Doris Weber: Männer allei zu Haus. Das Leben jenseits der 60

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hr2-kultur | Camino – Religionen auf dem Weg
Männer allein zu Haus
Das Leben jenseits der 60
Von Doris Weber
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Musik Paolo Conte:
Beginnt: zwei O-Töne Mathias Jung:
Also bei den Alten da tut sich außerordentlich viel, das sind nicht mehr die, die
einfach sozusagen ihr Leben ausrinnen lassen, dumpf, nein, sie gestalten etwas
Neues….ja, das sind große positive Brüche, das lässt mich sehr hoffen für die
Zukunft.
Musik etwa stehenlassen und weiter:
O-Ton: Mathias Jung
Sie leben nicht mehr diese dumpfbackige alte Versorgungsmentalität, sie sind
autonomer geworden, sie sind liebesfähiger geworden, die sind neugieriger und
experimentierfreudiger geworden, … ja, ich glaube da wächst was Neues heran.
Musik Paolo Conte
Autorin:
Mathias Jung, Gestalttherapeut und Philosoph beschäftigt sich in seiner Praxis schon
seit Jahrzehnten mit dem Thema: Frauen – Männer - Beziehungen.
Sprecher:
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Es stimmt, Männer reden nicht viel, schon gar nicht über sich selbst. Sie brauchen oft
Jahre, bis sie begreifen, dass ihnen etwas wehtut, seelisch und körperlich. Bis sie
wissen, dass sie Konkurrenz und Machtergreifung nicht nötig haben. Bis sie die
geballte Faust zu einer offenen Hand lösen können,
Autorin:
…sagt Mathias Jung. Aber, so seine überraschende Erkenntnis:
Sprecher:
Da kommt etwas Neues auf uns zu.
Autorin:
Mathias Jung sieht den Aufbruch einer neuen Männergeneration, die unsere
Gesellschaft bereichern wird. Noch sind diese Männer unauffällig, lautlos, unsichtbar
– aber sie sind da – und sie sind anders als andere Männer in diesem Alter jemals
waren. Mathias Jung spricht vom Erwachen der Männer über sechzig:
O-Ton: Mathias Jung:
Mitte zweiter O-Ton:
Als Therapeut kann ich auch sagen, die Zahl der Männer, die in die Einzeltherapie, in
die Paartherapie und in Gruppentherapien, in Sonderheit auch die Männergruppen
gehen, die ist deutlich gewachsen. Das war noch vor drei Jahrzehnten absolute
Mangelware. Ja, da ist viel gewachsen. Sie denken über ihr geschichtliches
Gewordensein, sie sind sensibler geworden und sie entdecken auch oft die Freude
am Gespräch mit anderen Männern. Auch da hat sich viel gelockert. Wir sind in
einem allgemein soziologischen Aufbruchsprozess, die Dinge haben sich rasant
entwickelt. Diese bleiernen Jahre, die wir in der Bundesrepublik hatten, die sind
längstens abgelöst worden durch neue Experimentierfreude und Rollenwandel.
Musik:
Paolo Conte: Sparring Partner – Instrumental?
Daran Mathias Jung:
Ja, die Zahl hat zugenommen, wie generell die Zahl der reformwilligen Männer,…
Dazu gehört beispielsweise auch eine größere Achtsamkeit sich selbst gegenüber,
auch der eigenen Gesundheit gegenüber. Nicht einfach drauflos zu rauchen, los zu
saufen, riskant zu leben, sich nicht um Ernährung kümmern. Die Zahl der Männer,
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die heute vegetarisch oder vegan leben hat deutlich zugenommen. Früher war das
Weiberkram,… weil die alte Männergenration hat mehr geraucht , mehr getrunken,
sich nicht um die Ernährung gekümmert, sich auch nicht ums Spirituelle gekümmert
und vor allem nicht gekümmert um die Kommunikation mit sich selbst und mit
anderen Männern. Ich bin ein Mann, für mich sind Männer verbindlicher als Frauen,
weil es mein eigenes Schicksal ist, mein eigenes Geschlecht, meine eigene
Sozialisation. Es ist auch die Freundschaftsfähigkeit gewachsen, das Sich-Kümmern,
um einen Freund zu haben. Früher galt die Zahl: von zehn deutschen Männern über
vierzig Jahre hatten neun keinen Freund, von zehn deutschen Frauen über 40 hatten
neun eine beste Freundin. Das sind Dinge, die jetztlangsam abnehmen, diese
extremen Missverhältnisse.
