Reader

Die schöne Kunst des Neinsagens
Reader
zur Einstimmung auf die Veranstaltung
Adorno und die kritische Theorie
in der Reihe Theorien zur Praxis
30. September 2015, Deutsches Hygiene-Museum
Wie zu lesen sei
Zur Frage der Lektüre philosophischer Sachen […] möchte ich nur raten: sich
nicht zu sehr um Worte kümmern, diese nachschlagen usw. Der ‚Laie‘ überschätzt sehr die Wichtigkeit der Terminologie. Wenn man mit einer gewissen
Largesse liest und vorweg dem größeren Sinnzusammenhang sich zuwendet, fallen einem die Einzelbedeutungen auch ungewohnter Ausdrücke
meist von selbst zu.
[Briefe an die Eltern. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 250]
Kulturphilosophie unter dem Eindruck des Faschismus – Dialektik der
Aufklärung
Wir hegen keinen Zweifel […], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich
erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die
konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es
verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute
überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige
Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.
[Dialektik der Aufklärung: Vorrede. Gesammelte Schriften, Band 3, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1970 – 1986, S. 13]
Aber die Lockung der Sirenen bleibt übermächtig. Keiner, der ihr Lied hört,
kann sich entziehen. Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen,
bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des
Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit
wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich
auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart. Der narkotische Rausch,
der für die Euphorie, in der das Selbst suspendiert ist, mit todähnlichem
Schlaf büßen läßt, ist eine der ältesten gesellschaftlichen Veranstaltungen,
die zwischen Selbsterhaltung und -vernichtung vermitteln, ein Versuch des
Selbst, sich selber zu überleben. Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit
dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die
Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war. Ihr Weg war
der von Gehorsam und Arbeit, über dem Erfüllung immerwährend bloß als
Schein, als entmachtete Schönheit leuchtet. Der Gedanke des Odysseus,
gleich feind dem eigenen Tod und eigenen Glück, weiß darum. Er kennt nur
zwei Möglichkeiten des Entrinnens. Die eine schreibt er den Gefährten vor.
Er verstopft ihnen die Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften
rudern. Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag.
Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt. Frisch und konzentriert müssen
die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegenlassen, was zur Seite liegt.
Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche
Anstrengung sublimieren. So werden sie praktisch. - Die andere Möglichkeit
wählt Odysseus selber, der Grundherr, der die anderen für sich arbeiten läßt.
Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung
wird, um so stärker läßt er sich fesseln, so wie nachmals die Bürger auch
sich selber das Glück um so hartnäckiger verweigerten, je näher es ihnen
mit dem Anwachsen der eigenen Macht rückte. Das Gehörte bleibt für ihn
folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es
ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Lieds, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn
und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins
mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten. Die Bande, mit denen er sich unwiderruflich an
die Praxis gefesselt hat, halten zugleich die Sirenen aus der Praxis fern: ihre
Lockung wird zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur
Kunst. Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt
schon als Applaus. So treten Kunstgenuß und Handarbeit im Abschied von
der Vorwelt auseinander. Das Epos enthält bereits die richtige Theorie. Das
Kulturgut steht zur kommandierten Arbeit in genauer Korrelation, und beide
gründen im unentrinnbaren Zwang zur gesellschaftlichen Herrschaft über
die Natur. Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht
der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung.
[Dialektik der Aufklärung: Begriff der Aufklärung. Gesammelte Schriften,
Band 3, S. 50-52]
„Und wie erfreulich das Land herschwimmenden Männern erscheinet, /
Welchen Poseidons Macht das rüstige Schiff in der Meerflut / Schmetterte,
durch die Gewalt des Orkans und geschwollener Brandung; / ... Freudig anjetzt ersteigen sie Land, dem Verderben entronnen, / So war ihr auch erfreulich der Anblick ihres Gemahls, / Und fest hielt um den Hals sie die Lilienarme
geschlungen.“ Mißt man die Odyssee an diesen Versen, dem Gleichnis für
das Glück der wieder vereinten Gatten, nicht als an einer bloß eingeschobenen Metapher sondern als an dem gegen Ende der Erzählung nackt erscheinenden Gehalt, so wäre sie nichts anderes als der Versuch, dem stets erneuten Anschlagen des Meeres auf die Felsenküste nachzuhorchen, geduldig
nachzuzeichnen, wie das Wasser die Klippen überflutet, um rauschend von
ihnen zurückzuströmen und in tieferer Farbe das Feste leuchten zu lassen.
