16 | MM25, 15.6.2015 | MENSCHEN
Porträt
Joana und der Wal
Gleich ihr Abschlusswerk an der Hochschule Luzern hat Aufsehen erregt und ihr
gar den Best Swiss Award eingebracht. Nun erntet Joana Locher mit ihrem Animationsfilm
«Oh Wal» auch im Ausland grosse Sympathien.
Text: Claudia Langenegger
Bild: Mirko Ries
H
auptfigur ihres preisgekrönten
Films «Oh Wal» ist eine Katze.
Auch in ihrem richtigen Leben
mag Joana Locher (25) Tiere. «Ich
bin mit Katzen aufgewachsen, fast mehr als
mit Freunden», sagt die Berner Oberländerin, die in Visp VS geboren, in Brienz BE
aufgewachsen ist und heute in Zürich ihr
Atelier hat. Ihr Zuhause ist nach wie vor Brienz, wo ihre Mutter und ihre beiden Katzen
wohnen, aber auch Leuk VS bei ihrem Vater
und Zürich, wo ihr Freund und ihre Geschwister wohnen. Sie pendelt zwischen diesen drei Orten hin und her. «Ich reise gern,
das inspiriert mich», sagt Joana Locher,
während sie im italienischen Kännchen
Kaffee macht, Alnatura-Hafermilch aus dem
Kühlschrank nimmt und zwei Sorten braunen Fairtrade-Zucker auf den Tisch stellt.
Sie braucht das Grüne, die Natur, das
Ländliche. Ist sie nur in der Stadt, fängt ihre
Fantasie an zu stocken. Und sie will auch
regelmässig bei ihren Katzen sein. Ihre
Katze heisst «Carla Bruni», Joana Locher
nennt sie aber Bruno, ihr rabenschwarzer
Kater heisst «Leon der Profi».
Früher wollte sie Schauspielerin werden
Wenn Locher unterwegs ist, hat sie immer
ihren Block dabei, skizziert, zeichnet,
kritzelt. Mit Bleistift, Farbe, Kreide,
Pinsel, was ihr gerade in die Hände kommt.
Gezeichnet hat sie schon immer. «Mein
Vater hat mir immer Dinge zum Zeichnen
gegeben, wenn mir langweilig war.»
Was sie machen will, hat sie nie gross
überlegt. «Das ist alles natürlich gekommen», sagt sie. Ursprünglich hatte sie
Schauspielerin werden wollen und hat als
Teenager mit ihrer Cousine in den Ferien
Filme gedreht. Dass sie das Gymnasium in
Hofwil BE mit der Talentfachklasse
Zeichnen besuchte, war naheliegend. Dort
absolvierte sie auch den Vorkurs für die
Kunsthochschule.
Als sie auf den Ausbildungsgang Animationsfilm stiess, wusste sie: Das ist es.
«Da konnte ich meine Liebe zum Film, der
Schauspielerei und dem Zeichnen
Die heile Welt trügt: In Joana Lochers Film
«Oh Wal» geht es zuweilen brutal zu und her.
verbinden. Zudem wollte ich etwas Handwerkliches und Technisches lernen.»
Mit ihrem Abschlussfilm des Studiums an
der Hochschule Luzern hat sie letzten
Herbst die Jury des Animationsfilm-Festivals Fantoche in Baden AG überzeugt. «Oh
Wal» gewann den Best Swiss Award. Der
Film erzählt die verrückte Geschichte einer
Katze, die nichts lieber tut, als Fische zu
fressen. Als sie einen Wal tötet, überschlagen sich die Ereignisse: Denn der Wal wird
von den Fischen als Gott verehrt.
«Der Preis war eine schöne Anerkennung und eine Bestätigung», sagt Joana
Locher. Doch sie sieht sich selbst nicht gern
auf einem Podest und mag Rummel um ihre
Person nicht. Natürlich ist sie stolz, dass der
Film mittlerweile auch an Festivals im
Ausland gezeigt wurde. Neben Jena, Athen,
Wien, Amsterdam, Cagliari und Ljubljana
stand er auch im indischen Kolkata auf dem
Programm. Im Juli wird er in Montreal am
Fantasia Festival vorgeführt.
Derzeit hat sie viel Neues und Anderes
im Kopf. Sie arbeitet an drei verschiedenen
Musikvideos, schreibt am Drehbuch für
ihren neuen Animationsfilm und zeichnet
ein Kinderbilderbuch. Locher schreibt,
zeichnet, skizziert, animiert und experimentiert fast pausenlos.
«Meistens kommen die Ideen beim
Schreiben. Dazu tauchen Bilder auf, die sich
damit vermischen.» Dabei vernachlässigt sie
eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen
komplett: das Faulenzen. «Das Nichtstun
ist mir schon sehr wichtig», sagt sie, und ihr
scheues Lächeln macht sich auf dem Gesicht
breit. Also keine endlosen Kafipausen, kein
langes WG-Geschwätz, keine gemütlichen
Spaziergänge. Auch das geliebte Schwimmen kommt zu kurz. So oft es geht, springt
sie nämlich in den Zürich- oder Brienzersee
– je nachdem, wo sie gerade ist. Früher tat
sie dies sogar ambitioniert: Als Neunjährige
wurde sie bei einem Schwimmwettbewerb
beste Oberländerin.