Autorin:
Das Leben jenseits der 60. Von Frauen weiß man viel über diese „dritte Hälfte ihres
Lebens“, wie es die Zeitschrift „Brigitte“ formulierte. Von Männern weiß man so gut
wie nichts. Oder doch:
Sprecher:
Dass sie Angst haben vor dem Pensionsschock. Dass sie Angst haben, ihre Potenz
zu verlieren. Dass sie Angst haben zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen und dass
sie früher sterben als Frauen, weil sie ungesünder leben.
Autorin:
Das kann schon in naher Zukunft alles ganz anders werden, sagen die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Fachbereich für interdisziplinäre
Alternswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre
Untersuchungen führten zu einem erstaunlichen Ergebnis:
Sprecher¨
Die Zahl der alleinlebenden Männer über 60 wächst in den Städten rapide.
Autorin:
Das wirft Fragen auf:
Sprecher:
Wie lässt sich diese Veränderung erklären? Entstehen neue Lebensformen und
Lebensrollen für den älteren Mann, gar eine neue Männlichkeit im Alter?
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Autorin:
Die Entwicklungspsychologin und Seniorprofessorin Insa Fooken ist eine der
Wissenschaftlerinnen, die an diesen Fragestellungen an der Frankfurter Universität
mitarbeitet. Sie spricht von einer späten Ernte in ihrem Berufsleben, denn schon vor
30 Jahren wollte sie das Thema „Männer im Alter“ in die Wissenschaft einführen.
Ohne Erfolg.
Sprecher:
Männer blieben in der Forschung Randfiguren. Altern war ein Frauenthema. Männer
erlitten im Alter höchstens einen Pensionierungsschock. Sonst nichts. Quälten sie
gewisse Krankheiten, dann waren sie ein Fall für den Urologen.
Autorin:
Als Insa Fooken sich dann vor einigen Jahren mit dem Phänomen der Scheidungen
alter Ehen beschäftigte, kehrte sie auf diesem Weg zu ihrem Thema „Männer im
Alter“ zurück:
O-Ton: Insa Fooken:
Bei der Gruppe der geschiedenen Männer ist mir eben auch zum ersten Mal
aufgefallen, dass die Tendenz, die früher eigentlich bei Scheidung gegeben war,
dass die Männer sehr schnell unterkrochen, also fast die Garantie hatten, auch
wieder eine neue Partnerin zu finden, dass das nicht mehr so selbstverständlich
gegeben ist, weil sich auch die Frauen nicht mehr unbedingt darauf einlassen. Auch
die Frage der Versorgung nicht mehr so ansteht. Und von daher tatsächlich eben
eine ganz neue Gruppe derjenigen, die eben Beziehungsbrüche haben, die nicht
mehr durch Frauen aufgefangen werden, wie das früher der Fall war. Und da gibt es
auch keine historischen Vorbilder, das sind Suchbewegungen bei Männern, ähnlich
eigentlich auch wie bei denen, die überhaupt nicht in feste Beziehungen
hineinkommen. Der Anteil der Singles wächst, der Anteil der spät auch heiratenden
Zusammenziehenden wächst, der Anteil derer, die relativ spät wenn überhaupt
Kinder kriegen wächst…. das ist alles ins höhere Lebensalter geschoben und nicht
mehr so selbstverständlich. Und da ergeben sich ganz neue soziale
Herausforderungen für Männer.
Sprecher:
Zu der großen Gruppe alleinlebender Frauen gesellt sich schon jetzt eine große
Gruppe alleinlebender Männer. Gerade die sogenannten Baby-Boomer, das sind die
zwischen 1955 und 1969 Geborenen, haben bis zu ihrem 60. Geburtstag oft ein ganz
anderes Leben als ihre Väter und Großväter hinter sich. Da gab es die
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Frauenbewegung, die Studentenbewegung, es entstand eine neue Beziehungskultur.
