Thesen zum Workshop „Griechenland und die Europäische Union – welche Wege führen aus der Krise?“ 08./09. Mai 2015 Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena Thesen Europa stärken heißt teilen und umverteilen Klaus Dörre, FSU Jena, 03.05.2015 Vorbemerkung Aus der Perspektive der Kollegforscher_innengruppe „Postwachstumsgesellschaften“ stellen die Krise in der Eurozone und die ökonomischen Schrumpfungsprozesse in den südeuropäischen Krisenländern eine analytische Herausforderung dar. Das Kolleg operiert mit dem Konzept einer ökonomisch-ökologischen Zangenkrise. Damit ist gemeint, dass – zugespitzt formuliert – das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Krisen im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum auf noch weitgehend fossilistischer Grundlage, notwendig zu einer Kumulation ökologischer Gefahren führt. 1 Die in diesem Konzept angelegt Kritik des kapitalistischen Wachstumsfetischs sieht sich analytisch mit dem Problem konfrontiert, dass in den europäischen Ländern ökonomische Schrumpfung und Stagnation real sind, ohne dass dies zu einer ernsthaften Infragestellung kapitalistischer Wachstumsimperative führt. Die Krise auf dem Kontinent ist – vorerst – eine der Eurozone, der Europäischen Union und ihrer Institutionen, keine des Wachstumskapitalismus. Im Gegenteil, diskutiert wird, ob die Krise mit oder ohne Euro, mit mehr oder weniger europäischer Integration zu bewältigen ist; die ökologische Dimension der Krise findet hingegen nicht oder allenfalls am Rande Beachtung. Stattdessen erscheint die Generierung von Wirtschaftswachstum noch immer als einzig möglicher Ausweg aus der Krise. Dieser „Wachstumsillusion“ sitzt auch der – von mir mit unterzeichnete – Aufruf auf. In diesem Punkt ist er nicht realistisch, weil er gesellschaftliche Entwicklung mit ökonomischem Wachstum identifiziert. Gerade für Länder wie Griechenland beinhaltet die bloße Generierung von Wirtschaftswachstum jedoch keine realistische Perspektive. Selbst ein jährliches Wachstum von drei Prozent vorausgesetzt, würde es mindestens zwei Jahrzehnte dauern, um auch nur das Vorkrisenniveau halbwegs zu erreichen. Doch wer glaubt daran, dass dies überhaupt realistisch ist – gleich ob mit oder ohne Euro? Aus meiner Sicht spricht einiges dafür, dass eine tragfähige sozio-ökonomische Theorie, die auf die Herausforderungen der Zangenkrise antwortet, noch gar nicht existiert. Wissenschaftliche Paradigmenwechsel vollziehen sich in der Regel im Anschluss an „große Krisen“ kapitalistischer Akkumulation. Das gilt für den Keynesianismus ebenso wie für den Neoliberalismus. 2 Mit Blick auf ein solches Paradigma scheint mir eines sicher. Auch wenn die komplexen Mensch-Natur- Interaktionen sich durch „unendliche Ungewissheit“ in den Vorhersagen 3 auszeichnen, Normwerte oder Kipppunkte immer wissens- und definitionsabhängig sind und viele seriöse Wissenschaftler den „Gedanken eines unumkehrbaren, katastrophalen ‚Umschlagpunkts‘ als empirisch nicht ausreichend fundiert“ ablehnen, 4 wird dieses neue Paradigma die Generierung 1 Wenn ich hier von „dem Kolleg“ spreche, so ist das im Grunde eine unzulässige Verallgemeinerung, weil die im Begriff anklingende Grundproblematik innerhalb der Forscher_innengruppe höchst unterschiedlich interpretiert wird. Zur internen Kontroverse über den Krisenbegriff vgl.: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (2015): Sociology – Capitalism – Critique. London: Verso [erweiterte Fassung der 2009 bei Suhrkamp erschienen deutschen Version] 2 In diesem einen Punkt stimme ich überein mit: Hesse, Jan-Otmar/Köster, Roman/Plumpe, Werner (2014): Die Große Depression: Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939. Frankfurt a.M./New York: Campus. 