INTERVIEW „Die Krankenkassen finanzieren eine gesellschaftliche Aufgabe“ Erschöpfung, Rückenschmerzen, Übergewicht: Für eine Mutter- oder Vater-Kind-Kur muss ein medi zinischer Grund vorliegen. Das Angebot soll aber auch die Familien stärken – eine soziale Aufgabe, deren Finanzierung die Politik den Krankenkassen zugeschoben hat, sagt Reha-Expertin Ute Polak. Die Zahl der Mütter und Väter, die eine Kur antreten, ist gestiegen. Ein Zeichen für die Überforderung von Familien? Polak: Diese Vorsorge- und Reha-Leistungen sind ein Ventil für den Druck, der durch gesellschaftliche Veränderungen entsteht. Die beruflichen Anforderungen an Mobilität und Flexibilität haben zugenommen. Angebote der Kinderbetreuung entlasten Eltern nur teilweise. Deshalb leiden insbesondere Mütter oft unter Müdigkeit und Erschöpfung. So ein Tag mit Kindern ist neben dem Job, aber auch ohne Berufstätigkeit sehr anstrengend. Die steigenden Zahlen sind aber zum Teil auf politische Intervention zurückzuführen: Seit der Änderung der Begutachtungsrichtlinie werden soziale Faktoren noch stärker gewichtet, was zu einer höheren Bewilligungsquote führt. Der Anteil der Anträge von Vätern hat sich übrigens nach der AOK-Statistik über die Jahre nicht verändert und liegt bei lediglich drei Prozent. Foto: Timo Blöß/KomPart Was leistet eine Mutter- oder Vater-Kind-Kur für die Gesundheit? Polak: Die stationäre Vorsorge und Rehabilitation soll Gesundheitsprobleme aufgreifen und eine Chronifizierung verhindern. Gleichzeitig ist das Ziel, Müttern und Vätern bei der Bewältigung ihres Familienalltags, bei Erziehungsproblemen zu helfen. Eltern, die vorher wissen, worauf sie sich einlassen, profitieren am meisten. Friederike Otto von der Medizinischen Hochschule Hannover hat Frauen zum Zeitpunkt des Antrags und sechs Monate später befragt. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Angebote die gesundheitliche Lage kurz- und mittelfristig deutlich verbessern. Insgesamt gibt es bisher wenig wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen – die Effekte sind schwer zu messen. Und was kommt nach der Kur? Polak: Sie kann den Anstoß geben, den Lebensstil zu verändern. Die Eltern müssen selbst motiviert sein, sich passende Angebote zu suchen. Dafür werden sie während des Aufenthaltes gestärkt. Die Einrichtungen sollten den Weg zur ambulanten Nachsorge weisen. Dazu kann Erziehungsberatung, Psychotherapie oder der Eintritt in den Sportverein gehören. Mehrere AOKs finanzieren Portale, über die Therapeuten aus der Einrichtung mit den Ausgabe 9/13, 16. Jahrgang Versicherten Kontakt halten, nachfragen, wie es klappt mit der Umsetzung der Nachsorge. Das Rehasonanz-Portal hat 2012 den AOK-Leonardo-Preis für digitale Prävention gewonnen. Welche Mütter und Väter haben Anspruch auf die Leistungen? Polak: Die Vorsorge- und Rehaleistungen für Mütter und Väter sind im Sozialgesetzbuch V verankert. Deshalb muss ein medizinischer Grund vorliegen. In circa 80 Prozent aller Anträge von AOK-Versicherten stehen Diagnosen aus dem psychischen Be- Dr. Ute Polak leitet das Referat Rehabilitation im AOK-Bundesverband. reich, wie Unwohlsein und Erschöpfung. Entscheidend ist, dass die Mutter oder der Vater einen Vorsorge- oder Rehabedarf hat. Die Änderung der Begutachtungsrichtlinien vor zwei Jahren hat die Schwelle zur Bewilligung herabgesetzt. Das Angebot hat auch eine soziale Funktion, das lässt sich von medizinischen Aspekten nur schwer trennen. Letztlich finanzieren die Krankenkassen hier eine gesellschaftliche Aufgabe. Wie lässt sich die Qualität der Angebote sichern? Polak: Das QS-Reha-Verfahren der gesetzlichen Krankenversicherung soll ab 2015 auch in Mutter-Kind-Einrichtungen laufen. Es erfasst die Struktur-, Prozess und Ergebnisqualität. Die AOK Bayern hat zudem ein eigenes Qualitätssiegel für Mutter-KindAngebote entwickelt. Die meisten AOKs begehen die Einrichtungen regelmäßig und haben ein wachsames Auge auf Versichertenbeschwerden. √ Die Fragen stellte Änne Töpfer. 37
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