E - C o m m e r ce - A g e n t u r e n Die zufällige Hochburg Hafenrevier In Bremens neuem Vorzeigeviertel, der Überseestadt, finden sich Cafés, Restaurants und die vier großen E-CommerceAgenturen der Hansestadt 64 | W&V 39-2015 39_15_064-068 Bremer Agenturen.indd 64 18.09.2015 12:05:18 München? Hamburg? I wo. Unter Deutschlands E-Commerce-Agenturen ist der wichtigste Standort eine Stadt, die keiner auf der Rechnung hat. Willkommen in Bremen TEXT: Ma r t i n B e l l f o t o s : Je ns Umb ac h B Wiethe Group Foto: Wiethe ox reiht sich an Box. Junge Beautys posieren darin, gegenüber setzt eine Fotografin eine Handtasche in Szene, eine Stylistin zupft an einer Büste Jackett und T-Shirt zurecht. 20 Boxen befinden sich in der Halle, voll ausgestattete Fotostudios im Kleinformat: Bühne, Scheinwerfer, Reflektoren, die Kameraausrüstung samt Computer, dazu Umkleiden für die Models – alles auf engem Raum. Eine Legebatterie für Modefotos. Auf Anzeigetafeln an den Boxen lässt sich das tägliche Pensum ablesen. Hier 60 fotografierte Teile, da 70, dort 100. Mehr als 3000 Kleidungsstücke und Accessoires pro Woche, gut 180 000 im Jahr, abgelichtet von vorn und hinten, von der Seite, im Detail, insgesamt rund eine Million Aufnahmen. Futter für die Onlineshops der Modehändler und Fashionlabels. Die Shooting-Fabrik der Wiethe Group zählt zu den größten Europas. Auf mehr als 4000 Quadratmetern beherbergt sie neben der Boxengasse ein Lager für bis zu 30 000 Modeartikel, ein Dutzend Stylingplätze für die Models, Räumlichkeiten der Bildbearbeitung und nicht zuletzt die Abteilung Text, die Artikelbeschreibungen für die Onlineshops erstellt. Um Aufträge braucht sich „Deutschlands Nr. 1 für Fashion-E-Commerce-Foto- grafie“ (Website) nicht zu sorgen. Mit knapp 8,5 Mrd. Euro Jahresumsatz (2014) belegt Bekleidung den Spitzenplatz im Online handel (laut Bundesverband E-Commerce und Versandhandel BEVH). Anfassen und anprobieren lassen sich Teile beim Shoppen im Netz nicht. Aber man möchte doch wenigstens sehen, was man kauft. Marken wie Adidas und Bogner schicken ihre Kollektionen deshalb zum Ablichten hierher, Internet-Boutiquen wie About You, Galeria Kaufhof, Peek & Cloppenburg. Ein Kommen und Gehen von Pullovern, Hosen, Schuhen. Zu finden ist die Shooting-Fabrik nicht etwa in der Modemetropole Düsseldorf, nicht an Umschlagplätzen wie Hamburg oder Frankfurt, auch nicht an Treffpunkten des digitalen Treibens wie Berlin. Sie steht in Bremen. Unbekannte Großmacht im E-Commerce Still und heimlich hat sich die Stadt an der Weser zur Hochburg der E-Commerce-Szene entwickelt. So heimlich, dass nicht mal Bremen selbst das bemerkt hat. Vier der zehn umsatzstärksten E-Commerce-Agenturen haben hier ihren Hauptsitz (oder ein bedeutendes Standbein wie die Wiethe Group mit ihrer 4000-Quadratmeter-Boxengasse). Unter den ersten fünf tummeln sich gleich drei Akteure aus Bremen: Team Neusta (Rang zwei), Wiethe Group (vier) und Hmmh (fünf). Gemeinsam mit der Softwareschmiede Neuland (Rang acht) erreichen die Onlinespezialisten von der Weser fast 90 Mio. Euro Honorar umsatz (laut Ranking des Bundesverbands Digitale Wirtschaft BVDW). Damit hängen sie andere Standorte deutlich ab. Legt man die Top 20 des BVDW-Rankings zugrunde, folgen auf den Plätzen München (38,5 Mio. Euro Honorarumsatz), knapp vor Hamburg (37,5 Mio.), dahinter Stuttgart (26,4 Mio.) und Frankfurt (23,1 Mio.). Bremen, die unbekannte Großmacht im E-Commerce-Geschehen. Schillernd ist die Hansestadt nicht gerade. Metropolen wie Berlin