3 Foster, John B./Clark, Brett/York, Richard (2011): Der ökologische Bruch. Hamburg: Laika, S. 402. Skidelsky, Robert/Skidelsky, Edward (2014): Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. München: Kunstmann, S. 178. 4 2 von Wirtschaftswachstum als Selbstzweck und damit auch die institutionellen Wachstumstreiber in Frage stellen (müssen). 5 Ich stelle diese Bemerkung voran, weil ich mich im Folgenden auf d i e ökonomische Krisendimension beschränken und erst bei möglichen Auswegen aus der Krise wieder auf die ökologische Dimension zurückkommen werde. Meine Argumentation fasse ich vorab wie folgt zusammen: (1) Der „Kern der Krise“ ist nicht mit dem Modus europäischer Integration identisch; er liegt außerhalb der EU und der Eurozone. (2) In ihrer gegenwärtigen institutionellen Verfasstheit stellen EU und Eurozone die Krise in einem spezifischen Sozialraum auf Dauer. (3) Eine Rückkehr zu einer nationalen Währung macht für die so agierenden Staaten nichts besser, denn sie kommt zu spät und setzt schwache Nationalstaaten/nationale Ökonomien einem globalen Krisendruck aus. (4) Dennoch kann es zu einem solchen Szenario (Grexit, Zerbrechen der Eurozone) kommen. Die Kräfte eines demokratischen Egalitarismus sollten um Europa kämpfen, sich aber auch auf andere, möglicherweise autoritäre Szenarien vorbereiten. (5) Europa heißt teilen und umverteilen. 1 Was ist der „Kern der Krise“? Um es klar zu sagen: Der „Kern der Krise“ (Martin Höpner), auch der europäischen, wird mit der – äußerst wichtigen – Frage, ob ein europäisches Land eine interne Abwertung über die Anpassung des Wechselkurses einer eigenen Währung vollziehen kann, nicht erfasst. 6 Der „Kern“ des Problems besteht in einem globalen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der die Vermögenskonzentration fördert, überschüssiges Kapital in den Finanzsektor leitet und monetäre Ansprüche generiert, die „realwirtschaftlich“ nicht oder nur auf Zeit und mittels permanenter Einverleibung noch nicht kommodifizierter Ressourcen, Sektoren, Lebensstile, Arbeitskräfte und Arbeitsvermögen zu befriedigen sind. 7 Eine solche – wie ich sie nenne – Landnahme des Sozialen hat zur globalen Krise von 2008/09 geführt. An dieser in der Krise eklatierenden spezifischen Ausprägung der für jede Spielart des Kapitalismus charakteristischen „Kapitalüberschuss-Absorptionsproblematik“ 8, hat sich seither nichts geändert. Im Gegenteil. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat eine neue internationale Arbeitsteilung, darauf abgestimmte institutionelle Konfigurationen, soziale Strukuren, verfestigte Gruppeninteressen und mit ihnen korrespondierende Politiken hervorgebracht, die in der Konsequenz die Selbststabilisierungsmechanismen kapitalistischer Gesellschaften (Kreditsystem, Innovationssystem, System sozialer Sicherungen) unterminieren. Man muss nicht Keynesianer sein, um zu erkennen, dass sich die ökonomische Grundproblematik aus den frühen 1970er Jahren faktisch umgekehrt hat. Von einer (zumindest aus der Elitensicht) Profitklemmen-Krise ausgelöst, hat die Landnahme des Sozialen in vier Jahrzehnten Verwertungsschranken kapitalistischer Akkumulation überwunden, um mit einer strukturellen Nachfrageschwäche neue, nun aber völlig anders gelagerte Schranken zu erzeugen. Strukturelle Nachfrageschwäche bedeutet, dass ein Umsteuern in Richtung einer nachfrageorientierten Politik nicht ohne weiteres möglich ist, weil sich die kapitalistischen Zentrumsgesellschaften so verändert haben, dass die sozialen und politischen Kräfte, die eine solche Politik durchsetzen 5 Als ein Beispiel für viele: Harvey, David (2014): Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und seine Krisen überwinden. Hamburg: VSA, S. 223. 