Mathematik im Unterricht

Mathematik im Unterricht
NUMMER 6
INHALT:
ISSN: 1999-3072
OKTOBER 2015
Alfred DOMINIK & Simon PLANGG
Die Binomialverteilung unter dem Blickwinkel funktionaler
Abhängigkeiten ................................................................................. 1
Sanda GAVRIC & Arne C. BATHKE
R in der Schule ................................................................................ 15
Matthias HIRSCH & Günter MARESCH
Wodurch wird das Raumvorstellungsvermögen gefördert?
SketchUp, Skateboard oder Skulpturen? ........................................ 26
Günter MARESCH
Wie kann die Raumintelligenz gefördert werden?
Faktoren, Strategien und geschlechtsspezifische Befunde ............. 36
Simon PLANGG
Zur Komplexität von Operationen und deren Auslagerung auf die
Technologie ..................................................................................... 56
Fritz SCHWEIGER
Eine Gleichung für den Torus ......................................................... 62
HERAUSGEBER: Fuchs K., Maresch G., Plangg S. & Wengler G.
Universität Salzburg
School of Education
AG Didaktik der Mathematik u. Informatik
Hellbrunnerstraße 34, A-5020 Salzburg
Pädagogische Hochschule Salzburg
Fachbereich Mathematik
Akademiestraße 23, A-5020 Salzburg
Abrufbar unter: http://www.mathematikimunterricht.at/ausgaben.html
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Die Binomialverteilung unter dem Blickwinkel funktionaler Abhängigkeiten
Alfred Dominik, Simon Plangg
Zusammenfassung. Der folgende Beitrag präsentiert eine Aufgabensequenz zur Binomialverteilung in Zusammenhang mit funktionalen Abhängigkeiten. Basierend auf eigenständigen Experimenten mit vorgefertigten GeoGebra-Dateien erkunden, beschreiben und
begründen die Lernenden damit die Gestalt des Graphen der Binomialverteilung. Durch eine angestrebte hohe kognitive Aktivierung
der Lernenden sollen dabei Lernprozesse zum funktionalen Denken, zur Vernetzung von Wissen sowie zur Entwicklung mathematischer Kompetenzen angeregt werden. Auf diese Weise versucht die Aufgabensequenz auch eine neue mögliche Richtung zur Behandlung dieses Themas unter Berücksichtigung der bildungstheoretischen Konzeption der neuen Reifeprüfung in Mathematik an
den allgemeinbildenden höheren Schulen in Österreich aufzuzeigen.
Relevanz für den Mathematikunterricht
Die Binomialverteilung sowie funktionale Abhängigkeiten als Themenfelder für den Mathematikunterricht spielen in
den allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) eine wichtige Rolle. Das belegen zahlreiche Deskriptoren von Kompetenzen im Kompetenzkatalog des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens (BIFIE). Beispiele diesbezüglicher Kompetenzen aus dem Inhaltsbereich Funktionale Abhängigkeiten (FA) sind (BIFIE, 2013, S. 9f):
FA 1.3 Zwischen tabellarischen und grafischen Darstellungen funktionaler Zusammenhänge wechseln können
FA 1.4 Aus Tabellen, Graphen und Gleichungen von Funktionen Werte(paare) ermitteln und im Kontext deuten können
FA 1.5 Eigenschaften von Funktionen erkennen, benennen, im Kontext deuten und zum Erstellen von Funktionsgraphen einsetzen können: Monotonie, Monotoniewechsel (lokale Extrema), Wendepunkte, Periodizität, Achsensymmetrie, asymptotisches
Verhalten, Schnittpunkte mit den Achsen
FA 1.8 Durch Gleichungen (Formeln) gegebene Funktionen mit mehreren Veränderlichen im Kontext deuten können, Funktionswerte ermitteln können
Darüber hinaus sollen die Lernenden auch den Verlauf von Funktionen mathematisch beschreiben können (ebd., S. 10).
Im Inhaltsbereich Wahrscheinlichkeit und Statistik (WS) sind in Bezug auf die Binomialverteilung u. a. folgende Kompetenzen angeführt (ebd., S. 17):
WS 2.4 Binomialkoeffizient berechnen und interpretieren können
WS 3.1 Die Begriffe Zufallsvariable, (Wahrscheinlichkeits-)Verteilung, Erwartungswert und Standardabweichung verständig
deuten und einsetzen können
WS 3.2 Binomialverteilung als Modell einer diskreten Verteilung kennen – Erwartungswert sowie Varianz/ Standardabweichung
binomialverteilter Zufallsgrößen ermitteln können, Wahrscheinlichkeitsverteilung binomialverteilter Zufallsgrößen angeben
können, Arbeiten mit der Binomialverteilung in anwendungsorientierten Bereichen
Die vernetzte Behandlung dieser beiden Themenbereiche im Unterricht findet allerdings, so unsere Annahme, wenn
überhaupt nur beschränkt statt. In diesem Zusammenhang sehen wir derzeit vor allem zwei relevante Strömungen, die
den Mathematikunterricht maßgeblich bestimmen.
Die Binomialverteilung im „traditionellen“ Unterricht
Der traditionelle Ablauf bei der Behandlung der Binomialverteilung im Unterricht, vor allem vor der Einführung der
standardisierten Reifeprüfung, umfasst im Wesentlichen
 die Einführung und Behandlung des Binomialkoeffizienten anhand von Aufgaben zum Auswählen bzw. Anordnen,
 die Einführung der Binomialverteilung anhand eines Experiments, bspw. das mehrfache Werfen einer Münze,
unter Verwendung von Baumdiagrammen und den Pfadregeln,
 das Festhalten einer Formel für die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten sowie daran anschließendes Operieren mit der Formel.
1
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Der Blickwinkel funktionale Abhängigkeiten wird bei dieser mehrheitlich operativen Abarbeitung des Themas ausgeblendet, was für Aufgaben, die ein mechanisches Operieren mit der Formel abverlangen, genügt, jedoch kaum ein substantielles Verständnis der Binomialverteilung fördert und zudem für eine sachkundige Bearbeitung von Aufgaben zur
Vernetzung von Grundkompetenzen in der standardisierten schriftlichen Reifeprüfung (Typ-2-Aufgaben) sehr wahrscheinlich nicht ausreicht. Darüber hinaus findet in diesem Unterricht keine Anknüpfung an bereits vorhandene Kompetenzen zu funktionalen Abhängigkeiten statt.
Die Binomialverteilung im Kontext der neuen Reifeprüfung
Das Verstehen von Mathematik, das verständliche Erklären von Expertisen sowie die Entwicklung von Bewertungen
und die Integration derartiger Meinungen gelten als das bildungstheoretische Orientierungsprinzip der neuen Reifeprüfung in Mathematik (BIFIE, 2013, S. 4). Das Verständnis der Inhalte, die Reflexion darüber sowie die Vernetzung von
Wissen sollten folglich auch wichtige Ziele des Mathematikunterrichts sein. Gerade deshalb, weil die praktizierte Prüfungskultur einen wesentlichen Einfluss auf den Unterricht hat, sollte der Impuls der neuen Reifeprüfung für den Unterricht auch dahingehend sein, dass dort eine verständnisorientierte Entwicklung mathematischer Kompetenzen und deren
Vernetzung gefördert und auch gefordert wird. Betrachtet man allerdings Prüfungs- bzw. Übungsaufgaben für die standardisierte schriftliche Reifeprüfung, die zwangsläufig eine wichtige Rolle für die Vorbereitung der Schülerinnen und
Schüler auf die Klausur spielen, so stellt man bspw. in Bezug auf die Gestalt des Graphen der Binomialverteilung fest,
dass es mehrheitlich darum geht, den Graphen einer Wahrscheinlichkeitsverteilung für eine binomialverteilte Zufallsvariable mit bestimmten Parametern 𝑛 und 𝑝 unter mehreren Graphen ausfindig zu machen und richtig zuzuordnen (Abb.
1).
Abb. 1: Übungsaufgabe zur Vorbereitung auf die schriftliche standardisierte Reifeprüfung (BIFIE, 2014, S. 336)
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Die Lösung einer derartigen Aufgabe verlangt – ähnlich wie im „traditionellen Unterricht“ – kein tiefgreifendes mathematisches Verständnis der Binomialverteilung. Bspw. würden auswendig gelernte Merksätze wie kleines p führt zu
linkssteiler Verteilung, großes p zu rechtssteiler Verteilung zum Ankreuzen der richtigen Antwort ausreichen. Damit
wird einer teaching-to-the-test-Strategie zur Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die Klausur intensiv Vorschub geleistet. Es ist nicht nur fraglich, ob durch Unterricht, dem eine teaching-to-the-test-Strategie zu Grunde liegt,
eine ausreichende Grundlage für die Vernetzung von Kompetenzen sichergestellt werden kann, sondern auch, ob mit
derartigen Aufgabenstellungen überhaupt das Erreichen der zu Grunde liegenden Kompetenz festgestellt werden kann.
Der mit der neuen Reifeprüfung intendierten, besseren Ausstattung der Absolventinnen und Absolventen mit den im
Berufsleben geforderten Kompetenzen (BGBl. I Nr. 52/2010) wird damit – im Sinne der bildungstheoretischen Orientierung der neuen Reifeprüfung AHS in Mathematik – jedenfalls nicht genüge getan.
Vor diesem Hintergrund ist die Intention dieses Beitrags eine mögliche Richtung für die Behandlung dieses Themas im
Mathematikunterricht aufzuzeigen. Sie soll sich sowohl vom traditionellen Vorgehen, als auch vom geschilderten Impuls der neuen Reifeprüfung wesentlich unterscheiden. Der Beitrag wendet sich dabei der wichtigen Aufgabe – wie sie
Wittmann (1981, S. 35) formuliert hat – zu
[…] allgemeine Zielsetzungen soweit zu konkretisieren und auf geeignete konkrete Inhalte und Unterrichtsverfahren zu beziehen, dass sich hinreichende Anhaltspunkte für eine Bewegung des Mathematikunterrichts in die gewünschte Richtung ergeben.
So ist der folgende Vorschlag als Anhaltspunkt für die Bewegung in Richtung eines Unterrichts, der das Verstehen von
Mathematik und das Vernetzen von Wissen fördert, zu verstehen.
Lerntheoretische und fachdidaktische Einbettung
Zur Konkretisierung dieser Intention präsentiert der vorliegende Aufsatz eine Aufgabensequenz zum Thema Binomialverteilung, die unter Verwendung von zwei GeoGebra-Dateien von den Lernenden möglichst eigenständig bearbeitet
wird. Dabei liegt der Fokus auf der innermathematischen Betrachtung der Gestalt des Graphen dieser diskreten Wahrscheinlichkeitsverteilung. Die Schülerinnen und Schüler sollen verstehen und begründen, warum für bestimmte Parameter eine bestimmte Gestalt des Graphen dieser Verteilung zu Stande kommt. Dafür soll Wissen über funktionale Abhängigkeiten, insbesondere auch zur Exponentialfunktion, aktiviert und entscheidend genutzt werden. Es handelt sich somit
um eine Art Diskussion einer speziellen diskreten Funktion, die Inhalte und Kompetenzen der Bereiche Stochastik mit
solchen des Bereichs Funktionale Abhängigkeiten vernetzt.
Die Lernenden sollen in eigenen Worten Sachverhalte und grafische Darstellungen beschreiben, Veränderungen analysieren und beschreiben, aus experimentell gewonnenen Informationen Vermutungen anstellen, untermauern bzw. widerlegen, erklären, argumentieren und begründen sowie Berechnungen durchführen.
In diesem Sinn orientieren sich die vorgestellten Aufgaben an den Lernzielen von H. Winter, die leicht modifiziert von
Wittmann (1981, S. 54f) das
1.
2.
3.
4.
Lernen zu mathematisieren,
Lernen sich forschend-entdeckend und konstruktiv zu betätigen,
Lernen zu argumentieren sowie das
Erlernen von Grundkenntnissen und Grundtechniken zur Verarbeitung mathematischer Informationen und deren Anwendung
umfassen.
Zudem soll, basierend auf einem durchgehenden Technologieeinsatz, eine mehrheitlich experimentell-entdeckerische
Vorgehensweise mit dieser Aufgabensequenz angeregt werden. So sind die einzelnen Aufgaben großteils auf der Ebene
von äußeren Impulsen formuliert, die nach Winter (1989, S. 2) den Wissenserwerb durch eigenes aktives Handeln unter
Bezug auf die schon vorhandene kognitive Struktur anregen bzw. ermöglichen sollen.
Die Technologie stellt in diesem Zusammenhang das für diese Art des Lernens notwendige Vehikel bereit. Den Lernenden soll unter Zuhilfenahme von Technologie das eigenständige und aktive Handeln in diesem Kontext ermöglicht
werden. Die Dimension der geforderten Argumentation bei den Aufgaben wird dabei variiert. Die Schülerinnen und
Schüler sollen bei der technologiegestützten Bearbeitung der Aufgaben, zurückgehend auf Fuchs (2007, S. 181f), anschaulich-handelnd, numerisch-handelnd sowie symbolisch-handelnd argumentieren.
Die Lernenden werden dabei insbesondere mit Fragestellungen, wie ändert sich das Diagramm, wenn …konfrontiert,
um sie zum Experimentieren und Forschen im Sinne des operativen Prinzips (Wittmann, 1981, S. 79) anzuregen. Führer
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(1985) erachtet das operative Prinzip als methodische Hilfe zur Entwicklung des funktionalen Denkens, was seit den
Meraner Vorschlägen von 1905 als zentrales Anliegen des Mathematikunterrichts gelten kann (Vollrath, 1989, S. 3).
Auch für die nachfolgende Aufgabensequenz ist dieses Anliegen konstitutiv, da insbesondere auch aufgrund der Betonung des Funktionsbegriffs seit der Einführung der standardisierten Reifeprüfung eine verstärkte Auseinandersetzung
mit diesen Denkweisen sinnvoll erscheint. Funktionales Denken wird dabei nach Vollrath (1989, S. 6) als
Denkweise, die typisch für den Umgang mit Funktionen ist
aufgefasst. Ein Aspekt funktionalen Denkens, die Erfassung von Auswirkungen bei Veränderungen einer Größe auf
eine abhängige Größe, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Aufgabensequenz. Diese Betrachtungen von Änderungen und deren Wirkungen können zum einen als charakteristisch für das funktionale Denken erachtet werden. Zum
anderen wird damit die unterrichtsmethodische Möglichkeit gesehen, mathematische Einsicht und Verständnis bei den
Lernenden zu erzielen. In Sachsituationen geht es insbesondere auch darum, bestimmte Gesetzmäßigkeiten zu entdecken bzw. basierend auf der Vorgabe eines bestimmten Änderungsverhaltens Funktionen zu erfinden (ebd., S. 12ff).
Diese dynamische, nicht isolierte Betrachtung von Größen kann damit zur Erschließung der Umwelt mit Funktionen,
bspw. im Sinne einer Beobachtung, Erklärung oder Erforschung der Umwelt, beitragen (Vollrath und Weigand, 2007,
S. 141–145). Der starken Einschränkung auf Funktionen mit einer freien Veränderlichen im Mathematikunterricht
(ebd., S. 145) wird mit dieser Aufgabensequenz ebenfalls begegnet. Von den Schülerinnen und Schülern werden bei der
Bearbeitung der Aufgaben nacheinander Veränderungen der Gestalt der Binomialverteilung bei Variation unterschiedlicher Parameter untersucht.
Insgesamt fokussiert die Aufgabensequenz somit – ganz im Sinne der „Neuen Aufgabenkultur“ (Fuchs und Blum, 2008,
S. 135) – auf eine fachlich gehaltvolle Unterrichtsgestaltung, die u. a. größten Wert auf inhaltliche und methodische
Vernetzung legt sowie auf eine hohe kognitive Aktivierung der Lernenden. Die kognitive Aktivierung der Lernenden
kann nach Hugener, Pauli und Reusser (2007, S. 113) durch



eine Anregung des Denkens der Lernenden auf einem hohen kognitiven Niveau mittels Aufgaben,
die Aktivierung des Vorwissens Lernenden sowie
durch einen „evolutionären“ Umgang der Lehrperson mit den Ideen, Konzepten, Lösungen etc. der Lernenden
charakterisiert werden. Dabei setzt die Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen bei den Lernenden, die sich auf möglichst hohem kognitivem Niveau mit einem Thema beschäftigen, vor allem adaptive, das heißt auf Diagnose und Differenzierung ausgelegte, Lernarrangements voraus (Leuders und Holzäpfel, 2011, S. 216).
