Buchbesprechung

Buchbesprechung
Hoerster, Norbert:
Ethik und Interesse
MIZ
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Während Norbert Hoerster 2002 mit dem Essay Ethik des Embryonenschutzes zu einer
konkreten ethischen Debatte Stellung bezog (vgl. MIZ 1/03), liefert er mit Ethik und Interesse das allgemeine Rahmenkonzept einer “interessenfundierten Ethik”.
Die Kernfragen des Buchs lauten: Inwiefern ist es rational, bestimmten moralischen
Normen seine Zustimmung zu geben? Wie sind Moralnormen begründet und ist es für
das Individuum überhaupt sinnvoll, sich in seiner Lebenspraxis moralischen Verhaltenbeschränkungen zu unterwerfen? Um diese Fragen zu klären, analysiert Hoerster zunächst die Bedeutung der Begriffe “Rationalität” und “Interesse”. Daraufhin widmet er
sich der Funktion von Normen, wobei er u.a. die Struktur von Normsätzen untersucht,
die Wirksamkeit von Normen und die Konsequenzen von Normbefolgung bzw. -verweigerung herausstellt, sowie die verschiedenen Formen von Normvertretung, -akzeptanz
und -geltung voneinander abgrenzt.
Nach diesen wichtigen begrifflichen Bestimmungen wendet sich Hoerster einigen bekannten Konzepten der Moralbegründung zu. Dabei unterzieht er zunächst das sog.
“Naturrechtsdenken” einer scharfen Kritik. Vertreter dieses Ansatzes gehen davon aus,
dass die Natur nicht nur von kausalen, sondern auch von finalen Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird, woraus sie folgern, dass sich auch der Mensch in seinem Verhalten diesen
“natürlichen Zielen” unterwerfen müsse. (Diese Denkfigur tritt uns beispielsweise in der
katholischen Sexualmoral entgegen, die bekanntlich Homosexualität als angeblich “unnatürliches” Verhalten rügt). Hoerster führt aus, dass das naturrechtliche Argument
selbst dann nicht stichhaltig ist, wenn man bereit sein sollte, irgendeinen Sinn in der
Rede von den “Zielen der Natur” zu sehen. Denn erstens folgt aus dem, was (vermeintlich) ist, nicht notwendigerweise, dass es auch sein soll, zweitens bleibt völlig unklar,
wie “natürliches” von “unnatürlichem” Verhalten deskriptiv und normativ unterschieden
werden soll (Beispiel: Ist Cembalospielen rein deskriptiv nicht “unnatürlicher” als Homosexualität? Wenn ja: warum wird von Naturrechtsdenkern nur Letzteres als bedenklich empfunden?) Völlig zu Recht stellt Hoerster fest, “dass dem Naturrechtler sein Ansatz lediglich als Mittel dient, um gewissen Moralnormen, die er […] nicht hinterfragen
möchte, den Anschein einer objektiven Legitimität zu geben.”
Ähnlich scharf fällt Hoersters Urteil zum “Intuitionismus” aus, der in Bezugnahme auf
das sog. “Gewissen” unterstellt, dass der Mensch die objektive Relevanz moralischer
Normen auf intuitivem Wege erfassen könne. Das Grundproblem dieses Ansatzes ist
darin zu sehen, dass er keine Kriterien zur Überprüfung moralischer Intuitionen angeben kann als diese Intuitionen selbst. (Wie lässt sich auf dieser Basis beispielsweise entscheiden, ob – bezogen auf die Todesstrafe – die “durchschnittliche Intention” eines USAmerikaners oder die eines Deutschen zu moralisch legitimen Urteilen führt?)
Kann aber vielleicht das “Prinzip der Unparteilichkeit”, wie es u.a. Immanuel Kant mit
seinem “Kategorischen Imperativ” formuliert hat, zu objektiv begründbaren Moralnormen führen? Auch hier ist Hoerster äußerst skeptisch, da der Kategorische Imperativ als
ein rein abstraktes Verfahren zur Gewinnung vermeintlich objektiv begründeter Moralnormen existentiell “in der Luft” hängt. Hoerster verdeutlicht dies u.a. anhand des folgenden Beispiels: Person D ist nicht bereit, Not leidenden Personen zu helfen – nach
Kant ein klarer Verstoß gegen den Kategorischen Imperativ, da dieses Verhalten auch
von D nicht zur allgemeinen Maximen erhoben könne. Denn: Wenn niemand bereit
wäre, Not leidenden Personen zu helfen, so würde auch D ohne Hilfe dastehen, falls er
selber irgendwann einmal in eine Notlage gerät.