6 So die in sich sehr kohärenten Papiere von Andreas Nölke und Martin Höpner. 7 Elmar Altvater spricht diese Problematik in seinem Artikel an. Vereinfacht gesagt muss eine Ökonomie, die während einer Produktionsperiode wächst, in der nachfolgenden Periode absorptionsfähige Märkte für das zusätzliche Mehrprodukt schaffen, was ohne markterweiternde Investitionen nicht möglich ist. Daher gilt als Faustformel: 3 Prozent Wachstum erzwingen 3 Prozent zusätzliche Investitionen. Je höher das Reichtumsniveau von Gesellschaften und je größer das Wirtschaftswachstum, desto schwerer wird es jedoch, neue Märkte zu erschließen. Dieses Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem ist die zentrale makrosozioökonomische Triebkraft hinter kapitalistischen Landnahmen. Es erklärt, weshalb der Akkumulationsprozess des Kapitals „die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit“ über „alle Produktivkräfte der Erde“ benötigt, soweit diese in den Schranken der Mehrwertproduktion mobil zu machen sind. Vgl. Harvey (2014), S. 32 f. 8 3 könnten (Linksparteien, Gewerkschaften, soziale Bewegung), noch keine Antwort auf diesen Wandel gefunden haben (Prekarisierung, Aushöhlung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, PostDemocracy). 2 Droht ein neuer Minsky-Moment? Hinter der strukturellen Nachfrageschwäche verbirgt sich somit sehr viel mehr, als eine bloße Lohn(stückkosten)-Problematik. Anhaltende Vermögenskonzentration und die neuerliche Ausprägung vertikaler (klassenspezifischer) Ungleichheiten verleihen dem angesprochenen Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem zusätzliche Brisanz. Eine Konzentration von Reichtum in den Händen weniger bedeutet, dass der angeeignete Überschuss auch deshalb schwer zu reinvestieren ist, weil dem kapitalistischen Konsum physische Grenzen gesetzt sind. Zugleich fördert die Anhäufung von Geld als universeller Form des Reichtums eine Akkumulation sozialer Macht, die sich politisch u.a. für die Durchsetzung und Konservierung von Steuerprivilegien nutzen lässt. Die verteilungspolitische Schieflage reduziert den Spielraum für produktiven Staatskonsum und blockiert so öffentliche Investitionen. Während sich überschüssiges Kapital in privater Verfügung mangels gewinnträchtiger Anlagemöglichkeiten in der sogenannten Realökonomie wieder im Finanzsektor sammelt, fehlt es dem Staat vor allem auf dezentraler Ebene an Finanzmitteln, um dringend benötigte ökologische und soziale Infrastrukturinvestitionen zu tätigen. 9 Die schöpferische Zerstörung der institutionellen Kapitalismen Kontinentaleuropas hat offenbar das soziale Fundament der Investitionstätigkeit selbst derart erschüttert, dass dieser für die kapitalistische Dynamik zentrale Stabilisator in seiner Funktionsfähigkeit beschädigt wird. Selbst in „Gewinnerstaaten“ wie Deutschland wird Exportfähigkeit mittels Prekarisierung und Abwertung reproduktiver Tätigkeiten erkauft. In den alten kapitalistischen Staaten gelingt es nirgendwo, Kapitalströme in jene Sektoren und Bereiche zu leiten, in denen sie – sicher um den Preis niedriger Gewinnmargen – für ökologische Innovationen und sinnvolle Arbeit/Beschäftigung genutzt werden könnten. Stattdessen bleiben die (Re)Produktionsmodelle der europäischen Kapitalismen über das Zeitregime eng mit einer hochspekulativen Finanzwirtschaft verflochten, deren radikalisierte Risikoproduktion alle Kriterien eines erneuten Minsky-Moments (fortgesetzte Vermögenskonzentration, Aktien- und Immobilienhypes in wichtigen Teilökonomien, Neigung zu hoch spekulativen Geschäften im Finanzsektor) erfüllt. 