PDF, 212 KB - Stadt Celle

Sperrfrist Sonnabend, 3. Oktober, 11 Uhr!
Es gilt das gesprochene Wort!
Rede 3.Oktober 2015
Liebe Gemeinde,
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
zunächst herzlichen Dank an Pastor Latossek und den Vorstand unserer Stadtkirche
St. Marien und Ihnen, Herr Dr. Witte, dafür, dass Sie erneut mit der Stadt und ihrer
gesamten Bevölkerung den 3.Oktober, unseren Nationalfeiertag, begehen wollen und
mir die Möglichkeit geben, hier zu sprechen.
Nachdem wir im vergangenen Jahr wegen der zentralen Feier zum 3. Oktober in
Hannover auf eine eigene Veranstaltung in Celle verzichtet haben, freue ich mich sehr,
hier wieder ein eigenes Fest zu veranstalten. Schon 2012, als wir diese Veranstaltung
ins Leben gerufen haben, hatte ich die Hoffnung, dass sich diese in Celle etablieren
würde. Heute, bei der dritten Auflage, bin ich davon überzeugt, dass wir dieses Fest,
unseren Nationalfeiertag auch in den kommenden Jahren gemeinsam als kommunale
Gemeinde mit all` den Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion feiern
werden.
Heute ist es 25 Jahre her, dass wir den 3.Oktober als Nationalfeiertag ausgerufen
haben. 25 Jahre Deutsche Einheit und 26 Jahre Ende der Diktatur in den östlichen
Bundesländern. Ein Jubiläumsdatum, das nicht nur den Blick zurück, sondern auch
einen in die Zukunft erfordert. Von daher werde ich in meiner Rede sowohl auf die
Vergangenheit, als auch auf die Zukunft eingehen.
Schauen wir uns an, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist:
Es gab Zweifler und Rechner vor 25 Jahren, die dem Aufbruch in neue Zeiten, den
blühenden Landschaften die Kosten der Einheit entgegenhielten und eine
Überforderung der Gemeinschaft der alten Bundesrepublik prognostizierten. Diese
Pessimisten haben am Ende nicht Recht behalten. Zwar stimmt es, dass noch heute
der Solidarzuschlag von unserem Lohn einbehalten wird. Zwar stimmt es, dass wir
deutlich mehr finanzielle Mittel benötigten, um die deutsche Einheit zu finanzieren, als
uns dies ursprünglich dargelegt wurde. Aber wir sind zusammengewachsen, und in den
jetzt sicher nicht mehr ganz so neuen Bundesländern hat sich die Infrastruktur, das
Angebot, die Umwelt - nahezu alles deutlich verändert und die versprochenen
blühenden Landschaften sind tatsächlich oftmals entstanden.
Nicht alle Bürgerinnen und Bürger aus der ehemaligen DDR haben von der Einheit
profitiert. Es hat Menschen gegeben, die sich selbst als Verlierer erlebt haben. Viele,
eigentlich alle Menschen in der ehemaligen DDR, haben sich in kürzester Zeit an eine
völlig andere Gesellschaft anpassen müssen und mit einem völlig neuen Rechtssystem,
mit ungewohnten Freiheiten, aber auch mit ungewohnten Risiken und eigener
Verantwortung umgehen lernen müssen. Diesen Menschen zolle ich höchsten Respekt
für diese Leistung, höchsten Respekt dafür an dem gemeinsamen Projekt unserer
neuen Bundesrepublik mitzubauen, festzuhalten und sich und das Projekt nicht
aufzugeben.
Hier in Niedersachen und Celle hat sich, so könnte man glauben, auf den ersten Blick
nicht so viel geändert. Doch dieser Blick täuscht! Auch wir haben hier sehr viel geleistet
für dieses gemeinsame Projekt. Erinnern wir uns: Neben 600.000 Flüchtlingen im Jahr
1990 kamen Hunderttausende aus den neuen Bundesländern nach Niedersachen und
damit auch nach Celle. Die Öffnung des gesamten Ostblocks brachte weitere
Hunderttausende aus Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken nach
Deutschland - und dies` in aller Regel in die alten Bundesländer. Wir haben diese
Menschen aufgenommen, wir haben Wohnraum und Arbeit bereitstellen können und
zum zweiten Male nach den Flüchtlingstrecks der Kriegs- und Nachkriegszeit eine
großartige Integrationsleistung vollbracht.
Wir haben die negativen und vorurteilsbeladenen Bezeichnungen „Ossi“ und „Wessi“
überwunden und heute eine Kultur in ganz Deutschland geschaffen, bei der nach den
aktuellen Umfragen die heutige Generation der 20- bis 30-Jährigen mit diesen Begriffen
nichts mehr anfangen kann. Das geht nur, wenn auch die dahinter liegenden Vorurteile
überwunden sind.
