«Ein Neubeginn mit 50 ist problemlos möglich»

«Ein Neubeginn mit 50 ist problemlos möglich»
Auch ältere Menschen können neue Fertigkeiten erlernen.
Voraussetzung sind Motivation und viel Zeit, sagt
Neuropsychologe Lutz Jäncke.
Von Katharina Bracher
NZZ am Sonntag: Sie sind 58 Jahre alt, arbeiten als Neuropsychologe und
Hirnforscher. Wie stehen Ihre Chancen auf einen beruflichen Neuanfang?
Lutz Jäncke: Die sind hoffentlich intakt, sofern ich meine Fähigkeiten, die ich in
fünfunddreissig Jahren in der Wissenschaft erworben habe, im neuen Berufsfeld einsetzen
kann. Als Professor könnte ich etwa Schriftsteller oder Manager werden. Oder vielleicht
Direktor einer Organisation.
Wie sieht es mit Pianist oder Steinbildhauer aus?
Das sind interessante Beispiele, die wahrscheinlich in der Realität unerreichbar bleiben,
sofern man daran denkt, einen bestimmten Exzellenzgrad zu erreichen. Für beide Berufe
braucht es jahrelange Übung bis zur Perfektion. Ich glaube nicht, dass ich es als
Konzertpianist noch in die Tonhalle Zürich schaffen würde.
Um solche Top-Level-Expertisen zu erreichen, muss man mindestens 10 000 Stunden bis zur
Perfektion geübt haben. Das ist für mich jetzt unrealistisch.
Was wäre ein realistisches Ziel?
Entscheidend ist erstens, dass das Wunschgebiet auch erreichbar ist. Zweitens: Die
Motivation entscheidet über das Gelingen. Sind wir ausreichend motiviert, können wir
Fähigkeiten, die in unserem jetzigen Beruf gefordert werden, problemlos in einem ganz
anderen Gebiet einsetzen.
Gilt das auch für Umschulungen? Etwa eine Berufsausbildung oder ein
Studium im reiferen Alter?
Unser Hirn ist auch im fortgeschrittenen Alter dazu in der Lage, sich umzuorientieren und
mit ganz neuen Inhalten auseinanderzusetzen. Nehmen wir das Beispiel eines Maurers, der
mit etwas über vierzig Jahren realisiert, dass ihm die Arbeit auf dem Bau nicht mehr gefällt
oder dass er körperlich zu stark belastet ist. Seine Aussichten, eine weitere Ausbildung
erfolgreich in Angriff zu nehmen – sagen wir Krankenpflege oder Gastronomie –, sind
genauso gut wie mit zwanzig Jahren.
Sie propagieren das lebenslange Lernen, gehen also davon aus, dass es für
einen Neuanfang nie zu spät ist. Welche Belege haben Sie dafür?
Neuroanatomische und neurophysiologische Studien belegen, dass das alternde Gehirn sich
immer noch verändern kann. Das bedeutet, dass Lernen und Erfahrung sich in den
neuronalen Netzen des Gehirns immer noch niederschlagen kann. Eine Voraussetzung ist,
dass wir gesund bleiben und vor allem keine Demenzen entwickeln. Sicherlich gibt es
altersmässige Einschränkungen, aber wir fokussieren meines Erachtens zu sehr darauf und
verlieren dabei das neurophysiologische Potenzial aus den Augen. Manchmal zeigt uns das
reale Leben, welche Möglichkeiten unser Gehirn zur Verfügung stellt. Ich kenne zum Beispiel
einen Topmanager, der in einer psychiatrischen Klinik lange Zeit erfolglos behandelt wurde.
Da hatte ein Oberarzt die Idee, ihn malen zu lassen. Der Mann hat in der Klinik mehrere
Monate diese Fertigkeit geübt. Heute lebt er von der Kunstmalerei.
Wäre das jetzt nicht eher ein Aussteiger? Seine kognitiven Fähigkeiten waren
ja nicht ausschlaggebend für den Wechsel.
Nennen Sie es Ausstieg. Aber eine Änderung im Leben ist generell mit Neulernen verbunden.
Wenn Sie aus dem Journalismus aussteigen wollten, um Dolmetscherin zu werden, könnten
Sie durchaus noch neue Sprachen lernen bis zu diesem Niveau. Sie müssten bloss genug Zeit
investieren.
Und wenn man die nicht hat? Zum Beispiel, weil man irgendwann zu alt ist für
den Arbeitsmarkt?
Ein Neubeginn mit 50 ist problemlos möglich. Fängt man dann mit einer Ausbildung an, ist
man mit 55 Jahren fertig. Danach kann man sich aufgrund der jahrelangen Arbeitserfahrung
im neuen Beruf entfalten. Möglich ist das. Und ich würde sogar noch weiter gehen und sagen:
Es ist notwendig.