Eine Anregung der Lernenden auf einem hohen kognitiven Niveau wird in dieser Aufgabensequenz bspw. durch die
Einforderung der bereits diskutierten Kovariations-Vorstellung vom Funktionsbegriff, zahlreiche auch mehrschrittige
Argumentationen sowie eines intensiven Gebrauchs von mathematischen Darstellungen nahegelegt (vgl. Jordan et al.,
2006). Die Aktivierung von und die Anknüpfung an das Vorwissen der Lernenden ist, wie der anschließende Abschnitt
zeigt, ebenfalls wesentlich für die vorgestellte Aufgabensequenz. Hingegen kann das dritte Merkmal kognitiv aktivierenden Unterrichts, der flexible Umgang der Lehrkraft mit den Ideen, Konzepten und Lösungen der Lernenden, mit der
Angabe einer Aufgabensequenz nicht von vornherein determiniert werden.
Anforderungen an das Vorwissen der Lernenden
Die im Folgenden präsentierte Aufgabensequenz setzt, vor allem was den Begriffskatalog der Lernenden im Bereich der
Stochastik betrifft, einige Vorkenntnisse voraus und ordnet sich daher erst nach einer ersten Behandlung der Binomialverteilung im Unterricht ein. Das benötige Vorwissen der Lernenden bezieht sich dabei im Wesentlichen auf die Formel
zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit für einen Pfad in einem dichotom verzweigten Baumdiagramm mit 𝑛 Verzweigungen und 𝑘 Ästen, die jeweils mit Wahrscheinlichkeit 𝑝 eintreten (Pfadwahrscheinlichkeit): 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛−𝑘
Ebenfalls benötigt werden der Binomialkoeffizient sowie grundlegende Kenntnisse über diskrete Zufallsvariablen,
Wahrscheinlichkeitsverteilungen und deren Darstellung, die Binomialverteilung 𝐵(𝑛; 𝑝) als Wahrscheinlichkeitsverteilung einer diskreten Zufallsvariablen 𝑋 mit
𝑛
𝐵(𝑛; 𝑝; 𝑘) ∶= ( ) ⋅ 𝑝𝑘 ⋅ (1 − p)n−k für 𝑘 ∈ {0,1, … , 𝑛}
𝑘
sowie grundlegende Kenntnisse zur Diskussion von Funktionen, insbesondere zur Monotonie von Funktionen. Als
Funktionstyp stehen insbesondere die Exponentialfunktion und ihre Eigenschaften im Vordergrund.
4
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Die Schülerinnen und Schülern sollten ebenfalls im Umgang mit GeoGebra vertraut sein, insbesondere mit dem Verwenden von Schiebereglern sowie dem Ein- und Ausblenden von Objekten.
Symmetrie diskreter Funktionen
Aufgrund des häufigen Auftretens des Begriffs der Symmetrie von diskreten Funktionen bei der Bearbeitung der vorgestellten Aufgabensequenz, wird im Anschluss eine kurze diesbezügliche Erläuterung angeführt. Den Unterrichtenden
sollen diese Ausführungen vor allem als Hintergrundwissen dienen, um bei Schwierigkeiten und Fragen von einzelnen
Schülerinnen und Schüler angemessen reagieren zu können.
Eine Funktion 𝑓: {0,1,2, … , 𝑛} → ℝ mit 𝑛 ∈ ℕ heißt symmetrisch, wenn 𝑓(𝑘) = 𝑓(𝑛 − 𝑘) ∀𝑘: 0 ≤ 𝑘 ≤ 𝑛. Basierend auf
dieser Definition kann bspw. die Symmetrie des Binomialkoeffizienten gezeigt werden:
𝑛
𝑛
𝑛
𝑛!
𝑛!
für 𝑓(𝑘) = ( ) ist 𝑓(𝑛 − 𝑘) = (
)=
= (𝑛−𝑘)!⋅𝑘! = ( ) = 𝑓(𝑘).
(𝑛−𝑘)!⋅(𝑛−(𝑛−𝑘))!
𝑘
𝑛−𝑘
𝑘
Bei einer Abweichung von der Symmetrie, spricht man von Asymmetrie. Diese soll im folgenden Beitrag auf einem für
die Lernenden intuitiv-anschaulichen Niveau motiviert werden. Wir führen zur Charakterisierung der bei der Binomialverteilung möglichen Asymmetrie daher die beiden Begriffe links- bzw. rechtsdominant ein.
Da die Funktion 𝑓 als endliche Folge von 𝑛 + 1 reellen Zahlen aufgefasst werden kann, ist eine Schreibweise in Form
eines Tupels zweckmäßig. Die Begriffe links- bzw. rechtsdominant werden daher sofort für Tupel formuliert.
Sei 𝑙 ein Tupel von 𝑛 + 1 reellen Zahlen: 𝑙 ≔ (𝑥0 , 𝑥1 , 𝑥2 , 𝑥3 , … , 𝑥𝑛−1 , 𝑥𝑛 )
Dann ist 𝑙



symmetrisch wenn ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛: 𝑥𝑖 = 𝑥𝑛−𝑖
linksdominant wenn ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛: 𝑥𝑖 > 𝑥𝑛−𝑖
rechtsdominant wenn ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛: 𝑥𝑖 < 𝑥𝑛−𝑖
Linksdominant bedeutet somit, dass der erste Eintrag des Tupels größer ist als der letzte, der zweite größer als der vorletzte usw. während bei einem rechtsdominanten Tupel genau umgekehrt der erste Eintrag des Tupels kleiner ist als der
letzte, der zweite kleiner als der vorletzte usw. Für die Betrachtung der Binomialverteilung sind in weiterer Folge auch
Überlegungen zum Produkt zweier solcher Tupel mit gleicher Länge nützlich.
Produkt von zwei symmetrischen Tupel
𝑙 ≔ (𝑥0 , 𝑥1 , 𝑥2 , … , 𝑥𝑛−1 , 𝑥𝑛 ) mit 𝑥𝑖 = 𝑥𝑛−𝑖
𝑚 ≔ (𝑦0 , 𝑦1 , 𝑦2 , … , 𝑦𝑛−1 , 𝑦𝑛 ) mit 𝑦𝑖 = 𝑦𝑛−𝑖 ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛
Das komponentenweise Produkt von 𝑙 mit 𝑚 ergibt dann das Tupel
𝑝𝑙𝑚 : = (𝑥0 𝑦0 , 𝑥1 𝑦1 , 𝑥2 𝑦2 , … , 𝑥𝑛−1 𝑦𝑛−1 , 𝑥𝑛 𝑦𝑛 ) mit 𝑥𝑖 𝑦𝑖 = 𝑥𝑛−𝑖 𝑦𝑛−𝑖 ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛, welches somit auch symmetrisch ist.
Produkt eines linksdominanten mit einem symmetrischen Tupel
Sei 𝑢 ≔ (𝑧0 , 𝑧1 , 𝑧2 , … , 𝑧𝑛−1 , 𝑧𝑛 ) mit 𝑧𝑖 > 𝑧𝑛−𝑖 und 𝑧𝑖 > 0 und
𝑙 ≔ (𝑥0 , 𝑥1 , 𝑥2 , … , 𝑥𝑛−1 , 𝑥𝑛 ) mit 𝑥𝑖 = 𝑥𝑛−𝑖 und 𝑥𝑖 > 0 ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛.
Das komponentenweise Produkt von 𝑙 mit 𝑢 ergibt dann das Tupel 𝑝𝑙𝑢 ≔ (𝑥0 𝑧0 , 𝑥1 𝑧1 , 𝑥2 𝑧2 , … , 𝑥𝑛−1 𝑧𝑛−1 , 𝑥𝑛 𝑧𝑛 ).
Da laut Voraussetzung 𝑧𝑖 > 𝑧𝑛−𝑖 ist und 𝑥𝑖 > 0 ∀𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛, folgt nach Multiplikation mit 𝑥𝑖
𝑥𝑖 𝑧𝑖 > 𝑥𝑖 𝑧𝑛−𝑖
Aufgrund der Symmetrie von 𝑙 mit 𝑥𝑖 = 𝑥𝑛−𝑖 ∀ 𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛 gilt dann
𝑥𝑖 𝑧𝑖 > 𝑥𝑛−𝑖 𝑧𝑛−𝑖 ∀ 𝑖: 0 ≤ 𝑖 ≤ 𝑛
Daraus folgt, dass 𝑝𝑙𝑢 ebenfalls linksdominant ist.
5
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Ideen zum Experimentieren mit den Dateien
Im folgenden Abschnitt wird die Aufgabensequenz zum Experimentieren mit den GeoGebra-Dateien binomialverteilung_1 und binomialverteilung_2, welche auf der Webseite http://www.mathematikimunterricht.at/ abrufbar sind und
auch frei zum Download bereit stehen, beschrieben, wobei sich alle Aufgaben bis auf die neunte und gleichzeitig letzte
Aufgabe auf die Datei binomialverteilung_1 beziehen. Eine mögliche Lösungserwartung für die jeweiligen Aufgabenstellungen wird dabei ebenfalls formuliert. Da viele der Aufgaben offen gestellt sind, sind auch weniger abstrakte sowie
auch formalere Darstellungen und Varianten einer Lösungserwartung denkbar. Diese Entscheidung soll jedoch der
Lehrkraft überlassen werden, zumal diese sicherlich auch von der Leistungsfähigkeit der Lernenden abhängig ist. Auf
dieser Grundlage ist die folgende Sequenz von Aufgaben auch für eine innere Differenzierung zugänglich. Es ist jedenfalls zu erwarten, dass Lernende auf allen Leistungsniveaus von der Bearbeitung der Aufgabensequenz profitieren. Die
an die Aufgaben anschließenden Kommentare stellen zusätzliche Erklärungen und methodisch-didaktische Hinweise für
den Unterricht bereit.
1.
Aufgabe: Zeige das Objekt binomial an und beschreibe die Gestalt des Stabdiagramms von 𝐵(16; 0,2).
Kommentar: Diese erste Aufgabe dient der Heranführung der Lernenden an das zu untersuchende Objekt, die
Binomialverteilung. Vor allem geht es in einem ersten Schritt darum, genau hinzuschauen und Auffälligkeiten
in der Gestalt des Graphen in eigenen Worten festzuhalten. Da hier gewisse Vokabeln zur gemeinsamen Verständigung wie z. B. Maximumstelle, Monotonie und Symmetrie, links- bzw. rechtsdominant von Vorteil sind,
können diese dann auch in einem zweiten Schritt von der Lehrkraft angegeben werden, sodass die Schülerinnen und Schüler diese in ihre eigenen Formulierungen einbauen können.
Erwartung: Die Wahrscheinlichkeiten nehmen bis zur Stelle 𝑘 = 3 streng monoton zu und dann streng monoton ab; der Wert 𝑘 = 3 der Zufallsvariable tritt am wahrscheinlichsten auf, das heißt 𝐵(16; 0,2) besitzt an der
Stelle 𝑘 = 3 eine Maximumstelle, wogegen für 𝑘 ≥ 8 die Wahrscheinlichkeiten sehr klein sind; die Wahrscheinlichkeiten sind folglich asymmetrisch, genauer linksdominant verteilt (Abb. 2).
Abb. 2: Graph der Binomialverteilung 𝐵(16; 0,2) in Form eines Stabdiagramms
2.
𝑛
Aufgabe: Wie ändert sich das Stabdiagramm der ( )-Werte, wenn 𝑛 verändert wird? Beschreibe! Zeige dazu
𝑘
das Objekt nüberk an und verwende das Objekt nskalierung für die Größenanpassung.
Kommentar: Diese Aufgabe widmet sich der ersten Komponente der Funktionsvorschrift 𝐵(𝑛; 𝑝; 𝑘) und
schafft dabei eine Grundlage für die Argumentation daran anschließender Aufgaben.
𝑛
Erwartung: Mit größer werdendem 𝑛 werden die Stäbe im Diagramm länger bzw. die Werte von ( ) größer;
𝑘
auch die Anzahl der Stäbe im Diagramm vergrößert sich; das Stabdiagramm ist immer symmetrisch; für gera-
6
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
𝑛
des 𝑛 ergibt sich genau eine Maximumstelle bei 𝑘 = , für ungerades 𝑛 zwei unmittelbar nebeneinander liegende Maximumstellen bei 𝑘 =
𝑛−1
2
bzw. 𝑘 =
𝑛+1
2
2
, wobei die Werte an diesen beiden Maximumstellen gleich
groß sind (Abb. 3).
Abb. 3: Veränderung des Binomialkoeffizienten für verschiedene Werte für 𝑛
3.
𝑛
𝑛
𝑛!
Aufgabe: Begründe mit Hilfe der Definition ( ) =
, dass das Stabdiagramm der ( )-Werte symmet𝑘!⋅(𝑛−𝑘)!
𝑘
𝑘
risch ist.
Kommentar: An diese Argumentation können die Lernenden bei Schwierigkeiten mit Hilfestellungen herangeführt werden, bspw. was macht die Symmetrie dieses Tupels aus? Der erste Wert von links gezählt ist gleich
groß wie der erste Wert von rechts gezählt usw. Also der k-te Wert von links gezählt ist gleich groß wie der k-te
Wert von rechts gezählt. Dabei wird bereits das eingangs angeführte Kriterium für die Symmetrie eines Tupels
von reellen Zahlen verwendet.
𝑛
𝑛
𝑛!
𝑛!
Erwartung: (
)=
= (𝑛−𝑘)!⋅𝑘! = ( )
(𝑛−𝑘)!⋅(𝑛−(𝑛−𝑘))!
𝑛−𝑘
𝑘
4.
Aufgabe: Berechne die Pfadwahrscheinlichkeiten mit 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛−𝑘 für die angegebenen Werten für 𝑛, 𝑝
und 𝑘. Fülle die folgende Tabelle aus!
𝑛=5
𝑝 = 0,2
𝑝 = 0,5
𝑘=0
𝑘=1
𝑘=2
𝑘=3
𝑘=4
𝑘=5
7
𝑝 = 0,8
Mathematik im Unterricht
a.
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Formuliere anhand der berechneten Werte Vermutungen über die Gestalt des Graphen der Verteilung
der Pfadwahrscheinlichkeiten, wenn 𝑝 wächst.
Erwartung: kleines 𝑝 führt zu einer linksdominanten, großes 𝑝 zu einer rechtsdominanten Verteilung
der Pfadwahrscheinlichkeiten, während 𝑝 = 0,5 zu einer symmetrischen Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten führt.
b.
Begründe weshalb bei Ersetzen von 𝑝 = 0,2 durch 𝑝 = 0,8 sich dieselben Zahlenwerte in der Tabelle
der Pfadwahrscheinlichkeiten in umgekehrter Reihenfolge ergeben.
Erwartung: der Exponent von 𝑝𝑘 nimmt mit jedem Schritt um 1 zu beginnend bei 0 bis zum Wert 𝑛;
der Exponent von (1 − 𝑝)𝑛−𝑘 nimmt mit jedem Schritt um 1 ab beginnend bei 𝑛 bis zum Wert 0; wird
nun die Basis dieser beiden Potenzen vertauscht, nimmt der Exponent von (1 − 𝑝)𝑘 mit jedem Schritt
um 1 zu beginnend bei 0 bis zum Wert 𝑛; der Exponent von 𝑝𝑛−𝑘 nimmt mit jedem Schritt um 1 ab
beginnend bei 𝑛 bis zum Wert 0, sodass sich dieselben Werte in umgekehrter Reihenfolge ergeben.
5.
Aufgabe: Benutze die Datei, um deine Vermutungen aus Aufgabe 4a mit mehreren Werten für 𝑝 graphisch darzustellen und zu testen. Zeige dazu das Objekt pfadwahrscheinlichkeiten an. Dokumentiere die Ergebnisse!