Es gab Scheidungen und Neuanfänge und keine endgültigen Lebensentwürfe mehr,
im privaten wie im beruflichen Alltag. Solche Erfahrungen nehmen die Männer mit ins
Alter.
Autorin:
Es geht also nicht um medizinisch-funktionelle Fragen oder um eine Viagra-Studie,
sagt Frank Oswald, der Inhaber des Lehrstuhls für interdisziplinäre
Alternswissenschaften am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der GoetheUni in Frankfurt. Es geht um die Frage: wie werden diese Männer ihr Altwerden in
den nächsten zehn, zwanzig oder dreißig Jahren gestalten? Frank Oswald erläutert
die anstehenden Fragen, die er in seinen Untersuchungen unter anderem
beantworten will:
O-Ton: Frank Oswald:
Wie werde ich als Mann älter? Also wie gehe ich um mit meiner Männlichkeit, mit
meinem Mann sein ins hohe Alter hinein, wenn bestimmte Dinge nicht mehr
funktionieren, wenn ich vielleicht meine Beziehungsfähigkeit nochmal neu definieren
muss. Wenn zurückblicke…wir wollen wir ja auf die einzelne individuelle Biografie
schauen und wollen sehen, wie sehr ist zum Beispiel das Alleinleben auch ein Teil
meiner eigenen Biografie, wie ist das vereinbar mit meinem Mann sein als Teil
meiner Biografie, was bedeutet das heute, indem sich so viel verändert hat
gesellschaftlich, auch im Alter? Das Alter ist länger geworden, gestaltbarer
geworden, vielfältiger, muss nicht mehr Schicksal sein, sondern kann gestaltbar in
die Hand genommen werden. Was bedeutet das für mich als älterwerdender Mann?
… Wir wollen zurückschauen in die Biografie, wollen es auch in historischen
Vergleichen ein wenig spiegeln und wir wollen nach vorne schauen in die Zukunft:
was bedeutet das für die eigene Planung? Da bestehen eigentlich keine Vorbilder, da
gibt es nichts, woran man sich orientieren kann, da muss man sich ein Stück weit
neu erfinden, neu definieren, und auch als Mann.
Insa Fooken: direkt dran:
Das sind Generationen ,die ein männliches Älterwerden von Vätern erlebt haben,
die psychisch sehr gebrochen waren, deren Väter alle Soldaten gewesen sind und
mit dieser Erfahrung zum Teil ganz in die psychische Abkapselung gegangen sind
und sich gar nicht haben öffnen können. Und gleichzeitig gibt es so etwas wie
Männerbewegung, es gibt Infragestellung von sexuellen Orientierungen, all das, was
für die Vätergeneration vollkommen tabuisiert war. ...Und insofern ist die Frage: was
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ist Männlichkeit im Alter, wie geht das, wie fühle ich mich, habe ich ein
Maskulinitätsgefühl, eine Identität, das ist so nicht aufgeworfen worden.
Sprecher:
Männer allein zu Haus. Sie haben vielleicht neue Beziehungen, aber sie leben nicht
mit ihren Partnerinnen oder Partnern zusammen. Sie haben eine oder mehrere Ehen
hinter sich, sie sind verwitwet, geschieden oder immer schon Singles gewesen. Jetzt
leben sie allein. Und diesen Status wollen sie nicht aufgeben, sie wollen ihren Alltag
selbstständig gestalten, und dennoch auf Geselligkeit nicht verzichten.