10 „Die Risiken für die globale Finanzstabilität nehmen zu“ 11, und diese krisenträchtige Konstellation existiert unabhängig von der institutionellen Verfasstheit der Europäischen Union und der Eurozone. Doch glaubt irgendjemand ernsthaft, die Rückkehr zu nationalen Währungen und Wechselkursen sei der entscheidende Schritt, um die Krisenfestigkeit Griechenlands und der gesamten südeuropäischen „Peripherie“ zu stärken? Ich halte eine solche Prognose für mehr als gewagt. Sie ist jedenfalls nicht wahrscheinlicher als die Befürchtung, ein Grexit mit seinen unwägbaren ökonomischen und politischen Folgen könne sich als jener berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings erweisen, der das ohnehin morsche Gebälk des europäischen Institutionensystems vollends zum Einsturz bringt. 3 Was ist der europäische, was der nationale Anteil an der Krise? Sicher, hier stimme ich Andreas Nölke und Martin Höpner zu, gibt es einen erheblichen hausgemachten europäischen Anteil an der Krise. Während die Wirtschaft in China und anderen Vgl.: DIW Berlin, Fehlende Investitionen kosten Deutschland jedes Jahr 0,6 Prozentpunkte potentiellen Wirtschaftswachstums, Pressemitteilung vom 24.06.2014. 9 10 Minsky, Hyman P. (2011): Instabilität und Kapitalismus. Zürich: Diaphanes. vgl. auch: Busch, 11 Die IWF-Chefin Christine Lagarde laut Die Welt vom 09.04.2015. 4 aufstrebenden Ökonomien des globalen Südens rasch wieder anzog, nahm die Krise in Europa einen anderen Verlauf. In der Eurozone trafen die Auswirkungen des globalen Crashs auf ein zerbrechliches suprastaatliches Gebilde, das Länder mit stark differierender Wirtschaftsleistung in einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit Gemeinschaftswährung integrierte. Mit Hilfe der Europäischen Union war es Regierungen gelungen auf der suprastaatlichen Ebene Handlungszwänge zu implementieren, die dann in Gestalt marktzentrierter Politiken national als vermeintliche Sachzwänge exekutiert werden konnten. Währungsunion und Euro bedeuteten die Vollendung dieses Projekts. Weil sie, so Andreas Nölke und Martin Höpner in Anlehnung an ein zentrales Argument Wolfgang Streecks, den Staaten die Möglichkeit genommen haben, Wettbewerbsdefizite mittels Abwertung ihrer nationalen Währung auf Zeit auszugleichen, bleibt den schwächeren Ökonomien als Instrument nur die „innere Abwertung“, sprich: der ständige Druck auf Löhne und Sozialstandards. Ich stimme diesem Argument zu, dies allerdings mit drei wichtigen Einschränkungen: Erstens handelt es sich nicht um einen ökonomischen, sondern um einen politisch hergestellten „Sachzwang“, der sich innerhalb der Eurozone mit politischen Mitteln durchaus korrigieren ließe. Bespielsweise beinhaltet der von Varoufakis u. a. vorgelegte „Bescheidene Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“ 12 weder den Übergang zur einer Transfer-Union noch zielt er auf einen Schuldenerlass. Die Vorschläge bewegen sich allesamt innerhalb des Rahmens, den bestehende Verträge setzen: a) ein Fall-zu-Fall-Programm für Banken, das Staatsschulden und Re-Kapitalisierung der Banken entkoppelt; b) ein begrenztes Umschuldungsprogramm für Maastricht-konforme Staatsschulden; c) ein Investitionsprogramm, das globale Überschüsse in Investitionsvorhaben vor allem in der europäischen Peripherie umleitet sowie d) ein Notprogramm für soziale Solidarität, das „unangemessene“ Überschüsse im Target2-System nutzt, um die sozialen Verwerfungen in den Krisenländern zu einzudämmen. Dass dieser Vorschlag innerhalb der EU-Gremien nicht einmal diskutiert wird, hat ideologische und politische Gründe, einen rein ökonomischen „Sachzwang“ (Austerität oder Inflation) vermag ich nicht zu erkennen. 