Erwartung: Für die Dokumentation können die Lernenden bspw. mehrere Screenshots für die Verteilung der
Pfadwahrscheinlichkeiten mit unterschiedlichen Werten für 𝑝 verwenden (Abb. 4).
Abb. 4: Veränderung der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten für konstantes 𝑛 und variables 𝑝
6.
Aufgabe: Verändere nun zusätzlich den Schieberegler für 𝑛 und stelle fest, ob deine Vermutungen aus der Aufgabe 4a auch für die veränderten Werte von 𝑛 zutreffen. Zeige dazu das Objekt pfadwahrscheinlichkeiten an.
Erwartung: Die Symmetrie (Asymmetrie) der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten hängt nicht von 𝑛 ab;
allerdings nähert sich die Verteilung mit größer werdendem 𝑛 immer mehr einer symmetrischen Verteilung an
(Abb. 5).
8
Mathematik im Unterricht
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Abb. 5: Veränderung der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten für konstantes 𝑝 und wachsendes 𝑛
9
Mathematik im Unterricht
7.
Heft Nr. 06, 2015
Aufgabe: Monotonie der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten. Zeige dazu das Objekt pfadwahrscheinlichkeiten an.
a.
Beobachte die Monotonie der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten für unterschiedliche Werte
für 𝑝. Was fällt dir auf?
1
Erwartung: die Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten ist streng monoton fallend für 0 < 𝑝 < ; die
1
2
Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeit ist konstant für 𝑝 = ; die Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeit ist streng monoton steigend für
b.
1
2
2
<𝑝<1
Welchen Einfluss hat die Monotonie der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten auf die Symmetrie
(Asymmetrie) der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten?
Erwartung: aus der streng monoton fallenden Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten folgt, dass
diese Verteilung linksdominant ist; aus der streng monoton steigenden Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten folgt, dass diese Verteilung rechtsdominant ist; aus der konstanten Verteilung der
Pfadwahrscheinlichkeiten folgt die Gleichverteilung bzw. die Symmetrie.
c.
Welcher Funktionstyp steckt hinter 𝑓(𝑘) = 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛−𝑘 für feste Werte für 𝑛 und 𝑝?
Erwartung: die Exponentialfunktion mit der allgemeinen Funktionsvorschrift 𝑎 𝑥 mit 𝑎 > 0 und
𝑥 ∈ ℝ, allerdings liegen mit 𝑓(𝑘) = 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛−𝑘 nur Funktionswerte an diskreten Stellen vor.
Für die Lernenden ist die Exponentialfunktion vor allem am Ende einer Umformung ersichtlich:
𝑓(𝑘) = 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛−𝑘 = 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛 ⋅ (1 − 𝑝)−𝑘 =
1 𝑘
𝑝 𝑘
= 𝑝𝑘 ⋅ (1 − 𝑝)𝑛 ⋅ (
) = (1 − 𝑝)𝑛 ⋅ (
)
1−𝑝
1−𝑝
d.
Blende die Objekte pfadwahrscheinlichkeiten und pfadFit ein. Was fällt dir auf?
Kommentar: Diese Aufgabe bietet auch eine gute Möglichkeit für eine Anknüpfung zum Thema Interpolation.
Erwartung: Die Exponentialfunktion pfadFit mit der Funktionsvorschrift
pfadFit(𝑥) = (1 − 𝑝)𝑛 ⋅ (
𝑝
1−𝑝
𝑥
) verläuft genau durch die Spitzen der Stäbe im Stabdiagramm der
Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten (Abb. 6).
2 𝑥
Abb. 6: Interpolation der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten für 𝑝 = 0,4 und 𝑛 = 12 durch pfadFit(𝑥) = 0,612 ⋅ ( )
3
10
Mathematik im Unterricht
e.
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Gib diejenigen Werte für 𝑝 an, für die die Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten bestimmt durch
𝑓(𝑘) = (1 − 𝑝)𝑛 ⋅ (
𝑝
1−𝑝
)
𝑘
rechtsdominant, linksdominant bzw. symmetrisch ist. Begründe deine
Antwort.
Kommentar: Ziel dieser Aufgabe ist es, die Überlegungen aus a, b und c zur Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten zusammenzuführen. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Monotonie und damit
die Symmetrie (Asymmetrie) der Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten mit Hilfe von Überlegungen zur Monotonie der Exponentialfunktion begründen.
Erwartung: Die Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten ist
 streng monoton fallend und damit linksdominant für
𝑝
1
< 1 ⟺ 𝑝 < 1 − 𝑝 ⟺ 2𝑝 < 1 ⟺ 𝑝 <
1−𝑝
2
 streng monoton steigend und damit rechtsdominant für
𝑝
1
> 1 ⟺ 𝑝 > 1 − 𝑝 ⟺ 2𝑝 > 1 ⟺ 𝑝 >
1−𝑝
2
 konstant und damit symmetrisch für
1
𝑝
= 1 ⟺ 𝑝 = 1 − 𝑝 ⟺ 2𝑝 = 1 ⟺ 𝑝 =
2
1−𝑝
8.
Aufgabe: Erkläre, warum sich bei kleinem 𝑝 eine linksdominante, bei großem 𝑝 eine rechtsdominante und
1
für 𝑝 = ein symmetrischer Graph für die Binomialverteilung ergibt. Zeige dazu die Objekte pfadwahrschein2
lichkeiten, binomialverteilung und binomialkoeffizienten an. Verwende die Objekte nskalierung, pvergr für die
Größenanpassung sowie die Objekte nkverschiebung und pverschiebung zur Einstellung der visuellen Darstellung.
Kommentar: Ziel dieser Aufgabe ist es, die bisherigen Resultate für die Argumentation zusammenzuführen.
Insbesondere sind Überlegungen für den Erhalt einer linksdominanten Verteilung als Produkt einer symmetrischen und einer linksdominanten Verteilung notwendig. Konkretisierungen zur Symmetrie (Asymmetrie) eines
Tupels von reellen Zahlen sollen jedoch erst dann vollzogen werden, wenn die Lernenden diese Überlegungen
wirklich benötigen und dann auch für ihre Argumentation - im Sinne einer genetischen Vorgehensweise verwenden können.
Erwartung: Da die Verteilung der Pfadwahrscheinlichkeiten bei kleinem 𝑝 streng monoton fallend und damit
linksdominant ist, die Verteilung der Binomialkoeffizienten jedoch symmetrisch ist, ist die Binomialverteilung, die sich aus den Produkten der jeweiligen Pfadwahrscheinlichkeiten und Binomialkoeffizienten ergibt,
ebenfalls linksdominant; die Argumentation kann dabei mit Hilfe einer möglichen Wahl für die Parameter 𝑛
und 𝑝 oder mit Hilfe von Tupel (Listen in der GeoGebra-Datei) erfolgen, welche die Schülerinnen und Schüler
aus der GeoGebra-Datei gewinnen bzw. einsehen können (Abb. 7).
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Abb. 7: Graph der Binomialverteilung 𝐵(17; 0,2) (blau) in Form eines Stabdiagramms als Produkt der zugehörigen Verteilung
der Pfadwahrscheinlichkeiten (rot) und den jeweiligen Werten des Binomialkoeffizienten (grün)
9.
Aufgabe: Beschreibe, wie sich die Gestalt des Graphen der Binomialverteilung mit wachsendem 𝑛 verändert.
Verwende dazu die GeoGebra-Datei binomialverteilung_2.
Kommentar: Die Lernenden entwickeln u. U. auch eigene Begrifflichkeiten für die Beschreibung der Veränderung der Binomialverteilung in Abhängigkeit von 𝑛. Diese sind, sofern sie den Sachverhalt korrekt beschreiben, auch anzuerkennen. Insbesondere ist eine daran anknüpfende Thematisierung des Übergangs der Binomialverteilung zur Normalverteilung naheliegend.
Erwartung: Die Maximumstelle (es können auch zwei Maximumstellen sein) wandert mit wachsendem 𝑛 nach
rechts (das heißt der Erwartungswert wächst); die Verteilungen werden mit wachsendem 𝑛 immer breiter (das
heißt die Standardabweichung wächst); die Verteilungen werden mit wachsendem 𝑛 immer niedriger (u. a. das
Maximum wird immer kleiner); die Verteilungen der „deutlich von Null verschiedenen“ Wahrscheinlichkeiten
werden mit wachsendem 𝑛 immer „symmetrischer“ (vgl. Barth und Haller, 2008, S. 241) (Abb. 8).
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Abb. 8: Darstellung der Änderung der Binomialverteilungen mit Hilfe von Stabdiagrammen für wachsendes 𝑛
Ausblick
Es ist eine große Herausforderung Unterrichtsentwürfe und -materialien zu entwickeln, die einerseits der bildungstheoretischen Orientierung der neuen Reifeprüfung als wichtiges Ziel entsprechen und andererseits in der Praxis für eine
breite Masse der Schülerinnen und Schüler lerneffektiv sind, sodass am Ende die Bearbeitung der Aufgaben beider
13
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Teile der neuen Reifeprüfung verständnisbasiert erfolgen kann. Für eine Realisierung dieser anspruchsvollen Ziele sind
jedenfalls auch strukturelle Änderungen der Rahmenbedingungen des Mathematikunterrichts notwendig, bspw. erscheint eine auf bestimmte Grundkenntnisse aufbauende und auf Verständnis ausgerichtete Behandlung von Themen
nur dann als realistisch, wenn im Unterricht entsprechende Zeitressourcen zur Verfügung stehen.
Literatur
Barth, F. & Haller, R. (2008). Stochastik. Leistungskurs (12. Aufl.). München: Oldenbourg.
BGBl. I Nr. 52/2010. Änderung des Schulunterrichtsgesetzes.
BIFIE. (2013). Die standardisierte schriftliche Reifeprüfung in Mathematik. Inhaltliche und organisatorische Grundlagen zur Sicherung mathematischer Grundkompetenzen (Stand: März 2013), BIFIE.
https://www.bifie.at/system/files/dl/srdp_ma_konzept_2013-03-11.pdf. [Zuletzt aufgerufen am 07.08.2015]
BIFIE. (2014). Übungsaufgaben zur Vorbereitung auf die standardisierte kompetenzorientierte schriftliche Reifeprüfung in Mathematik (AHS), BIFIE. https://www.bifie.at/node/2681. [Zuletzt aufgerufen am 07.08.2015]
Fuchs, K. J. (2007). Computeralgebra - Neue Perspektiven im Mathematikunterricht. Habilitationsschrift, Universität
Salzburg 1998 (Schriften zur Didaktik der Mathematik und Informatik an der Universität Salzburg, Bd. 1). Aachen:
Shaker.
Fuchs, K. J. & Blum, W. (2008). Selbstständiges Lernen im Mathematikunterricht mit „beziehungsreichen“ Aufgaben.
In J. Thonhauser (Hrsg.), Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen (S. 135–148). Münster: Waxmann.
Führer, L. (1985). Funktionales Denken. Bewegtes fassen - das Gefasste bewegen. mathematik lehren (11), 12–13.
Hugener, I., Pauli, C. & Reusser, K. (2007). Inszenierungsmuster, kognitive Aktivierung und Leistungen im Mathematikunterricht. Analysen aus der schweizerisch-deutschen Videostudie. In D. Lemmermöhle, M. Tothgangel, S. Bögeholz, M. Hasselhorn & R. Watermann (Hrsg.), Professionell lehren - erfolgreich lernen (S. 109–212). Münster
[u.a.]: Waxmann.
Jordan, A., Ross, N., Krauss, S., Baumert, J., Blum, W., Neubrand, M., Löwen, K., Brunner, M. & Kunter, M. (2006).
Klassifikationsschema für Mathematikaufgaben: Klassifikationsschema für Mathematikaufgaben: Dokumentation
der Aufgabenkategorisierung im COACTIV-Projekt (Materialien aus der Bildungsforschung, Bd. 81). Berlin.
Leuders, T. & Holzäpfel, L. (2011). Kognitive Aktivierung im Mathematikunterricht. Unterrichtswissenschaft 39, 213–
230.
Vollrath, H. J. & Weigand, H. G. (2007). Algebra in der Sekundarstufe (Mathematik Primar- und Sekundarstufe, 3.
Aufl.). München: Spektrum Akademischer Verlag.
Vollrath, H.-J. (1989). Funktionales Denken. Journal für Mathematik-Didaktik 10 (1), 3–37.
Winter, H. (1989). Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht. Einblicke in die Ideengeschichte und ihre Bedeutung
für die Pädagogik (Didaktik der Mathematik). Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg.
Wittmann, E. (1981). Grundfragen des Mathematikunterrichts (6. Aufl.). Braunschweig: Vieweg.
Adressen der Autoren:
Mag. Dipl.-Ing. Dr. Alfred Dominik
Didaktik der Mathematik/Physik
Universität Salzburg
Hellbrunnerstr. 34
5020 Salzburg
[email protected]
Mag. Simon Plangg
Didaktik der Mathematik
Universität Salzburg
Hellbrunnerstr. 34
5020 Salzburg
[email protected]
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
R in der Schule
Sanda Gavric, Arne C. Bathke
Zusammenfassung. Die kostenlose Statistiksoftware R ist vor allem in den Bereichen der Stochastik und Statistik in der Schule gut
einsetzbar. Sie ermöglicht es, Rechenzeiten für eher mechanische Wahrscheinlichkeitsberechnungen oder das Auführen von Hypothesentests zu verkürzen, probabilistische und statistische Sachverhalte mittels Diagrammen darzustellen, und die Intuition für Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch Simulationen zu fördern. Durch den Einsatz der Software ist es möglich, die Grenzen der
in der Schule durchführbaren deskriptiven Statistik deutlich zu erweitern, Begeisterung für das Thema Statistik und dessen Möglichkeiten zu erzeugen, und die Thematik der Konfidenzintervalle und Hypothesentests über rein operative Aspekte hinaus, insbesondere
im Hinblick auf die korrekte Interpretation der Ergebnisse besser zu beleuchten, was im Zuge der neuen Reifeprüfung unabdingbar
sein wird. Zahlreiche konkrete Beispiele und nutzbarer Programmcode illustrieren, wie der Einsatz von R im Unterricht wesentliche
Kompetenzen fördern kann.
Einleitung
Trotz der großen Medienvielfalt, welche in vielen anderen Fächern in der Schule bereits eingesetzt wird, werden moderne Medien im Mathematikunterricht häufig vernachlässigt. Oft besteht die Aufgabe von Schülern und Schülerinnen
im Unterricht darin, möglichst lange und komplizierte Rechnungen richtig zu lösen. Ein derartiger, auf operative Kompetenzen fokussierter Unterricht wird einseitig und langweilig erscheinen. Gleichzeitig kommt in einem derartigen
Unterricht die Deutung von Ergebnissen zu kurz, was insbesondere für das Thema Statistik, in dem die korrekte Interpretation deskriptiver und inferenzieller Resultate zentrales Anliegen ist, äußerst ungünstig ist. Im Mathematikunterricht
der Zukunft, im Lichte der kompetenzorientierten Matura, wird ein Unterricht mit Schwerpunkt auf operativen, bei
Vernachlässigung interpretatorischer, Kompetenzen, nicht mehr möglich sein. Die Statistiksoftware R ist hervorragend
geeignet, den Schritt in die Zukunft zu unterstützen. Sie ist kostenlos erhältlich, wird weltweit auf akademischer und
professioneller Ebene genutzt, und ist leicht zu erlernen. Es ist eigentlich erstaunlich, dass sie ihren Siegeszug in den
Schulen noch nicht angetreten hat, aber aufgrund der zahlreichen Vorteile und Möglichkeiten von R ist dies nur eine
Frage der Zeit. Der vorliegende Artikel soll Kollegen und Kolleginnen, welche noch nicht in Berührung mit R gekommen sind, ermutigen, die Software im Unterricht einzusetzen. Konkrete Beispiele mit Programmiercode sollen erste
eigene Schritte zur Verwendung von R im Unterricht erleichtern.