sind zwar arm, aber sexy. Bremen ist nur arm. Ohne Extrahilfen aus dem Länderfinanzausgleich könnte der norddeutsche Stadtstaat nicht mal die Zinsen für seine Schuldenlast abstottern. Mit 11,1 Prozent hat Bremen die höchste Arbeits- „The E-Fashion-Company“ || Ranking: 4 || Umsatz 2014: 23,96 Mio. Euro Mitarbeiter: 80 (Bremen)/230 (bundesweit) · Gegründet: 1993; das Bremer Fotostudio Objektiv entstand 2005 · Leistungen: Gestaltung und Betreuung von Onlineshops, Softwarelösungen (Wiethe Interaktiv); in Bremen ausschließlich Fotografie für Onlineshops und Bildbearbeitung (Wiethe Objektiv) · Kunden: u. a. Adidas, Bonita, Tom Tailor, Van Graaf Alle Quellen: Ranking: Internetagentur-Ranking des BVDW, Subranking E-Commerce 2015; Umsätze: Honorarumsatz im Geschäftsfeld E-Commerce laut BVDW-Ranking W&V 39-2015 | 65 39_15_064-068 Bremer Agenturen.indd 65 18.09.2015 12:05:20 Foto: Wiethe NEU LAND losenquote aller Bundesländer. In der PisaStudie bildet man traditionell das Schlusslicht. Aufwärtsbewegungen meldet allenfalls die Touristikzentrale: 1,9 Millionen Gäste übernachteten 2014 an der Weser, ein Plus von zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Elendstourismus. Die Bremer Stadtmusikanten taten sich das nie an. Esel, Hund, Katze und Hahn brachen zwar Richtung Bremen auf, um sich dort ihr Gnadenbrot zu verdienen – aber auf halber Strecke machten sie es sich dann doch lieber in einer Waldhütte gemütlich. Umso bemerkenswerter erscheint Bremens Aufstieg zum Zentrum für E-Com merce-Dienstleistungen. Der Onlinehandel floriert, aber die großen Mitspieler sitzen mitnichten an der Weser. In den vergangenen fünf Jahren haben sich die Umsätze der Branche laut BEVH mehr als verdoppelt: von 21,3 Mrd. Euro (2010) auf 43,6 Mrd. (2014). Die Bremer Agenturen wuchsen im selben Zeitraum kräftig. Neuland, das „Büro für Informatik“ (Website), verdreifachte seine Honorarumsätze nahezu, Wiethe verdoppelte sie, Team Neusta legte um mehr als 50 Prozent zu. Lediglich Hmmh zeigt ein weniger steiles Wachstum: ein Plus von immerhin noch gut 35 Prozent. Bremens Agenturszene auf der Erfolgswelle. Agenturbüros im alten Hafenrevier Ortsbesichtigung. Überseestadt. Für Bremen ist sie, was für Hamburg die Hafencity ist: ein ambitioniertes Stadtentwicklungsprojekt. Einen Kilometer breit, dreieinhalb Kilometer lang, 300 Hektar in unmittelbarer Innenstadtnähe. Mit lang gezogenen Hallen, Speichern, Bürolofts in umgebauten Lagerhäusern. Einzelhändler und Restaurants haben sich in dem alten Hafenrevier angesiedelt, Fitness- und Freizeitangebote. Und alle vier E-CommerceAgenturen. Wiethe brachte hier 2011 die Shooting-Fabrik unter. „Eine Kostenfrage“, erklärt Geschäftsführer Markus Wiethe. In Hamburg belaufen sich Mieten für eine Halle dieser Größe aufs Drei- bis Vierfache. Mehr als die Hälfte der 80 Mitarbeiter pendelt täglich zwischen Elbe und Weser. Eine Stunde braucht man mit dem Zug. „Die Fluktuation ist gering“, sagt Wiethe. Wer sich als Fotograf nicht zum nächsten Helmut Newton berufen fühlt, findet in den Boxen der Wiethe Group einen krisenfesten Job. Eine strategische Standortentscheidung freilich war Bremen nicht. Das Hauptquartier der Gruppe liegt zwischen Osnabrück und dem Teutoburger Wald, in Georgsmarienhütte. Als vor zehn Jahren Bedarf an Bildmaterial bestand, half ein guter Freund von Markus Wiethe aus. Seines Zeichens Werbefotograf. An der Weser. „Bremen“, bekennt Wiethe, „war schlicht Zufall.