Hoerster hält diesem Argument entgegen, dass es von einer Reihe von Faktoren abhängig sei, ob D in Kantscher Weise ein Fehlen von Altruismus in der Gesellschaft als besorgniserregend (und damit für sich selbst handlungsrelevant) einstuft: Wie gut ist er
beispielsweise situiert? In welchem Maße ist er bereit, ein gewisses Notfallrisiko in
Kauf zu nehmen? Schließlich sei es ja “auch nicht für jedermann ohne weiteres ein
zwingendes Vernunftgebot, für sein Auto den Abschluss einer Vollkaskoversicherung zu
wollen”. Außerdem sei zu bedenken, dass es Menschen gebe, die “einen derartigen
Stolz besitzen, dass sie ihr Leben ohne fremde Hilfe meistern wollen”. Falls D ein solcher Mensch sei, “könnte er sogar noch zu dem Zeitpunkt, in dem er selbst in Not geraten ist, mit einem allgemeinen Fehlen des Altruismus einverstanden sein”.
Auf ähnliche Weise entzaubert Hoerster auch die Moralbegründungssysteme von Jürgen
Habermas (Diskurstheorie) und Richard M. Hare (Utilitarismus). Beide setzen (ähnlich
wie Kant) schon als objektiv begründet voraus, wofür die Theorien erst objektive Begründungen liefern müssten. Als Alternative zu diesen, auf objektive Begründbarkeit
abzielenden ethischen Konzepten, schlägt Hoerster einen interessensfundierten, individualistischen Ansatz vor, der nicht auf scheinbar objektiv begründbaren, sondern auf intersubjektiv begründeten Normen basiert.
Wie Hoerster darlegt, sind weder das Tötungs-, noch das Lügen- oder Diebstahlsverbot
objektiv begründet, die Akzeptanz, Vertretung und Geltung dieser Verbote können jedoch sehr wohl im Interesse des Individuums (“subjektive Moralbegründung”) sowie im
Interesse einer Gruppe von Individuen (“intersubjektive Moralbegründung”) liegen.
Energisch wendet sich Hoerster in diesem Zusammenhang gegen die Vorstellung, dass
“alles erlaubt sei, wenn es Gott (als Setzer unbedingt gültiger, moralischer Normen)
nicht gibt”, bzw. wenn Moralnormen nicht als objektiv von der Vernunft erkennbar gelten. Zum einen sei es weder um die empirische Erkenntnis Gottes noch um die empirische Erkenntnis objektiver Normen sonderlich gut bestellt (im Gegensatz zur Erkenntnis der empirischen Interessen des Individuums!). Zum anderen lasse sich sehr wohl auf
der Basis bloß individueller Interessen ein ethisches Konzept erstellen, das ein friedliches Zusammenleben der Menschen garantieren könnte. Außerdem sei zu beachten,
dass mit dem Anspruch des Moralobjektivismus noch nichts über dessen inhaltliche
Ausrichtung (Diskriminierung oder Gleichstellung von Frauen? Verbot oder Ächtung
der Todesstrafe? etc.) gesagt ist. Mehr noch: Unter der Voraussetzung, dass der Moralobjektivismus tatsächlich die geltende Moral stärkt, “wirkt derselbe Moralobjektivismus
notwendigerweise immer auch als Bollwerk gegen jede sachlich angezeigte, inhaltliche
Reform der Moral!”
Fazit: Mit Ethik und Interesse ist Norbert Hoerster ein inhaltlich anspruchvolles und
durch die vielen anschaulichen Beispiele zugleich auch unterhaltsames Buch gelungen,
das die metaphysischen Nebelbomben, die auf dem Gebiet der Ethik immer wieder gezündet werden, als solche erkennbar macht. Im wohltuenden Kontrast zu Habermas &
Co. beeindruckt Hoersters Darstellung des interessensfundierten Ansatzes durch eine
schnörkellose, klare Sicht der Dinge. Kurzum: Ein Buch, das wohl auch von philosophischen Laien mit Gewinn gelesen werden kann. Wie schon bei der Ethik des Embryonenschutzes ist auch bei diesem Reclamband das Preis-Leistungsverhältnis unschlagbar.
Anschaffung dringend empfohlen!
Michael Schmidt-Salomon, MIZ 01/04