Martin Schulz Der gefesselte Riese – Europas letzte Chance ► Rezension von Philipp Fiala Ratsmitglied, Bürgermeister der Stadt Würselen, Abgeordneter und Präsident des Europäischen Parlamentes - Martin Schulz hat im Laufe seines Lebens zahlreiche politische Ämter bekleidet. In Europa und darüber hinaus ist er aber vor allem wegen seines Engagements für die Europäische Union bekannt geworden. Dieses Engagement erweitert er nun um eine mehr als 260 Seiten umfassende Skizze seiner Gedanken zur EU, die 2013 im Verlag Rowohlt Berlin erschienen ist. In Zeiten der Eurokrise, der ausufernden Jugendarbeitslosigkeit in Staaten wie Spanien oder Portugal und des Erstarkens von populistischen Euroskeptikern, ist vor allem die Meinung derer interessant, die in dem Konstrukt EU die Verantwortung tragen und entscheidende Positionen einnehmen. Was denkt ein Mensch wie Martin Schulz über „seine“ EU und die Idee Europas, die von immer mehr Seiten angegriffen wird und sich mit vielschichtigen Problemen befassen muss? Warum sieht er in der EU einen „gefesselten Riesen“, den es mit dieser letzten Chance zu entfesseln gilt? Und was bedeutet die Europäische Union überhaupt für uns Bürger? Martin Schulz - Der gefesselte Riese: Europas letzte Chance/ Verlag: Rowohlt Berlin Auf all diese Fragen weiß Martin Schulz eine Antwort, die er aber nicht ohne Kritik an den bestehenden Verhältnissen anklingen lässt. Bereits am Anfang seiner Überlegungen stellt er das Scheitern der EU als ein realistisches, aber auch verhinderbares Szenario dar, dass es nicht zu unterschätzen gilt. Der Grundtenor ist in manchen Passagen sogar recht düster: Eine immense Ablehnung des Euros durch die Deutschen, der Verlust des Selbstbewusstseins ganzer Gesellschaften und die grassierende Hoffnungslosigkeit in den von der Krise erschütterten Regionen Europas führen laut Schulz zu einem Hadern mit unserer Wirtschaft, dem Föderalismus und schließlich auch der Demokratie. Der Kritik an der EU stellt er jedoch die Errungenschaften Europas entgegen. Der von vielen Bürgern als Alltag empfundene jahrzehntelange Frieden und ein gesamteuropäischer Schutz der Freiheit konnten dementsprechend erst durch die Brüsseler Institutionen ermöglicht werden. Eine Rückblende auf Vergangenes zeigt deutlich: Noch vor 70 Jahren sah es in Europa ganz anders aus. Faschistische Diktaturen kämpften einen kräftezehrenden Krieg, der fast ganz Europa verwüstete. Der Holocaust forderte mehr als 6 Millionen Menschenleben und hinterließ einen klaffenden Riss in der Gesellschaft. Im Kalten Krieg wurde Europa zu einem Schauplatz der Konfrontationen und der Gegensätzlichkeiten. Während der Westen eine freie demokratische Grundordnung etablierte, wurden die totalitären Staaten im Osten, viele abgeschottet von der Außenwelt, von Diktatoren mit eiserner Hand regiert. Der Jugoslawienkrieg und die zahlreichen Massenmorde auf dem Balkan sind immer noch von höchster Aktualität. Jedoch konnte sich die demokratische und freiheitliche Grundordnung im Zuge eines langen Prozesses dennoch durchsetzen. Die Vielzahl von Negativbeispielen der europäischen Geschichte zeigen, dass sich in der heutigen Zeit ein Europa herangebildet hat, dessen Werte es zu verteidigen gilt. Aber um diese Werte aufrechtzuerhalten, verlangt Martin Schulz auch eine Weiterentwicklung der EU. Strukturelle und gesellschaftliche Probleme machen Brüssel für ihn zu einem „bürokratischen Monster“. So analysiert er die Defizite der EU und webt dabei seine eigene über Jahrzehnte angewachsene politische Erfahrung ein, sodass seine Abhandlung auch eine lebhafte persönliche Dimension erhält. Exemplarisch kann dabei die von Schulz selbst mitgetragene „Richtlinie zum Schutz der europäischen Gewässer und Grundwasser“ genannt werden. Bei der Verabschiedung im Europäischen Parlament waren die Texte kaum 20 Seiten lang. Nach dem Durchlaufen der nationalen Behörden hat sich der Umfang auf eine vierfache und unhandliche Größe potenziert. Als Bürgermeister der Stadt Würselen konnte er das Unverständnis der Menschen gegenüber solcher Kuriositäten vor Ort hautnah miterleben. An vielen Stellen lässt er durchschimmern, dass er durch seine Erfahrungen