Als Arbeiterin auf dem Bau
Derzeit kann sie sogar von ihren Animationsfilmen leben, aber auch nur, weil sie
anspruchslos ist und von wenig Geld leben
kann. Wenn es mit dem Filmen nicht mehr
klappen sollte? «Dann gehe ich auf den Bau
arbeiten», sagt sie. Und man glaubt es kaum,
wenn die junge Frau, die so gern in die Fantasiewelt abschwirrt und fantastische Geschichten erspinnt, sagt: «Ich habe auf dem
Bau schon fast alles gemacht: Wände isoliert,
Mäuerchen gemauert und so weiter.»
Die Liebe zum Handwerk hat sie von
ihrem Vater geerbt, er führt eine Ofenbaufirma, Joana Locher hat schon oft bei
ihm ausgeholfen. Nebst dem Handwerklichen hat sie in ihrer Familie wohl auch
eine gute Portion Kreativität mitbekommen.
Ihr Bruder Dominik dreht Spielfilme,
ihre Schwester Laura ist Fashiondesignerin.
Auf die Frage, was ihr Lebenstraum sei,
antwortete Joana: «Mein egoistischer
Traum oder mein Traum für die Welt?»
Ihr persönlicher Traum, den sie «egoistisch»
nennt, sieht wie folgt aus: Sie lebt in einem
selbst gebauten Baumhaus am Meer
und zeichnet dort mit ihren 50 Kindern und
Enkelkindern.
Ihr Traum für die Gesellschaft sieht etwas
anders aus: eine Welt ohne Prostitution.
Sie heckt zurzeit mit einer Freundin ein
Projekt zum Thema Prostitution und
Menschenhandel aus. «Ich möchte auch
politisch etwas bewegen», sagt Locher.
Wovon ihr neuer Animationsfilm handelt,
verrät sie nicht. Sie sagt nur, was darin
vorkommt: «Tiere und Tod». Sicher ist:
Irgendwo wird eine Katze durchs Bild
huschen. Oder die Hauptrolle spielen. MM
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Das Filigrane liegt
Joana Locher ebenso
wie das Grobe. Auf
dem Bau hat die
25-Jährige «schon fast
alles gemacht».
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Porträt
Laute Kämpferin
für die Stille
Sie setzt sich für Ruhe und Tierschutz ein – und damit vielerorts in die Nesseln.
Dabei ist Nancy Holten alles andere als dogmatisch. Sagt sie wenigstens.
Denn wenn es sein muss, kauft die Veganerin ihrer Tochter auch mal einen Döner.
Text: Andreas Bättig
Bild: Basile Bornand
N
ancy Holten mag die Stille.
Um sie zu verteidigen,
macht die 41-Jährige ganz
schön Lärm. Die Veganerin
und Tierschützerin schaffte es mit
ihrem Kampf gegen Kuh- und
Kirchenglocken sowie mit ihrem
Engagement gegen Tiere im Zirkus in
lokale und nationale Medien. Nun
will sie nicht mehr allein, sondern mit
dem Verein IG Stiller für erholsame
Nachtruhe sorgen. Holten ist neu
Mediensprecherin der Interessengemeinschaft und sitzt im Vorstand.
«Wir wollen jegliche Lärmquellen
bekämpfen – von Kirchenglocken
bis zum Strassenverkehr», sagt sie.
Holtens Ideen polarisieren. Vom
Echo auf ihre Aktionen ist sie selbst
überrascht. «Offensichtlich habe
ich einen wunden Punkt getroffen»,
sagt sie und nippt an ihrem selbst
gemixten, veganen Mandelshake.
Beschwerde gegen das Gebimmel
Holten sitzt am Tisch in ihrer
4,5-Zimmer-Wohnung in GipfOberfrick im Kanton Aargau. An der
Wand hängt ein Gemälde mit Engeln,
die Vorhänge sind violett, auf dem
Tisch stehen ein Krug Wasser mit
einem Rosenquarzstein darin sowie
eine Schale mit Obst. Hamster
Pummelchen macht im Käfig gerade
seinen Mittagsschlaf. Hier lebt
Holten als alleinerziehende Mutter
zusammen mit ihren Zwillingen
Amelie und Ladina (11) sowie ihrer
14-jährigen Tochter Samira.
Zu einer Bekanntheit wurde
Holten ursprünglich durch ihren
Kampf gegen Glocken. Das war
im Dezember 2014. Sie hatte bei der
Gemeinde eine Immissionsklage
wegen Lärmbelästigung gegen die
Kirchenglocken eingereicht. «Ich sah
nicht ein, warum man morgens um
sechs Uhr zum Gebet läuten musste»,
so Holten. Die Behörden wiesen die
Beschwerde jedoch ab. Dann hatte
Holten einen Bericht über einen
Alpabzug gesehen. Auf den Bildern
trugen die Kühe schwere Kuhglocken
um den Hals. «Ich dachte, dass die
Tiere enorm darunter leiden müssten.» Also ging sie mit ihrem Anliegen
für eine kuhglockenlose Schweiz an
die Öffentlichkeit und stach damit in
ein Wespennest. Der gebürtigen
Holländerin war nicht klar gewesen,
an welchem Heiligtum sie sich da
vergriffen hatte.