“ Zu Fuß sind es von Wiethes Halle nur ein paar Minuten bis Neuland. Die Software-Manufaktur residiert in einem ehemaligen Kaffeespei- E-Commerce-Software-Manufaktur || Ranking: 8 || Umsatz 2014: 10,79 Mio. Euro Mitarbeiter: über 100 · Gegründet: 2006 · Leistungen: individuelle Softwarelösungen für Onlineshops · Kunden: u. a. Bonprix, Breuninger, Manufactum, Obi 66 | W&V 39-2015 39_15_064-068 Bremer Agenturen.indd 66 18.09.2015 12:05:24 TEAM NEUSTA cher in derselben Straße. Sechs Lofts verbinden sich zu einer Großraum-Maisonette. 2400 Quadratmeter für gut 100 Mitarbeiter. Holzdielen, bodentiefe Fensterfronten, von allerlei Grün umrahmte Projektinseln, dazwischen Sitzecken mit Sofa und Couchtisch. Kein steriles IT-Labor, aber auch keine mit Chipstüten und Pizzakartons zugemüllte Nerd-Bude. Die Atmosphäre ist entspannt und konzentriert zugleich. Hier entstehen individuelle Softwarelösungen für Onlineshops, von der Hintergrundanwendung bis zum Responsive Design. Zu den Kunden zählen Adressen wie Douglas, Manufactum, Obi. „Je größer der Auftraggeber, desto höher das Interesse an eigens entwickelter Software“, erklärt Geschäftsführer Thomas Koch. „Das hatten wir schon zu Beginn im Auge.“ 2006 gründete Koch gemeinsam mit fünf Kompa gnons das Büro für Informatik. Die Gründer kamen vom selben Arbeitgeber: Hmmh. Das Multimediahaus war damals in fremde Hände übergegangen, es gab Unstimmigkeiten. Koch und seine fünf Kollegen zogen die Konsequenzen und machten sich selbstständig. Binnen weni- ger Jahre gelang ihnen der Aufstieg zu einer der führenden Softwares chmieden im E-Commerce. „Wir betreiben keine Eigenwerbung“, so Koch. „Neukunden gewinnen wir über Empfehlungen.“ Ein, zwei Auftraggeber kommen im Jahr hinzu, mehr nicht. Für Ausbau und Pflege der Shopsysteme sind intime Kenntnisse nötig. Neulands IT-Köpfe setzen die E-Commerce-Strukturen daher nicht nur ins Werk, sondern betreuen und entwickeln sie danach weiter. Das bindet Kunden, aber auch Arbeitskraft. „Neue Auftraggeber bedeuten stets Neueinstellungen.“ Darum ist die Agentur ständig auf der Suche. In Jobbörsen wie Monster.de und Stepstone schaltet Neuland Ganzjahresannoncen. Die Lebenshaltungs kosten sind niedriger als in Hipster- und SchickimickiMetropolen. Der Wohnraum ist bezahlbar, die Wege sind kurz. Seit die Uni zum Exzellenz-Zirkel gehört, zieht es akademischen Nachwuchs aus ganz Deutschland an die Weser. Das belebt die Stadt. Gegenden wie das Schnoorviertel in der Altstadt, die Uferpromenade Schlachte, die Über- seestadt und das Bremer Viertel warten auf mit Restaurants, Kneipen, Cafés. Unweit von Wiethe und Neuland lädt die Hafenbrise zum Verweilen. Team Neusta betreibt das Café. Inspirationen dank Startups Die Nebenerwerbsgastronomen kletterten 2009 an die Spitze der Bremer E-CommerceSchmieden, als sie die Agentur Interwall übernahmen. Bis dahin war Team Neusta vornehmlich Softwareentwickler für andere Dienstleister. Interwall brachte das Know-how für Shopkonzepte und Design mit. Im Beirat E-Commerce mit Schwerpunkt Tourismus || Ranking: 2 || Umsatz 2014: 31,82 Mio. Euro Mitarbeiter: 450 (Bremen)/650 (bundesweit) · Gegründet: 1993; E-Commerce-Agentur Interwall (gegründet 2001) seit 2009 im Team Neusta · Leistungen: Gestaltung und Betreuung von Onlineshops, Softwareentwicklung, Onlinemarketing · Kunden: u. a. Airbus, Beck’s, Tchibo, TUI W&V 39-2015 | 67 39_15_064-068 Bremer Agenturen.indd 67 18.09.2015 12:05:28 HMMH saß lange Jahre Hmmh-Gründer Detlef Hanke. Auch André Schütte, Interwalls CEO, war für Hmmh tätig, bevor er zu Neusta ging. Das Geschäft brummt. „Zurzeit“, so Schütte, „stellt die Gruppe mehr als ein halbes Dutzend Leute pro Monat ein.