Einführung in R
Erste Schritte
R ist ein Open Source-Programm, das von Profis auf der ganzen Welt für die statistische Datenverarbeitung verwendet
und erweitert wird. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Daten einzulesen, auszuwerten und diese auch zu visualisieren. R
ist sowohl die Bezeichnung des Programms als auch die Sprache, in der die Befehle eingegeben werden. Im Gegensatz
zu Programmen mit graphischer Benutzeroberfläche muss der Benutzer in R die Befehle in einer bestimmten Abfolge
unter Verwendung einer Syntax selbst eingeben (Wollschläger, 2012). Wie jedes andere Programm, hat auch R einige
Vor- und Nachteile. Wie schon angedeutet, verfügt R über keine graphische Benutzeroberfläche. Dies kann sowohl
einen Vor- als auch einen Nachteil darstellen. Einerseits gestaltet sich der Einstieg in das Programm evtl. zunächst ein
wenig diffiziler, wenn man überhaupt keine Vorerfahrung im Bereich der Programmierung aufweisen kann. Verfügt
man jedoch über die Grundbefehle, so ist die Verwendung des Programms in Anwendungsgebieten wie beispielsweise
der Visualisierung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen sehr schnell und problemlos möglich. Ein großer Vorteil der
Verwendung von Code ist die vollkommene Reproduzierbarkeit der Berechnungen, was auch ein Grund dafür ist, dass
R aus der wissenschaftlichen Forschung nicht mehr wegzudenken ist. Schüler und Schülerinnen können auf Basis eines
im Unterricht erarbeiteten Computercodes leicht selbst Varianten erproben. Möchte man aus Gewohnheit auf vorgege-
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
bene Menüpunkte keinesfalls verzichten, so lässt sich eine graphische Programmieroberfläche durch sogenannte Zusatzpakete schnell einrichten.
Da R kostenlos im Internet auf der R-Projektseite unter http://www.r-project.org/ erhältlich ist und innerhalb von weniger als zwei Minuten auf dem eigenen Rechner installiert werden kann, stellen Akquisition und Installation keine Einstiegshürde dar. In Zeiten knapper Schulressourcen ist die kostenlose Verfügbarkeit ein gewichtiges Argument. Nach
der Installation und dem Öffnen des Programmes ist die Befehlseingabe unmittelbar in der sogenannten Konsole möglich, was bei taschenrechnerartigen kurzen Berechnungen auch praktikabel ist. Im Allgemeinen empfiehlt es sich aber,
Befehlsskripte in dem in R mitgelieferten Editor zu schreiben und die gewünschte auszuführende Zeile oder einen Abschnitt zu markieren und dann z.B. mit Strg+R auszuführen. Den Editor erhält man über den Menüpunkt Datei → Neues Skript. Der Vorteil des Editors ist die Möglichkeit des Abspeicherns der Skriptdatei und das wiederholte Ausführen
und einfache Modifizieren von Befehlsskripten.
Es gibt auch die Möglichkeit, Befehle in einer anderen Umgebung als in dem Texteditor, der mitgeliefert wird, zu
schreiben, da in manchen Editoren beispielsweise eine Syntaxhervorhebung von Befehlen möglich ist, welches zum
leichteren Verständnis beiträgt und wodurch Fehlerquellen reduziert werden können. Ein Beispiel dafür wäre die unter
R-Nutzern sehr beliebte Entwicklungsumgebung RStudio. Möchte man R über eine grafische Benutzeroberfläche nutzen, so bietet sich beispielsweise das Zusatzpaket Rcmdr (R Commander) an. Gerade für Anfänger im Programmieren
bietet dieses Paket den Vorteil, dass Befehle nicht mehr manuell eingegeben und somit aktiv erinnert werden müssen,
sondern über das grafische Menü abgerufen werden können. Daher empfiehlt sich der R Commander insbesondere für
den Einsatz in Schulen. Der Hauptnachteil derartiger Oberflächen ist, dass sie nicht das gesamte Potenzial von R ausschöpfen können, jedoch sind die enthaltenen Befehle und Funktionen für Schulzwecke ausreichend. Befehle können
auch im Rcmdr im Skriptfenster eingegeben und über Befehl ausführen ausgeführt werden. Die Ausgabe erfolgt im
Ausgabefenster. Zusatzpakete, wie Rcmdr, können über den Menüpunkt Pakete → Installiere Paket(e) zunächst einmal
auf dem eigenen Rechner installiert werden und anschließend muss das gewünschte Paket bei jeder Sitzung über den
Menüpunkt Pakete → Lade Paket geladen werden.
Dateineingabe und Datenverarbeitung
Alle Daten in R werden in sogenannten Objekten gespeichert. Es gibt Möglichkeiten die Objekte ineinander umzuwandeln, allerdings kann dies nur unter bestimmten Voraussetzungen geschehen. In der nachfolgenden Tabelle, Tab. 1
(nach Wollschläger, 2012) werden die für die Schule relevanten Objekttypen kurz beschrieben.
Tab. 1: Ein Überblick über die wichtigsten Objekttypen in R
Objekt
vector
matrix
data.frame
Beschreibung
Diese Datenstruktur kann aus beliebig vielen Einträgen bestehen, jedoch müssen alle Einträge
demselben Datentyp angehören, wie beispielsweise numeric oder character.
Mehrere Objekte können zu einer Matrix zusammengeführt werden. Somit können mehrere Variablen in einem Objekt beschrieben werden. Allerdings müssen alle Einträge von derselben Klasse
sein.
Hierbei handelt es sich um ein Objekt, welches von der Struktur her einer Matrix ähnelt. Die
Spalten können allerdings in unterschiedlichen Datentypen gespeichert werden. R liest üblicherweise Daten aus Excel-Tabellen oder anderen Programmen in Objekte dieser Datenstruktur ein.
Die Eingabe in R basiert auf Vektoren, welche allerdings gewisse Unterschiede zu den aus der Mathematik bekannten
Vektoren aufweisen (diese Unterschiede sind subtiler Natur und für den Schulunterricht vermutlich nicht relevant). Ein
Vektor ist die einfachste Datenstruktur in R, welche es ermöglicht eine Menge von Skalaren in einer bestimmten Reihenfolge zu speichern und für spätere Berechnungen wieder zu verwenden. Die Eingabe von Vektoren erfolgt durch den
Befehl c(), wobei die Zahlenwerte geordnet in der Klammer angegeben werden. Der Datentyp einer Variable kann
durch den Befehl mode() erfragt werden, wobei die beiden Ausgaben „numeric“ und „character“ möglich sind.
Hat man nun mehrere Variablen zur Verfügung, so könnte man jede einzeln in einem Vektor speichern oder man fasst
alle Variablen in einem Objekt der Klasse matrix oder data.frame zusammen. Dies ist oft sinnvoll, da somit ein
unmittelbarer Vergleich zwischen den einzelnen Variablen möglich ist. Zu beachten ist, dass die Vektoren gleichen
Typs und gleicher Länge sein müssen, um sie als Matrix abspeichern zu können. Es gibt prinzipiell mehrere Arten, eine
Matrix zu erstellen. Einerseits gibt es die Möglichkeit Vektoren entweder reihenweise oder spaltenweise zu einer Mat-
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Mathematik im Unterricht
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rix zu verbinden, andererseits kann die Matrix durch einen speziellen Befehl erzeugt werden. Für das Zusammenführen
mehrerer Vektoren gibt es zwei Möglichkeiten. Die Vektoren können mit den Befehlen rbind() zeilenweise oder mit
cbind() spaltenweise zu einer Matrix zusammengefügt werden. Der alternative Grundbefehl für die Erstellung einer
Matrix lautet:
> matrix(data=Vektor, nrow=Reihenanzahl, ncol=Spaltenanzahl, byrow=T/F)
Das erste Argument des Befehls ist entweder der Name des Vektors oder der Vektor selbst. Dann kann die Anzahl der
Reihen und der Spalten angegeben werden. Im letzten Argument gibt man an, ob der angegebene Vektor reihenweise
oder spaltenweise eingelesen werden soll. Zur Illustration ein kleines Beispiel, in dem zuerst zwei Vektoren eingelesen
und diese dann zu einer Matrix zusammengefügt werden:
> a = c(1, 2, 3); b = c(5, 6, 7)
> zeilenweise = rbind(a,b); zeilenweise
[,1] [,2] [,3]
a
1
2
3
b
5
6
7
> spaltenweise = cbind(a,b); spaltenweise
a b
[1,] 1 5
[2,] 2 6
[3,] 3 7
Da die manuelle Dateneingabe bei größeren Datensätzen aufwändig und fehlerlastig sein kann, gibt es die Möglichkeit
ganze Datensätze, die in Programmen wie Excel, SPSS oder anderen erzeugt wurden, einzulesen, oder aber auch direkt
Daten aus dem Internet zu importieren. Die Erstellung von Tabellen direkt im Editor ist auch möglich. Am einfachsten
ist es Tabellen, die im Textformat gespeichert sind, zu importieren. Variablennamen sind meist in der obersten Zeile zu
finden, und die Werte der einzelnen Variablen sind in den jeweils dazugehörigen Spalten. Mit dem Befehl
read.table() gelingt es Tabellen mit einem Textformat einzulesen. Möchte man die eingelesene Tabelle bearbeiten,
so kann man dies direkt mit dem Befehl fix() tun. Die Eingabe könnte nun folgendermaßen lauten:
> Test=read.table("C:/Users/Sanda/Desktop/Tabelle.txt",
header=TRUE, sep="", na.strings="NA", dec=".")
Nun wurde eine Datenmatrix namens Test eingelesen. Hier sind die Zahlen durch Leerzeichen getrennt, für nicht angegebene Werte wird NA ausgegeben und Dezimalzahlen werden durch einen Punkt getrennt. Eine weitere Möglichkeit
eine Datei einzulesen wäre der Befehl read.table(file.choose()). Hier öffnet sich ein Fenster, in dem die einzulesende Datei ausgewählt werden kann, was vermutlich für viele Benutzer einfacher erscheint, da nicht der gesamte
Pfad angegeben werden muss. Die Datei wird einem Objekt zugeordnet, um sie später auch verwenden zu können. Sind
die einzelnen Werte durch Kommata getrennt, so sollte dies ebenfalls in der ersten Befehlszeile angeführt werden.
> vec=read.table(file.choose(), sep=",", dec=".")
Wurde ein Vektor eingegeben oder eine Datenmatrix eingelesen, so ist die Visualisierung mittels graphischer deskriptiver Methoden möglich. Tab. 2 gibt eine Übersicht über die in der Schule üblichen Diagramme und die R-Funktionen,
die diese erzeugen. Für jede dieser Funktionen lässt sich in R die Hilfe-Seite mit vorangestelltem Fragezeichen erzeugen, z.B. öffnet „?plot“ ein Fenster mit Zusatzinformationen und Optionen zu dieser Funktion.
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Mathematik im Unterricht
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Tab. 2: Ein Überblick über die wichtigsten Diagramme und Funktionen in R
R-Befehl
plot(Datenname, Optionen)
plot(Datenname, type= "Option")
plot(x,y,Datenname,type=
"Option")
barplot(Vektor, Optionen)
stem.leaf(Vektor)
boxplot(Vektor, Optionen)
curve(Funktion, from= , to=)
abline(a= , b= ,h= ,v= )
lines(x,y)
points(x,y)
Beschreibung
R erzeugt ein Punktdiagramm mit den Werten eines Vektors. Optionen könnten die Beschriftung der Achsen, Diagrammtitel oder Untertitel sein.
Die einzelnen Punkte können mittels der Option type=“l“ durch
eine Linie miteinander verbunden werden.
Visualisierung der beiden Variablen x und y im genannten Datensatz
mithilfe eines Streudiagramms.
R erzeugt ein Säulendiagramm mit den Werten des Vektors.
Ein Stängel-Blatt Diagramm wird erzeugt.
R erstellt ein Kastendiagramm.
Hiermit können Funktionen dargestellt werden. Anfangs- und Endwert sollten eingegeben werden, da R ansonsten selbst einen Bereich
bestimmt, der oftmals nicht ausreichend ist.
Es wird keine neue Grafik erstellt, sondern einer schon vorliegenden
Grafik werden gerade Linien hinzugefügt. Mit a kann der yAchsenabschnitt und mit b die Steigung der Gerade angegeben werden. Mit h wird eine horizontale und mit v eine vertikale Gerade
durch den gegebenen Wert gezeichnet.
Es wird keine neue Grafik erstellt, sondern in der vorhandenen Grafik werden x- und y- Koordinaten durch Linien oder Punkte dargestellt. Beide Funktionen haben weitere Optionen.
Beispiele zum Einsatz in der Schule
Stochastik
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist ab der 10. Schulstufe Thema des Mathematikunterrichts. Dabei kann R sehr vielfältig eingesetzt werden. Zusätzlich zur effektiven Berechnung von Wahrscheinlichkeiten können mathematische Sachverhalte beispielsweise durch Simulationen illustriert werden, die ohne Rechnereinsatz nicht praktikabel durchführbar
wären, aber für die Entwicklung eines intuitiven Verständnis probabilistischer und statistischer Sachverhalte äußerst
hilfreich sind. Tab. 3 gibt einen Überblick über die wichtigsten Befehle in R in Bezug auf die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten.
Tab. 3: Überblick über die Befehle für die Binomial- und Normalverteilung
R-Befehl
dbinom(k,size=n,prob=p)
pbinom(k,size=n,prob=p)
pnorm(x, mean= 𝜇,sd= 𝜎)
qnorm(𝛼,mean= 𝜇,sd= 𝜎)
Beschreibung
𝑛
𝑃(𝑋 = 𝑘) = ( ) 𝑝𝑘 (1 − 𝑝)𝑛−𝑘
𝑘
𝑘
𝑛
𝑃(𝑋 ≤ 𝑘) = ∑ ( ) 𝑝𝑖 (1 − 𝑝)𝑛−𝑖
𝑖=0 𝑖
𝑥
(𝑡−𝜇)2
1
−
𝑃(𝑋 ≤ 𝑥) =
∫ 𝑒 2𝜎2 𝑑𝑡
√2𝜋𝜎 2 −∞
𝑥
(𝑡−𝜇)2
1
−
𝑃(𝑋 ≤ 𝑥) =
∫ 𝑒 2𝜎2 𝑑𝑡 = 𝛼
√2𝜋𝜎 2 −∞
Häufigkeitsverteilungen und Wahrscheinlichkeitsverteilungen
Zum Einführen der Begriffe Häufigkeitsverteilung und Wahrscheinlichkeitsverteilung eignet sich ein Experiment, das
die Schüler und Schülerinnen selbst durchführen können. Ein solches Experiment könnte das Würfeln und Notieren der
Augensumme von mehreren Würfeln sein. Bei dem Experiment können die Schüler und Schülerinnen einerseits die
unterschiedlichen Ausgänge des Experiments bei kleiner Durchführungszahl beobachten und einerseits die extreme
Ähnlichkeit der Häufigkeitsverteilungen bei sehr vielen Wiederholungen des Experiments. Somit wird die Intuition für
den Zusammenhang zwischen Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsverteilung hergestellt. Zu Beginn werfen die Schülerinnen und Schüler in Gruppen zehn Mal zwei Würfel und notieren jeweils die Augensumme. Weiters sollen sie Vermutungen anstellen, wie ihre Notizen nach 100-mal Würfeln etwa aussehen könnten. Danach können die Ergebnisse
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Mathematik im Unterricht
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diskutiert und diese Vermutungen besprochen werden. Da das tatsächliche Durchführen des erweiterten Experiments
recht langwierig ist, bietet es sich an, das oft wiederholte Würfeln mit R zu simulieren. Außerdem kann die Simulation
mehrerer (oder vieler) Würfel durchgeführt werden. Dies ist auch der klare Vorteil gegenüber anderen Programmen wie
beispielsweise dem Tabellenkalkulationsprogramm Microsoft Excel. Die Simulation mehrerer Würfel kann ganz einfach durch das Ändern einer Zahl im Funktionsaufruf durchgeführt, und auch das Diagramm dazu gezeichnet werden.