O-Ton: Miranda Leontowitsch:
Also was wir eben sehen, es gibt viele Bereiche, wo Männer im Alter zeigen, dass sie
da neue Bereiche angehen, auch Fronten durchbrechen oder alte Rollen, die es
schon lange gab, z.B. die Großvaterrolle, ist ja keine neue Rolle, aber die wird eben
anders angegangen, die wird anders gelebt, da wird sich ganz anders eingebracht,
und da sieht man: oh, hier sind offensichtlich Männer, die Erfahrung mit Kinderpflege
haben und Kindererziehung. Die können sie bei ihren Enkelkindern nochmal auf
andere Art, aber sehr intensive Art mit einbringen. Pflege ist auch so ein Bereich, wer
mit seinen Kindern schon viel physischen Umgang hatte, auch pflegerischen
Umgang, dazu gehört eben auch das Windelwechseln, Füttern, im Krankheitsfall da
sein, der kann das vielleicht auch bei einer erwachsenen Person eher machen. Und
das ist natürlich auf der Beziehungsebene ähnlich. Eben auch die Möglichkeit, neue
Beziehungen im Alter einzugehen und zu sagen: möchte ich nochmal eine klassische
Ehe haben oder möchte ich jetzt im Alter was anderes. Und da gibt es Tendenzen,
und wir sehen das aus Studien aus Schweden, dass sich da einiges tut.
Autorin:
Miranda Leontowitsch ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im
Arbeitsbereich interdisziplinäre Alternswissenschaften an der Goethe-Universität in
Frankfurt. Und sie stellte fest, dass in der Öffentlichkeit noch ziemlich antiquierte
Vorstellungen über den alternden Mann allein zu Haus existieren:
Sprecher:
Männern geht es im Alter gut. Sie haben eine komplette Erwerbsbiografie. Sie haben
höhere Rente. Sie werden von Frauen versorgt. Emotional und physisch. Und wenn
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die Frau, sprich die Versorgerin, nicht mehr da ist, dann suchen sie sich eine neue.
Allein würden sie verwahrlosen, denn sie können nicht kochen, waschen, bügeln. In
der Bewältigung ihres Alltags sind sie ziemlich lebensunfähig.
Autorin:
Miranda Leontowitsch warnt vor solchen Vorurteilen. Es sei ungerecht, das
Sozialverhalten von Männern stets an der weiblichen Messlatte, wie Mensch zu sein
hat, zu messen und den Männern vorzuwerfen:
Sprecher:
Sie reden nichts. Sie kapseln sich ab. Sie sind muffig. Eigenbrötlerisch. Depressiv.
Tauschen sich mit niemandem aus, auch nicht mit ihren Nachbarn. Männer im Alter
allein – das steht für unglücklich sein:
Autorin:
Stimmt nicht, sagt Miranda Leontowitsch. 25 Prozent der über 65 jährigen leben
heute allein. Und zwar gern. Ende der neunziger Jahre waren es zwölf Prozent. Die
Zahl hat sich rasant verdoppelt. Die Lebenserwartung der Männer nimmt zu. Hier
eine depressive Menschengruppe zu vermuten, widerspreche der Realität.
O-Ton: Leontowitsch:
Da sehen wir bei Männern, die gehen nicht so oft zum Arzt wie Frauen, auch wieder
so eine weibliche Messlatte, aus so einem traditionellen Männerbild heraus: Frauen
werden krank, Männer werden nicht krank, was soll ich prophylaktisch zum Arzt
gehen? Aber ich glaube, da sehen wir jetzt auch eine große Veränderung, wir haben
einfach eine andere Form zu altern heute, um erfolgreich zu altern. Körperlicher
Schmerz ist nicht angenehm. Kranksein ist nicht schön, man möchte in seinen
eigenen vier Wänden leben, man möchte unabhängig sein. Um das zu ermöglichen,
schön Urlaub zu machen oder mit seinen Freunden zusammen zu sein, ist ein
gewisser Standard an Gesundheit notwendig, das heißt, es ist ein Gut, in das man
als Mann und Frau gewillt ist, zu investieren. Traditionelle Männerbilder, von wegen:
ich bin nicht krank und ich werde nicht krank, passen da nicht mehr zusammen. Man
guckt viel eher auf die Gesundheit, man geht mehr spazieren oder macht weiterhin
seinen Sport, den man schon immer gemacht hat, wohl wissend, dass das eine
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Dividende auszahlt, über längere Zeit hinweg in diesem schönen Altersbereich zu
bleiben.
Musik: Paolo Conte
Autorin:
Wenn Gott Eros in die Wechseljahre gerät, so ist das keine Katastrophe. Der Mann
erhält im Gegenteil die große Chance, auch in der Sexualität Neues zu erleben.