“ Vor zwei Jahren rief Neusta eine eigene Startup-Initiative ins Leben. Gründer mit vielversprechenden Ideen finden in der Agentur ein Co-WorkingAreal vor, erhalten Unterstützung aus den Teams und Anschub investitionen. 2014 förderte die Initiative ein Dutzend Startups. Auch aus Eigennutz. Neusta verspricht sich davon Inspirationen für den Betrieb und Strahlkraft auf kreative Köpfe, Zeitgenossen wie Eduard Andrae und Rüdiger Schmidt zum Beispiel. Die beiden arbeiten unter Neustas Dach an ihrem Startup Trusted-blogs, einem persönlichen Blogazine, das man sich aus seinen Lieblingsblogs indi- viduell zusammenstellt. Anfang September ging Trusted-blogs online. „Team Neusta kam vergangenes Jahr auf uns zu, als wir nach Investoren suchten“, berichtet Eduard Andrae. „Das war wie ein Sechser im Lotto.“ Ihren damaligen Arbeitgeber hatten die beiden Gründer nicht für die Idee begeistern können. Der hieß Hmmh. Der Vorreiter schwächelt Das Multimediahaus hat unruhige Jahre hinter sich. 2004 übernahm die Seekamp Werbegruppe den E-Commerce-Pionier, 2007 der Energieversorger EWE, 2014 schließlich die Serviceplan-Gruppe. Großkunde Tchibo verabschiedete sich. Hmmh, lange Zeit führend, geriet ins Hintertreffen, Rivale Neusta zog vorbei. „In Sachen Innovationskultur haben wir Nachholbedarf “, bekennt Managing Director Stefan Messerknecht. Sein Büro befindet sich im 16. Stock des WeserTowers am Eingang der Überseestadt, in einem voll verglasten Hochhaus mit einem Rundblick, der selbst Schwindelfreien Höhenangst einjagt. Acht Stockwerke belegt Hmmh in dem Wolkenkratzer. In der zwölften Etage fand Anfang September erstmals ein „Open Space“ statt, ein zweitägiger Gedankenaus- tausch der Mitarbeiter. Keine Teilnahmepflicht, offene Diskussionen. „Das war klasse, viel besser, als ich erhofft hatte“, sagt Marketingchef Thorben Fasching. Mehr Involvement, mehr Transparenz wünschen sich die Kollegen. Die Geschäftsführung zeigt sich aufgeschlossen. Ihr Ziel: Hmmh wieder zum Vorreiter zu machen. So wie in den Neunzigern, als das Multimediahaus für das Versandhaus Otto einen interaktiven Katalog auf CDROM erstellte. Damals ein Meilenstein, der erste Schritt zum E-Commerce. Heute spricht man von Digital Commerce: Shoppen am Desktop, am Tablet und übers Smartphone. „Die nächste Stufe“, so Messerknecht, „heißt Connected Commerce.“ Die Verbindung von Online und Offline. Serviceplans Erfahrung im Shopp er-Marketing kommt Hmmh hier zugute. Messerknecht gibt sich angriffslustig: „In einem Jahr wollen wir die Schlüsseladresse auf diesem Feld sein.“ Hmmh ist zweifellos die Keimzelle der Bremer E-Commerce-Szene. Den Aufschwung zur heimlichen Hochburg aber erklärt das nicht. „Vielleicht steckt dahinter gar kein besonderes Geheimnis“, meint NeulandChef Thomas Koch nüchtern. „Vielleicht handelt es sich schlicht um einen Zufall.“ ag e nt u re n@ wu v.de „The E-Commerce-Company“ || Ranking: 5 || Umsatz 2014: 22,86 Mio. Euro Mitarbeiter: 260 (Bremen)/300 (bundesweit) · Gegründet: 1995 als mmh multi media haus unter dem Dach der Hanke Werbeagentur; firmiert seit 2004 offiziell als Hmmh. 2014 Übernahme durch die Serviceplan-Gruppe · Leistungen: Gestaltung und Betreuung von Onlineshops, Softwarelösungen, Onlinemarketing · Kunden: u. a. Air Berlin, Bonprix, Gerry Weber, L’Oréal 68 | W&V 39-2015 39_15_064-068 Bremer Agenturen.indd 68 18.09.2015 12:05:33
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