Solches Rauschen ist der Laut der epischen Rede, in dem das Eindeutige und
Feste mit dem Vieldeutigen und Verfließenden zusammentrifft, um davon
gerade sich zu scheiden. Die gestaltlose Flut des Mythos ist das Immergleiche, das Telos der Erzählung jedoch das Verschiedene, und die mitleidslos
strenge Identität, in der der epische Gegenstand festgehalten wird, dient
gerade dazu, dessen Nichtidentität mit dem schlecht Identischen, dem
unartikulierten Einerlei, seine Verschiedenheit selber, zu vollziehen. Die
Epopöe will berichten von etwas Berichtenswertem, von einem, das nicht
allem andern gleicht, nicht vertauschbar ist und um seines Namens willen
verdient, überliefert zu werden.
Weil jedoch der Erzähler der Welt des Mythos als seinem Stoff zugewandt
ist, war sein Beginnen, heute mit Unmöglichkeit geschlagen, stets schon
widerspruchsvoll. Denn der Mythos, dem die rationale und kommunikative
Rede des Erzählers samt ihrer subsumierenden Logik, welche alles Berichtete gleichmacht, als dem Konkreten nachhängt, dem, was von der nivellierenden Ordnung des Begriffssystems noch verschieden wäre - solcher Mythos
ist gerade selber doch von der Wesensart der Immergleichheit, die in der
ratio zum Bewußtsein ihrer selbst erwachte. Der Erzähler war von jeher der,
welcher der universalen Fungibilität widersteht, aber was er in der Geschichte bis auf den heutigen Tag zu berichten hat, war immer schon das Fungible.
Aller Epik wohnt daher ein anachronistisches Element inne: dem homerischen Archaismus jener Anrufung der Muse, die helfen soll, das Ungeheure
zu vermelden, ebenso wie den verzweifelten. Anstrengungen des späten
Goethe und Stifters, bürgerliche Verhältnisse als urtümliche, dem unaustauschbaren Wort gleichwie einem Namen offene Wirklichkeit zu fingieren.
Dieser Widerspruch aber hat sich, seit es große Epik gibt, in der Verhaltensweise des Erzählers niedergeschlagen als das Element epischer Dichtung,
das man als Gegenständlichkeit hervorzuheben pflegt. Gegenüber dem aufgeklärten Bewußtseinsstand, dem die erzählende Rede angehört, dem allgemeinbegrifflichen Wesen, erscheint dies gegenständliche Element stets als
eines von Dummheit, ein Nichtverstehen, Nichtbescheidwissen, verstockt
ans Besondere dort sich Halten, wo es zugleich schon als vom Allgemeinen
Aufgelöstes bestimmt ist. Das Epos ahmt den Bann des Mythos nach, um
ihn zu erweichen. K. Th. Preuss hat jene Verhaltensweise „Urdummheit“
genannt, und Gilbert Murray die der homerisch-olympischen Phase voraufgehende, die erste Stufe der griechischen Religion, eben dadurch charakterisiert. In der starren Fixierung des epischen Berichts an seinen Gegenstand,
welche die Macht von Furcht vor dem brechen soll, welchem das identifizierende Wort ins Auge sieht, wird der Erzähler gleichsam des Gestus von
Furcht mächtig. Naivetät ist der Preis, den er dafür zollt, und ihn verbucht
die herkömmliche Ansicht als Gewinn. Die traditionelle Lobpreisung solcher
erst in der Dialektik der Form entsprungenen Dummheit des Erzählens hat
aus ihr eine bewußtseinsfeindliche, restaurative Ideologie gemacht, deren
letzter Abhub in den falsch konkreten philosophischen Anthropologien von
heutzutage verschachert wird.