Zum Beispiel kann das Simulationsexperiment so begonnen werden, dass zuerst ein Würfel 10, 100 und 1000 Mal „geworfen“ und das dazugehörige Diagramm ausgegeben wird. Danach kann die Simulation zweier Würfel gestartet werden, indem man an entsprechender Stelle im Code n=2 einsetzt. Durch Verändern der Variablen n und x kann sowohl
die Zahl der Würfel, als auch die Zahl der Würfe immer wieder neu bestimmt werden. Das Experiment kann beliebig
oft durchgeführt werden.
> x=100
> wuerfel=sample(1:6,x,replace=TRUE)
> tabelle=table(wuerfel)
> tabelle
wuerfel
1 2 3 4 5 6
14 21 15 17 16 17
> plot(tabelle, xlab="Augenzahl", ylab="absolute Häufigkeit")
Bei dem oben angeführten Experiment wird ein Würfel 100-mal geworfen und die Häufigkeit der auftretenden Augenzahlen gezählt. Wird die Zahl der Versuche noch höher gewählt, so lässt sich beobachten, dass sich die relative Häufigkeit der einzelnen Augenzahlen jeweils einem Wert (dieser entspricht der statistischen oder empirischen Definition der
Wahrscheinlichkeit) annähert (Kütting & Sauer, 2011). Beim Würfeln eines Würfels nähern sich die relativen Häufig1
keiten der Augenzahlen bei genügend hoher Zahl der Versuche dem Wert an. Da die Ergebnisse bei jedem Experiment
6
dem Zufall unterliegen und man jedes Mal andere Werte erhält, können diese bei einer kleinen Zahl an Würfen teilweise auch erheblich von der mathematischen Wahrscheinlichkeit abweichen. Dies steht für Schüler und Schülerinnen
zunächst oft im Widerspruch zur eigenen Intuition, und die im Grenzwert erhaltene Wahrscheinlichkeit wird schon für
kleine Wurfzahlen erwartet. In der Simulation wird die wichtige Erkenntnis gewonnen, dass die Abweichungen der
relativen Häufigkeiten von den Wahrscheinlichkeiten mit steigender Versuchszahl immer geringer werden und die relativen Häufigkeiten sich nur noch gering verändern. Sogar die Geschwindigkeit dieser Annäherung kann abgeschätzt
werden, und somit können „Faustregeln“ für die zu erwartende Größe der Abweichungen entwickelt werden. Eine der
zentralen Folgerungen ist, dass die relative Häufigkeit der bestmögliche Schätzwert für die Wahrscheinlichkeit und
umgekehrt die Wahrscheinlichkeit der bestmögliche Prognosewert für die relative Häufigkeit ist (Kütting & Sauer,
2011).
Im nächsten Schritt kann die Augensumme zweier Würfel betrachtet werden.
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x=500;n=2
Augensumme=rep(0,x)
for(i in 1:x) Augensumme[i]=sum(sample(1:6,n,replace=TRUE))
abs.haeufigkeit=table(Augensumme)
rel.haeufigkeit=prop.table(table(Augensumme))
plot(rel.haeufigkeit,type="h")
Auch hier ist bei einer genügend hohen Versuchszahl ein bestimmtes Muster der Häufigkeitsverteilungen erkennbar.
Somit lassen die Häufigkeitsverteilungen bei genügend hoher Versuchszahl Schätzungen für die Wahrscheinlichkeitsverteilung zu und umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeitsverteilung ein guter Prognosewert für die Häufigkeit der Augensummen bei genügend hoher Wurfzahl.
In der Wahrscheinlichkeitstheorie könnte dieser Sachverhalt folgendermaßen beschrieben werden. Eine Zufallsvariable
ist eine Funktion, die jedem Versuchsergebnis eines Zufallsexperiments eine reelle Zahl zuordnet. Die Funktion 𝑋 ist
zwar streng genommen deterministisch, aber da ihre Argumente vom Zufall abhängen, sind auch die Werte der Funktion 𝑋 zufällig, und 𝑋 heißt daher Zufallsvariable (Bosch, 2010). Oft ist der zugrundeliegende Wahrscheinlichkeitsraum
von geringerem Interesse als die Werte, die die Zufallsvariable 𝑋 annimmt, und die jeweils zugehörigen Wahrscheinlichkeiten. Mit anderen Worten, das Hauptinteresse ist die Verteilung von 𝑋. Im letzten Beispiel beschreibt 𝑋 die Augensumme zweier Würfel. Die Verteilung von 𝑋 kann basierend auf einem Laplace-Wahrscheinlichkeitsraum wie folgt
hergeleitet werden: Zunächst wird für jedes der 36 geordneten Augenpaare (1,1), (1,2), (1,3), usw. die gleiche Wahrscheinlichkeit als plausibel angenommen, und dann wird jedem dieser 36 möglichen Versuchsergebnisse der entsprechende Funktionswert zugeordnet, 𝑋((1,1)) = 2, 𝑋((1,2)) = 3 usw. Die resultierende Wahrscheinlichkeitsverteilung
kann durch Tabelle oder Stabdiagramm dargestellt werden.
Zur Simulation dieser Verteilung können zwei (fiktive) Würfel in R beispielsweeise 50, 500 und 5000-mal geworfen
werden, damit die SchülerInnen die Möglichkeit haben die Änderung der Häufigkeitsverteilung und auch die Ähnlichkeit zur Wahrscheinlichkeitsverteilung zu beobachten. Dieser Vorgang kann natürlich mehrmals durchgeführt werden.
Der nächste natürliche Schritt besteht nun darin, anstatt der Summe zweier Würfel die Summe einer größeren Zahl an
Würfeln zu betrachten.
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x=5000
n=50
Augensumme=rep(0,x)
for(i in 1:x) Augensumme[i]=sum(sample(1:6,n,replace=TRUE))
abs.haeufigkeit=table(Augensumme)
rel.haeufigkeit=prop.table(table(Augensumme))
plot(rel.haeufigkeit,type="h")
Dieses Beispiel eignet sich hervorragend, um den Zusammenhang zwischen Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsverteilungen einerseits, und die Bedeutung des zentralen Grenzwertsatzes andererseits, experimentell zu demonstrieren.
Bei einer höheren Zahl der Würfe und Würfel, und mit einer Normalverteilungskurve in die Darstellung integriert,
könnte die Grafik wie in Abb. 1 aussehen.
> curve(dnorm(x,n*3.5,sqrt(n*35/12)),0,n,col="red",lwd=5,add=TRUE)
Abb. 1: Augensumme von 50 Würfeln, welche 5000-mal „geworfen“ wurden
Approximation der Binomialverteilung
Wird ein Bernoulli-Experiment unter den gleichen Voraussetzungen mit derselben Erfolgswahrscheinlichkeit p sehr oft
durchgeführt und die Summe der Erfolge betrachtet, so kann die Verteilung der resultierenden binomialverteilten Zufallsvariable 𝑋 durch eine Normalverteilung mit dem Erwartungswert 𝐸(𝑋) = 𝜇 = 𝑛𝑝 und der Varianz 𝑉𝑎𝑟(𝑋) = 𝜎 2 =
𝑛𝑝(1 − 𝑝) approximiert werden. So können für 𝑛𝑝(1 − 𝑝) > 9 gute Näherungen für die Wahrscheinlichkeitsberechnung von binomialverteilten Zufallsvariablen erzielt werden. Der Korrekturfaktor („Stetigkeitskorrektur“) von 0,5 führt
für kleine n oft zu einer verbesserten Approximation der Binomialverteilung, kann aber, außer bei der Approximation
von Wahrscheinlichkeiten des Typs 𝑃(𝑋 = 𝑘), für eine große Anzahl n von Versuchen vernachlässigt werden. Die
Approximation lässt sich in der Schule am besten experimentell durch die Änderung der Parameter n und p einer binomialverteilten Zufallsvarible darstellen. Dabei kann auch auf die Poisson-Approximation eingegangen werden. Zu-
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
nächst kann ein kleines n gewählt werden, um zu zeigen, dass hier eine Approximation stark abweichende Werte von
der Binomialverteilung liefert.
> n=10
> p=1/50
> k=0:n
> plot(k,dbinom(k,n,p),xlim=c(0,20),type="h",main="n=500, p=0,02")
> points(k,dbinom(k,n,p),pch=20)
> points(k,dpois(k,n*p),pch=8,col="red")
> curve(dnorm(x,n*p,sqrt(n*p*(1-p))),0,20,add=TRUE, col="green",lwd=2)
> legend("topright",legend=c("Binomialverteilung", "Poisson-Approximation",
"Normal-Approximation"),col=c("black","red","green"),
bty="n",pch = c(20, 8,NA),lty=c(NA,NA,1),lwd=c(NA,NA,2))
Dann können verschiedene Werte für die Parameter n und p gewählt werden, um zu sehen ob sich die jeweilige Approximation zu eignen scheint. Hierbei sollte für die Schüler und Schülerinnen ersichtlich sein, dass die NormalApproximation bei großen n und sehr kleinen bzw. sehr großen p deutlich schlechtere Werte als die PoissonApproximation liefert (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Approximation einer binomialverteilten Zufallsvariable mit den Parametern n=500 und p=0,02
Die Änderung der Parameter auf kleine n und mittlere Werte von p wie in Abb. 3 sollte verdeutlichen, dass die Poisson-Approximation bei zentralen Werten von p keine zuverlässigen Werte mehr liefern kann.
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Abb. 3: Approximation einer binomialverteilten Zufallsvariable mit den Parametern n=500 und p=0,5
Natürlich können neben der graphischen Veranschaulichung die Wahrscheinlichkeiten der Binomialverteilung und der
Normal- und Poisson-Approximation mit den in R bereits vordefinierten Funktionen berechnet und verglichen werden.
> n=500
> p=0.02
> p=pbinom(13,n,p)
[1] 0.8666792
> pnorm(13,n*p,sqrt(n*p*1-p))
[1] 0.8288507
> ppois(13,n*p,sqrt(n*p*(1-p)))
[1] 0.8644644
Ist die Approximation der Binomialverteilung überhaupt noch zeitgemäß?
Die klassische Frage der Approximation von Binomialverteilungswahrscheinlichkeiten, die zu den in der historischen
Genese des Faches außerordentlich bemerkenswerten ersten Versionen des zentralen Grenzwertsatzes und den Normalund Poisson-Approximationen, geführt haben, ist in ihrer ursprünglichen (von de Moivre formulierten) Version gar
nicht mehr in so hohem Maße praktisch relevant, da sich der Umfang der mittels Statistik Software wie R direkt berechenbaren Binomialwahrscheinlichkeiten in den letzten Jahren drastisch vergrößert hat und quasi täglich vergrößert. Als
Konsequenz lassen sich (wohl) alle gängigen Schulbuchaufgaben, bei denen derartige Wahrscheinlichkeiten mit Hilfe
der Normalverteilung approximativ zu bestimmen sind, durch direkte Verwendung von R und der Funktion dbinom
auf „exakte“ Weise (d.h., sofern man bei Berücksichtigung von Rechenungenauigkeiten und Rundungen von „exakt“
sprechen mag) bestimmen. Ist die Normalapproximation der Binomialverteilung damit ein obsoletes Thema im Mathematikunterricht? Keineswegs! Nicht nur bei Verfolgung des genetischen didaktischen Prinzips bietet die Aufgabenstellung von de Moivre weiterhin interessante Anregungen, denn die Beobachtungen zur Konvergenz, die sich im Mikrokosmos Binomialverteilungsfamilie machen lassen, gelten auch allgemein: Je symmetrischer die Ausgangsverteilung
(z.B. Binomialverteilung mit p=0,5), desto besser die Approximation durch die Normalverteilung. Bei sehr schiefen
Ausgangsverteilungen (z.B. Binomialverteilung mit sehr kleinem oder sehr großem p) eignet sich die Normalapproximation nur bei sehr großen Stichproben. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der für die Konvergenzeigenschaften relevant
ist, kann allerdings nicht durch Binomialverteilungen beschrieben werden, nämlich die Problematik von Ausgangsverteilungen mit „langen Verteilungsschwänzen“ oder „breiten Schultern“, wie zum Beispiel t-Verteilungen mit kleinen
Freiheitsgraden (und speziell die Cauchy-Verteilung). Wenn die obigen Aspekte aber verstanden wurden, dann ist es ein
leichtes für Schüler und Schülerinnen, im R Code die Binomialverteilung durch beliebige andere Verteilungen zu ersetzen, und die zu beobachtenden Ergebnisse bieten interessanten Diskussionsstoff. Die Durchdringung des Themas kann
durch den Softwareeinsatz hier auf eine ganz andere Ebene der Analyse und Interpretation gehoben werden und gerade
dadurch erhält es auch wieder Praxisrelevanz. Was zusätzlich durch die Verwendung von R möglich ist, und auch die
Tiefe des thematischen Verständnisses deutlich erhöht, ist die Möglichkeit, die Qualität der Approximationen durch
Normal- und Poissonverteilung, mit oder ohne Verwendung der „Stetigkeitskorrektur“, schnell selbst zu prüfen und
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
damit ein Gefühl für die Bedeutung der klassischen Konvergenzaussagen zu bekommen. Gerade dadurch gewinnen
diese zentralen Ergebnisse der Statistik sogar noch an Faszination, denn es ist sicher zunächst verblüffend, wie gut sich
mit den vergleichsweise kompakten Formeln der Grenzverteilungen doch auf den ersten Blick recht komplizierte Wahrscheinlichkeiten näherungsweise bestimmen lassen. Wer die Stärke der stochastischen Grenzwertsätze einmal verstanden hat, kann auch ein zumindest grundlegendes Verständnis dafür entwickeln, wann und wo diese sich besser oder
schlechter auf komplexere Situationen übertragen lassen.
Statistik
Das Arbeiten mit Modellen und Statistiken ist bereits Lehrstoff der 8. Schulstufe. Vorgeschrieben wird das Untersuchen
und das Darstellen von Datenmengen unter Verwendung statistischer Kennzahlen (z.B. Mittelwert, Median, Quartil,
relative Häufigkeit, Streudiagramm) (Bmukk, 2004). In der 10. Schulstufe ist das Arbeiten mit Darstellungsformen und
Kennzahlen der beschreibenden Statistik vorgesehen. In der 12. Schulstufe steht das Kennen und Interpretieren von
statistischen Hypothesentests und von Konfidenzintervallen im Lehrplan (Bmukk, 2004).
R eignet sich besonders gut für die Ermittlung statistischer Kennzahlen und die Darstellung mathematischer Sachverhalte. Auch die Berechnung von Konfidenzintervallen erfolgt sehr schnell, wodurch das Hauptaugenmerk von der Berechnung statistischer Kennzahlen auf die Interpretation der Ergebnisse gelegt werden kann. In der nachfolgenden Tabelle 4 sind die für die Schule wichtigsten statistischen Funktionen in R dargestellt.
Tab. 4: Wichtige statistische Funktionen in R (für die Schule)
R-Syntax
sum(Vektor)
mean(Vektor)
median(Vektor)
sort(Vektor)
quantile(Vektor, prob= )
sd(Vektor)
var(Vektor)
summary(Objekt)
Beschreibung
Summe aller Werte
arithmetisches Mittel
Median
Sortierung der Werte
Quantile
Standardabweichung
Varianz
Fünf-Zahlen-Zusammenfassung. Maximum, Oberes Quartil, Median, Unteres Quartil, Minimum.
Konfidenzintervalle
Die
Berechnung
von
Konfidenzintervallen
bei
Anteilsschätzungen in R erfolgt durch den Befehl
prop.test(p,n,correct=F, conf.level= 1-𝛼), welcher auch für Hypothesentests eingesetzt wird. In dem
folgenden Beispiel ist das Konfidenzintervall gesucht, allerdings wird von den Schülern und Schülerinnen die Interpretation des Ergebnisses nicht verlangt, was vermutlich an der ohne Computer zeitintensiven Berechnung von Konfidenzintervallen liegt. Durch den Einsatz der Software kann sehr viel Rechenzeit eingespart werden und auf die Interpretation und Bedeutung von Konfidenzintervallen eingegangen werden.