Und wir haben trotz aller Schwierigkeiten das Land aufgebaut und entwickelt. Es kommt
nicht von alleine, dass Deutschland heute das wirtschaftlich stärkste Land in Europa ist,
dass wir die geringste Arbeitslosenquote haben und dass es uns so gut geht, dass wir
bei fast allen internationalen Vergleichen ganz vorne stehen. Nein, das ist neben Fleiß
und mutigen politischen Entscheidungen, die zum Teil auch schmerzliche waren, wie
die Agenda 2010, aber auch der Leistung jeder und jedes Einzelnen zu verdanken, mit
der die Integration der vielen neuen Bürger in den 90-er Jahren des letzten
Jahrhunderts gelungen ist.
Mit diesem Blick zurück auf die Zeit vor 25 Jahren haben wir - ich sagte es schon zum zweiten Mal in Deutschland und in Celle große Mengen von Flüchtlingen integriert.
Das erste Mal war es nach dem Ende des II. Weltkrieges. Die Berichte des damaligen
Celler Flüchtlingspfarrers, späteren Flüchtlingsministers und noch späteren
Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Heinrich Albertz, der hier in Celle lebte und
wirkte, beschreiben sehr eindringlich, wie sich das damals hier anfühlte. In seinem
Bericht „Celler Weihnacht“ erinnert sich Albertz wie folgt:
„Ich habe niemals deutlicher als in diesen Monaten um Weihnachten 1945 herum die
Wahrheit erfahren, wie sehr die Umwelt das Bewusstsein bestimmt, oder um es
drastischer und mit Bert Brecht zu sagen, wie sehr das Fressen vor der Moral kommt.
Besitz wurde mit Händen und Klauen verteidigt, Wohnraum wurde nur unter äußerstem
Druck freigegeben. Und umgekehrt, wie sollte es anders sein, bestimmte der Kampf um
die nackte Existenz, d. h. also um Essen, Wohnung, Kleidung und irgendeiner Art von
Arbeit die Tage der Heimatlosen".
Im Magazin „Spiegel“ vom 7. August 1948 wird sein Wirken unter anderem wie folgt
beschrieben: „Pastor Albertz wurde Leiter des Flüchtlingsamtes für den
Regierungsbezirk Lüneburg. Dann kam im Sommer 1946 die "Aktion Schwalbe": Viele
tausend vertriebene Schlesier wurden durch das Lager Uelzen nach Niedersachsen
eingeschleust. Ohne eine gesetzliche Berechtigung - denn das Kontrollratsgesetz Nr.
16 war längst aufgehoben - sperrten die Stadt- und Gemeindedirektoren den Zuzug zu
ihren Gemeinden, indem sie einfach keine Lebensmittelkarten herausrückten.
Als Flüchtlingsminister von Niedersachsen drohte er dort, wo Stadtdirektoren und
Bürgermeister Ausflüchte suchen, mit seinen Staatskommissaren. Albertz will die
Flüchtlinge gleichberechtigt in die soziale und wirtschaftliche Ordnung der Westzonen,
zumindest Niedersachsens, eingebaut wissen. Aber er kommt schnell zu der Einsicht:
"Nun sitze ich hier im Ministerium und weiß, was ich vorher auch schon wusste, dass
nämlich nur ein Zehntel aller Probleme durch die Behörden gelöst werden kann. Alles
andere muss mit Privatinitiative gemacht werden". Soweit der Spiegel aus dem Jahr
1948
Und auch im Ergebnis dieser Herausforderung ist Deutschland - damals nur die alte
BRD - zum Wirtschaftswunderland geworden und hat innerhalb kürzester Zeit die
Kriegsfolgen weitgehend bewältigt.
Heute freue ich mich, dass wir mit der derzeitigen dritten großen Herausforderung von
Zuwanderung auf ein ganz anderes Deutschland und ein ganz anderes Celle treffen, als
bei den beiden Malen zuvor. Heinrich Albertz hat noch die Erfahrung von Ablehnung
gemacht - bei der im Ergebnis trotzdem die gelungene Integration von tausenden von
Flüchtlingen stand. Im Gegensatz dazu war die Zeit der 90-er Jahre des letzten
Jahrhunderts doch eher von Abwarten und wenig Integrationsbemühungen aber
grundsätzlichem Wohlwollen geprägt. Heute muss festgestellt werden, dass die in
Deutschland ankommenden Flüchtlinge hier in Celle auf eine großartige, nie
dagewesene Zuwendung stoßen. Sie treffen auf Menschen, die sich engagieren
wollen, um ihnen das Ankommen zu ermöglichen, die ihnen aktiv die Chance bieten
sich zu integrieren. Das ist großartig und damit bekommen wir diesmal sehr früh die 90Prozent-Lösungen aus privater Initiative, die Albertz damals schon als Notwendigkeit
bezeichnete. An dieser Stelle deshalb all` jenen Dank und Anerkennung, die sich in den
letzten Wochen und Monaten so engagiert um die Schutzsuchenden, die
Kriegsvertriebenen aus aller Herren Länder gekümmert haben. Aber auch denen, die im
Auftrag des Landes Notunterkünfte errichtet haben und oft genug am
Freitagnachmittag, am Samstag oder gar erst am Sonntag erfahren haben, dass sie
hinaus müssen, um bei zum Teil strömendem Regen Zelte aufzubauen.