Aber die epische Naivetät ist nicht nur Lüge, um die allgemeine Besinnung von der blinden Anschauung des Besonderen fernzuhalten. Wie sie, als
antimythologische Anstrengung, aus dem aufklärerischen, gleichsam positivistischen Bestreben hervorgeht, treu und unverstellt was einmal war so
festzuhalten, wie es war, und damit den Zauber, den das Gewesene ausübt,
den Mythos im eigentlichen Sinn zu sprengen, bleibt ihr in der Beschränkung
aufs Einmalige ein Zug eigentümlich, der Beschränkung transzendiert.
[Über epische Naivetät. Gesammelte Schriften, Band 11, S. 34-36]
Das „letzte Volksbuch der Philosophie“ – Minima Moralia
Fisch im Wasser - Seit der umfassende Verteilungsapparat der hochkonzentrierten Industrie die Sphäre der Zirkulation ablöst, beginnt diese eine wunderliche Post-Existenz. Während den Vermittlerberufen die ökonomische
Basis entschwindet, wird das Privatleben Ungezählter zu dem von Agenten
und Vermittlern, ja der Bereich des Privaten insgesamt wird verschlungen
von einer rätselhaften Geschäftigkeit, die alle Züge der kommerziellen trägt
ohne daß es eigentlich dabei etwas zu handeln gibt. Die Verängstigten, vom
Arbeitslosen bis zum Prominenten, der sich im nächsten Augenblick den
Zorn jener, deren Investition er darstellt, zuziehen kann, glauben nur durch
Einfühlung, Beflissenheit, zur Verfügung Stehen, durch Schliche und Tücke
der als allgegenwärtig vorgestellten Exekutive sich zu empfehlen, durch
Händlerqualitäten, und bald gibt es keine Beziehung mehr, die es nicht auf
Beziehungen abgesehen hätte, keine Regung, die nicht einer Vorzensur
unterstünde, ob man auch nicht vom Genehmen abweicht. Der Begriff der
Beziehungen, eine Kategorie von Vermittlung und Zirkulation, ist nie in der
eigentlichen Zirkulationssphäre am besten gediehen, auf dem Markt, sondern in geschlossenen, monopolartigen Hierarchien. Nun die ganze Gesellschaft hierarchisch wird, saugen die trüben Beziehungen auch überall
dort sich fest, wo es noch den Schein von Freiheit gab. Die Irrationalität des
Systems kommt kaum weniger als im ökonomischen Schicksal des Einzelnen
in dessen parasitärer Psychologie zum Ausdruck. Früher, als es noch etwas
wie die verrufen bürgerliche Trennung von Beruf und Privatleben gab, der
man fast schon nachtrauern möchte, wurde als unmanierlicher Eindringling
mit Mißtrauen gemustert, wer in der Privatsphäre Zwecke verfolgte. Heute erscheint der als arrogant, fremd und nicht zugehörig, der auf Privates
sich einläßt, ohne daß ihm eine Zweckrichtung anzumerken wäre. Beinahe
ist verdächtig, wer nichts »will«: man traut ihm nicht zu, daß er, ohne durch
Gegenforderungen sich zu legitimieren, im Schnappen nach den Bissen einem behilflich sein könnte. Ungezählte machen aus einem Zustand, welcher
aus der Liquidation des Berufs folgt, ihren Beruf. Das sind die netten Leute,
die Beliebten, die mit allen gut Freund sind, die Gerechten, die human jede
Gemeinheit entschuldigen und unbestechlich jede nicht genormte Regung
als sentimental verfemen. Sie sind unentbehrlich durch Kenntnis aller Kanäle
und Abzugslöcher der Macht, erraten ihre geheimsten Urteilssprüche und
leben von deren behender Kommunikation. Sie finden sich in allen politischen Lagern, auch dort, wo die Ablehnung des Systems für selbstverständlich gilt und damit einen laxen und abgefeimten Konformismus eigener Art
ausgebildet hat. Oft bestechen sie durch eine gewisse Gutartigkeit, durch
mitfühlenden Anteil am Leben der andern: Selbstlosigkeit auf Spekulation.