«Ich bekam anonyme Anrufe und
Briefe zugeschickt. Darunter waren
auch konkrete Drohungen», sagt sie.
Einer habe sogar wie wild mit einer
Kuhglocke in den Hörer gebimmelt.
Auf Facebook wurde eine AntiNancy-Holten-Seite eingerichtet.
Geschockt von den Drohanrufen liess
Holten ihre Telefonnummer aus dem
Telefonbuch nehmen. «Ich musste
auch an meine Kinder denken. Ich
wollte sie beschützen.» Im Ort selbst,
der 3500-Seelen-Gemeinde
Gipf-Oberfrick, sei sie zum Glück nie
gross angefeindet worden. «Ganz
wenige schauen mich auf
der Strasse schräg an. Viele suchen
das Gespräch. Das finde ich schön.»
Dabei wollte Holten nie jemandem
zu nahe treten. «Die Medien
haben meine Anliegen zugespitzt.
Sie nahmen nur die heftigsten Aus-
sagen», sagt sie. Sie selber sei nicht
dogmatisch. «Ich will niemandem
meine Ansichten aufzwingen. Doch
wenn in meinen Augen ein Unrecht
geschieht, dann muss ich darauf
reagieren.»
Eine Schwäche für Pralinés
Deshalb habe sie auch vor zehn Jahren damit angefangen, auf tierische
Produkte zu verzichten. «Am Anfang
machte ich es meiner Gesundheit
zuliebe. Wenn ich Fleisch ass, fühlte
ich mich immer voll und schlapp.
Ausserdem hielt ich unzählige Haustiere wie Schlangen, Katzen, Hunde,
Fische und Mäuse. Ich konnte nicht
mehr nachvollziehen, wie man
Haustiere lieben und gleichzeitig ein
Kalbsfilet essen kann.»
Ganz so konsequent wie man aufgrund der öffentlichen Wahrnehmung vermuten könnte, ist
Holten bei ihrer veganen Lebensweise nicht. «Meine grosse Schwäche
sind Schokoladen-Pralinés.» Auch
bei ihrer 14-jährigen Tochter weicht
sie regelmässig von ihren Idealen ab.
Die hat wieder begonnen, Fleisch
zu essen. Für Holten eine Situation,
die sie jeden Tag fordere, sagt sie.
Denn: Wie will sie andere für Veganismus sensibilisieren, wenn sie es
nicht mal bei ihrer eigenen Tochter
schafft? «Darüber mache ich mir viele
Gedanken. Aber meine Tochter ist
nun mal ein Teenager. Da gehört das
Rebellische dazu. Zum anderen
respektiere ich ihre freie Entscheidung; und ich möchte, dass sie ihren
eigenen Weg geht. Sie ist meine grösste Lehrmeisterin in Sachen Toleranz.
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Wenn es sein muss, bringe ich ihr auch
mal einen Döner nach Hause, wenn sie
das möchte.»
Als Kind in einen Container geworfen
Frau mit Sinn
für Gerechtigkeit:
Nancy Holten
sorgt nicht nur in
Gipf-Oberfrick für
Gesprächsstoff.
Holten selbst hatte keine leichte Zeit als
Kind und Teenager. Über ihre Vergan­
genheit redet sie nicht gern. «Ich hatte
zwei unterschiedlich lange Beine und
musste ein Korsett sowie Schuhe mit
hohen Absätzen tragen. Deswegen
wurde ich gemobbt», sagt sie. Das ging
so weit, dass Kinder sie mal in einen
leeren Abfallcontainer warfen. «Das hat
meinen Sinn für Gerechtigkeit geprägt.
Ich konnte nicht verstehen, warum
Menschen so etwas tun.» Viele Freunde
habe sie in dieser Zeit nicht gehabt.
«Wahrscheinlich hat mich das stark
gemacht. Deshalb gehen mir heute
Drohungen auch nicht mehr so nah»,
sagt Holten.
Seit 1983 lebt die Holländerin mittler­
weile in der Schweiz. Für sie lange ge­
nug, dass sie nun die Schweizer Staats­
bürgerschaft annehmen möchte. «Ich
bin voll und ganz Schweizerin und bin
stolz darauf. Die Schweiz ist in Sachen
Tierschutz weltweit ein Vorbild. Ich
würde das noch gern weiter verbessern.» Wie genau sie das erreichen will,
lässt sie offen. Zuerst möchte sie sich
von der Öffentlichkeit etwas zurück­
ziehen. «Ich bin gar viel in den Medien
gewesen.»
Dass sie als Schweizerin dereinst in
die Politik einsteigen könnte, schliesst
Nancy Holten zumindest nicht aus.
«Vielleicht gründe ich meine eigene
Partei.» Sollte es so weit kommen, wird
die Neuschweizerin bestimmt wieder
für viel Lärm sorgen. MM