Beispiel: Vor einer Wahl werden n=500 Wahlberechtigte befragt; 120 davon sprachen sich für die Partei A aus. Wie viel Prozent wird die Partei A daher bei der Wahl voraussichtlich erhalten? Besser formuliert: Gib ein 95%-Vertrauensintervall an für
den Anteil der A-Wähler in der Menge aller Wahlberechtigten! (Götz, Reichel, Müller, & Hanisch, 2007)
Die Lösung kann in R mit einer Zeile Programmcode erhalten werden.
> prop.test(120,500,correct=F)
1-sample proportions test without continuity correction
data: 120 out of 500, null probability 0.5
X-squared = 135.2, df = 1, p-value < 2.2e-16
alternative hypothesis: true p is not equal to 0.5
95 percent confidence interval:
0.2046379 0.2793268
sample estimates:
p
0.24
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Fazit
Der Einsatz von R in der Schule ist auf verschiedene Arten möglich. Einerseits kann man Schüler und Schülerinnen
selbstständig damit arbeiten lassen, dies könnte beispielsweise in Gruppenarbeiten während der Stunde oder bei Hausübungen geschehen. Andererseits kann man die Software als Hilfsmittel für die Demonstration von probabilistischen
und statistischen Sachverhalten und für die effektive und zeitgemäße Erstellung graphischer und numerischer Beschreibungen von Datensätzen nutzen. Die Verwendung von R ist zudem bei verschiedenen Berechnungen als Rechenhilfe,
als Kontrolle der Ergebnisse, oder zur Verallgemeinerung üblicher Fragestellungen (z.B. unter Verwendung einfacher
Simulationsprogramme) sehr gut geeignet. Sofern die Lehrperson über die notwendigen Grundkenntnisse verfügt, kann
R dazu genutzt werden, den Unterricht von einer großteils operativen Ebene auf höhere Kompetenzdimensionen der
Interpretation und kritischen Beurteilung zu heben. Die Möglichkeiten des Einsatzes sind somit sehr breit und je nach
Themengebiet oder Alter der Schüler und Schülerinnen bieten sich zahlreiche Möglichkeiten der verständnisfördenden
Nutzung. Außer Frage steht, dass sich R als Ergänzung im Unterricht eignet. Allerdings ist hierfür eine gewisse Einarbeitungszeit in das Programm notwendig, was sicherlich manchen Lehrenden davon abgehalten hat, R und die mit dieser kostenlosen statistischen Softwareumgebung verbundenen Möglichkeiten zu nutzen. Hier könnte Abhilfe geschaffen
werden, indem beispielsweise im Rahmen von Fortbildungen Workshops angeboten werden, in welchen die Thematik
aufgegriffen wird und Schulungen in R stattfinden können. Eine weitere Möglichkeit, den Einsatz von R in der Schule
zu fördern, wäre die Verfassung einer Beispielsammlung für den Einsatz in der Schule, oder die Integration der Software in Schulbüchern. Wird die Software bereits im Studium von angehenden Lehrerinnen und Lehrern erlernt, ist die
Bereitschaft diese in der Schule einzusetzen sicherlich höher. Daher sollte besonders in der Lehramtsausbildung ein
größerer Wert auf die Vermittlung von Kenntnissen der Software gelegt werden. Schlussendlich liegt es an der Lehrperson selbst, ob und wenn ja welche Software im Unterricht eingesetzt wird. Ausschlaggebend sind natürlich Motivation
und die Freude am Umgang mit verschiedenen Softwarepaketen und sicher auch die Zeit, sich in die Funktionsweise
eines neuen Programmes einzuarbeiten. Bei R lohnt es sich.
Literatur
Bmukk (2004): Lehrplan Mathematik Unterstufe. <https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_ahs_unterstufe.html> [Zuletzt
aufgerufen am 03.11.2013].
Bmukk (2004): Lehrplan Mathematik Oberstufe. <https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_ahs_oberstufe.html> [Zuletzt
aufgerufen am 25.09.2013].
Bosch, K. (2010): Elementare Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wiesbaden: Vieweg+Teubner.
Götz S., Reichel, H.Chr.,Müller, R. & Hanisch, G. (2007): Mathematik Lehrbuch 8. Wien: öbvhpt.
Kütting, H. & Sauer, J. (2011): Elementare Stochastik. Mathematische Grundlagen und didaktische Konzepte. Berlin Heidelberg:
Springer.
Wollschläger, D. (2012): Grundlagen der Datenanalyse mit R. Eine anwendungsorientierte Einführung. Berlin Heidelberg: Springer.
Adresse der AutorInnen:
Sanda Gavric,
Fachbereich Mathematik
Universität Salzburg
Hellbrunner Str. 34
5020 Salzburg
Österreich
[email protected]
Arne C. Bathke
Fachbereich Mathematik
Universität Salzburg
Hellbrunner Str. 34
5020 Salzburg
Österreich
[email protected]
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Wodurch wird das Raumvorstellungsvermögen gefördert?
SketchUp, Skateboard oder Skulpturen?
Matthias Hirsch, Günter Maresch
Zusammenfassung. Seit etwa 100 Jahren beschäftigen sich zahlreiche Untersuchungen mit dem Raumvorstellungsvermögen und geben
Einblick in die unterschiedlichsten Bereiche dieser Intelligenzfacette. In diesem Beitrag wird die Frage des Einflusses von Sport, spezifischen (Freizeit-)Aktivitäten und der Computernutzung von SchülerInnen der Sekundarstufe I auf das Raumvorstellungsvermögen
erörtert.
Wirkt sich die Ausübung einer Sportart oder das Beschäftigen mit speziellen Spielen bzw. das Arbeiten mit ausgewählten Computerprogrammen auf die Raumvorstellung aus? Fördert etwa Basteln oder Modellbauen das räumliche Vorstellungsvermögen? Die in zwei
Testreihen von 903 SchülerInnen aus 46 Klassen erhobenen Daten des Forschungsprojektes GeodiKon ermöglichten Detailuntersuchungen im Rahmen einer Diplomarbeit mit dem Titel „Wer denkt räumlicher? Zocker oder Sportler?“ (Hirsch, 2015). Das Raumvorstellungsvermögen von SchülerInnen, die spezielle Sportarten betreiben und anderen ausgewählten Freizeitbeschäftigungen nachgehen
bzw. die auf digitalen Geräten (PC, Tablet, Smartphone) spielen und spezielle Programme verwenden, wurden dabei auf positive oder
negative Zusammenhänge mit den Ergebnissen bei den Tests untersucht. Um mögliche Zusammenhänge zu erkennen wurde vor allem
deskriptiv – unter anderem graphisch und mit der Rangkorrelation nach Spearman (Spearman, 1904) – gearbeitet.
Des Weiteren werden weitere gendersensitive Untersuchungsergebnisse der Studie präsentiert, die sich mit der Frage nach den unterschiedlichen grundsätzlichen Stärken des Raumvorstellungsvermögens von Mädchen und Burschen beschäftigen und das nach Geschlecht unterschiedliche Steigerungspotential bei den einzelnen Faktoren der Raumvorstellung erörtern.
Einleitung
Viele Studien der vergangen Jahre zeigten, dass Sport nicht nur die physische, sondern auch die psychische Leistungsfähigkeit steigern kann. Eine Untersuchung von Amika Singh (Singh, 2012) wies einen signifikanten positiven Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und akademischer Leistung nach. So stellt sich die Frage, ob Jugendliche durch
Sport selektiv differenzierte Bereiche der Intelligenz fördern und verbessern. Und konkret: Kann durch das Ausüben
spezieller Sportarten die Raumvorstellung verbessert werden?
Mithilfe der Daten aus dem Projekt GeodiKon wurde deshalb im Rahmen der Diplomarbeit versucht, Erkenntnisse in
Bezug auf mögliche Zusammenhänge zwischen Sport bzw. Freizeitaktivitäten und der Raumvorstellung zu gewinnen.
Weiters wurde ein möglicher Zusammenhang von ausgewählten Gruppen von Computerspielen und Computerprogrammen auf die Raumvorstellung untersucht.
Zu diesem Zweck lauteten die zentralen Fragestellungen der Untersuchung:
 Wirken sich Sport und spezielle Freizeitgestaltung auf die Raumvorstellung aus?
 Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Benützung von ausgewählten Computerprogrammen und dem Raumvorstellungsvermögen?
 Beeinflussen Computerspiele das räumliche Denken?
Ziele der GeodiKon-Studie
Das Forschungsprojekt GeodiKon des Unterrichtsministeriums und der Pädagogischen Hochschule Salzburg beschäftigte
sich mit dem Thema Raumvorstellung. Neben dem Einfluss des Trainings der Faktoren der Raumintelligenz wurde das
Bewusstmachen von unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben untersucht
(Maresch, 2015). Ziel war es, neue Erkenntnisse über das Raumvorstellungsvermögen zu finden und darüber hinaus spezifische Lernmaterialien (Maresch, Müller, und Scheiber, 2014) zu entwickeln, die die Raumvorstellung fördern.
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Wissenschaftliche Basis der Studie
Das Projekt GeodiKon verwendet das 4-Faktoren-Modell von Maresch, welches das 5-Faktoren-Modell von Maier (Maier
1994) als Grundlage heranzieht – allerdings ohne die sehr spezifische Fähigkeit der räumlichen Wahrnehmung (Maresch,
2015). Diese wird hier, wie unter anderem bei Thurstone (1950), als Teil des Faktors Räumliche Orientierung verortet.
Somit bilden die folgenden vier Faktoren das faktorielle Modell des Raumvorstellungsvermögens für GeodiKon:
 Veranschaulichung/Räumliche Visualisierung
 Räumliche Beziehungen
 Mentale Rotation
 Räumliche Orientierung
Das zweite wissenschaftliche Fundament der Studie stellt das Modell der „Vier Strategiepaare zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben“ (Holistische/ganzheitliche Strategie – Analytische Strategie; Räumliches Denken – Flächendenken;
Objekte werden bewegt – BearbeiterIn bewegt sich und Verifizierende Strategie – Falsifizierende Strategie). Eine eingehende Argumentation dieser beiden Modelle kann aus Maresch (2014) entnommen werden.
Abb. 1: Das Modell der „Vier Strategiepaare zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben“ (Maresch, 2014)
Das 4-Faktoren-Modell des Raumvorstellungsvermögens diente als relevante Basis für die Auswertungen im Rahmen der
Diplomarbeit. Da unterschiedliche Strategien in der Diplomarbeit keinen relevanten Untersuchungsgegenstand darstellten, wurde das Modell der „Vier Strategiepaare zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben“ im Weiteren nicht benötigt.
Testdesign
Zur Teilnahme an der Studie wurde öffentlich über einen Geometrienewsletter eingeladen, der mehrmals jährlich an mehr
als 2.000 interessierte Lehrende per Mail versendet wird. Die Anzahl der teilnehmenden SchülerInnen betrug 903, wobei
diese aus den Schularten Hauptschule (HS), Neue Mittelschule (NMS) und Allgemein Bildende Höhere Schule (AHS)
der drei Bundesländer Niederösterreich, Steiermark und Salzburg kamen und ein Alter von 12 bis 14 Jahren hatten.
Die Studie wurde im Pretest-Posttest Design durchgeführt. Sämtliche SchülerInnen erhielten in der ersten Phase einen
Pretest zum Raumvorstellungvermögen. Darauf schloss eine Phase von 12 Wochen an, in der mit dem entwickeltem
Lernmaterial gezielt das Raumvorstellungsvermögen verbessert werden sollte und unterschiedliche Strategien zur Lösung
von Raumvorstellungsaufgaben den SchülerInnen bewusst gemacht wurden. Dazu gab es eine Aufteilung in drei Treatmentgruppen (A, B, C) und eine Kontrollgruppe (D), wobei die Zuteilung zu den Gruppen klassenweise erfolgte.
 Gruppe A
Die Personen dieser Gruppe erhielten in der 12-wöchigen Interventionsphase Informationen über verschiedene Strategien
zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben (Maresch, 2014) und arbeiteten im Rahmen des Unterrichts wöchentlich zwischen 25 und 35 Minuten mit den Lernmaterialien, die entwickelt wurden.
 Gruppe B
Lernende der Gruppe B arbeiteten wöchentlich für 25 bis 35 Minuten mit den entwickelten Lernmaterialien, erhielten
aber keine zusätzlichen Informationen zu Strategien für die Lösung von Raumvorstellungsaufgaben.
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
 Gruppe C
In diesen Klassen stand der Gegenstand „Geometrisches Zeichnen“ auf dem Stundenplan, der dabei im Allgemeinen für
ein (in Ausnahmen auch für zwei) Unterrichtsstunde(n) angeboten wurde. Dabei wurde mit den gewohnten Unterrichtsmaterialien gearbeitet. Es gab keine weiteren speziellen Lernmaterialien oder gar Infos zu Strategien.
 Gruppe D (Kontrollgruppe)
Diese Gruppe erhielt weder einen Unterricht in geometrischem Zeichnen noch spezielle Lernmaterialien oder Strategieinformationen.
Aufbau des Tests
Den Kern des Pre- und des Posttests bildeten vier Test zum Raumvorstellungsvermögen. Dies waren der Dreidimensionale Würfeltest (3DW-Test) (Gittler, 1984), der Differential Aptitude Test (DAT) (Bennett, Seashore, & Wesman. 1973),
der Mental Rotation Test (MRT) (Peters et. al., 1995) und der Spatial Orientation Test (SOT) (Hegarty & Waller, 2004).
Zusätzlich gab es Fragebögen zu den Bereichen Bearbeitungsstrategien der Aufgaben, Informationen über Geschlecht
und Alter, Schulnoten des vergangenen Schuljahres in Mathematik, Deutsch und Englisch, Lerntyp, Computererfahrung
und -interessen, Sport und speziellen Freizeitaktivitäten.
Raumvorstellungstests
3DW-Test (Dreidimensionaler Würfeltest)
Bei diesem Test (Abb 2.) gilt es zu überprüfen, ob einer der Würfel A bis F identisch zum Würfel X ist. Zusätzlich gibt
es noch die Möglichkeiten G und H, die „kein Würfel ist richtig“ und „ich weiß nicht“ darstellen, zu wählen. Gittlers Test
ist so konstruiert, dass jedes Muster einer Seitenfläche eines Würfels nur einmal vorkommt, d.h. dass jede Seitenfläche
der Würfel jeweils ein anderes Muster trägt.
Abb. 2: Ein 3DW-Test (Gittler, 1984)
DAT (Differential Aptitude Test: Space Relations)
Bei Aufgaben des Typs DAT gibt es eine Faltvorlage mit Schattierungen oder Mustern. Diese Faltvorlage muss einer der
vier dreidimensionalen Figuren A, B, C oder D zugewiesen werden (Abb. 3). Bei jeder Aufgabe ist genau eine Lösung
korrekt. Der Test beinhaltet 15 Aufgaben, die in einer Testzeit von acht Minuten zu bearbeiten sind.
Abb. 3: Eine Musteraufgabe aus dem DAT-Test (Bennett, Seashore, und Wesman, 1973)
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
MRT (Mental Rotation Test)
Bei diesem Test (Abb. 4) wird vor allem der Faktor Mentale Rotation adressiert. Die Angabe ist jeweils die linke Abbildung, wobei genau zwei der vier Objekte rechts daneben identisch zur Angabe sind. Durch mentale Rotation der Objekte
sollen diese identifiziert werden. Ein Beispiel gilt als korrekt gelöst, wenn beide Lösungsobjekte markiert wurden. Nur
in diesem Fall wurde ein Punkt vergeben. Wurde also bei einem Beispiel ein Objekt korrekt und eines falsch zugewiesen,
so gab es null Punkte für die jeweilige Aufgabe. Der Test besteht aus 24 Aufgaben mit einer Bearbeitungszeit von sechs
Minuten.
Abb. 4: Ein typisches Beispiel aus dem MRT-Test (Peters et. al., 1995)
SOT (Spatial Orientation Test)
Dieser Test spricht die Fähigkeit an, sich im Raum zu orientieren. Jede Aufgabe hat das gleiche Bild als Ausgangssituation. Die Personen müssen sich mental zu einem Objekt laut jeweiliger Aufgabe in die Szene versetzen und sich vorstellen
von diesem Objekt aus zu einem anderen zu blicken. Von dieser Position aus blicken sie zu einem dritten Objekt und
bestimmen dabei den Winkel um den sie die Blickachse ändern. Dieser Winkel wird in einem Kreis eingezeichnet (siehe
Abb. 5).