Sie sind klug, witzig, sensibel und reaktionsfähig: sie haben den alten Händlergeist mit den Errungenschaften der je vorletzten Psychologie aufpoliert.
Zu allem sind sie fähig, selbst zur Liebe, doch stets treulos. Sie betrügen
nicht aus Trieb, sondern aus Prinzip: noch sich selber werten sie als Profit,
den sie keinem anderen gönnen. An den Geist bindet sie Wahlverwandtschaft und Haß: sie sind eine Versuchung für Nachdenkliche, aber auch deren schlimmste Feinde. Denn sie sind es, die noch die letzten Schlupfwinkel
des Widerstands, die Stunden, welche von den Anforderungen der Maschinerie freibleiben, subtil ergreifen und verschandeln. Ihr verspäteter Individualismus vergiftet, was vom Individuum etwa noch übrig ist.
[Minima Moralia. Gesammelte Schriften, Band 4, S. 23-25]
Bewährung der Theorie an den Gegenständen. Zum Beispiel: Aufzeichnungen zu Kafka
Genau dieser monopolistische Verteilungsapparat, „riesigen Umfangs“, hat
den Handel und Wandel vernichtet, dessen hippokratisches Antlitz Kafka
verewigt. Das geschichtliche Verdikt ergeht von der vermummten Herrschaft. So bildet es sich dem Mythos ein, der blinden, endlos sich reprodu-
zierenden Gewalt. In deren neuester Phase, der bürokratischen Kontrolle,
erkennt er die erste wieder; was sie ausscheidet, als urgeschichtlich. Risse
und Deformationen der Moderne sind ihm Spuren der Steinzeit, die Kreidefiguren auf der Schultafel von gestern, die keiner wegwischte, die wahre
Höhlenzeichnung. Die abenteuerliche Verkürzung, in der solche Rückbildungen erscheinen, trifft aber zugleich die gesellschaftliche Tendenz. Mit seiner
Übersetzung in Archetypen verendet der Bürger. Die Preisgabe seiner individuellen Züge, die Aufdeckung des wimmelnden Grauens unter dem Stein der
Kultur markiert den Verfall von Individualität selber. Das Grauen jedoch ist,
daß der Bürger keinen Nachfolger fand; „niemand hat‘s getan“. Das meint
vielleicht die Erzählung von Gracchus, dem nicht mehr wilden Jäger, einem
Mann der Gewalt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertum mißlungen. Zur Hölle wird bei Kafka die Geschichte, weil das Rettende versäumt
ward. Diese Hölle hat das späte Bürgertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben
und Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und
Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord mißrät, das Gelächter Satans
über die Hoffnung auf Abschaffung des Todes. Wie in Kafkas verkehrten
Epen ging da zugrunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich heraus zu
Ende gelebte Leben. Gracchus ist das vollendete Widerspiel der Möglichkeit,
die aus der Welt vertrieben ward: alt und lebenssatt zu sterben.
[Aufzeichnungen zu Kafka. Gesammelte Schriften, Band 10, S. 273]
Wie eine neue Art des Denkens aussehen könnte
Aus den Frühschriften
Wer deutet, indem er hinter der phänomenalen Welt eine Welt an sich sucht,
die ihr zugrunde liegt und sie trägt, der verhält sich wie einer, der im Rätsel
das Abbild eines dahinter liegenden Seins suchen wollte, welches das Rätsel
spiegelt, wovon es sich tragen läßt: während die Funktion der Rätsellösung
es ist, die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben, nicht hinter
dem Rätsel zu beharren und ihm zu gleichen. Echte philosophische Deutung
trifft nicht einen hinter der Frage bereit liegenden und beharrenden Sinn,
sondern erhellt sie jäh und augenblicklich und verzehrt sie zugleich. Und wie
Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie
zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während
die Frage verschwindet -, so hat Philosophie ihre Elemente, die sie von den
Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder,
um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren
Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie
zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage
verschwindet. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose
Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren
prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist.