Wieso notwendig?
Weil die Zukunft unserer Gesellschaft dies erfordert. Es braucht mehr Menschen, die
Weisheit und Erfahrung aus ihren jeweiligen Kultursystemen in die verschiedenen Bereiche
unserer Gesellschaft einbringen. Dazu müssen wir alle länger arbeiten.
Sie meinen also, dass die Rente mit 65 aus wissenschaftlicher Sicht überholt
ist?
Auf jeden Fall. Wir gehen davon aus, dass ein Mädchen, das heute geboren wird, im
Durchschnitt 86 Jahre alt wird. Lebenserwartungsforscher sagen, dass wir 2025 90 bis 93
Jahre alt werden. Gleichzeitig sind die 65-Jährigen heute fitter als früher. Wir müssen diese
längere Lebenszeit nutzen. Als Babyboomer, zu denen ich zähle, bemerke ich selbst, dass man
viel länger fit und leistungsfähig ist. Die anderen in meinem Alter erfahren das ebenfalls, was
generell zu mehr Wertschätzung der älteren Arbeitnehmer führen wird.
Welches Rentenalter wäre aus wissenschaftlicher Sicht angemessen?
70 Jahre. Tendenz steigend. Mit 40 Jahren hat man auf jeden Fall Zeit, nochmals von vorne
zu beginnen oder einen neuen Anlauf zu nehmen, auch mit 50 Jahren noch. Das Hirn ist in
diesem Alter immer noch tadellos in der Lage dazu. Mir sind Fälle bekannt von Leuten, die
mit Mitte 50 noch ein Medizin- oder ein Architekturstudium abgeschlossen haben. Wir
haben hier sogar Doktoranden in diesem Alter.
Ich muss anmerken, dass es natürlich Berufe gibt, die man nur eine bestimmte Zeit oder bis
zu einem bestimmten Alter ausüben kann. Dies sind etwa körperlich anstrengende Berufe.
Hier sollte man sich Modelle überlegen, wie ein Wechsel ermöglicht werden kann.
Ein wesentlicher Aspekt des Lernens, das haben Sie vorhin gesagt, ist die
Motivation. Was heisst das konkret?
Senioren nehmen sich zum Beispiel oft vor, eine neue Sprache zu lernen. Etwa Spanisch.
Dann gehen sie an eine Volkshochschule und belegen einen Kurs – einmal die Woche eine
Stunde. Nach vier Monaten sind sie frustriert, dass sie noch kein Spanisch können. Aber bei
dieser geringen Lernintensität ist es vollkommen klar, dass sie wenig oder gar keine
Lernfortschritte zeigen. Denn die Lernintensität ist einfach zu gering. Wenn die sich so stark
mit der Sprache beschäftigen würden, wie ein Schüler in der Grundschule, dann würden sie
vielleicht genauso schnell lernen wie Kinder. Es braucht vor allem Motivation und Disziplin,
um so viel zu investieren. Das heisst, es braucht den Willen, diesen Aufwand zu betreiben.
Und wenn das gegeben ist, dann kann auch das alte Hirn noch recht viel lernen. Das zeigen
viele Studien.
Sie sagen: Recht viel. Wo liegt die Grenze?
Das ist momentan Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Jedenfalls weiss
man heute, dass das Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr» für
viele Bereiche Unsinn ist. Wenn Sie mit 50 eine neue Sprache lernen wollen, müssen Sie drei
Stunden pro Tag lernen. Ein halbes Jahr lang. Wenn Sie das in dieser Intensität tun, dann
können ältere Menschen ähnliche Lernleistungen wie Jugendliche erbringen.
Lernen ältere Erwachsene anders als Jugendliche?
Man muss bei solchen Fragen immer aufpassen, dass man nicht zu sehr verallgemeinert.
Aber oft ist es so, dass ältere Menschen etwas konzentrierter als Kinder und Jugendliche
lernen können, wenn sie sich einmal entschieden haben, etwas lernen zu wollen. Bei Kindern
und Jugendlichen spielen noch eine Reihe von anderen Faktoren eine Rolle. So ist der
Frontal-Kortex bei dieser Gruppe noch gar nicht voll ausgereift, so dass sie in der Regel
weniger Aufmerksamkeit und Selbstdisziplin aufbringen können. In einigen Untersuchungen
sind die Lern-Zuwächse bei Senioren die gleichen wie bei jungen Erwachsenen. Nicht
neurologisch erkrankte Menschen sind vom 20. bis zum 70. Lebensjahr vor allem im
sensomotorischen Bereich ungefähr gleich.