Sprecher:
Wohl die größte Entdeckung des Alters ist die Zärtlichkeit. Man spürt plötzlich: Ich
kann ohne Sexualität leben, aber nicht ohne Zärtlichkeit. Zärtlichkeit ist das
Eingeständnis unserer eigenen Zerbrechlichkeit und Bedürftigkeit gegenüber dem
anderen. Sie ist Trost angesichts der Melancholie über unsere Endlichkeit und den
näher rückenden Tod. Männer dürfen spätestens im Alter endlich lernen, ihre
Zerbrechlichkeit anzunehmen. Mehr noch: Sie können zu Botschaftern der
Schwäche und Unvollkommenheit werden.
Autorin:
Ein Text von Mathias Jung, dem Gestalttherapeuten und Philosophen. Er ist ein
Hinweis darauf, dass Männer jenseits der 60 zu einer neuen Männlichkeit im Alter
finden können – und damit auch zu einer anderen Sexualität. Mathias Jung nennt es
den Aufbruch in ein neues Land:
O-Ton: Mathias Jung:
Zunächst mal, es ist geradezu eine Binsenwahrheit, dass Menschen heute über 60,
die haben ein sehr jugendlichen Touch, das sind die jungen Alten, das fängt schon
mit der Mode an. Und in Fragen der Sexualität, da ist heute ganz positiv ein
Anspruchsdenken: ja, ich will Gott Eros in der Hütte haben, ich will nicht einfach
abbauen, und was eine Entdeckung von sehr vielen Männern im Alter ist, das ist in
der Tat die Zärtlichkeit, also das einfach zu leben. Die Sexualität lässt im Alter nach,
das ist ganz evident, nicht, dass sie wegging, aber sie ist nicht mehr so stürmisch,
nicht mehr so hormonell überschäumend, aber das Gefühl der Verbundenheit
wächst, das Gefühl der Achtsamkeit, das Gefühl der Dankbarkeit, eine Partnerin zu
haben, da wird wirklich ein Neuland unter Pflug genommen, das große Reich der
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Zärtlichkeit, das hat auch etwas zu tun, dass die Männer endlich einmal begreifen
ihre eigene Zartheit, ihre eigene Zerbrechlichkeit, da kommen die ersten Krankheiten,
da werden die Betablocker genommen, da ist ne Prostataoperation gewesen, da ist
ein neues Hüftgelenk. Und in dem Moment, wo sie ihre eigene Zerbrechlichkeit,
Fragilität konstatieren müssen, wächst auch die Zartheit, denn die Zartheit hat viel zu
tun mit der eigenen Bedürftigkeit, und die wird dann auch dem anderen gegeben.
Autorin:
Der christliche Humanist Romano Guardini würdigte schon 1953 in einem
Rundfunkvortrag diese besondere Schönheit des Lebensfinales:
Sprecher:
Das Alter bedeutet nicht nur das Ausrinnen einer Quelle, der nichts mehr nachströmt;
oder das Schlaffwerden einer Form, die vorher stark und gespannt war; sondern es
ist Selbstleben von eigener Art und eigenem Wert.
O_Ton: Mathias Jung:
Mit 60 beginnt biologisch das Alter, da kann man sich nicht einfach drüber
hinweglügen, es ist so, da weiß ich als Mann, rein statistisch gesehen hab ich noch
17 Jahre vor mir, dann kommt die Endlichkeit. Ich erblicke plötzlich: ja am Ende steht
der Tod, das ist unumkehrbar, du hast jetzt ein Viertel dieses Lebens vor dir. Und da
stellt sich für Männer endlich einmal die Wertefrage. Ich sag es mal ganz simpel, was
soll eigentlich mal auf meinem Grabstein stehen? Dass ich jedes Jahr zweimal in
Fuerteventura war, dass ich 8000 brutto verdient habe, dass ich einen schweren
BMW oder Mercedes-Luxusklasse gefahren hab, ist das mein Leben, dass ich
gerackert hab, bis zum Infarkt, zu Stenose in den Herzkranzgefäßen? Was ist der
Sinn meines Lebens? Die Sinnfrage stellt sich unabweisbar. Und es ist genau die
Sinnfrage, die wir als Männer oft jahrzehntelang verdrängen. Wir gehen nicht in die
Tiefe, wir gehen auch nicht auf eine spirituelle Ebene, wo ich mich frage: wer bin ich
eigentlich? Was soll mein Leben mal für einen Sinn gehabt haben? Wo habe ich
diesen Planeten um eine Nanogramm menschlicher gemacht? Was wird bleiben?