auf kommunaler und europäischer Ebene die Verständnislosigkeit der Bürger verstehen und gleichzeitig die positiven und negativen Seiten der EU schlüssig herausstellen kann. Der Balanceakt zwischen konstruktiver Kritik und der Herausstellung der Vorteile einer Europäischen Union gelingt ihm somit sehr anschaulich und nachvollziehbar. Es eröffnet sich dem Leser eine dynamische Ambivalenz der Argumente für und wider einer europäischen Staatengemeinschaft, wobei sich die Verteidigung der europäischen Idee wie ein roter Faden durch seine gesamte Schrift zieht. Vom Demokratiedefizit im Europäischen Parlament bis hin zum Umgang der EU mit der andauernden Finanzkrise lässt Martin Schulz kein wichtiges und kontrovers diskutiertes Problemfeld aus. Durch die Schilderung von Szenarien des Scheiterns erschließt sich dem Leser eine spekulative, aber auch in sich geschlossene These der Wichtigkeit des europäischen Bündnisses. Von der Rückkehr der D-Mark, dem Machtverlust Europas bis zu einem möglichen flächendeckenden Aufkommen des Nationalismus in Europa – Schulz' Zukunftsprognosen für ein Europa ohne EU sind alles andere als erstrebenswert. Es wird deutlich, dass nicht die EU der Grund für die Krisen ist, sondern die Lösung derselbigen und das Herausbilden eines vorwärtsgewandten Europas in der Reform ihrer jetzigen Ausführung liegt. Im Kapitel „Neustart“ skizziert der Präsident des Europäischen Parlamentes Lösungsansätze und Verbesserungen der aktuellen Zustände. Es ist der große optimistische Teil seiner Arbeit. Wenn er vorher noch von einem möglichen Scheitern der EU spricht, behandelt er nun die Chancen für den „gefesselten Riesen“ Europa. In der Stärkung der Demokratie sieht Martin Schulz beispielsweise einen wichtigen Impuls für das Bestehen in einer globalisierten Welt. In der Stärkung einer transnationalen Demokratie könne die durch die Globalisierung immer intransparenter werdende politische Verflechtung gelockert und den Bürgern Souveränität zurückgegeben werden. Er verneint die These vieler Populisten, dass durch eine Auflösung der EU die daraus entstehenden Nationalstaaten Souveränität dazugewinnen könnten. Diese von vielen Rechtspopulisten propagierte Scheinlösung würde zu einem Wegfall außenpolitischer Handlungsspielräume führen, die in der globalisierten Welt existenziell sind und viele Lösungsansätze für nationale Probleme verwehren könnten. Der Höhepunkt seiner Verteidigung der EU gipfelt in der Definition des europäischen Gesellschaftsmodells, die sich wie ein argumentativer Teppich durch den gesamten Text zieht. Eine europäische Ordnung durch klar definierte Werte, Grundrechte und Sozialsysteme habe hierbei ein schützenswertes politisches Modell hervorgebracht, das Vorbild auch für andere Kontinente ist. Dieses Modell unserer Gesellschaft ist die in Gesetzestexten manifestierte europäische Idee, die eine kontinentale Gemeinschaft und Solidarität erst ermöglicht. Viele weitere Gedankenstränge vermengen sich zu einem stimmigen Gesamtbild, das sich am Ende zu der Überzeugung kanalisiert, dass eine Wende doch noch möglich ist. Eine Wende im Sinne eines transparenteren und demokratischeren Europas. Es handelt sich hierbei um keine Streitschrift für das jetzige Europa und auch nicht um eine Analyse des Scheiterns. Es ist ein Plädoyer für ein anderes, besseres Europa und für die europäische Idee, die hinter den zahlreichen Paragrafen der EU-Richtlinien steckt. Martin Schulz zeigt in seinem für jedermann leicht erschließbaren Abhandlung die Wege auf, in die eine Europäische Union von morgen ihre ersten Schritte wagen kann. Nicht ohne Grund beschreibt der Autor unsere derzeitige Situation als eine „politische Weggabelung“. Wir alle sehen uns zur Zeit mit diesem politischen Prozess konfrontiert. Es stellt sich lediglich die Frage, ob dies wirklich die letzte Chance für uns alle ist. „Der gefesselte Riese: Europas letzte Chance“ - ein spannender Einblick hinter die Kulissen und ein empfehlenswertes Buch für diejenigen, die nicht der EU-Verdrossenheit erlegen sind. Auch zu empfehlen für EU-Skeptiker, die sich hiermit neuen Argumenten stellen müssen!
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