Die Frage ist: Interessieren sich Arbeitgeber für ältere Berufsleute, die frisch
von einer Zweitausbildung kommen?
Sie sollten es, denn diese Leute bringen viel Erfahrung mit. Unsere impliziten Fähigkeiten
wachsen über die Zeit. Mit 50 sind die meisten Berufsleute auf dem Höhepunkt ihrer
Fertigkeiten, und als Neurowissenschafter weiss ich: Sie können diese noch zwanzig Jahre
lang professionell einsetzen. Gerade in Planungsprozessen von Unternehmen braucht es
Leute mit diesem Erfahrungshorizont.
Stellt dieses Mantra vom lebenslangen Lernen nicht eine Gefahr dar, die Alten
zu überfordern? Nicht jeder über 50-Jährige hat die Kapazitäten.
Das ist richtig. Man sollte allerdings auch die positive Seite des Lernens sehen. Unser Gehirn
ist zum Lernen verdammt. Wir verfügen über sehr wenige angeborene Instinkte. Deshalb
müssen wir lernen. Und etwas Neues zu lernen, erweitert den Horizont und macht auch
Spass. Leider verbinden viele mit dem Lernen eher die unangenehmen Erfahrungen aus der
Schulzeit. Aber Lernen kann auch ganz anders ablaufen und mit Spass verbunden sein.
Allerdings muss man hier auch Unterschiede zwischen den Menschen berücksichtigen.
Einige altern schneller als die anderen.
Altert schneller, wer früher aus dem Arbeitsprozess aussteigt?
In der Neurowissenschaft gibt es die Formulierung: «Use it or lose it», um die Plastizität des
Gehirns plakativ zu beschreiben. Immer wenn gewisse Hirnstrukturen nicht genutzt werden,
reduzieren diese ihre Aktivitäten und verändern ihre Struktur und Funktion. Das kann zu
einem regelrechten Abbau von neuronalen Netzwerken führen. Wer ab 40 kognitiv inaktiv
ist, wird mit 60 einen beträchtlichen Teil Aufmerksamkeit, Sprachfertigkeit und
Selbstdisziplin eingebüsst haben. Das hat damit zu tun, dass Hirngebiete, die diese
Fertigkeiten trainieren, nicht stimuliert wurden. Ich vermute, dass durch Nichtgebrauch
neuronale Netzwerke ihre Effizienz verlieren, was zu einer Verschlechterung der kognitiven
Leistung führt. Wenn Sie so wollen, ist dies eine Art «selbstinduzierter Abbau». Wer früh
aufhört, zu arbeiten, zu lernen, sich weniger engagiert, der wird seine Leistungsfähigkeit
verlieren. Darum ist es wichtig, dass wir uns auch im Alter immer wieder neue Ziele stecken.
Sie haben eingangs gesagt, dass es wichtig sei, sich für einen Neuanfang realistische Ziele zu
stecken. Was heisst das? Realistisch ist ein Ziel mit mittelhohem Anspruchsniveau. Mit
anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit zu scheitern sollte fünfzig Prozent betragen. Im
Erfolgsfall motiviert diese Erfahrung eine Person stark, weil sie stolz auf ihre Leistung ist.
Dieses Gefühl braucht es.
Und ich meine stolz im psychologischen Sinne, nicht im patriotischen. Der richtige Partner,
der Sechser im Lotto: Das ist Glück. Das kriegen Sie geschenkt. Der Stolz aber, der aus
eigener Leistung entsteht, treibt uns an.
Nicht alle haben das Selbstvertrauen, im reiferen Alter etwas Neues zu
beginnen.
Aber von vornherein zu sagen: «Ich kann das nicht», ist das Schlimmste. Wer einen Wunsch
hat, sollte ihn sich unbedingt erfüllen.
Lutz Jäncke
1957 im deutschen Wuppertal geboren, studierte Lutz Jäncke Psychologie, Neurophysiologie
und Hirnforschung an der Ruhr-Universität in Bochum. Nach seiner Habilitation 1995
erhielt er seine erste Professur in Magdeburg, bevor er 2002 als Ordinarius für
Neuropsychologie an die Universität Zürich wechselte. Jäncke hat sich vor allem mit seiner
Forschung zum Thema Plastizität des menschlichen Gehirns profiliert. Er gehört zu den
weltweit am häufigsten zitierten Wissenschaftern und wurde für seine Lehrtätigkeit mehrfach
ausgezeichnet. Jäncke gehört zu den wenigen deutschsprachigen Forschern, die ihre
wissenschaftlichen Erkenntnisse auch als Populärliteratur herausbringen. Unlängst ist sein
Buch «Ist das Gehirn vernünftig?» erschienen.
Artikel erschienen in der NZZ am Sonntag, 18. Oktober 2015