Das ist die große Chance des Alters, bewusst zu werden, sich neu zu ordnen.
Autorin:
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Denn das Alter ist nicht nur kraftvoll. Es birgt auch große Risiken. Was diese neue
Männergeneration jenseits der 60 eine Gesellschaft lehren könnte, wäre genau
dieses Paradox: Die Stärke in der Zerbrechlichkeit erleben. Nicht mehr wie ein
einsamer Wolf durch die Städte streunen oder sich sprachlos in seine Behausung
zurückzuziehen, sondern sich seinen Fragen und Ängsten stellen.
O-Ton: Oswald:
….der drohende Auszug aus den eigenen vier Wänden, eine der großen Ängste,
eine der großen Risiken überhaupt bei älteren Menschen, vielleicht besonders hier,
bei dieser Personengruppe. Oder die Bedrohung durch eine vielleicht in der Zukunft
eintretende Demenz. Eine zweite große Angst, die ja da ist. Wie kann man damit
umgehen vielleicht sich vorbereiten in der besonderen Lebenssituation des
Alleinlebens? Spielen Nachbarn eine Rolle, wie ist das Verhältnis zu guten
Freunden? Ist überhaupt jemand da? Gibt es Vertrauenspersonen, die ich mit
einbeziehe in diese Auseinandersetzung, oder bin ich ganz auf mich alleine gestellt?
Also das sind klassische Risiken. Einzug ins Heim, noch ein dritter wichtiger
Übergang, der auch als Risiko auf mich zukommen könnte. Als ich glaube, das
wären klassische Risiken, die alleinlebende ältere Menschen beschäftigen. Die
Tatsache, nicht mehr aus dem Haus gehen zu können, weil man befürchtet, dass
man schlecht riecht, weil man alles nicht mehr unter Kontrolle hat. Nicht zur Kirche
gehen zu können, weil dort keine Toilette ist und ich zwischendrin nicht aufs Klo
gehen kann, oder ich überhaupt nicht mehr rausgehen kann, weil eben eine Gefahr
besteht, dass ich vielleicht ganz den Urin halten kann. Wir wollen diese grauen
Seiten des Alterns nicht verschwiegen und uns anschauen.
Sprecher:
Dennoch: auch in diesem grauen Bereich des Altwerdens können die alleinlebenden
alten Männer – ebenso wie die Frauen – neue Formen der Gemeinsamkeit
entwickeln. Männer, Frauen – oder sagen wir einfach Menschen – sind verlässlich
und aufmerksam, wenn ihre Hilfsbereitschaft und Fürsorge geschätzt wird. Frank
Oswald, Inhaber des Lehrstuhls für interdisziplinäre Alternswissenschaften an der
Goethe-Uni in Frankfurt, erinnert an das schöne Wort: Nachbarschaft:
O-Ton: Frank Oswald:
Wir sind gerade dabei, neu zu definieren, wie die Nachbarschaft, die wir ja in den
50er, 60er Jahren auch schon alles mal gelebt haben, gemeinschaftliches Wohnen
ist ja heute so ein Thema, wie organisieren wir das auch in das höhere Alter hinein,
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wie das neu gelebt werden kann, und zwar auch auf derselben Altersebene. Weil wir
ja nicht mehr so viele Junge haben werden, die sich um uns Alte dann kümmern im
Sinne der Pflege, denken wir auch darüber nach, wie könnte das so in der
nachfolgenden Generation in derselben Altersgruppe oder ein bisschen jünger
gestaltet werden. Und da gehört auch dazu, gegenseitig sich ansprechen, offen sein,
vielleicht eben das Gespräch suchen, vielleicht auch über Migrationsgrenzen hinweg.
