Nürnberg: Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945

Otto Böhm
Buchbesprechung
Thomas Darnstädt: Nürnberg: Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945
Piper-Verlag München 2015, 415 S., 24,99 €
Thomas Darnstädt, ein erfahrener Journalist des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, gab
schon 1996 die Parole „Zurück nach Nürnberg“ aus, damals in Bezug auf den strafrechtlichen
Umgang mit Egon Krenz und co (Spiegel 51/1996). Jetzt nimmt er dieses zeitgeschichtliche
Stichwort wieder auf und transportiert es aus der Fachöffentlichkeit in die gegenwärtige
Auseinandersetzung um die internationale Strafgerechtigkeit. Dabei aktualisiert er die
Erinnerung an die NS-Verbrechen gegen die Menschheit am Beispiel derjenigen führenden
deutschen Männer, die - bis auf drei - in einem summa summarum fairen Prozess als „War
Criminals“ verurteilt wurden. Wer also in das Thema „Nürnberger Prozess“ einsteigen will,
dem kann dieses Buch empfohlen werden. Er wird einen zügigen journalistischen Text lesen
und kann sich dabei zudem auf juristischen Sachverstand verlassen. Darnstädt ist Jurist und
lässt sich bei seinem Thema vom Völkerrechtler Claus Kress (Köln) beraten. Allerdings
dürfen nicht alle Passagen und Thesen auf die wissenschaftliche Goldwaage gelegt werden.
Als Journalist verzichtet er auf jede Fußnote und fügt nur am Ende ein aktuelles und
umfangreiches Literaturverzeichnis hinzu. Wer das Buch wieder aus der Hand legt, kennt
immerhin die wesentlichen völkerrechtlichen Voraussetzungen und Probleme, die
Hauptpersonen, den Ablauf und die Kontroversen zum IMT. Aber das Ganze ist eben als
„Story“ geschrieben. Das Wesentliche droht stellenweise einerseits durch historische
Überhöhungen und Übertreibungen (z.B. „Aus solchen Gesprächen wurde Weltgeschichte“
über die Tagebücher des Gefängnispsychologen Gilbert, S. 97; oder: „Nicht nur im
Gerichtssaal hatte man den Atem angehalten, sondern auf der ganzen Welt.“ S. 156),
andrerseits durch all zu viel Episodisches und schon oft Erzähltes zu verschwinden.
Auf welcher Materialbasis arbeitet der Verfasser, der auch gern Krimiautor geworden wäre
und der oft als „allwissender Erzähler“ in den geschilderten Szenen anwesend ist? Zuerst ist
er – oder zeigt sich – als Forscher, der in Archiven verborgene Schätze hebt. Seine
Nachforschungen führen ihn in Archive und zu Quellen, die neu sind: ”Eine junge
Wissenschaftlerin Irina Schulmeister vom Marburger Forschungs- und
Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) hat in Moskau bislang
unbekannte Details über die Rolle Stalins bei der Vorbereitung des großen Prozesses zutage
gefördert und sie mir zur Verfügung gestellt.“ Authentizität und Atmosphäre schafft Darnstädt
dadurch, dass er die verfügbaren O-Töne und vorhandenes Film-Material nutzt, dazu die
Tagebücher und Erinnerungen, vor allem die des Protagonisten Robert Jackson. (Unklar
bleibt, warum er für die dokumentarische Arbeit des Jackson-Center in Jamestown nicht
genutzt hat oder zumindest unerwähnt lässt.)
Friedensnobelpreis 1945 posthum für Jackson?
Der US-amerikanische Anwalt Robert Jackson ist auch in der Geschichte, die Darnstädt
erzählt, die Hauptperson. Er wird zum Friedenshelden, der der Weltgeschichte eine neue
Richtung gibt – zumindest im Saal 600. Dabei kommt der Architekt des Verfahrens durchaus
nicht immer gut weg, weder als Person noch als Völkerrechtsstratege. Der Hamburger Autor
schildert ihn differenziert, zwischen Bewunderung und Polemik („prinzipienfester
Kommunistenfresser“ S. 53, „Mann mit den Kopfgeburten“ S. 81). Übertrieben, zu
vollmundig und einfach nicht haltbar ist dabei Darnstädts Urteil, das wohl auch nicht so ganz
ernst genommen werden muss:
„Jackson allein ist es zu verdanken, dass am 1. Oktober 1946 Hermann Göring zusammen
mit achtzehn anderen führenden Mitgliedern des Hitlerregimes als Verantwortlicher eines
verbrecherischen Staats- und Kriegsapparates verurteilt wurde. Und mit diesem Prozess
wurde die Weltordnung aus den Angeln gehoben. Das Urteil des Internationalen
Militärtribunals von Nürnberg bedeutete die Wende eines jahrhundertealten unmenschlichen
Völkerrechts, das den Staaten das Recht garantierte, Kriege zu führen, und das Staatsführer
und Kriegsherren freistellte von jeder Verantwortung für das Unheil, das sie über die
Menschen gebracht hatten. Das Urteil von Nürnberg hat die alte Staatenordnung erschüttert,
die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 den staatlichen Souveränen des Recht
gab, das eigene Volk straflos zu unterdrücken oder sogar zu vernichten – wie eine deutsche
Regierung es mit den Juden tat. Die Erklärung der Menschenrechte, das Gewaltverbot der
Vereinten Nationen, die weltweite Ächtung des Völkermordes als Verbrechen: Ohne diesen
unglaublich ehrgeizigen und eloquenten Provinzanwalt aus Jamestown wäre es so weit nie
gekommen.“ (S. 51)
Natürlich wüsste auch ein nüchtern denkender Darnstädt, dass Jackson mit der Entstehung
und Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 nicht wirklich
etwas zu tun hat (siehe z.B. S. 340). Die zentrale Botschaft „Frieden durch Recht“, die auch
der Autor persönlich stark machen will, ist nicht auf das Konzept einer Person reduzierbar.
Zudem provoziert eine solche Darstellung die Frage, ob einem Mann wie Jackson, der
durchaus offensiv für den Kriegseintritt der USA gegen NS-Deutschland eintrat, ein fast
schon pazifistischer Heiligenschein verpasst werden kann. Er ist zumindest nicht der
Friedensheld, dem posthum der Friedensnobelpreis verliehen werden müsste.
Die Dauerkontroverse um den Völkermord
Wurde in Nürnberg die Ermordung der europäischen Juden juristisch ausgeblendet?
Der rote Faden in der völkerstrafrechtlichen Darstellung Darnstädts ist der Anklagepunkt
„Verschwörung zum Führen eines Angriffskriegs“. Der Autor arbeitet heraus (S. 53 ff., S. 61
ff., S. 70 ff., S. 125 ff.;), wie Jackson durch die Zentralität dieses Anklagepunktes in das
folgende Problem geraten musste: Für die Verfolgung von Gräueltaten eines Staates
gegenüber der eigenen Bevölkerung außerhalb eines Krieges konnte der Ankläger »keine
rechtliche Basis« sehen. Darnstädt unterstreicht in diesem Zusammenhang eine
Nebenbemerkung des US-Demokraten: „Man möge bedenken: Wir haben in unserem Land
ebenfalls einige höchst bedauerliche Umstände beim fairen Umgang mit Minderheiten« und
sieht darin eine Ursache dafür, dass der Holocaust in Nürnberg nicht ausdrücklich verurteilt
wurde. Nun liegt der Wert dieses Buches gerade auch darin, dass - entgegen der vom Autor
behaupteten Gewichtung auf „Angriffskriege“ – von Darnstädt gerade die „Vorgänge und
Fälle“ des IMT-Verfahrens sehr ausführlich dargestellt werden, die die Verbrechen im Krieg,
aber eben auch die Judenverfolgung vor 1939 und den Völkermord an der Zivilbevölkerung
beweisen: Der Bericht Jürgen Stroops über die Vernichtung der Juden im Warschauer Ghetto
(S. 80), die Überfälle auf jüdische Geschäfte und Bewohner sowie auf Synagogen in der
»Reichskristallnacht« (vor allem in den Verhören Görings, Schachts und Speers). Darnstädt
wiederholt den oft zu hörenden Vorwurf, dass Jackson diese Verbrechen nur als ein
funktionales Element im Rahmen des Angriffskrieges in die Anklage eingebaut hätte. Dazu
zitiert er ausführlich aus der Anklagerede Jacksons: »Wir wollen nun untersuchen, wie die
Verschwörer, Schritt für Schritt und unter scheußlichsten Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, ihre Macht im Staate ausbauten; um Deutschland für den Angriffskrieg bereit
zu machen, der nicht zu umgehen war, wollten sie ihre Ziele erreichen. Judenmord und KZFolter, Rassenwahn und die Unterdrückung jeder Kritik, jeden Geistes, die Vernichtung
»minderwertigen« Lebens und »entarteter Kunst«: alles Gesichter des Verbrechens mit dem
Namen »Krieg« (S. 153). Genaueren Aufschluss über die umfassendere, nicht auf
Angriffskrieg reduzierbare Sichtweise Jacksons könnte eine Gesamtinterpretation der Rede
bringen, in der es eben auch heißt: „Wohl lassen sich geographisch und zeitlich die
Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenfassen und unterscheiden: einmal innerhalb
Deutschlands vor und im Kriege, und zum anderen in den besetzten Gebieten während des
Krieges. In den Plänen der Nazis aber waren sie nicht voneinander getrennt. Sie gehören zu
dem einheitlichen und fortlaufend betriebenen Plan, Völker und Einrichtungen auszurotten,
von denen einmal der Sturz ihrer ≫neuen Weltordnung≪ ausgehen konnte. Wir betrachten
daher in unseren Darlegungen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Ausdruck eines
einheitlichen Planes der Nazis…“(Nürnberger Prozeß, Bd. 2, S. 128.).
Was will uns Darnstädt mit dieser Geschichte sagen?
„Frieden durch Recht: Die Idee, entstanden als Reaktion auf einen Krieg, wie es ihn nie
wieder geben durfte, könnte im Zeitalter allgegenwärtiger Kriege Erlösung bringen.
Internationale Strafgerichtshöfe nach dem Muster des Nürnberger Internationalen
Militärtribunals sind in den letzten Jahren an zahlreichen Orten gegründet worden. Sollte in
den alten Akten aus Nürnberg tatsächlich das Rezept für den Frieden der Zukunft liegen?“ (S.
11). Auch Darnstädt stellt sein Buch in den völkerrechtlichen Lernzusammenhang „von
Nürnberg nach Den Haag“. Dazu ruft er Benjamin Ferencz, den agilen 94-jährigen Ankläger
im Einsatzgruppenprozess und dessen „Rettung der Nürnberger Prinzipien“ (wieder so eine
Übertreibung) als Zeugen auf (S. 340 ff.). Aber Ferencz ist weit davon entfernt, Nürnberg als
singuläres Ereignis auf dem Weg zum Frieden zwischen den Völkern zu versehen. 1998
schrieb er unter der Überschrift „Von Nürnberg nach Rom“ (SEF Policy Paper 8): „Die
strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit wurde
nicht 1945 in Nürnberg erfunden. Seit der Antike haben angesehene Gelehrte von Plato bis
Grotius die Rechtmäßigkeit von Krieg und Kriegführung diskutiert. Vor mehr als 200 Jahren
forderte Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden den Schutz des Friedens und
der Menschenrechte durch die Herrschaft des Völkerrechts.“
Warum will der realistische Darnstädt Nürnberg unbedingt zum Fanal des Friedens machen?
Warum spricht er in Zusammenhang mit dem Prozess und seinem Ergebnis von „Erlösung“
und „Rezepten“ für die Weltpolitik und beharrt an anderer Stelle – gegen Hannah Arendts
falsche Erwartungen an die Leistungskraft des Rechts – auf dem Unterschied zwischen
Strafverfahren und politischen Prozessen (S. 225/226)?
Der Erzähler in der Geschichte
Einigen Beteiligten, eher Nebendarstellern, widmete der Autor fast schon liebevolle
Geschichten, so dem obersten Gefangenenaufseher Burton C. Andrus, dem Mannheimer
Journalisten Ernst Michel oder dem britischen Offizier und Juristen Soldaten Airey Middleton
Sheffield Neave. Dabei weiß der Autor oft mehr als er wissen kann, er kennt die
Stimmungen, in denen etwas stattfindet, als ob er dabei gewesen wäre. Das ist unterhaltsam,
aber auch fragwürdig. Da ist Morgenthau „ärgerlich„ (S. 31), da gibt es „endlich“ Abendessen
(S. 80), da kennen wir die „Stimmung, in der Jackson zur Feder greift,..“ (S. 88), da erfahren
wir Görings Gedanken vor dem Kreuzverhör, an sich hochgemut, „wenn er nur dieses
Fingerzittern in den Griff bekäme.“ (S. 183). Beim Hören von Jacksons Rede im Saal 600
„ducken sich atemlos die Menschen unter der Last ihrer Kopfhörer.“ (S. 152). Schön lebendig,
„so mag es gewesen sein“ (S. 69.) rutscht dem Autor einmal selbst heraus. Aber mit dem
Hinweis auf diesen etwas spekulativen erzählerischen Konjunktiv sollen nicht den Wert der
meisten Passagen relativieren, in denen der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess
angemessen dargestellt wird.