[Die Aktualität der Philosophie. Gesammelte Schriften, Band 1, S. 335]
Ich kann diese Begriffe nicht in der herkömmlichen Weise auseinander entwickeln. Das, worum es sich hier handelt, ist von einer prinzipiell anderen
logischen Form als Entwicklung aus einem „Entwurf“, dem Momente von
allgemeinbegrifflicher Struktur konstitutiv zugrunde liegen. Diese andere
logische Struktur selber ist hier nicht zu analysieren. Es ist die der Konstellation. Es handelt sich nicht um ein Erklären von Begriffen aus einander, sondern um Konstellation von Ideen, und zwar der Idee von Vergänglichkeit, des
Bedeutens und der Idee der Natur und der Idee der Geschichte. Auf diese
wird nicht als „Invarianten“ rekurriert; sie aufzusuchen ist nicht die Frageintention, sondern sie versammeln sich um die konkrete historische Faktizität,
die im Zusammenhang jener Momente in ihrer Einmaligkeit sich erschließt.
[Die Idee der Naturgeschichte. Gesammelte Schriften, Band 1, S. 359]
Über den Essay als Form
Die Aktualität des Essays ist die des Anachronistischen. Die Stunde ist ihm
ungünstiger als je. Er wird zerrieben zwischen einer organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alle und alles zu kontrollieren, und die, was
nicht auf den Consens zugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des
Intuitiven oder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit dem
leeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was der Wissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte und was ihr eben dadurch Objekt von Betriebsamkeit zweiten Grades wird. Der Essay jedoch hat es mit dem Blinden an
seinen Gegenständen zu tun. Er möchte mit Begriffen aufsprengen, was in
Begriffe nicht eingeht oder was durch die Widersprüche, in welche diese sich
verwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei bloß subjektive Veranstaltung. Er möchte das Opake polarisieren, die darin latenten Kräfte entbinden. Er bemüht sich um die Konkretion des in Raum und Zeit bestimmten
Gehalts; konstruiert das Zusammengewachsensein der Begriffe derart, wie
sie als im Gegenstand selbst zusammengewachsen vorgestellt werden. Er
entschlüpft dem Diktat der Attribute, welche seit der Definition des Symposions den Ideen zugeschrieben werden, „ewig seiend und weder werdend
noch vergehend, weder wechselnd noch abnehmend“; „ein um sich selbst
für sich selbst ewig eingestaltiges Sein“; und bleibt doch Idee, indem er vor
der Last des Seienden nicht kapituliert, nicht dem sich beugt, was bloß ist.
Aber er mißt es nicht an einem Ewigen, sondern eher an einem enthusiastischen Fragment aus Nietzsches Spätzeit: „Gesetzt, wir sagen Ja zu einem
einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu
allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht Nichts für sich, weder in uns selbst
noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eine
Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um
dies eine Geschehen zu bedingen - und alle Ewigkeit war in diesem einzigen
Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.“ Nur daß der Essay noch solcher Rechtfertigung und Bejahung mißtraut. Für das Glück, das Nietzsche heilig war, weiß er keinen anderen Namen
als den negativen. Selbst die höchsten Manifestationen des Geistes, die es
ausdrücken, sind immer auch verstrickt in die Schuld, es zu hintertreiben,
solange sie bloßer Geist bleiben. Darum ist das innerste Formgesetz des
Essays die Ketzerei. An der Sache wird durch Verstoß gegen die Orthodoxie
des Gedankens sichtbar, was unsichtbar zu halten insgeheim deren objektiven Zweck ausmacht.
