Inhalt Editorial 3 Leitartikel Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters Wolfgang Wohlers 5 Recht Dringliche Dienstfahrten und Via Sicura 16 Begründete Furcht vor Führerausweisentzug und Freiheitsstrafe, wenn die Zeit drängt? Eliane Welte Qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung bei Überschreitung der Grenzwerte nach Art. 90 Abs. 4 SVG – eine «unwiderlegbare Vermutung»? 31 Anmerkungen zu BGer, 20.11.2014, 1C_397/2014 Gerhard Fiolka Auslegung des Raserbegriffs gestützt auf die beiden Absätze 3 und 4 von Art. 90 SVG 35 Bemerkungen zum Urteil des Bundesgerichts der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung vom 20. November 2014 (1C_397/2014) Hans Wiprächtiger/Meret Wirth Praxis Rechtsprechung unter der Lupe Andreas A. Roth 39 Interview Interview mit Bruno Zanga 47 Bekanntgabe der Standorte der semistationären Geschwindigkeits-Messanlagen durch die Kantonspolizei St. Gallen Edit Seidl Statistik Verkehrssicherheit in den zehn grössten Schweizer Städten Edit Seidl 50 STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/20151 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 1 10.04.15 11:25 Impressum Strassenverkehr Circulation routière ISSN: 1663-4888 Interdisziplinäre Zeitschrift / Revue interdisciplinaire 7. Jahrgang Nr. 1/2015 Herausgeber Prof. em. Dr. iur. et Dr. phil. I Hans Giger, Universität Zürich, Rechtsanwalt Prof. Edit Seidl, Mediatorin IRP-HSG, Andragogin und Ökonomin Beirat lic. iur. Daniel Blumer, Rechtsanwalt, Kommandant der Stadtpolizei Zürich, Präsident der Verkehrskommission der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS) Dr. rer. pol. Brigitte Buhmann, Direktorin, Beratungsstelle für Unfallverhütung lic. iur. Beat Hensler, a. Kommandant der Luzerner Polizei; a. Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten der Schweiz (K KPKS) Dr. iur. Thierry Luterbacher, Rechtsanwalt, CEO AXA ARAG lic. phil. I Peter-Martin Meier, Präsident Verkehrssicherheitsrat a. Bundesrat und Bundespräsident Dr. h.c. Adolf Ogi, Vorsteher des Eidgenössischen Verkehrs- und Energiedepartements 1988–1995 Dr. iur. Frank Th. Petermann, Rechtsanwalt, Präsident der Vereinigung der Schweizer Medizinalrechtsanwälte lic. iur. Evalotta Samuelsson, Rechtsanwältin, Vorstandsmitglied der Unfallopfer- und Patientenrechtsberatungsstelle U.P. Prof. em. Dr. iur. Dr. h.c. mult. Herbert Schambeck, Universtiät Linz/Ö, Präsident des Bundesrates i.R. der Republik Österreich Prof. em. Dr. iur. Ivo Schwander, Professor für Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Schweizerisches Privatrecht, Universität St. Gallen Prof. Dr. med. Michael Thali, Executive MBA HSG, Direktor, Institut für Rechtsmedizin, Universität Zürich Prof. em. Dr. oec. Dr. phil. II Hugo Tschirky, Institut Technology and Innovation Management, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Urs Wernli, Zentralpräsident Auto Gewerbe Verband Schweiz Willi Wismer, Präsident Zürcher Fahrlehrer Verband Redaktion Chefredaktion Prof. em. Dr. iur. et Dr. phil. I Hans Giger, Universität Zürich, Rechtsanwalt Redaktioneller Ausschuss Prof. em. Dr. iur. et Dr. phil. I Hans Giger, Universität Zürich, Rechtsanwalt lic. iur. Manfred Dähler, Rechtsanwalt Prof. Dr. iur. André Kuhn, Professeur de criminologie et de droit pénal aux Universités de Lausanne et de Neuchâtel, Membre fondateur Centre interdisciplinaire de droit et d’étude de la circulation routière CIDECR Prof. Edit Seidl, Mediatorin IRP-HSG, Andragogin und Ökonomin Schriftleitung Prof. Edit Seidl, Mediatorin IRP-HSG, Andragogin und Ökonomin Prof. Dr. iur. André Kuhn, Professeur de criminologie et de droit pénal aux Universités de Lausanne et de Neuchâtel, Membre fondateur Centre interdisciplinaire de droit et d’étude de la circulation routière CIDECR (französisch) Redaktion Dr. iur. Roland Brehm, a. Lehrbeauftragter Universitäten Genf und Fribourg Prof. Dr. phil. I Amos S. Cohen, Verkehrspsychologe, Universität Zürich lic. iur. Manfred Dähler, Rechtsanwalt Prof. Dr. med. Volker Dittmann, ehem. Leitender Arzt Forensische Psychiatrie, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Prof. em. Dr. iur. et Dr. phil. I Hans Giger, Universität Zürich, Rechtsanwalt Dr. Markus Hackenfort, Projektleiter Unfallforschung, Zentrum für Verkehrs- und Sicherheitspsychologie am IAP der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW 2 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 2 Prof. Dr. rer. nat. Lutz Jäncke, Ordinarius am Lehrstuhl für Neuropsychologie, Psychologisches Institut, Universität Zürich Prof. Dr. iur. Ueli Kieser, Rechtsanwalt, Titularprofessor an der Universität St. Gallen Prof. Dr. iur. André Kuhn, Professeur de criminologie et de droit pénal aux Universités de Lausanne et de Neuchâtel, Membre fondateur Centre interdisciplinaire de droit et d’étude de la circulation routière CIDECR Prof. Dr. iur. Moritz Kuhn, Universität Zürich Cédric Mizel, avocat, Service des automobiles et de la navigation, Neuchâtel, Chargé d’enseignement à l’Université de Neuchâtel lic. iur. Yann Moor, Rechtsanwalt, Prof. Giger & Dr. Simmen Rechtsanwälte, Zürich Fürsprecher Andreas A. Roth Prof. Dr. iur. Baptiste Rusconi, Université de Lausanne, avocat Prof. Dr. rer. publ. Dr. h.c. René Schaffhauser, em. Professor für Öffentliches Recht, Universität St. Gallen Prof. Dr. iur. Martin Schubarth, Universität Basel, Ancien Président du Tribunal fédéral, Avocat-Conseil Prof. Edit Seidl, Mediatorin IRP-HSG, Andragogin und Ökonomin Dr. iur. Philippe Weissenberger, Rechtsanwalt, Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. iur. Franz Werro, Universität Freiburg i.Ü. und Georgetown University Law Center, Washington D.C. Dr. h.c. Hans Wiprächtiger, Rechtsanwalt, ehem. Bundesrichter Prof. Dr. iur. Piermarco Zen-Ruffinen, Doyen Faculté de droit, Université de Neuchâtel, Membre fondateur Centre interdisciplinaire de droit et d’étude de la circulation routière CIDECR Auslandskorrespondenz Prof. Dr. iur. Christian Huber, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht, RWTH Aachen RA Ulrike Karbach, Fachanwältin für Verkehrsrecht Dr. iur. Markus Schäpe, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht, Leiter ADAC Verkehrsrecht, München Redaktionsadresse Strassenverkehr/Circulation routière Postfach 3277, 8021 Zürich Tel. 044 250 43 31, Fax 044 250 43 49 [email protected] Übersetzungen Leadübersetzungen in die französische Sprache LT LAWTANK, Laupenstrasse 4, 3001 Bern Abonnemente und Verlag Dike Zeitschriften AG, Zürich/St. Gallen Postadresse: Weinbergstrasse 41, 8006 Zürich Tel. 044 251 58 30, Fax 044 251 58 29 E-Mail: [email protected] Erscheint 3-mal jährlich Abonnementspreise Jahresabonnement Schweiz: CHF 148.– (inkl. Versandkosten) Jahresabonnement Ausland: Euro 110.– (exkl. Versandkosten) für Studierende: CHF 49.– (inkl. Versandkosten) Einzelheft: CHF 42.– (exkl. Versandkosten) Kündigungen für die neue Abonnementsperiode sind schriftlich und bis spätestens 31. Oktober des vorangehenden Jahres mitzuteilen. Beanstandungen können nur innert 8 Tagen nach Eingang der Sendung berücksichtigt werden. 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November 2014 hat sich unsere höchste Instanz mit dieser Problematik befasst und dabei festgestellt, Editorial Man kann es nicht mehr verschweigen: Mehr und mehr gleiten Rechtswissenschaft, Gesetzgebungsaktivitäten wie auch letztlich die Normanwendungspraxis in jene Zeitepoche zurück, als das Spektrum menschlichen Verhaltens methodisch durch eine systematische Kasuistik – eine Art aprioristisch-fingiertes Case Law – einer umfassenden gesetzlichen Kontrolle unterworfen wurde. Die Auslegung der Gesetze klammerte sich an den Wortlaut, der keine Abweichung vom Aussagegehalt duldete. Der Traum von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung, der Kenntnisreichtum über das Anwendungspotential und die sklavische und rigorose Umsetzung der wortgetreuen gesetzgeberischen Formulierung steht nun – so scheint es wenigstens – im Vordergrund auch der Strassenverkehrsordnung. Vergessen werden dabei oft die Errungenschaften der Rechtswissenschaft, die den Gesetzgeber durch Schaffung von Grundsätzen an die Leitidee einer übergeordneten Gerechtigkeit binden wollten. Zugegeben: Im Strafrecht gibt es an sich – nicht wie im Zivilrecht – keine allzu grosse Entscheidungsfreiräume, wenn es darum geht, den Wortlaut der Normierung zu hinterfragen. Indessen gibt es doch unabdingbare Leitideen, Prinzipien und anderweitige übergeordnete Anordnungen des Gesetzgebers, die sich auf die Interpretation einzelner Bestimmungen auswirken können. Nur beispielhaft sei auf den Grundsatz nulla pona sine lege, das Verschuldensprinzip, rechtsgleiche Behandlung, das Recht auf persönliche wie anderweitige Freiheiten, Schutz der Privatsphäre, Eigentumsgarantie, Verfahrensgarantie, Anspruch auf rechtliches Gehör, sodann die Garantie im Hinblick auf die Verwirklichung der Grundrechte sowie die Unschuldsvermutung hingewiesen. Die meisten der soeben aufgezählten Ansprüche werden von der allen Gesetzen übergeordneten Bundesverfassung garantiert. Grundrechte müssen aber auch im Rahmen des Strafrechts eine angepasste Berücksichtigung finden und dies vorab mit dem unentziehbaren Anspruch darauf, ohne Verschulden (Absicht, Vorsatz oder Fahrlässigkeit) nicht strafrechtlich erfasst zu werden. dass die starren Limiten von Art. 90 Abs. 4 SVG «in der Tat einigermassen deutlich» sind «und insofern auch unerbittlich, als sie keinen Raum für eine nähere Differenzierung nach dem Gefahrenpotential der jeweiligen Handlung lassen». In seinem Beitrag über diese normative Entgleisung bietet Prof. Dr. Gerhard Fiolka einen einleuchtenden Ausweg an, indem er in den Bestimmungen Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG ein «mehrschichtiges Definitionskonstrukt» erblickt und damit zwischen den beiden Absätzen 3 und 4 von Art. 90 SVG eine Einheit erblickt, sodass die in Abs. 3 angeführten subjektiven Tatbestandsmerkmale auch auf Abs. 4 Anwendung findet sollen. Die Analyse zur Auslegung des Raserbegriffs führt die Autoren a. Bundesrichter Dr. h.c. Hans Wiprächtiger und MLaw Meret Wirth ebenfalls in eine durchdachte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen den Absätzen 3 und 4 von Art. 90 SVG. Im Gegensatz zur höchstinstanzlichen Ansicht vertreten sie die Überzeugung, dass man die unglückliche Formulierung von Art. 90 Abs. 4 SVG nicht einfach «akzeptieren muss». Vielmehr müssen beide Absätze als strukturelle Einheit aufgefasst werden, indem in Art. 90 Abs. 4 SVG eine Konkretisierung von Art. 90 Abs. 3 SVG erblickt wird und der Nachweis der darin geregelten subjektiven Voraussetzungen zur Tatbestandsmässigkeit von Art. 90 Abs. 4 SVG gehört. Ganz besondere Beachtung verdienen ebenfalls die im Leitartikel über «die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters» durch Prof. Dr. iur. Wolfgang Wohlers in einer äusserst luziden und eingehenden Auseinandersetzung hinsichtlich des subsidiär erfolgenden Transfers der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf den Fahrzeughalter erfolgten Analyse. Es handle sich dabei aber unwiderlegbar um eine Kriminalisierung des Fahrzeughalters nicht für sein eigenes, sondern für fremdes Verhalten. In stringenten logischen Deduktionen setzt sich der Autor mit allen Varianten auseinander, bei denen die individuelle Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Halters fehlt, aber er dennoch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wird. Der Autor verschafft nicht nur einen Überblick über die Verantwortlichkeit des Halters, sondern analysiert die vorkommenden Varianten der Verantwortlichkeitsabwälzung. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Bestimmung Art. 6 OBG, wonach im Fall der Unkenntnis über die Person der Widerhandlung zwangsläufig der im Fahrzeugausweis eingetragene Fahrzeughalter bestraft wird. Wohlers weist in diesem Zusammenhang auch auf die Widersprüche in der Rechtsprechung hin. Das Verbot des Selbstbelastungszwangs STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/20153 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 3 10.04.15 11:25 Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Kriminalisierung des Fahrzeughalters – sowohl für sein eigenes als auch für fremdes Verhalten. Der Autor setzt sich mit allen Varianten, bei denen der Halter trotz Fehlens individueller Vorwerfbarkeit strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wird, kritisch auseinander. Besonders augenfällig wird die Verantwortlichkeitsabwälzung im Zusammenhang mit Art. 6 OBG, wonach im Fall der Unkenntnis über die Person der Widerhandlung zwangsläufig der im Fahrzeugausweis eingetragene Fahrzeughalter bestraft wird. In diesem Zusammenhang wird vorab auch auf die Widersprüche in der Rechtsprechung hingewiesen: Das Verbot des Selbstbelastungszwangs wird mit dem Segen der EMRK aufgehoben, «sofern der Täter nicht identifiziert werden kann». Die Loskoppelung der subsidiären Verantwortlichkeit vom Nachweis eines strafbaren Verhaltens setzt ein Signal für die Gefahr einer zunehmenden Aushebelung des Verschuldensprinzips. Inhalt I. Die Modelle der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters im Überblick II. Die primäre Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters 1. Die Verantwortlichkeit gemäss Art. 93, 95 und 96 SVG a) Halterverantwortlichkeit als Pflicht zur Überwachung einer Gefahrenquelle b) Die individuelle Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Halters 2. Die Verantwortlichkeit nach allgemeinen Grundsätzen des StGB a) Die Verantwortlichkeit für ein Tötungs- oder Körperverletzungsdelikt b) Die Verantwortlichkeit für Strassenverkehrsdelikte III. Die subsidiäre Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters 1. Verantwortlichkeit nach Art. 102 StGB 2. Verantwortlichkeit nach Art. 6 OBG a) Die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 6 OBG b) Die Legitimität der subsidiären Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters im Hinblick auf die Vorgaben der EMRK aa) Die einschlägige Rechtsprechung des EGMR bb) Art. 6 OBG als Statuierung einer Schuldübernahme cc) Konsequenzen Leitartikel Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters Wolfgang Wohlers* I. 5 7 7 7 7 8 9 9 11 11 11 12 12 12 14 14 * Prof. Dr. iur. Wolfgang Wohlers, Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Basel. Verfasser dankt Herrn lic. iur Emanuel Cohen, Wissenschaftlicher Assistent und Doktorand am Lehrstuhl Wohlers, für die Unterstützung bei der Sammlung und Auswertung des Materials sowie Frau MLaw Linda Bläsi, Wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin am Lehrstuhl Wohlers, für die Unterstützung bei der formalen Aufbereitung des Fussnotenapparats. Die Modelle der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters im Überblick Die Ahndung von Strassenverkehrsdelikten wird in der Praxis dadurch erheblich erschwert, dass es häufig nicht einfach ist, den für den jeweils in Frage stehenden Verstoss verantwortlichen Fahrer zu ermitteln. Beispiele für diesen Befund sind Parkverstösse sowie Fehlverhaltensweisen im fliessenden Verkehr, die zwar registriert werden, bei denen aber mangels einer Anhaltung des betroffenen Fahrzeugs im Nachhinein nicht klar ist, wer eigentlich am Steuer gesessen hat. Da der Halter des Kraftfahrzeugs zum einen bestreiten kann, das Fahrzeug selbst geführt zu haben, und er strafprozessual gesehen nicht verpflichtet ist, sich selbst oder ihm nahe stehende Personen zu belasten (vgl. Art. 113 StPO sowie Art. 169 Abs. 1 und 2 StPO),1 können die Aufklärungsbemühungen der Strafbehörden in diesen Fällen sehr schnell ins Leere laufen. Das BGer hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass auch dann, wenn sich der Fahrzeughalter entsprechend verhält, der Freispruch nicht zwingend ist, sondern vielmehr auch in diesen Fällen die freie Beweiswürdigung (vgl. Art. 10 Abs. 2 StPO) Geltung hat,2 wobei dann die Haltereigenschaft auch als ein Indiz für die Täterschaft gelten soll.3 Tatsächlich besteht aber bei einem bestreitenden Fahrzeughalter in der Regel keine tragfä- Vgl. BGer vom 24.4.2001, 1P.641/2000, E. 4 = Praxis 2001, Nr. 110, S. 640 ff., 643 f.; Jeanneret Yvan, La responsabilité pénale de l’entreprise et le droit de la circulation routière, AJP 2004, S. 917 ff., 925; Ders., Le temps tant tentant, in: Zen-Ruffinen Piermarco (Hrsg.), Le temps et le droit. Recueil de travaux offerts à la Journée de la Société suisse des juristes, Basel 2008, S. 131 ff., 141. 2 BGE 106 IV 142, 143. 3 Vgl. BGer Praxis 2001, Nr. 110, S. 640 ff. (FN 1) sowie die Analyse der einschlägigen Judikatur des BGer bei Jürg Boll, Identifikation von Fahrzeuglenkern, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts, Strassenverkehr/Circulation routière 4/2012, S. 5 ff., 6 ff. 1 STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/20155 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 5 10.04.15 11:25 Recht Dringliche Dienstfahrten und Via Sicura Begründete Furcht vor Führerausweisentzug und Freiheitsstrafe, wenn die Zeit drängt? Das Massnahmenpaket Via Sicura hat massiv höhere Strafdrohungen für schwere Verkehrsregelverletzungen mit sich gebracht, die Normierung der dringlichen Dienstfahrten blieb hingegen unverändert. Aufgrund dieser Neuerungen macht sich bei Rettungsdiensten und Polizeikorps die Befürchtung breit, die Ausnahmebestimmung für dringliche Dienstfahrten (Art. 100 Ziff. 4 SVG) werde zukünftig deutlich strenger gehandhabt. Die Autorin zeigt auf, welche Rechtfertigungsmöglichkeiten aktuell bestehen und inwiefern die neuesten parlamentarischen Vorstösse für eine Neuregelung tatsächlich Abhilfe schaffen könnten. Eliane Welte* Inhalt I.Ausgangslage II. Die Probleme in der Praxis 1. Massive Geschwindigkeitsübertretung innerorts 2. Polizeiliche Nachfahrt mit ungenügendem Abstand 3. Nachfahrt mit ungenügendem Abstand und Geschwindigkeitsübertretung 4. Tödliche Kollision zwischen Motorradfahrer und Ambulanz III. Einschlägige Rechtfertigungsgründe für dringliche Dienstfahrten 1. Die Ausnahmebestimmung von Art. 100 Ziff. 4 SVG a. Dringliche Dienstfahrt b. Betätigung der besonderen Warnvorrichtungen c. Beobachtung der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt d. Subjektives Rechtfertigungselement 2. Subsidiäre Berufung auf Art. 14 StGB a. Erfordernis einer Eingriffsgrundlage b.Verhältnismässigkeit 3. Rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB) a.Notstandshilfelage b.Notstandshilfehandlung ba) Subsidiarität bb) Proportionalität bc) Rettungswille 4.Fazit IV. Parlamentarische Vorstösse: alter Wein in neuen Schläuchen? 1. Verzicht auf die Warnvorrichtungen aus taktischen Gründen a. Normierung im geltenden Recht b. Was die vorgeschlagene Regelung bringt – und was nicht 2. Mildere Bestrafung bei Nichteinhaltung von Art. 100 Ziff. 4 SVG a. Einzelfallabhängige Bestimmung der zu beobachtenden Sorgfalt b. Kein Blankoscheck für Verkehrsregelverletzungen c. Geschwindigkeitslimiten von Art. 90 Abs. 4 SVG als äusserste Grenze V.Fazit I.Ausgangslage Die Normen des Strassenverkehrsgesetzes (SVG)1 gelten für sämtliche Verkehrsteilnehmer gleichermassen. Die Angehörigen von Feuerwehr, Polizei und Sanität können allerdings zuweilen in ein Dilemma geraten, wenn es ihnen anlässlich dringlicher Dienstfahrten nicht mehr möglich ist, sämtliche Verkehrsregeln strikt zu befolgen. Denn vielfach drängt die Zeit, nicht selten geht es bei solchen Einsätzen um Leben und Tod. Eine Verletzung von Verkehrsregeln anlässlich einer Dienstfahrt kann für den betreffenden Lenker des Einsatzfahrzeuges eine Verurteilung mit Straffolgen nach sich ziehen. Damit bewegen sich die Angehörigen von Feuerwehr, Polizei und Sanität bei ihrer täglichen Arbeit immer wieder im Spannungsfeld zwischen einem möglichst raschen Eintreffen am Einsatzort auf der einen und einer drohenden strafrechtlichen Verurteilung auf der anderen Seite. Diese Problematik ist nicht neu, hat nun allerdings – im Zusammenhang mit dem Verkehrssicherheitspaket Via Sicura des Bundesrates und den entsprechenden gesetzlichen Verschärfungen im Bereich der Geschwindigkeitsüberschreitungen − offenbar zu einiger Verunsicherung bei den betroffenen Rettungsdiensten und Polizeikorps geführt.2 Die verschärften Sanktionen sollen zwar in erster Linie dazu beitragen, die Zahl der Verkehrstoten zu senken, und zielen sicherlich nicht darauf, den Rettungsdiensten bei ihrer täglichen Arbeit Steine in den Weg zu legen. Die Befürchtung geht aber dahin, dass Angehörige Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958, SR 741.01. Vgl. dazu auch Hehli Simon, «Polizisten fürchten Haftstrafe wegen Raserei», NZZ Nr. 210 vom 11.9.2014, S. 12 sowie Hucko Margret, «Neues Straβengesetz – Schweiz macht Rettungskräfte zu Temposündern», Spiegel Online vom 22.4.2014, abrufbar unter <http://www.spiegel.de/auto/aktuell/schweiz-rettungskraeften-droht-strafe-bei-blaulicht-einsatz-a-965526. html.> (besucht am 12.1.2015). 1 2 * MLaw Eliane Welte, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Donatsch und Doktorandin bei Prof. Wolfgang Wohlers. 16 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 16 STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/2015 10.04.15 11:25 Anmerkungen zu BGer, 20.11.2014, 1C_397/2014 Ausgangslage vorliegenden Beitrags bildet die bundesgerichtliche Feststellung in einem Entscheid vom 20. November 2014, wonach der Gesetzgeber in Art. 90 Abs. 4 SVG davon ausging, dass das blosse Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um ein bestimmtes Mass in jedem Fall eine qualifizierte schwere Verkehrsverletzung begründe. Das Abstellen auf bestimmte Limitenüberschreitungen reicht zur Verurteilung zu drastischen Freiheitsstrafen aus und dies ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles. Als Lösungskonzept empfiehlt der Autor die gesetzgeberischen Formulierungen von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG als «mehrschichtiges Definitionskonstrukt» im Sinne einer normativen Einheit zu qualifizieren. Inhalt I.Einleitung II. Grenzwerte von Art. 90 Abs. 4 SVG als hinzunehmende Zufälligkeiten III. Limiten von Art. 90 Abs. 4 als «unwiderlegbare Vermutung» A. Vermutung im Allgemeinen B. Verschiebung der Beweislast im Strafrecht C. Kritik an der Annahme einer unwiderlegbaren Vermutung 1. Übertragung aus zivilrechtlichen Denkstrukturen 2. Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG als normative Einheit IV.Fazit I.Einleitung Art. 90 Abs. 3–4 SVG wurden ohne jegliche Modifikationen aus dem Initiativtext der «Raserinitiative» in das SVG übernommen. Dies hat zur Folge, dass sich die Bedeutung dieses Gesetzestextes weniger als bei anderen Texten anhand der Materialien erhellen lässt: Was die Initianten – abseits des Ringens um politische Anerkennung – mit diesem Text im Detail erreichen und zum Ausdruck bringen wollten, ist ex post kaum zu eruieren.1 Vor diesem Hintergrund lastet auf den Gerichten eine beträchtliche Verantwortung, sind es doch nun letztlich sie, die dem neuen qualifizierten Tatbestand zu sinnvollen Konturen verhelfen sollten, anhand derer sich dieser dann inskünftig in für die Praxis handhabbarer und für die Rechtsgenossen voraussehbarer Weise sollte anwenden lassen. * Prof. Dr. iur. Gerhard Fiolka, Ass. Professor für Internationales Strafrecht, Universität Freiburg i.Ü. 1 Vgl. dazu Gerhard Fiolka, Die Verkehrsregelverletzung nach dem revidierten Art. 90 SVG: Einfach, grob, krass!, in: André Kuhn et al. (Hrsg.), Kriminologie, Kriminalpolitik und Strafrecht aus internationaler Perspektive, Festschrift für Martin Killias, Bern 2013, 729–749, 730 ff. Recht Qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung bei Überschreitung der Grenzwerte nach Art. 90 Abs. 4 SVG – eine «unwiderlegbare Vermutung»? Gerhard Fiolka* In seinem vorliegenden Entscheid ist dies dem Bundesgericht leider nur teilweise und einigermassen einseitig geglückt: Das Ergebnis ist zwar sehr schematisch geraten und daher für die Praxis einfach anwendbar – sinnvoll sind die Konturen, die sich bei Art. 90 Abs. 3–4 SVG nun abzeichnen, aber nicht geraten. II. Grenzwerte von Art. 90 Abs. 4 SVG als hinzunehmende Zufälligkeiten Das Bundesgericht weist darauf hin, dass der Gesetzgeber entschieden habe, «dass derjenige, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit um ein bestimmtes, nach ihrer Höhe abgestuftes Mass überschreitet» in jedem Fall eine qualifizierte schwere Verkehrsregelverletzung begehe (E. 2.4.2). Dabei anerkennt es, dass «generelle Abstufungen und Grenzziehungen dieser Art … naturgemäss etwas Zufälliges an sich» haben und dass u.U. eine weitere Differenzierung (z.B. nach dem Kriterium der Richtungstrennung von Strassen) auch möglich wäre. Dass der Gesetzgeber sich für ein «relativ grobes Schema entschieden und von weiteren Differenzierungen abgesehen» habe, liege indes in seinem Ermessen und sei hinzunehmen. Dieser Befund trifft zu: Die starren Limiten von Art. 90 Abs. 4 SVG sind in der Tat einigermassen deutlich und insofern auch unerbittlich, als sie keinen Raum für eine nähere Differenzierung nach dem Gefahrenpotential der jeweiligen Handlung lassen. Wer auf einem Strassenstück, wo die Höchstgeschwindigkeit über 80 km/h beträgt, mehr als 80 km/h zu schnell fährt, erfüllt den Tatbestand von Art. 90 Abs. 4 lit. d SVG – gleichviel, ob er dies auf einer Strasse mit oder ohne Richtungstrennung tut. Wie bereits an anderer Stelle besprochen, wird damit von den eigentlichen Gefahrenpotentialen abstrahiert.2 Die Gerhard Fiolka, Grobe oder «krasse» Verkehrsregelverletzung? Zur Auslegung und Abgrenzung von Art. 90 Abs. 3–4 SVG, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2013, Bern 2013, 345–357, 2 STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/201531 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 31 10.04.15 11:25 Bemerkungen zum Urteil des Bundesgerichts der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung vom 20. November 2014 (1C_397/2014) Recht Auslegung des Raserbegriffs gestützt auf die beiden Absätze 3 und 4 von Art. 90 SVG In der vorliegenden Analyse zur Auslegung des Raserbegriffs wird dargelegt, dass die beiden Absätze 3 und 4 von Art. 90 SVG nicht isoliert, sondern nur im Sinne einer inhaltlichen Einheit interpretiert werden dürfen. Sie bilden folglich eine strukturelle Einheit. Das bedeutet, dass auch im Fall der Anwendung des Konkretisierungsabsatzes 4 von Art. 90 SVG stets die subjektiven Voraussetzungen von Absatz 3 erfüllt sein müssen. Inhalt I.Sachverhalt II.Tatbestandsanalyse III. Kritik der gesetzgeberischen Fehlleistung A. Gesetzgeberische Ausgangslage als Ursache B. Fehlende Verhältnismässigkeit bei der Strafzumessung IV.Normanalyse A.Ausgangslage B. Untrennbarer inhaltlicher Zusammenhang zwischen Art. 90 Abs. 3 und Art. 90 Abs. 4 SVG I.Sachverhalt Die Staatsanwaltschaft Solothurn verurteilte X mit Strafbefehl vom 29. Juli 2013 wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen und einer Busse von CHF 2000.–. Sie hielt für erwiesen, dass X am 12. Januar 2013 am Steuer eines Personenwagens die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h auf der Verzweigungsrampe BE/BS der Autobahn A2 in Härkingen um etwa 64 km/h überschritten hatte. Der Strafbefehl blieb unangefochten. Am 3. Dezember 2013 aberkannte das Departement des Inneren des Kantons Solothurns X den (ausländischen) Führerausweis in Anwendung von Art. 16c lit. abis und Art. 90 Abs. 4 SVG für zwei Jahre. Am 23. Juni 2014 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde von X gegen diese Entzugsverfügung teilweise gut, hob sie auf und setzte die Dauer des Warnungsentzuges auf fünf Monate fest. Zum hier interessierenden Art. 90 Abs. 4 SVG führte das Verwaltungsgericht Solothurn aus, diese Bestimmung ergebe nur auf den ersten Blick den klaren Sinn, dass derjenige als «Raser» strafbar sei, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 60 km/h oder mehr überschreite. Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG verlange nämlich neben der vorsätzlichen Verletzung elementarer * Dr. iur. h.c. Hans Wiprächtiger, Rechtsanwalt; ehem. Bundesrichter. ** MLaw Meret Wirth. Hans Wiprächtiger* Meret Wirth** Verkehrsregeln primär das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Toten, welches durch eine krasse Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinne von Art. 90 Abs. 4 SVG entstehen könne. Ob ein solches Risiko bei der Geschwindigkeitsübertretung vom 12. Januar 2013 bestanden habe, sei fraglich, sei sie doch auf einem gut ausgebauten, mehrspurigen Autobahnabschnitt begangen worden, welcher zwar mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h signalisiert sei, der aber grundsätzlich mit einer erheblich höheren Geschwindigkeit befahren werde könne, ohne dass allein dadurch ein hohes Unfallrisiko entstehe. Anderseits sei unklar, ob sich der Begriff «Höchstgeschwindigkeit» in Art. 90 Abs. 4 SVG auf die konkrete, signalisierte oder die für Strassen und Zonen geltende generelle Höchstgeschwindigkeit beziehe. Das Verwaltungsgericht kam zum Schluss, Letzteres sei richtig. Es begründete dies damit, dass die Geschwindigkeitsüberschreitungen auf richtungsgetrennten Autobahnen weniger risikoreich seien als solche auf nicht richtungsgetrennten Strassen. Es könne daher nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, dass ein Automobilist, der auf einem mit 80 km/h signalisierten Autobahnabschnitt 64 km/h zu schnell fahre, gleich behandelt werde wie einer, der dieselbe Handlung auf einer Strecke ausserorts begehe. Der Beschwerdegegner habe sich daher (nur) einer groben Verkehrsverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG bzw. einer Widerhandlung im Sinne von Art. 16c Abs. 2 lit. a SVG schuldig gemacht. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragte das Bundesamt für Strassen (ASTRA), dieses Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und X den Führerausweis für die Dauer von zwei Jahren abzuerkennen. Das Bundesgericht hiess die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des ASTRA am 20. November 2014 gut. Es führte u.a. aus, Art. 90 Abs. 4 SVG stelle die unwiderlegbare gesetzliche Vermutung auf, dass besonders krasse Ge- STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/201535 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 35 10.04.15 11:25 Praxis Rechtsprechung unter der Lupe Schneematsch (BGer 1C_95/2014, 13.6.2014) A. hatte bei Schneematsch und Schneeregen auf der Autobahn die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren, sich um die eigene Achse gedreht und war wiederholt auf die Mittelleitplanke aufgeprallt. Strafrechtlich wurde er wegen unangemessener Geschwindigkeit (SVG 32 I) und Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs (SVG 29 und 93 II/a, VRV 57 I; abgefahrener rechter Hinterreifen) zu einer Busse von Fr. 550.– verurteilt. Das Bundesgericht bestätigte den über ihn verhängten einmonatigen Führerausweisentzug (SVG 16b I/a). Die strafrechtliche Wertung als einfache Verkehrsregelverletzung umfasst administrativrechtlich die leichte und die mittelschwere Widerhandlung. Durch den Unfall hatte A. für sich und andere Verkehrsteilnehmer eine nicht unerhebliche Gefahr geschaffen. Damit fiel die leichte Widerhandlung auch bei leichtem Verschulden (Ausfall eines Fahrhilfesystems) aus. – Das Bundesgericht anerkannte zwar einmal mehr, dass der Betroffene auch die administrativrechtliche Sanktion als Strafe wahrnimmt und sich damit «doppelt bestraft» vorkommt. Es hielt aber trotz mehrfacher Kritik daran fest, dass damit nicht gegen ne bis in idem verstossen wird (BGE 138 I 363 und weitere Urteile). Es verwies auf seinen Geschäftsbericht 2010, wonach eine Änderung Sache des Gesetzgebers wäre. Rechtsüberholen (BGer 1C_295/2014, 23.6.2014) Wegen slalomartigen Rechtsüberholens auf der Autobahn, gewertet als grobe Verkehrsregelverletzung (SVG 35 I, 90/2), wurde A. strafrechtlich zu einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen sowie zu einer Busse von Fr. 1’000.– verurteilt; er hatte alle kantonalen Instanzen ausgeschöpft. Die Tessiner Behörden entzogen ihm darauf unter Annahme einer schweren Widerhandlung (SVG 16c I/a) den Führerausweis auf die Dauer von drei Monaten. Das entsprach dem Bindungsgrundsatz und war damit nicht zu beanstanden. Die Mindestentzugsdauer konnte nicht unterschritten werden (SVG 16 III). Anhänger vom Reisecar gelöst (RK BE 107/12. 13.3.2013; BVR 2014 285) Auf der A12 löste sich der Anhänger vom Reisecar. Er trieb nach rechts ab, kollidierte mehrmals mit der Leitplanke, überquerte die Fahrbahn und wurde von der Mittelleitplanke zurück auf den Pannenstreifen katapultiert. * Andreas A. Roth, Fürsprecher, Bern. Andreas A. Roth* Personen waren nicht involviert, aber es entstand erheblicher Sachschaden. Die RK ging von einer ganz erheblichen (Verkehrs-)Gefährdung aus, verneinte aber eine Sorgfaltspflichtverletzung des Chauffeurs. Der Unfall hatte technische Ursachen. Die fragliche Kupplung war zwar unter Fachleuten für ihre technischen Auffälligkeiten bekannt. Das konnte aber der Fahrer nicht wissen. Die RK hob deshalb den vom SVSA verfügten einmonatigen Entzug des Führerausweises auf. Anmerkung: Die Frage stellt sich allerdings, ob das Urteil mit der heutigen gesetzlichen Ordnung (noch) vereinbar ist. Nach der seit 1.1.2005 in Kraft stehenden Regelung ist die Gefährdung das massgebende Element. Dem Verschulden kommt kaum mehr resp. nur noch sekundäre Bedeutung zu. Die mittelschwere Widerhandlung ist der Grundtatbestand. Selbst bei leichtestem Verschulden kann keine bloss leichte Widerhandlung angenommen werden, wenn die Gefährdung erheblich ist, denn diese erfordert kumulativ ein leichtes Verschulden und eine bloss geringe Gefährdung (SVG 16a I/a). Die frühere Praxis, wonach beim Warnungsentzug die Sanktion das Mass des Verschuldens nicht übersteigen darf (BGE 125 II 561; Steffisburger Fall), ist also durch die Revision von 2001 überholt (BGE 135 II 138). – Damit sei das Urteil der RK nicht kritisiert – ganz im Gegenteil. Es ist vom Ergebnis her nur zu begrüssen, ja hoch erfreulich, wenn es die Meinung vertritt, bei überhaupt fehlendem Verschulden bleibe auch für eine Massnahme kein Raum. Aber der vorliegende Fall zeigt mit aller Deutlichkeit auf, wie unsinnig, ja weltfremd schon die Revision von 2001 mit ihrem starren Schematismus war. Das einmal mehr hervorzuheben, ist deshalb wichtig, weil es bereits während des Gesetzgebungsverfahrens bekannt war und kritisiert wurde. Sehbehinderung, Kontrollfahrt (RK BE 146/12, 20.2.2013; BVR 2014 286) Gemäss Arztzeugnis hatte sich die Sehkraft von X. in den letzten zwei Jahren drastisch verschlechtert. Ihr Visus be- STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/201539 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 39 10.04.15 11:25 Bekanntgabe der Standorte der semistationären Geschwindigkeits-Messanlagen durch die Kantonspolizei St. Gallen Die Kantonspolizei St. Gallen veröffentlicht seit Oktober 2014 wöchentlich die wechselnden Standorte von semistationären Geschwindigkeits-Messanlagen, wobei die Information (Strasse & Ortschaft) sowohl über die Homepage der Kantonspolizei, als auch über einen Link auf deren Facebook-Profil abgerufen werden kann. Die nach Art. 98a Abs. 3 SVG verbotene Warnung vor Verkehrskontrollen verteidigt der Kommandant der Verkehrspolizei St. Gallen Bruno Zanga als gesetzlich erlaubte Handlung im Sinne von Art. 14 StGB zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, geht aber gleichzeitig davon aus, dass durch die Massnahme kaum Veränderungen in den Übertretungs- oder Unfallzahlen feststellbar sein werden. Der Kommandant räumt ein, dass durch die Veröffentlichung auch dem Vorwurf der primär fiskalisch motivierten Geschwindigkeitskontrollen begegnet werden soll, und hält es für die Legitimität der Publikation für entscheidend, dass die Standorte nicht präzise und bloss diejenigen der semistationären Anlagen angegeben würden. Auch wegen der bloss wöchentlichen Aktualisierung könne man deshalb auch nach der Konsultation der Website nicht vor Geschwindigkeitskontrollen sicher sein. Während sich die Wirkung des neuen Verbots noch nicht evaluieren lasse, habe die Kantonspolizei St. Gallen sehr gute Erfahrungen mit dem Warnschild «Achtung Radar» gemacht: In einer einst unfallträchtigen Kurve sei seit der Beschilderung kein Unfall und bloss wenige Geschwindigkeitsüberschreitungen mehr verzeichnet worden – wobei der Kommandant nicht das Schild, sondern die Messanlage als kausal für die erfreuliche Entwicklung hält. Mit Einführung der neuen Strafbestimmungen von Art. 98a Abs. 3 SVG wird mit Busse bestraft, wer öffentlich vor behördlichen Kontrollen im Strassenverkehr warnt oder eine entgeltliche Dienstleistung anbietet, mit der vor solchen Kontrollen gewarnt wird. Ist dieser neue Tatbestand aus Sicht der Polizei begrüssenswert? Die Kantonspolizei St. Gallen begrüsst grundsätzlich das Verbot der öffentlichen Radarwarnung. Sobald präzise Informationen über stationäre und insbesondere mobile Geschwindigkeitskontrollen bekannt gegeben werden, wird die Wirksamkeit dieser Massnahme gemindert. Das Bundesgericht führte im Jahre 1977 (BGE 103 IV 186) aus, dass das Warnen von Fahrzeugführern vor einer Geschwindigkeitskontrolle keine Hinderung einer Amts* Dr. iur. Bruno Zanga, Kommandant der Kantonspolizei St. Gallen. Interview Interview mit Bruno Zanga Bruno Zanga* handlung darstellen könne, zumal der Zweck einer solchen Kontrolle nicht in der Büssung vieler Verkehrssünder, sondern in der Anhaltung der Verkehrsteilnehmer zur Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit liege. Hat sich für die Kantonspolizei seither etwas geändert? Durch das Inkrafttreten des ersten Massnahmepakets für mehr Verkehrssicherheit – besser bekannt unter der Bezeichnung «Via sicura» – wurde das bereits früher bestehende Verbot vor Blitzern und anderen Verkehrskontrollen durch Radiosendung zu warnen noch verschärft. Die Stossrichtung der Verschärfung waren damals aufkommende Dienste im Internet und den Social Media. Ein Exponent der Polizeigewerkschaft monierte im Sommer 2014 im Rahmen einer Sendung des Schweizer Fernsehens, dass Verkehrsbussen nicht nur aus Gründen der Verkehrssicherheit laufend höher budgetiert würden, sondern dass damit offensichtlich auch der Staatshaushalt verbessert werden soll. Als krasses Beispiel wurde der Kanton St. Gallen genannt, der die Budgeteinnahmen für Ordnungsbussen von 13 Mio. (2013) auf 21,8 Mio. (2014) angehoben hat. Wie haben Ihre Mitarbeiter auf diese Meldung reagiert? In der Budgetberatung im November 2013 hat der Kantonsrat der Beschaffung fünf zusätzlicher semistationärer Geschwindigkeitsmessanlagen zugestimmt. Dies hat letztlich auch dazu geführt, dass die budgetierten Einnahmen erhöht werden mussten. Mehr semistationäre Anlagen führen automatisch auch zu mehr Einnahmen bei den Bussen. Der Kanton St. Gallen hatte STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/201547 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 47 10.04.15 11:25 2. pro 50'000 Einwohner 250 200 Städtegrössen im Vergleich (absolute Zahlen in Tausend), 2013 Zürich 384.6 Genf 189.8 Basel 166.6 Lausanne 131.5 Bern 129.4 Winterthur 105.9 Luzern 80.9 St. Gallen 74.7 Lugano 56.9 Biel 53.1 100 50 ga el Bi no n le Lu al ze ur rn .G St Lu rth rn in te Be W an us se l ne 0 La Die Städte sind jeweils in der Reihenfolge ihrer Grösse aufgelistet. Alle statistischen Daten wurden zwecks Vergleichbarkeit auf eine Standardgrösse von 50’000 Einwohnern heruntergerechnet. Basis dieser Veröffentlichung bildet der «Städtevergleich zur Verkehrssicherheit. Verkehrsverunfallte in den zehn grössten Städten der Schweiz», herausgegeben vom Bundesamt für Strassen ASTRA, Bern 2013. 150 nf Hinweis zur Statistik Zü ric h 1. Unfälle mit Personenschaden/ Anzahl Verunfallte Ba Inhalt 1. Hinweis zur Statistik 2. Unfälle mit Personenschaden/Anzahl Verunfallte 3.Verunfalltenstatistik a. Entwicklung 2004 bis 2013 b. Verunfallte Personen bei alkoholbedingten Unfällen c. Verunfallte Personen nach Tageszeit d. Verunfallte Personen im Vergleich Wochenende/Werktags e. Verunfallte Personen im Vergleich der Fortbewegungsmittel f. Verunfallte Personen im Verhältnis zu den zurückgelegten Tageskilometern im Zeitraum 2009 bis 2013 Ge Edit Seidl* In welcher Schweizer Stadt sind Verkehrsteilnehmer am sichersten auf der Strasse? Vorab kann festgestellt werden, dass sich die Verkehrssicherheit in den letzten zehn Jahren in allen untersuchten Städten – mit Ausnahme von Genf – positiv entwickelt hat. In absoluten Zahlen am sichersten sind die St. Galler Verkehrsteilnehmer unterwegs. Winterthur konnte die Verkehrssicherheit am stärksten verbessern und dabei die Zahl Verunfallter fast halbieren. Die Zahl Verletzter oder Getöteter liegt relativ stabil bei knapp über einer Person pro Unfall. Bei jedem zehnten Verunfallten auf Stadtgebiet war Alkohol gänzlich oder teilweise die Unfallursache; stärker fallen allerdings zeitliche Faktoren wie die Nacht und das Wochenende ins Gewicht. 1 14 73 6 13 158 6 1 13 56 21 14 78 7 112 93 1 84 02 1 15 85 1 14 12 5 3 1 12 46 8 119143 1 12 45 1 7 10 19 9 2 18 20 7 1 13 58 4 13 1101 9 855 1 15 87 1 6 12 48 6 1 1689 6 17 15 3 0 Statistik Verkehrssicherheit in den zehn grössten Schweizer Städten Verunfallte 2009–2012 (Durchschnitt) Personenunfälle 2009–2012 (Durchschnitt) Verunfallte 2013 Personenunfälle 2013 Quelle: ASTRA Städtevergleich 2013 Während sich im Jahr 2013 sowohl die Anzahl Verunfallter wie auch jene von Personenunfällen gegenüber dem mehrjährigen Schnitt (2009–2012) fast durchgehend verringert hat, ist das Verhältnis von Unfällen mit Personenschaden zu Verunfallten weitgehend gleich geblieben. Die Anzahl verletzter oder getöteter Personen pro Unfall blieb damit konstant bei etwa 1,17. Der markanteste Rückgang zeigt sich in Luzern mit einer Reduktion um fast einen Drittel (–28,2% bei den Verunfallten bzw. –28,3% bei den Unfällen). Genf dagegen hat sich als einzige Stadt negativ entwickelt mit einer leichten Zunahme um 14,1% (Verunfallte) bzw. 11,4% (Personenunfälle). * Prof. Edit Seidl, Mediatorin IRP-HSG, Herausgeberin. 50 Buch_Strassenverkehr_1_2015.indb 50 STRASSENVERKEHR / CIRCULATION ROUTIÈRE 1/2015 10.04.15 11:25
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