Meine Damen und Herren, sie wissen, wie verärgert ich war, als man mir mitteilte, dass
die Landesfeuerwehrschule als Unterkunft für Flüchtlinge genutzt würde und meine
Proteste nichts fruchteten. Ich freue mich, dass nunmehr der Ministerpräsident und das
Innenministerium ein baldiges Ende dieser Notlösung in Aussicht stellt und der
Lehrgangsbetrieb in wenigen Wochen wieder stattfinden kann.
Auch die Nutzung einiger Gebäude der ehemaligen Kasernenanlage an der Hohen
Wende wird erneut und diesmal intensiver geprüft, sodass dort vielleicht die Flüchtlinge
- nach einer entsprechenden Ertüchtigung - in wetterbeständigeren Räumlichkeiten als
in den Zelten noch vor dem Winter untergebracht werden können.
Meine Damen und Herren,
ich will aber nicht verschweigen, dass neben all` diesen positiven Punkten eine Reihe
von Fragen und Sorgen noch offen ist und der Beantwortung harren. Da sind einmal die
Fragen, die der Integration der Flüchtlinge dienen. Wie geht das mit der Schule? Wie
geht das mit der Aufnahme von Arbeit? Wie kommen die Schutzsuchenden an
Wohnraum? Ein Strauß von Fragen stellt sich und eigentlich alle Ministerien sind
gefordert, Antworten zu finden und sich verantwortlich zu fühlen. Ich habe allerdings
den Eindruck, und so habe ich das schon gefordert, es bedürfte eines
Flüchtlingskommissars auf Bundesebene und auf Landesebene, um all diese Fragen zu
koordinieren und gegebenenfalls. durchzusetzen. Das Beispiel von Heinrich Albertz als
Flüchtlingsminister scheint mir ziemlich geeignet zu sein, um die notwendige
Koordinierung zu gewährleisten und den erforderlichen Nachdruck zu erzeugen..
Aber auch das ist nur ein Teil der Fragen und Sorgen. Auch unsere Cellerinnen und
Celler machen sich Gedanken. Schaffen wir das wirklich? Können wir so viele
Flüchtlinge verkraften? Wie soll das gehen mit der Integration? Soll mein Kind oder
mein Enkel in einer Schule unterrichtet werden, in der nur wenige deutsche Kinder
sind? Lernt es dann genug? Nehmen uns die Kriegsvertriebenen die Arbeitsplätze weg?
Sind die nicht womöglich kriminell? Muss ich als Frau nicht Angst vor diesen Menschen
haben? Es gibt eine Vielzahl von Fragen und Sorgen – oft nicht aus persönlichen
Erfahrungen begründet, aber diese Fragen sind da. Ich habe mich deshalb
entschlossen, in einem Bürgerdialog mit einer Vielzahl von Veranstaltungen sachlich
aufzuklären und die Fragen zu objektivieren und zu beantworten. Für viele werden
interessante Antworten dabei herauskommen. Wir werden uns auf neue
Herausforderungen einstellen müssen. Wir werden in Deutschland vielleicht auch nicht
mehr ganz so homogen in der Bevölkerung zusammengesetzt sein wie bisher, sondern
mehr Heterogenität erleben und zulassen müssen. Wir werden lernen, darauf stolz zu
sein.
Was wir nicht verändern werden, ist unsere Verfassung, unser Grundgesetz, in dem
unsere Werte so schön und klug verbrieft sind! Diese sind unsere Richtschnur und auch
deshalb werde ich in den Einrichtungen hier in Celle in der kommenden Woche nach
unserem Nationalfeiertag die Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes in arabischer Sprache
in Französisch und Englisch auf großen Plakaten aufhängen lassen. Denn jeder und
jede soll erkennen, was unsere Richtschnur ist, was Deutschland zusammenhält und
leitet.
Am Ende, meine Damen und Herren, liebe Gemeinde,
glaube ich, sind wir alle weiser. Wie vor 25 Jahren gibt es heute wieder Zweifler,
Nörgler und Rechner, Pessimisten, die sich und uns allen zu wenig zutrauen, die nicht
anpacken, wo es nötig ist sondern Zweifel sähen, wo Mut und Zuversicht angesagt ist.
Ich bin niemand der die Augen vor unbequemen Wahrheiten verschließt, ich versuche
alle Aspekte objektiv in den Blick zu nehmen und gerade deshalb bin ich überzeugt,
auch diesmal gilt, was uns die Geschichte der Zuwanderung in Deutschland gelehrt hat:
Am Ende hat Deutschland jedes Mal aus diesen Situationen gewonnen. Als Beweis
dienen das Wirtschaftswunder mit hohen Einkünften, Wachstum und Vollbeschäftigung
nach dem II. Weltkrieg, unsere derzeitige wirtschaftliche Stärke mit der geringsten
Arbeitslosigkeit in der EU nach dem Fall der Mauer und der Einbruch des Ostblocks.
Und so werden wir auch diese Aufgabe lösen! Das Vertrauen habe ich in unseren Staat,
in unsere Wirtschaft, aber vor allem in Sie, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger!