Prof. Dr. J. Oechsler Vorlesung Gesetzliche Schuldverhältnisse (BGHZ 104, 323; Foerste VersR 1998): G erlitt eine schwere Augenverletzung, durch die er auf dem linken Auge die Hälfte der Sehkraft eingebüßt hat. Dies geschah, als er eine Flasche Sprudel aus dem Keller holen wollte und diese zerbarst. Die Flasche trug das Etikett der Saar Sprudel AG (S) und war vom Händler H erworben, der die Flasche unmittelbar von S bezogen hat. Im Prozess des G gegen S stellt der gerichtliche Sachverständige fest, dass Mineralwasserflaschen nach mehrmaligem Befüllen durch den hohen Druck feine Haarrisse aufweisen. Dann genüge bereits die von der Hand ausgehende Körperwärme, um die unter dem Druck der Kohlensäure stehende Flasche zum Explodieren zu bringen. G behauptet, die Haarrisse seien bereits vorhanden gewesen, bevor die Flasche das Werk der S verlassen habe. S behauptet, der Haarriss sei erst später entstanden. Die S durchleuchte nämlich vor dem Abfüllungsvorgang alle Glasflaschen auf Haarrisse; zusätzlich finde eine visuelle Kontrolle durch die Angestellten statt. Über die einzelne Mineralwasserflasche könne zwar nichts mehr gesagt werden, doch sei aufgrund der allgemeinen Ablauforganisation davon auszugehen, dass der Haarriss erst entstanden sei, nachdem die Flasche das Werk der S verlassen habe. Im Übrigen ergänzt S noch folgendes: Ganz zuverlässig könnten beschädigte Flaschen nie ausgesondert werden. Dies sei bei den zurzeit auf dem Markt verfügbaren Kontrollgeräten nicht möglich, so dass immer wieder ein Ausreißer vorkomme. Welche Ansprüche hat G? I. Anspruch des G gegen S aus § 823 Abs. 1 BGB In Betracht kommt ein Anspruch des G gegen S aus § 823 Abs. 1 BGB. 1. G hat eine Körperverletzung bzw. auch eine Gesundheitsbeschädigung erlitten. Hinweis: Das ist hier nicht problematisch. Deshalb knapp! 2. Fraglich ist, ob diese der S zurechenbar ist. Als Herstellerin könnte sie eine Verkehrssicherungspflicht verletzt haben. Verkehrssicherungspflichten entstehen anlässlich der Eröffnung einer Gefahrenquelle, die für andere Verkehrsbeteiligte nicht erkennbar ist. Fraglich ist, ob S vorliegend eine Konstruktionspflicht verletzt, die dann entsteht, wenn die Konstruktion eines Produktes gerade so beschaffen ist, dass es für Dritte nicht erkennbare Gefahren hervorruft. Dies wird man hier bereits aufgrund des Umstandes verneinen müssen, dass der Produktionsablauf der S laut SV im Rahmen des technisch Möglichen auf Sicherheit hin geplant war. Fraglich ist ferner, ob der S im Hinblick auf die beschädigte Flasche die Verletzung einer Fabrikationspflicht vorgeworfen kann. Eine Fabrikationspflicht entsteht, wenn der Herstellungsvorgang eines Produkts Gefahren für Dritte erzeugen kann, die diese nicht erkennen kann. Zunächst erzeugt der Fertigungsvorgang der S gerade solche Gefahren. Denn die Haarrisse treten beim Befüllen der Flaschen, also während des Herstellungsvorgangs auf. Fraglich ist nur, ob hier eine Fabrikationspflicht entstehen kann. Laut SV existiert zurzeit 1 nämlich keine technische Möglichkeit den Produktionsvorgang von Mineralwasserflaschen so zu organisieren, dass Haarrisse vermieden werden können. § 823 Abs. 1 BGB beruht aber auf einer sog. Unrechtshaftung, d.h. einer Haftung für Verhaltensunrecht. Wo der Täter selbst einen Fabrikationsfehler auch bei größtmöglicher Anstrengung nicht erkennen oder vermeiden kann, entsteht keine Handlungspflicht. Denn das Gesetz kann vom Einzelnen nicht tatsächlich oder rechtlich unmögliches Handeln erwarten. Hier aber entstehen sog. Ausreißer, d.h. Fabrikationsstörungen, die trotz aller Sorgfalt im Produktionsvorgang nicht zu vermeiden sind. Im Hinblick auf diese kann keine Fabrikationspflicht bestehen und insoweit liegt daher auch keine Verkehrssicherungspflicht vor. S ist daher die Körperverletzung des G nicht zurechenbar. 3. Ergebnis: Der Anspruch besteht nicht. II. Anspruch aus § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG In Betracht kommt ein Schadensersatzanspruch des G gegen S aus § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG 1. G hat eine Körperverletzung bzw. Gesundheitsbeschädigung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG erlitten. 2. Bei der Flasche handelt es sich ferner um ein Produkt i.S.d. § 2 ProdHaftG. 3. Fraglich ist, ob die Flasche fehlerhaft nach § 3 ProdHaftG war. Die kommt im Hinblick auf den Gebrauch des Produktes nach § 3 Abs. 1 lit. b ProdHaftG in Betracht. Zur Verwendung einer Mineralwasserflasche zählt nämlich auch das Anfassen. Führt bereits dieses zu schweren Schäden der vorliegenden Art werden die Sicherheitserwartungen des Verkehrs im Hinblick auf die Basissicherheit in erheblicher Weise enttäuscht. Ein Fehler liegt daher vor. 4. S ist auch Herstellerin i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG. 5. Fraglich ist allerdings, ob S sich nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG entlasten kann. Dies wäre der Fall, wenn der Fehler nach dem Zeitpunkt eingetreten wäre, indem S das Produkt in den Verkehr gebracht hat. S trägt selbst einige Tatsachen vor, die in diese Richtung deuten. Gleichzeitig ließ sich laut SV aber im Werk der S nicht in jedem Einzelfall erkennen, ob eine 2 Flasche unter Haarrissen litt oder nicht. Dann ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die vorliegende Flasche bereits im Werk der S einen entsprechenden Fehler hatte. Zweifel hinsichtlich des tatsächlichen Geschehensablaufes gehen nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG aber zu Lasten des Herstellers. Dies folgt aus dem negativen Wortlaut der Norm („ist ausgeschlossen, wenn“). Eine Entlastung kommt folglich nicht in Betracht. 6. Problematisch ist ferner, ob ein Entwicklungsfehler i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG in Betracht kommt. Dies hängt davon ab, wie das Tatbestandsmerkmal „Fehler“ i.S. dieser Norm näher zu konkretisieren ist. Fraglich ist, ob es sich um den Fehler in der einzelnen defekten Flasche handelt oder den im Produktionsverfahren vorhandenen Systemfehler. Denn die Defekte der einzelnen Flasche konnten nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht erkannt werden, der Systemfehler, dass wiederbefüllte Glasflaschen grundsätzlich Haarrisse aufweisen können, war jedoch bereits allgemein bekannt. Der Normwortlaut lässt hier eine eindeutige Auslegung nicht zu. Nach dem Zweck des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG soll der Hersteller aber vor Risiken geschützt werden, durch die er selbst nachträglich überrascht wird. Solche Risiken sind praktisch nicht zu versichern; eine Haftung für sie würde daher den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt lähmen, um den es dem Gesetzgeber vor allem geht. Vorliegend wird S jedoch durch den Schadenseintritt nicht überrascht. Die Gefahr explodierender Mineralwasserflaschen ist S hingegen seit langem bekannt. Wenn S dennoch an Mineralwasserflaschen in ihrem Produktionsprozess festhält, geht sie gerade anders als in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG vorgesehen bewusst ein bereits bekanntes Risiko ein, das sich im Übrigen auch versichern lässt. Da S die Vorteile aus der Vermarktung der potenziell gefährlichen Flaschen zieht, muss sie auch für deren Risiken haften. Eine Entlastung kommt also auch unter diesem Gesichtspunkt nicht in Betracht. Ein Entwicklungsfehler liegt danach vor. 7. Ergebnis: Der Anspruch besteht. 3 Anhang: Die Prüfung des § 823 Abs. 2 BGB Obersatz: In Betracht kommt ein Anspruch des G gegen S aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB 1. Prüfung des Gesetzesverstoßes Prüfung erfolgt entsprechend den systematischen Vorgaben des jeweiligen Rechtsgebiets. Im Beispiel also Prüfung des § 263 Abs. 1 StGB wie im Strafrecht: a) Objektiver Tatbestand, b) Subjektiver Tatbestand, c) Rechtswidrigkeit, d) Schuld. Beachten Sie aber: In einer Examensklausur kommt die Prüfung des § 823 Abs. 2 BGB regelmäßig ganz am Ende der Ausführungen. Deshalb ist hier eine geraffte, kursorische Strafrechtsprüfung üblich, in der die Prüfung ergebnishaft zusammengefasst wird. 2. Eventuelle: Prüfung eines Verschuldens nach § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB Beachte: Manche Schutzgesetze (§ 858 Abs. 1 BGB) setzen kein Verschulden voraus. Im BGB besteht jedoch die Regel, dass Schadensersatz nur bei einem Verschulden des Täters in Betracht kommt. In einem solchen Fall muss daher ein Verschulden nach § 276 BGB zusätzlich geprüft werden. 3. Schutzzweckbestimmung (Schwerpunkt der Prüfung in einer Zivilrechtsklausur) Nach der Lehre vom Schutzzweck der Norm muss bestimmt werden, ob der eingetretene Schaden in den persönlichen und sachlichen Schutzbereich der Norm fällt. a) Schadenseintritt kurz bejahen. b) Schaden vom Schutzzweck der unter 1) geprüften Norm erfasst? a) Persönlich: Die Personengruppe, der das Opfer angehört, ist erfasst. b) Sachlich: Der dem Opfer zugefügte Schaden muss als solcher vom Schutzzweck der Norm erfasst sein (Gegenbeispiel: Kegeljungenfall). c) Schutzzweckzusammenhang (Sorgfaltswidrigkeitszusammenhang): Der Schaden muss gerade wegen der Verletzung der unter Schutznorm entstanden sein. Ein rechtmäßiges Alternativverhalten darf nicht in Betracht kommen. 4 Neues Schaubild: § 823 Abs. 2 BGB Problem: Wann ist ein Verbotsgesetz ein Schutzgesetz? Lehre vom Schutzzweck der Norm: (1) Es kommt darauf an, dass der Anspruchsteller und sein Schaden in den persönlichen und sachlichen Schutzbereich des Gesetzes fallen. ! Regelfall: Die Normen des strafrechtlichen Vermögensschutzes (§§ 242, 249, 263 StGB) sind typische Schutzgesetze. ! § 858 BGB (verbotene Eigenmacht) wird als Schutzgesetz angesehen (krit. zu Recht Medicus BR Rn. 621). ! § 267 StGB (Urkundefälschung) ist kein Schutzgesetz, sondern dient allgemeint der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs. (2) Der Schaden muss gerade auf einem Verstoß gegen das Schutzgesetz beruhen (Schutzzweckzusammenhang). Bsp: Kegeljungenfall (Lar./Can. S. 444): Ein Junge, der entgegen den Vorschriften über die zeitliche Begrenzung der Jugendarbeit spät abends für das Aufstellen von Kegeln auf der Kegelbahn engagiert ist, hat keinen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB gegen den Wirt, wenn er von einer Kugel getroffen wird. 5
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