13 Zweitens halte ich die Vorstellung, die Wettbewerbsfähigkeit einer nationalen Wirtschaft lasse sich über eine „Stellschraube“, den Wechselkurs einer (nationalen) Währung, grundlegend beeinflussen, für unterkomplex. Dass „Wettbewerbsfähigkeit“ ein mehrdimensionales, vielschichtiges Phänomen ist und nationale Ökonomien nicht wie Unternehmen behandelt werden können, war schon einmal Gemeingut in globalisierungskritischen Debatten. 14 Der Euro war auch als Antwort auf die Schwierigkeiten gedacht, die nationale Regierung hatten, wenn sie über nationale Währungspolitiken die eigenen Ökonomien zu stabilisieren glaubten. Das galt insbesondere für Nationalstaaten wie Griechenland, die sich durch eine Dominanz innovationsträger Oligarchien, defizitäre Sozialsysteme (z.B. fehlende Grundsicherung), schwache industrielle Strukturen und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des traditionellen und des öffentlichen Sektors auszeichneten. Das Problem solcher Ökonomien ist keineswegs in erster Linie die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Staates zur Herstellung von 12 Yanis Varoufakis/Stuart Holland/James K. Galbraith: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. München 2015. Bezeichnend ist die Kommentierung in der Süddeutschen Zeitung. Vgl.: Nikolaus Piper: Ökonomie als Kult, in: SZ 7./8. März 2015. Piper genügt es, Varoufakis des Marxismus zu überführen, um ihn der intellektuellen Verweigerung gegenüber Strukturproblemen zu bezichtigen, „die eben nur ‚neoliberal‘ erklärt werden können“. Piper verliert kein Wort darüber, dass das marktradikale Austeritätsprogramm nicht nur in Griechenland zu einer dramatischen Zuspitzung der ökonomischen und sozialen Krise beigetragen hat. 13 Vgl. dazu u.a. das Papier von Judith Dellheim. Ich füge allerdings ein weiteres Argument hinzu: Es ist keineswegs allein die Furcht vor einem Podemos-Wahlsieg, der Schäuble zu seiner mitleidslosen Politik animiert. Jeder offensive Schritt hin zu einer Transfer-Union fördert gegenwärtig den Rechtspopulismus, weil selbst schwache Ökonomien und Nationalstaaten im Rahmen des ISM für die Schuldentilgung z.B. Griechenlands bürgen. Dieser institutionelle Nationalismus ist politisch hoch gefährlich. 14 Paul Krugman (1996): Wettbewerbsfähigkeit: Eine gefährliche Wahnvorstellung, in: Jahrbuch für Arbeit und Technik. Bonn, S. 37-49. 5 Lohndisziplin. Vielmehr existierte z.B. in Griechenland ein zersplittertes System kollektiver Arbeitsbeziehungen (78 Gewerkschaften, eine unüberschaubare Zahl von Tarifverträgen), das – mit dem „Autopiloten“ einer Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen versehen – eine Privilegienwirtschaft förderte und deshalb schon vor der Krise dringend reformbedürftig war. Die radikale Linke hat das lange vor der Krise offen ausgesprochen. Griechenland muss umgebaut werden – dies freilich in einem völlig anderen Sinne als die europäische Austeritätspolitik es nun intendiert. Seit 2008/09 kommt drittens hinzu, dass defizitäre Ökonomien und Regulationssysteme in den Krisenländern und gerade auch in Griechenland inzwischen weitgehend zerstört sind. Wozu sollen z.B. Gewerkschaften gut sein, wenn 2/3 der Bevölkerung in prekären Verhältnissen leben und von diesen Organisationen keinen Schutz erwarten können? De facto funktioniert die griechische Gesellschaft nur noch, weil informelle Strukturen als funktionales Äquivalent für