Da hier die Abweichung vom tatsächlichen Winkel gemessen wird, stellt in diesem Fall eine geringere Abweichung ein
besseres Ergebnis dar. Das heißt, dass bei vermehrter Ausübung einer Tätigkeit es wünschenswert ist, dass die Abweichung zum tatsächlichen Winkel geringer wird.
Abb. 5: Ein Musterbeispiel aus dem SOT-Test (Hegarty und Waller, 2004)
Bearbeitung und Auswertung
Die Auswertung der Daten erfolgt mit der Statistik Freeware R (www.r-project.org). Da das Ziel der Arbeit das Aufzeigen
eines möglichen Zusammenhanges zweier Merkmale darstellte, wurde in erster Linie mit der Korrelationsrechnung und
dem p-Test gearbeitet. Da die Daten hauptsächlich ordinalskaliert waren, wurde Spearmans Rho verwendet. Um nicht
repräsentative oder gar verzerrende Verteilungen zu vermeiden, stellte als zusätzliche Kontrolle auch das Streudiagramm
eine wichtige Auswertungshilfe dar.
Jene Aktivitäten, die signifikante Zusammenhänge mit dem Raumvorstellungsvermögen aufwiesen (Signifikanzniveau
0,05), werden nachstehend erläutert.
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Gendersensitive Ergebnisse der Diplomarbeit
Die Fragebögen erhoben von den SchülerInnen, ob und in welcher Häufigkeit die nachstehenden in 25 Gruppen zusammengefassten Sportarten bzw. Freizeitaktivitäten ausgeübt werden. Die Beistriche innerhalb der Gruppen sind als „oder“
(und nicht als „und“) zu interpretieren: (1) Tennis, Squash, Badminton, Tischtennis; (2) Fußball, Streetsoccer, Eishockey,
Landhockey; (3) Basketball, Handball, Volleyball, Beachvolleyball; (4) Kegeln, Bowling, Boccia, Boule, Golf, Minigolf;
(5) Surfen, Segeln; (6) Rudern, Kanufahren, Rafting; (7) Schwimmen, Tauchen, Schnorcheln; (8) Klettern, Bouldern; (9)
Wandern, Laufen, Joggen; (10) Skifahren, Snowboarden, Rodeln; (11) Radfahren, Skateboarden, Rollerbladen; (12)
Tanzsport; (13) Kampfsportarten; (14) Gymnastik, Geräteturnen, Leichtathletik, Tanzen; (15) Modellieren, Bildhauerei,
Töpfern; (16) Technisches Zeichnen, Pläne zeichnen; (17) Basteln, Designen (z.B. Kleidung, Möbel); (18) Reparieren
(z.B. Geräte, Autos), Elektrobasteln, Heimwerken; (19) Modellbau (Autos, Eisenbahn, Flugzeug, …); (20) Nähen,
Schneidern; (21) Möbel arrangieren, Innenräume dekorieren; (22) Billard; (23) Jonglieren; (24) Konstruktionsspielzeug
(Lego, Geomag, …) und (25) Puzzles.
Zusätzlich wurde untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Verwendung spezifischer digitaler Software (in
vier Gruppen eingeteilt) und dem Raumvorstellungsvermögen gibt: (1) Computerspiele, die Navigation oder Orientierung
in einer Umgebung erfordern (z.B. 3D-Shooter, Flugsimulatoren, Autorennen, Adventure Spiele); (2) Computerspiele,
die eine räumliche Manipulation von Objekten erfordern (Geschicklichkeits- oder Sportspiele, Tetris, Crazy Factory,
Blockout,…); (3) Computerspiele ohne räumliche Inhalte (Wirtschaftssimulationen, Fun- und Gesellschaftsspiele, Manager, Quizspiele, Kartenspiele,…) und (4) Konstruktions-, Design-, Geometrieunterrichtssoftware (z.B. Google
SketchUp, CAD, CAD-3D, GAM, MicroStation).
Die nachfolgende geschlechtersensitive Darstellung der Ergebnisse geht ausschließlich auf signifikante Zusammenhänge
ein.
Burschen
Technisches Zeichnen
Burschen, die sich vermehrt mit technischem Zeichnen beschäftigen, weisen in allen Bereichen dieser Studie
signifikant bessere Werte auf (Tabelle 1). So ergibt sich hier für alle vier Tests (3DW, DAT, MRT und SOT)
eine signifikante Steigerung der Leistung mit vermehrter Ausübung der Tätigkeit.
Tabelle 1: Auflistung Anzahl N der Burschen, Korrelation und p-Wert für technisches Zeichnen
technisches Zeichnen
N

p-Wert
3DW-Pretest
386 0,134 0,0084
3DW-Posttest
393
0,11
0,029
MRT-Pretest
395
0,17
0,026
MRT-Posttest
394
0,18
0,004
DAT-Pretest
395
0,11
0,0009
DAT-Posttest
394
0,14
0,0003
SOT-Pretest
391 -0,129
0,01
SOT-Posttest
394 -0,08
0,112
Modellbau
Durch Modellbau lassen sich den Tests nach vor allem die Mentale Rotation (MRT) und die Räumlichen Beziehungen (DAT) verbessern. So erzielten jene Burschen, die diese Tätigkeit vermehrt ausüben, in diesen Bereichen signifikant bessere Ergebnisse (Tabelle 2).
30
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Tabelle 2: Auflistung Anzahl N der Burschen, Korrelation und p-Wert für Modellbau
Modellbau
3DW-Pretest

N
p-Wert
385 0,0479 0,3482
3DW-Posttest 393 0,027
0,5964
MRT-Pretest
0,013
394 0,125
MRT-Posttest 393 0,167 0,00085
DAT-Pretest
394 0,078
DAT-Posttest 393
SOT-Pretest
0,119
0,14
0,005
390 -0,037
0,464
SOT-Posttest 393 -0,045
0,368
Konstruktionsspielzeug (Lego, Geomag,…)
Für diese Tätigkeit ergeben sich bei allen vier Tests signifikante Werte. Allerdings liegen beim DAT und beim
SOT nur für den Posttest signifikante Werte, wohingegen für den Pretest der p-Wert jeweils weit jenseits des
Signifikanzniveaus von 0,05 liegt (Tabelle 3).
Tabelle 3: Auflistung Anzahl N der Burschen, Korrelation und p-Wert für Spielen mit Konstruktionsspielzeug
N

3DW-Pretest
385
0,109
0,032
3DW-Posttest
393
0,103
0,04
MRT-Pretest
394
0,117
0,02
MRT-Posttest
393
0,149
0,003
DAT-Pretest
394
0,043
0,39
DAT-Posttest
393
0,15
0,0022
SOT-Pretest
390
-0,07
0,16
SOT-Posttest
393
-0,12
0,01
Konstruktionsspielzeug
p-Wert
Mädchen
Konstruktionsspielzeug (Lego, Geomag,…)
Auch Mädchen verbessern sich bei Ausübung dieser Tätigkeit positiv in einigen Bereichen der Raumvorstellung (Tabelle 4). Anders als bei den Burschen schneiden Mädchen hier signifikant besser beim DAT-Test und
beim 3DW-Posttest ab.
Tabelle 4: Auflistung Anzahl N der Mädchen, Korrelation und p-Wert für Spielen mit Konstruktionsspielzeug
Konstruktionsspielzeug
N

p-Wert
3DW-Pretest
339 0,079
3DW-Posttest
344 0,155 0,0038
MRT-Pretest
348 0,076
0,159
MRT-Posttest
346
0,454
DAT-Pretest
348 0,176 0,0009
DAT-Posttest
346 0,169 0,0015
SOT-Pretest
342 -0,045
SOT-Posttest
346 -0,039 0,469
31
0,04
0,143
0,39
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Puzzles
Auch durch Puzzle bauen lassen sich einige Bereiche der Raumvorstellung trainieren. So weisen Mädchen (im
Vergleich zu anderen Mädchen), die diese Tätigkeit ausüben, bessere Ergebnisse in den Bereichen Räumliche
Beziehungen, Veranschaulichung und teilweise auch Mentale Rotation auf. Die Verbesserungen zeigen sich
anhand signifikanter Werte in den Tests 3DW, DAT und MRT-Posttest (Tabelle 5).
Tabelle 5: Auflistung Anzahl N der Mädchen, Korrelation und p-Wert für Puzzle bauen
Puzzles
3DW-Pretest
N

p-Wert
337
0,11
0,043
3DW-Posttest 343 0,185 0,0006
MRT-Pretest
347 0,0869 0,106
MRT-Posttest 345 0,129
0,016
DAT-Pretest
0,0051
347
0,15
DAT-Posttest 345 0,193 0,0003
SOT-Pretest
341 -0,088
SOT-Posttest 345 -0,103
0,1
0,054
3DW-Posttest
MRT-Pretest
MRT-Posttest
DAT-Pretest
DAT-Posttest
SOT-Pretest
o
o
o
o
o
o
o
SOT-Posttest
3DW-Pretest
Tabelle 6: Zusammenfassung des Auftretens signifikanter Zusammenhänge (gelbe Zellen)
Burschen
Technisches Zeichnen
Modellbau
Konstruktionsspielzeug
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
Mädchen
Konstruktionsspielzeug
Puzzles
o
o
o
o
Weitere gendersensitive Ergebnisse der Studie
Detailauswertungen der Daten der Studie hinsichtlich der beiden Geschlechter in jenen Testgruppen, die mit den Lernmaterialien gearbeitet haben, lassen sehr deutlich erkennen, dass Mädchen und Burschen unterschiedliche grundsätzliche
Stärken hinsichtlich des Raumvorstellungsvermögens haben. Burschen weisen in den drei Bereichen Visualisierung/räumliche Veranschaulichung (getestet durch den 3DW-Test (Gittler, 1984)), mentale Rotation (getestet durch den
MRT (Peters et al., 1995)) und räumliche Orientierung (getestet durch den SOT (Hegarty & Waller, 2004)) größere
grundsätzliche Stärken auf. Der Bereich räumliche Beziehungen (getestet durch den DAT (Bennett, Seashore, & Wesman,
1973)) ist geschlechterneutral, d.h. Burschen und Mädchen arbeiten in diesem Bereich gleich erfolgreich (Abb. 6).
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Heft Nr. 06, 2015
Abb. 6: Geschlechterspezifische Stärken bei den vier Faktoren der Raumintelligenz
Die Detailauswertungen hinsichtlich der beiden Geschlechter in jenen Testgruppen, die mit den Lernmaterialien gearbeitet haben, zeigen sehr deutlich auf, dass Mädchen und Burschen unterschiedliches Steigerungspotential hinsichtlich des
Raumvorstellungsvermögens haben. Mädchen steigern sich wesentlich mehr als Burschen, wenn es um Visualisierung/räumliche Veranschaulichung geht, ebenso im Bereich der räumlichen Beziehungen. Auch bei der mentalen Rotation zeigt sich der gleiche Trend: Mädchen weisen eine größere Leistungsverbesserung auf als Burschen. Im Bereich
räumliche Orientierung steigern sich hingegen Burschen deutlich mehr als Mädchen (Abb. 7).
Abb. 7: Geschlechterspezifische Leistungssteigerungen bei den vier Faktoren der Raumintelligenz
Für den Unterricht empfiehlt sich daher eine ausgewogene und geschlechtersensitive Schulung aller vier Faktoren des
Raumvorstellungsvermögens (Visualisierung/Räumliche Veranschaulichung, Räumliche Beziehungen, Mentale Rotation
und Räumliche Orientierung), um beide Geschlechter in gleichem Maße zu fordern und zu fördern.
Fazit
Wodurch wird das Raumvorstellungsvermögen gefördert? Durch das Arbeiten mit dem Programm SketchUp (als Beispiel
für Konstruktionssoftware), durch Skateboardfahren (als Beispiel für diverse Sportarten) oder durch das Gestalten von
Skulpturen (als Beispiel für weitere ausgewählte Freizeitaktivitäten)? Die Analysen im Rahmen der Diplomarbeit „Wer
denkt räumlicher? Zocker oder Sportler?“ (Hirsch 2015) gehen dieser Frage nach und beantworten sie differenziert.
Es zeigen sich weder bei den Burschen noch bei den Mädchen signifikante Zusammenhänge in den Bereichen Sport oder
Computernutzung. Interessante Werte zeigen sich jedoch bei den Tätigkeiten, die außerhalb des sportlichen und digitalen
Bereichs der Erhebung liegen. So ergab sich aus den Untersuchungen, dass Burschen, die technisches Zeichnen ausführen,
die Modellbau betreiben und/oder sich mit Konstruktionsspielzeug beschäftigen, ein signifikant besseres Raumvorstellungsvermögen aufweisen als gleichaltrige Schüler. Mädchen sprechen auf Puzzles an und ebenso wie Burschen auf Konstruktionsspielzeug. Sehr interessant ist dabei der Bereich Konstruktionsspielzeug. Wie erwähnt, ergeben sich dabei bei
beiden Geschlechtern positive Zusammenhänge bei einzelnen Tests.
Es zeigt sich allerdings auch hier eine Divergenz von Burschen und Mädchen. Die Burschen zeigen verbesserte Werte
bei den drei Tests DAT, MRT und SOT, die Mädchen beim 3DW-Test und beim DAT.
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Zusammenfassung: Aus den Untersuchungen im Rahmen der Diplomarbeit geht hervor, dass es keine Hinweise darauf
gibt, dass Jugendliche durch die Ausübung einer Sportart, durch das Arbeiten/Spielen mit spezieller Software auf digitalen
Geräten (Tablets, Laptops,…) eine relevante Förderung des Raumvorstellungsvermögens erfahren. Eine sogenannte
„Zauberformel“ für den Sport- und den Technologieunterricht zur Verbesserung des Raumvorstellungsvermögens kann
durch diese Untersuchungen daher nicht abgeleitet werden.
Weitere geschlechterspezifische Detailuntersuchungen zeigen, dass Mädchen und Burschen derjenigen Treatmentgruppen, die mit den Lernmaterialien gearbeitet haben, unterschiedliche grundsätzliche Stärken beim Raumvorstellungsvermögen mitbringen und dass sie wiederum anders gelagertes Steigerungspotential im Bereich der Raumintelligenz aufweisen. Burschen haben größere grundsätzliche Stärken bei den drei Faktoren „Visualisierung/räumliche Veranschaulichung“, „Mentale Rotation“ und „Räumliche Orientierung“. Der Faktor „Räumliche Beziehungen“ erweist sich hinsichtlich der grundsätzlichen Stärken als genderneutral. Nach der Durchführung der Posttests wurde das Steigerungspotential
von Mädchen und Burschen als Differenz der Leistungen Posttest und Pretest ausgewertet. Es zeigt sich, dass Mädchen
ein deutlich höheres Steigerungspotential des Raumvorstellungsvermögens bei den drei Faktoren „Visualisierung/räumliche Veranschaulichung“, „Räumliche Beziehungen“ und „Mentale Rotation“ haben. Lediglich beim Faktor „Räumliche
Orientierung“ weisen Burschen ein größeres Steigerungspotential auf. Diese Beobachtungen könnten darauf hindeuten,
dass sich bei der hinsichtlich der Geschlechter differenzierten Betrachtung der Entwicklungspotentiale der Faktoren nur
beim Faktor „Räumliche Orientierung“ die männlichen Individuen besser entwickeln. Bei den weiteren drei Faktoren
gleichen sich mit Fortdauer der Förderung die unterschiedlichen grundsätzlich Stärken und das unterschiedliche Steigerungspotential aus. Diese Vermutungen werden gestützt von Forschungsergebnissen von Glück (Glück, Kaufmann, Duenser, & Steinbuegl, 2005) und Hosenfeld (Hosenfeld, Strauss, & Köller, 1997).