[Der Essay als Form. Gesammelte Schriften, Band 11, S. 32-33]
Aus der Negativen Dialektik
Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er
öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlver-
wahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine
Einzelnummer sondern eine Nummernkombination.
Wie Gegenstände durch Konstellation zu erschließen seien, ist weniger
aus der Philosophie zu entnehmen, die daran sich desinteressierte, als aus
bedeutenden wissenschaftlichen Untersuchungen; vielfach war die durchgeführte wissenschaftliche Arbeit ihrem philosophischen Selbstverständnis,
dem Szientivismus voraus. Dabei braucht man keineswegs von dem eigenen
Gehalt nach metaphysischen Untersuchungen wie Benjamins ‚Ursprung des
deutschen Trauerspiels‘ auszugehen, die den Begriff der Wahrheit selbst
als Konstellation fassen. Zu rekurrieren wäre auf einen so positivistisch
gesonnenen Gelehrten wie Max Weber. Wohl verstand er die »Idealtypen«,
durchaus im Sinn subjektivistischer Erkenntnistheorie, als Hilfsmittel, dem
Gegenstand sich zu nähern, bar jeglicher Substantialität in sich selbst und
beliebig wieder zu verflüssigen. Aber wie in allem Nominalismus, mag er
auch seine Begriffe als nichtig einschätzen, in diesem etwas von der Beschaffenheit der Sache durchschlägt und über den denkpraktischen Vorteil
hinausreicht - keines der geringfügigsten Motive zur Kritik des unreflektierten Nominalismus -, so lassen die materialen Arbeiten Webers weit mehr
vom Objekt sich leiten, als nach der südwestdeutschen Methodologie zu
erwarten wäre. Tatsächlich ist der Begriff insoweit der zureichende Grund
der Sache, als die Erforschung zumindest eines sozialen Gegenstands falsch
wird, wo sie sich auf Abhängigkeit innerhalb seines Bereichs begrenzt, die
den Gegenstand begründeten, und dessen Determination durch die Totalität ignoriert. Ohne den übergeordneten Begriff verhüllen jene Abhängigkeiten die allerwirklichste, die von der Gesellschaft, und sie ist von den
einzelnen res, die der Begriff unter sich hat, nicht adäquat einzubringen.
Sie erscheint aber einzig durchs Einzelne hindurch, und dadurch wiederum
wandelt der Begriff sich in der bestimmten Erkenntnis. Im Gegensatz zur
gängigen wissenschaftlichen Übung wurde Weber in der Abhandlung über
die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus, als er die Frage
nach dessen Definition aufwarf, der Schwierigkeit der Definition historischer
Begriffe so deutlich inne wie vor ihm nur Philosophen, Kant, Hegel, Nietzsche. Er lehnt ausdrücklich das abgrenzende Definitionsverfahren nach dem
Schema »genus proximum, differentia specifica« ab und verlangt statt dessen, soziologische Begriffe müßten aus ihren »einzelnen der geschichtlichen
Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden.