wohlfahrtsstaatliche Sicherungen fungieren: Weil dort rund drei Millionen Menschen aus den kollektiven Sicherungssystemen herausgefallen sind, können elementare soziale Leistungen nur noch auf dem Weg der Selbsthilfe gewährleistet werden. Ärzte versorgen nach dem offiziellen Arbeitstag kostenlos Kranke, die keine reguläre medizinische Versorgung beanspruchen können. Der materielle Mangel fördert die Subsistenzarbeit, Zehntausende gehen zurück aufs Land, Tauschringe ohne Geldzahlungen sichern mittellosen Personen eine Grundversorgung und soziale Netzwerke bieten Familien, die ihre Mieten nicht mehr zahlen können, Obdach in beengten Wohnungen oder auf Campingplätzen an. Auf diese Weise erzeugt eine radikalisierte Landnahme des Sozialen ein informelles, nichtkapitalistisches Anderes, das, so paradox das klingen mag, zeitweilig zu gesellschaftlicher Stabilisierung beitragen kann, zugleich aber doch die verbliebenen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen weiter aushöhlt. Wie das griechische Beispiel zeigt, bilden sich inmitten Europas precarious societies heraus, in denen nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern mehr oder minder alle gesellschaftliche Basisinstitutionen instabil geworden sind. Bezieht man Statusunsicherheit und private Verschuldung ein, so leben die meisten Menschen in diesen Gesellschaften in prekären Verhältnissen. Regieren läuft hier auf eine Maximierung von Unsicherheit bei gleichzeitiger Gewährung jenes Minimums an sozialer Absicherung hinaus, das gerade noch notwendig ist, um Aufstände und Revolten zu vermeiden oder doch unter Kontrolle zu halten. Ob und wie solche Gesellschaften sich zukünftig zum bessren entwickeln können, ist eine völlig offene Frage, die weder durch Austeritätspostulate noch durch – notwendige – neokeynesianische Ansätze zureichend beantwortet wird. 4 Welche Wege führen aus der Krise? Sämtliche Antwortversuche kommen nicht umhin, sich einzugestehen, dass eine Rückkehr zu nationalen Währungen und eine Währungsabwertung Ländern wie Griechenland wenig bringen würde. Die ökonomischen Institutionen sind zerstört, es wird mindestens eine Generation brauchen, sie wieder aufzubauen. Eine Rückkehr zur Drachme würde die wirtschaftliche Situation nicht verbessern, weil das Land keine Exportwirtschaft besitzt, neue industrielle Strukturen – etwa in der Solarwirtschaft – erst aufgebaut werden müssen und zugleich die Importe so teuer würden, dass die Nachteile die Vorteile einer solchen Strategie wohl dramatisch übertreffen würden. Fakt ist: Jede Entwicklungsstrategie setzt Hilfe von „außen“, seitens der starken europäischen Nachbarn voraus. Europa heißt teilen (zwischen starken und schwachen Staaten) und umverteilen (von oben nach unten); ohne diese Einsicht wird Europa nicht nur als politische, sondern auch als ökonomische Konfiguration zerfallen. Obwohl die Erfolgschancen klein sind, macht es Sinn, den Kampf um eine Demokratisierung Europas noch nicht aufzugeben. Ich füge hinzu: 6 - Der Hinweis auf fortbestehende regionale Differenzen (Ostdeutschland, italienischer Süden) ist kein wirkliches Gegenargument. Kapitalistische Ökonomien beruhen strukturell auf der Produktion ungleicher Räume. 15 Dies geschieht in großen Flächenstaaten (China, USA, Russland) permanent. Das Argument, periphere Räume wie z.B. Ostdeutschland würden am Tropf „des Westens“ oder Süditalien am Tropf „des Nordens hängen“, ist dennoch falsch! „Der“ Osten ist längst binnendifferenziert, „der“ Westen schöpft seit langem Produktivitätsgewinne und qualifizierte Arbeitskräfte ab. Selbst Süditalien ist nicht einfach „unproduktiv“, sondern liefert Europa ein – in diesem Fall wenig qualifiziertes – Arbeitskräftepotential für private Dienstleistungen etc. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Austauschbeziehungen zwischen europäischem Zentrum und (süd-)europäischer Peripherie. Die Peripherie „liefert“, sie ist aber grundsätzlich auf die „äußere“ Unterstützung endogener Entwicklungsprozesse angewiesen – und zwar sowohl mit als auch ohne Euro. Endogene Entwicklung heißt wahrscheinlich aber etwas anderes als Ausrichtung auf industrielle Exportstrukturen. Es dürfte um die Errichtung eines modernisierten Sektors „kleiner“ Waren-, Landwirtschafts- und Dienstleitungsproduktion gehen, kombiniert mit einem öffentlichen (genossenschaftlichen) Sektor, der Beschäftigung fördert. Denkbar sind – etwa im Bereich regenerativer Energien – große, öffentlich finanzierte Unternehmen, um die herum sich kleine Firmen gruppieren, die nicht in erster Linie Wachstums- und Gewinninteressen verfolgen (Gespräch mit Syriza-Politikern). Auch würde es darum gehen, die aus der Not geborenen solidarischen Netzwerke institutionell zu stützen. Dies wäre der Übergang zu einer gemischten Ökonomie, die auf einem selektiven sozialen Wachstum basieren würde. - Nationalstaaten sind, darauf hat Jürgen Habermas zu Recht hingewiesen, keine homogenen „Gemeinschaften“. Sie sind aus regionalen Disparitäten hervorgegangen; warum sollte das für einen europäischen Staat mit demokratischen Institutionen grundsätzlich anders funktionieren? In einem ersten Schritt muss es darum gehen, ein europäisches Investitions- und Sozialprogramm für die Krisenländer zu finanzieren. Sofern nicht anders möglich, auch über neue Schulden. Wichtig ist jedoch, dass in den Ländern selbst Bedarfe und ökonomische Entwicklungsstrategien formuliert werden. Hier liegt gegenwärtig das entscheidende strategische Defizit (nicht nur) von Syriza. Es gibt durchaus gute programmatische Ansätze, aber diese liegen in der Schublade, weil Syriza noch immer nach dem Konsensprinzip funktioniert. Hier muss sich etwas ändern – und zwar innerhalb von Gewerkschaften und politischer Linker innerhalb der Krisenländer! Epilog Wird die griechische Linksregierung zu Fall gebracht, dürfte es mit linken Alternativen in Europa für lange Zeit vorbei sein. Doch noch ist nicht alles verloren. Im günstigsten Fall könnte Folgendes geschehen: Griechenland und die Euro-Gruppe einigen sich auf einen Kompromiss, der das Land nicht völlig erdrosselt. Syriza gewinnt Neuwahlen und/oder eine Volksabstimmung über den gefundenen Kompromiss. Das ermutigt austeritätskritische oppositionelle Kräfte in anderen Ländern. Podemos gewinnt im Herbst die spanischen Wahlen. In anderen Ländern, auch in Deutschland, beginnt die Diskussion über linke Alternativen zum Austeritätskurs; in den Gewerkschaften und in der Sozialdemokratie werden die Stimmen lauter, die alternative Optionen sondieren wollen… Kaum etwas spricht dafür, dass es so kommen wird. Doch dann gilt, was Thomas Piketty offen ausgesprochen hat: Es kann auch zu gewaltsamen 15 Harvey (2014), S. 163 ff.. 7 „Lösungen“ kommen; in diesem Fall sind die Alternativen – etwa ein demokratisches Europa ohne systemischen Zwang zu permanentem Wirtschaftswachstum – für den „Tag danach“ 16 gedacht. 16 Thomas Piketty (2014): Das Ende des Kapitalismus im 21. Jahrhundert? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2014, 41-52. Sowie: Die Ungleichheitsmaschine: Markt, Kapital und Herrschaft. Thomas Piketty in der Debatte. – Mit Susan Neimann, Hans-Jürgen Urban und Joseph Vogl, moderiert von Mathias Greffrath, S. 65.
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