel und Überfluss, übernatürliche
Wirkungen, Ess- und Trinkverbote und metaphorische Bedeutungen genannt.
Außerdem wird auf regionale Unterschiede hingewiesen. Letzteres bedeutet, in
einzelnen Texten werden teilweise regionale und lokale Essgewohnheiten berücksichtigt, die dem Erzählten einen realistischen Anstrich verleihen, wobei der
Wille zur Ausschmückung ebenfalls variiert? In vielen Märchen werden die einzelnen Aspekte miteinander kombiniert. Besonders stark ausgeprägt ist im Märchen der Mangel, der behoben werden muss, Bedürfnisse, deren Befriedigung
angestrebt wird, Wünsche, die sich erfüllen sollen. Ganz obenan steht das Streben nach Wohlstand und Reichtum, einem sorgenfreien Leben, das manifestiert
sich auch in der Möglichkeit, dass Hunger jederzeit und auf angenehme Weise
gestillt werden kann.
Dies zeigt die Sanunlung von Hans-Jörg Uther (Hrsg.): Die schönsten Marchen vom
Essen und Trinken, Kreuzlingen 2000.
2
Rolf Wilhelm Brednich u.a. (Hrsg.): Enzyklopadie des Märchens. Handwörterbuch
zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Berlin/New York 1977-2009,
Sp. 991-1002.
14 I KULINARISCHE
LEKTÜREN
Drei Volksmärchen der Brüder Grimm sollen auf ihre Essmotivik hin im
Folgenden untersucht werden. In ihrer Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen betonen die Brüder Grimm den realistischen Hintergrund vieler Märchen
und erwähnen dabei das von »Hänsel und Gretel«: »So einfach sind die meisten
Situationen, daß viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle wahrhaftigen
doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und
müssen ihre Kinder in dieser Not verstoßen [ ... ]«.3
Die Märchendefinition von Lutz Röhrich nimmt die Grimmsehe Feststellung
wieder auf und führt sie verallgemeinernd aus:
Jedes Volksmärchen ist noch irgendwie mit der Wirklichkeit verbunden. Zwar stehen realmögliche und real-unmögliche Geschehnisse unbekümmert neben- und durcheinander,
und das Kausalgesetz scheint oft genug aufgehoben zu sein, aber dennoch bestehen gewisse Kausalitäten weiter. So ist das Volksmärchen fantastisch und realistisch zugleich, und
diese Mischung macht einen wichtigen Teil seines Wesens aus. Es gibt im Märchen auch
kein isoliertes Wundergeschehen: Immer ist das Übernatürliche verknüpft mit wirklichen
Ereignissen. Es wird stets in Bezug zu einem menschlichen Helden gesehen: Könige,
Handwerker und Bauern, die Mutter, die Stiefmutter und die Geschwister - alle sind mögliche Personen der W irklichkeit.4
Dieses besondere Verhältnis von Realität und Phantastik offenbart sich auch in
der Darstellung von Speise und Trank im Märchen.
»HÄNSEL UND GRETEL«
{KHM 15)
Die von den Eltern aus tiefer Not im Wald ausgesetzten Kinder Hänsel und Gretel gelangen an ein »Häuslein, das war ganz aus Brot gebaut«, »rnit Kuchen gedeckt, und die Fenster waren von hellem Zucker«, in dem eine Hexe wohnt. 5
Von ihr ins Haus geführt bekommen sie eine gute Mahlzeit, so dass sie sich wie
im Himmel wähnen. Die Hexe selbst aber gelüstet es nach Menschenfleisch, sie
3
Jakob und Wilhelm Grimm: Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen, in: Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I,
Stuttgart 1989, S. 134-144, S. 138.
4
Lutz Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, Haltmannsweiler 2001, S. 3.
5
Grimms Märchen. Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm.
Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1 837), Heinz Rölleke
(Hrsg.), Frankfurt a. M. 1985, S. 89.