Die endgültige begriffliche Erfassung kann daher nicht am Anfang, sondern
muß am Schluß der Untersuchung stehen«. Ob es einer solchen Definition
am Schluß allemal bedarf, oder ob, was Weber das »Komponieren« nennt,
ohne formal definitorisches Resultat das zu sein vermag, wohin schließlich auch Webers erkenntnistheoretische Absicht möchte, steht dahin. So
wenig Definitionen jenes Ein und Alles der Erkenntnis sind, als welches der
Vulgärszientivismus sie betrachtet, so wenig sind sie zu verbannen. Denken,
das in seinem Fortgang nicht der Definition mächtig wäre, nicht für Augenblicke es vermöchte, die Sache durch sprachliche Prägnanz einstehen zu lassen, wäre wohl so steril wie eines, das an Verbaldefinitionen sich sättigt. Wesentlicher jedoch, wofür Weber den Namen des Komponierens gebraucht,
der dem orthodoxen Szientivismus inakzeptabel wäre. Er hat dabei freilich
bloß die subjektive Seite, das Verfahren der Erkenntnis im Auge. Aber es
dürfte um die in Rede stehenden Kompositionen ähnlich bestellt sein wie um
ihr Analogen, die musikalischen. Subjektiv hervorgebracht, sind diese gelungen allein, wo die subjektive Produktion in ihnen untergeht. Der Zusammenhang, den sie stiftet - eben die ‚Konstellation‘ -, wird lesbar als Zeichen der
Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstella-
tionen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache. Sogar ein Verfahren, das so sehr
dem traditionellen Wissenschaftsideal und seiner Theorie sich verpflichtet
wie das Max Webers, enträt keineswegs dieses bei ihm nicht thematischen
Moments. Während seine reifsten Werke, vor allem ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘ dem Anschein nach zuweilen leiden an einem der Jurisprudenz
entlehnten Überschuß von Verbaldefinitionen, sind diese, näher besehen,
mehr als solche; nicht nur begriffliche Fixierungen sondern eher Versuche,
durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen auszudrücken, worauf er geht, anstatt ihn für operative Zwecke zu umreißen.
So wird etwa der in jeder Hinsicht entscheidende Begriff des Kapitalismus,
ähnlich übrigens wie bei Marx, von isolierten und subjektiven Kategorien wie
Erwerbstrieb oder Gewinnstreben emphatisch abgehoben. Das vielberufene Gewinnstreben müsse im Kapitalismus orientiert sein am Rentabilitätsprinzip, an den Marktchancen, müsse der kalkulierenden Kapitalrechnung
sich bedienen; seine Organisationsform sei die der freien Arbeit, Haushalt
und Betrieb seien getrennt, er bedürfe der Betriebsbuchführung und eines
rationalen Rechtssystems gemäß dem den Kapitalismus durchherrschenden
Prinzip von Rationalität überhaupt. Zu bezweifeln bleibt die Vollständigkeit
dieses Katalogs; insbesondere zu fragen, ob nicht der Webersche Nachdruck
auf Rationalität, unter Absehung von dem durch den Äquivalententausch
hindurch sich reproduzierenden Klassenverhältnis, schon durch die Methode
den Kapitalismus allzusehr seinem ‚Geist‘ gleichsetze, obwohl der Äquivalententausch und seine Problematik ohne Rationalität gewiß nicht denkbar
wären. Gerade die zunehmende Integrationstendenz des kapitalistischen
Systems jedoch, dessen Momente zu einem stets vollständigeren Funktionszusammenhang sich verschlingen, macht die alte Frage nach der Ursache gegenüber der Konstellation immer prekärer; nicht erst Erkenntniskritik,
der reale Gang der Geschichte nötigt zum Aufsuchen von Konstellationen.
Treten diese bei Weber anstelle einer Systematik, deren Absenz man ihm
gern vorwarf, so bewährt sein Denken sich darin als ein Drittes jenseits der
Alternative von Positivismus und Idealismus.
[Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Band 6, S. 166-168]
Ästhetische Theorie
So wenig wie Theorie vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal
negativ. Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch
dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die
Utopie. Zu jenem Bild versammeln sich all die Stigmata des Abstoßenden
und Abscheulichen in der neuen Kunst. Durch unversöhnliche Absage an
den Schein von Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten,
richtiges Bewußtsein einer Epoche, darin die reale Möglichkeit von Utopie
- daß die Erde, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar
das Paradies sein könnte - auf einer äußersten Spitze mit der Möglichkeit der
totalen Katastrophe sich vereint.
[Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7, S. 55-56]
Darum muß jegliche Theorie der Kunst zugleich Kritik an ihr sein. Selbst an
radikaler Kunst ist soviel Lüge, wie sie das Mögliche, das sie als Schein herstellt, dadurch herzustellen versäumt. Kunstwerke ziehen Kredit auf eine
Praxis, die noch nicht begonnen hat und von der keiner zu sagen wüßte, ob
sie ihren Wechsel honoriert.
[Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7, S. 129]