Wie wird eigentlich Nachbarschaft von Menschen mit türkischem
Migrationshintergrund und Menschen, die das nicht haben, die deutsch sind, wie wird
da eigentlich Nachbarschaft im hohen Alter gelebt? Also auch da gibt es ja
Gelegenheiten: Nachbarschaftsfeste, Stadtteilveranstaltungen, bei denen man ins
Gespräch kommen kann. Und womöglich sind es diese kleinen alltäglichen
Begegnungen des Einkaufens, des Klingelns nebenan, des Riechens im Haus, da
kocht jemand, …die dann neu genutzt werden von diesen neuen Männern in
Anführungsstrichen.
Autorin:
Zugegeben. Männer neigen im Allgemeinen nicht gerade dazu, auf andere Männer
offensiv zuzugehen. Doch mit zunehmendem höheren Alter kommt der Mann nicht
darum herum, Kontakt aufzunehmen, wenn er seine ein, zwei – oder dreitausend
Wörter am Tag loswerden will, sagt Frank Oswald.
Sprecher:
Gelegenheiten bieten sich überall: im öffentlichen Personennahverkehr, in der
Straßenbahn, vor der Haustür, am Gartenzaun. Die heutigen Männer über 60
könnten sich in diesen Kommunikationsversuchen noch eher üben als hochbetagte
Männer, die das Sprechen nie gelernt haben. Reden ist lebensnotwendig, sagt die
Entwicklungspsychologin Insa Fooken. In der Sprachlosigkeit sieht sie die größte
Gefahr für alleinlebende Männer im Alter:
O-Ton: Insa Fooken:
Ich glaube, dass Männer, die über sich und das, was sie machen und was das für sie
bedeutet, auch in ihrem männlichen Selbstverständnis, nachgedacht und reflektiert
haben, dass das eine sehr gute Ressource ist, um die Veränderungen im Alter da
auch wieder zu integrieren, sich neu zu verorten und zu bestimmen, aber trotzdem
das als Teil von Männlichkeit zu verstehen. Es gibt natürlich viele, die traditionell
noch gelebt und gefahren sind über Karriere, die das oft nicht gemacht haben, und
da ist die Frage, ob das dann auch in Gang kommt, wenn man alleine lebt, also
insofern denke ich, all den Männern, die sich das vorher nicht so gut angeeignet
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haben, denen wird es wahrscheinlich auch schwerfallen. Die werden möglicherweise
entweder durch Aktivität oder durch Rumagieren oder durch aggressive
Enttäuschung, Abwertung anderer ihr Leben gestalten. Aber die Chance ist, dass
wahrscheinlich neue Generationen alt werden, die gelernt haben, über notwendige
Veränderungen und was es mit ihnen macht, nachzudenken.
Autorin:
Und sie werden diese Chance ergreifen, so beurteilen die Wissenschaftler Frank
Oswald, Insa Fooken und Miranda Leontowitsch mit vorsichtigem Optimismus die
Lage der Dinge nach heutigem Forschungsstand.
O-Ton: Frank Oswald:
… Es geht uns wirklich darum: wie erlebe ich das? Wie gehe ich auch um mit
veränderten Ressourcen, die ich habe, mit Möglichkeiten, mein Leben mein Alter, die
nächsten 10, 20, 30 Jahre zu gestalten als Mann? Das ist ja auch eine Form der
Entwicklung, allein in Gesellschaft, in einer auch caring-communitiy, in einer
sorgenden Gemeinschaft. Wie kann ich mich einbringen hier in einer
mitverantwortlichen Rolle? Und dass es hier einfach Möglichkeiten der
Neugestaltung gibt, …die ein bisschen die Bandbreite des Alterns, insbesondere für
Männer, insbesondere für alleinlebende Männer aufzeigen können.
Musik – Paolo Conte - It´s wonderful –
Sprecher:
Denn die sogenannten neuen Männer über 60 haben Lust, ihr Leben im Alter kreativ
nach ihren eigenen Wünschen zu gestalten. Allein oder mit anderen zusammen. Sie
wollen keine schweigenden Randfiguren sein, sie wollen gut zu sich selber sein und
sich verantwortlich in die Gemeinschaft einbringen. Sie werden den jungen Männern
und möglicherweise den ganz alten Männern zeigen, wie schön das sein kann.
Musik Paolo Conte ausblenden
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