Aus den Analysen der GeodiKon-Detailuntersuchungen und der Diplomarbeit können klare Empfehlungen vor allem für
den Mathematik- und Geometrieunterricht in der Sekundarstufe I formuliert werden. Die Ergebnisse sind darüber hinaus
für alle Gegenstände, die sich mit räumlichen Strukturen (wie z.B. Geographie, Werken, Bildnerische Erziehung und
Informatik) beschäftigen relevant. Aus den Untersuchungen geht hervor, dass sowohl Burschen als auch Mädchen, die
vermehrt haptischen Tätigkeiten – wie Modellbau, Konstruktionsspielzeug (Lego, Geomag o. ä.) spielen oder Puzzle
bauen – nachgehen, über ein signifikant besseres Raumvorstellungsvermögen verfügen.
Abb. 8: Aktivitäten, die ein signifikant besseres Raumvorstellungsvermögen bewirken
Die geschlechtsspezifische Betrachtung (Abb. 8) zeigt, dass Burschen vor allem von der Tätigkeit des Technischen Zeichnens, vom Modellbau und von Konstruktionsspielzeugen profitieren. Mädchen hingegen verfügen über ein signifikant
höheres Raumvorstellungsvermögen als gleichaltrige Schülerinnen, wenn sie sich mit Puzzle bauen und Konstruktionsspielzeugen beschäftigen. Die Momentaufnahme, die durch das Projekt GeodiKon in den Jahren 2013 und 2014 gemacht
wurde und die unter anderem in der Diplomarbeit eingehender untersucht wurde, gibt deutliche Hinweise darauf, dass die
Beschäftigung mit haptischen Materialien im Unterricht in einem hohen Maße förderlich für die Entwicklung und Steigerung des Raumvorstellungsvermögens ist. Zudem kann die Empfehlung formuliert werden, eine ausgewogene und geschlechtersensitive Schulung aller vier Faktoren des Raumvorstellungsvermögens (Visualisierung/Räumliche Veranschaulichung, Räumliche Beziehungen, Mentale Rotation und Räumliche Orientierung), um beide Geschlechter im gleichen Maße zu fordern und zu fördern.
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Literatur
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Corporation.
Gittler, G. (1984). Entwicklung und Erprobung eines neuen Testinstruments zur Messung des räumlichen Vorstellungsvermögens. In
Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 2, 141–165.
Glück, J., Kaufmann, H., Duenser, A., Steinbuegl, K. (2005). Geometrie und Raumvorstellung – Psychologische Perspektiven. In
Informationsblätter der Geometrie (IBDG) 24/1, 4-11.
Hegarty, M. & Waller, D. (2004). A Dissocitation between Mental Rotation and Perspective-taking Spatial Abilities. In Intelligence,
32, 175–191.
Hirsch, M. (2015). Wer denkt räumlicher? Zocker oder Sportler?. Nicht veröffentlichte Studienabschlussarbeit, Salzburg: Universität
Salzburg.
Hosenfeld, I., Strauss, B., Köller, O. (1997). Geschlechtsdifferenzen bei Raumvorstellungsaufgaben - eine Frage der Strategie? In Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. Bern: Verlag Hans Huber.
Hürten, K. H. (1989). Schüler basteln für Schüler. In: Mathematik Lehren, Heft 36, S. 31-32. Seelze: Friedrich Verlag.
Maier, P. H. (1994). Räumliches Vorstellungsvermögen: Komponenten, geschlechtsspezifische Differenzen, Relevanz, Entwicklung
und Realisierung in der Realschule. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften.
Maresch, G. (2015). Wie kann die Raumintelligenz gefördert werden? Faktoren, Strategien und geschlechtsspezifische Befunde. In
Mathematik im Unterricht.
Maresch, G. (2014). Strategies for Assessing Spatial Ability Tasks. In Journal for Geometry and Graphics, Lemgo: Heldermann.
Maresch, G., Müller, Th. & Scheiber, K. (2014). GeodiKon. Die Lernmaterialien. Praktische Raumvorstellungsübungen für den Geometrie- und Mathematikunterricht mit Lösungen. Innsbruck: Studienverlag.
Peters, M., Laeng, B., Latham, K., Jackson, M., Zaiyouna, R. & Richardson, C. (1995). A Redrawn Vandenberg and Kuse Mental
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Singh, A., Uijtdewilligen, L., Twisk, J. W. R., van Mechelen, W., Chinapaw, M. J. M. (2012). Physical Activity and Performance at
School: A Systematic Review of the Literature including a Methodological Quality Assessment. In Archives of Pediatricsand
Adolescent Medicine, 166(1), 49–55.
Spearman, C. (1904). The Proof and Measurement of Association between Two Things. In The American Journal of Psychology, 15(1),
72–101.
Thurstone, L. L. (1950) Some Primary Abilities in Visual Thinking. In Psychometric Laboratory Research Report, Number 59, Chicago: University of Chicago Press.
Adressen der Autoren:
Mag. rer. nat. Hirsch Matthias
Blumenstraße 21
4901 Ottnang a. H.
[email protected]
Ass. Prof. Mag. Dr. Günter Maresch
Universität Salzburg
School of Eduaction
Abteilung für Fachdidaktik der Mathematik, Geometrie und Informatik
Hellbrunnerstr. 34
5020 Salzburg
[email protected]
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Wie kann die Raumintelligenz gefördert werden?
Faktoren, Strategien und geschlechtsspezifische Befunde
Günter Maresch
Zusammenfassung. Der Beitrag erörtert Ergebnisse der Analysen des Forschungsprojekts GeodiKon. Im Rahmen des Projekts, an dem
903 SchülerInnen teilnahmen, wurde untersucht, ob eine umfassende und ausgewogene Schulung der Faktoren der Raumvorstellung
und eine Bewusstmachung der unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien von Raumvorstellungsaufgaben zu einem besseren Raumvorstellungsvermögen bzw. zu einer besseren Lösekompetenz von Raumvorstellungsaufgaben führt. Die Resultate in Bezug auf die differenzierte Verwendung von Bearbeitungsstrategien von Raumvorstellungsaufgaben, erfolgversprechende Strategien, den Unterricht
im Gegenstand Geometrisches Zeichnen und geschlechtsspezifische Effekte werden diskutiert.
Einführung
Vor knapp mehr als 100 Jahren wurde der Begriff des Raumvorstellungsvermögens als eine der grundlegenden Teile
menschlicher Intelligenz erkannt und in entsprechenden Intelligenzmodellen ausgewiesen (unter anderem von Spearman,
1904; El Koussy, 1935; Thurstone, 1938). In einem weiteren Schritt wurde diese Intelligenzfacette eingehender erforscht,
wobei das Identifizieren der konstituierenden Faktoren der Raumintelligenz und damit verbunden das Etablieren von
strukturierten Modellen des Raumvorstellungsvermögens das Ziel zahlreicher Untersuchungen war (Cattell, 1963; El
Koussy, 1935; Gardner, 1991; Guilford, 1967; Maier, 1994; Thurstone, 1950; Vernon, 1961). Weiterführende Forschungsarbeiten zeigten, dass die Raumintelligenz nicht alleine durch genetische Vererbung in seinem Umfang und Potential fundiert und schließlich beschränkt ist, sondern dass diese Intelligenzfacette durch gezielte Förderung und ausgewogenes Training verbessert werden kann (Glück & Vitouch, 2008; Glück, Kaufmann, Dünser, & Steinbuegl, 2005). Nun
ist es – nicht zuletzt wegen des Wissens der Trainierbarkeit des Raumvorstellungsvermögens – eines der zentralen Anliegen des Geometrieunterrichts (– sei es als eigenständiger Gegenstand, als integrierter Teil des Mathematikunterrichts
oder des Unterrichts in Fächern, die Fragen des Raumes und der Raumvorstellung adressieren –) Raumvorstellung zu
fördern und das Raumvorstellungsvermögen der Lernenden zu verbessern. Der jeweils gültige Lehrplan stellt zumeist das
zentrale Instrument für die Vorbereitung des Unterrichts dar. Das österreichische Kompetenzmodell für Geometrisches
Zeichnen (Mick et al., o.J.), Darstellende Geometrie (Kraker et al., 2012), Mathematik (4. und 8. Schulstufe: bifie, o.J.;
12. Schulstufe: Liebscher, et al., 2013) und oftmals auch die vorliegenden Schulbücher bestimmen ebenfalls die inhaltliche Unterrichtsplanung zu einem maßgeblich Teil. Doch inwiefern werden die psychologischen Erkenntnisse über die
Raumintelligenz und deren einzelne Faktoren – gerade unter dem Aspekt der Trainierbarkeit, Förderung und Weiterentwicklung des Raumvorstellungsvermögens – im Unterricht bewusst integriert? Die Analyse von geometrischen Aufgaben, welche im Mathematikunterricht der ersten bis zur zehnten Schulstufe gebracht werden, zeigt auf, dass vorrangig
der Faktor räumliche Visualisierung/Veranschaulichung angesprochen wird, die weiteren Faktoren der Raumvorstellung
dahingegen gar nicht bzw. nur zu einem deutlich untergeordnetem Maße im Unterricht enthalten sind (Maier, 1994, S.
237 ff). Diese Situation führte uns zur Frage: Wirkt sich eine aktive Auswahl von Unterrichts-Beispielen, welche in einem
ausgewogenen Maße die unterschiedlichen Faktoren des Raumvorstellungsvermögens trainieren, positiv auf die Förderung der Raumintelligenz aus? Das Forschungsprojekt GeodiKon (Entwicklung eines didaktischen Konzepts für den Geometrieunterricht) beschäftigt sich gezielt mit diesem Fragenkomplex.
Ein weiteres Themenfeld wurde im Rahmen von GeodiKon adressiert: Die Messung der Raumintelligenz bei Lernenden
erfolgt zumeist im Rahmen von Tests. Diese Tests sind im Allgemeinen aus unterschiedlichen Aufgabengruppen und typen aufgebaut, welche gezielt unterschiedliche Faktoren der Raumintelligenz adressieren und schließlich ausweisen,
inwiefern die einzelnen Faktoren bei Individuen ausgeprägt sind. Diese speziellen Aufgabengruppen, die gezielt die Fähigkeiten von Individuen bei einzelnen Faktoren aufzeigen, werden als sogenannte „Marker“ für den jeweiligen Faktor
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bezeichnet (Hegarty & Waller, 2005). Nur dann, wenn die einzelnen Markeraufgaben mit der intendierten Bearbeitungsstrategie von ProbandInnen bearbeitet werden, wird tatsächlich die Fähigkeit eines Individuums bei einem bestimmten
Faktor erhoben und nur dann können valide, aussagekräftige und vergleichbare Ergebnisse nach der Auswertung der Tests
erwartet werden. Die jüngere Literatur über Raumintelligenzforschung zeigt oftmals die Problematik auf, dass ProbandInnen durchwegs situativ-individuell unterschiedliche Bearbeitungsstrategien für die Lösung von Raumvorstellungsaufgaben verwenden. Dies eröffnet ein breites Feld an Fragen, wie z.B.: Inwiefern kann mit Raumvorstellungstests tatsächlich die Fähigkeit von Individuen bei den unterschiedlichen Faktoren der Raumintelligenz erhoben werden? Oder: Welche
und wie viele unterschiedliche Strategien zur Bearbeitung von Raumvorstellungsaufgaben verwenden Lernende?
Strategien rücken somit mehr und mehr in den Fokus der Betrachtungen. Aussagen wie „Der flexible Einsatz von Strategien bzw. der Einsatz einer adäquaten Strategie je nach Aufgabenstellung, ist ein wichtiger Faktor bei der Erzielung
optimaler Leistungen bei räumlichen Aufgaben“ (Kaufmann, 2008; Glück, Kaufmann, Dünser, & Steinbuegl, 2005) oder
„Der Umfang des Strategierepertoires einer Person und ihre Flexibilität bei der Anpassung an die Anforderungen der
jeweiligen Aufgabenstellung sind deshalb relevanter für Alltagsleistungen als einfache kognitive Basisprozesse“ (Glück
& Vitouch, 2008) bestärken die Intention, Bearbeitungsstrategien näher zu untersuchen. Hinweise darauf gibt es nicht
zuletzt bereits bei Maier mit der Aussage, dass „übliche alternative Lösungsstrategien mittels weiterer kognitiver Qualifikationen oder veränderter räumlich-visueller Bezüge deshalb die gebotene Beachtung finden sollten.“ (Maier, 1994, S.
55). Im Rahmen des Forschungsprojekts GeodiKon wurde das Themenfeld „Strategien“ bewusst aufgegriffen um Fragen
wie „Mit welchen Bearbeitungsstrategien bearbeiten ProbandInnen Raumvorstellungstests?“ oder „Wirkt sich eine bewusste Schulung von unterschiedlichen Lösungsstrategien und damit verbunden das Erweitern des individuellen Strategierepertoires positiv auf das Raumvorstellungsvermögen aus?“ näher zu beleuchten.
Die Forschungshypothesen
Die beiden Themenfelder Faktoren und Bearbeitungsstrategien stellen den Fokus der Untersuchungen im Rahmen von
GeodiKon dar. Konkret wurden die beiden Forschungshypothesen formuliert:
1.
Das Training (Bewusstmachung, Kategorisierung, angewandtes Üben) aller Faktoren der Raumintelligenz bewirkt
eine Verbesserung des Raumvorstellungsvermögens.
2.
Die Schulung (Bewusstmachung, Kategorisierung, Verinnerlichung) eines Strategierepertoires zur Bearbeitung von
Raumvorstellungsaufgaben bewirkt eine Verbesserung des Raumvorstellungsvermögens.
Die im Projekt erhobene Vielzahl von Daten ermöglicht neben der Suche von Antworten auf die beiden obigen Hypothesen unter anderem das Formulieren von Hinweisen über einen Zusammenhang von speziellen Freizeitaktivitäten und
Raumintelligenz, über einen Zusammenhang von Computernutzung und Raumintelligenz, über die Peilgenauigkeit von
Individuen und über geschlechtsspezifische Effekte. In diesem Beitrag werden von den Zusatzbefunden die geschlechtsspezifischen Effekte erörtert.
Welches der zahlreichen in der Literatur formulierten Faktorenmodelle der Raumintelligenz sollte bei GeodiKon verwendet werden? Während der faktoriellen Phase der Raumintelligenzforschung (Maresch, 2013) zwischen 1950 und 1994
wurde von zahlreichen ForscherInnen faktorenbasierte Modelle des Raumvorstellungsvermögens beschrieben (z.B.
Thurstone, 1950; French, 1951; Guilford, 1956; Rost, 1977; Lohman, 1979; McGee, 1979; Linn & Peterson, 1985; Lohmann, 1988; Carroll, 1993; Maier, 1994). Eine eingehende Analyse und ein Vergleich dieser Modelle wurden zu Beginn
des Projekts GeodiKon durchgeführt (Maresch, 2013). Der Ansatz von Maier (Maier, 1994) wurde als Zusammenführung
der bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Modelle formuliert und diente daher für GeodiKon als Ausgangspunkt der
Betrachtungen. Das 3-Faktoren-Modell von Thurstone (1950) mit den Faktoren Veranschaulichung/räumliche Visualisierung, Räumliche Beziehungen und Räumliche Orientierung diente Maier als Grundlage seines Ansatzes und das ebenfalls aus 3 Faktoren bestehende Modell von Linn und Petersen (1985) mit den Elementen Veranschaulichung/räumliche
Visualisierung, Räumliche Wahrnehmung und Mentale Rotation erwies sich als „herausragende Ergänzung“ (Maier,
1994, S. 50) dazu. Somit fasste Maier diese beiden Modelle zusammen und formulierte sein Modell mit den fünf Faktoren
Veranschaulichung/räumliche Visualisierung, Räumliche Wahrnehmung, Räumliche Beziehungen, Mentale Rotation und
Räumliche Orientierung (Maier, 1994, S. 51). Bei der näheren Untersuchung des Modells von Maier konnte festgehalten
werden, dass die vier Faktoren Veranschaulichung/räumliche Visualisierung, Räumliche Beziehungen, Mentale Rotation
und Räumliche Orientierung in der Literatur bei mindestens jeweils drei bis zu neun weiteren Modellen anderer ForscherInnen ebenfalls postuliert wurden. Lediglich der Faktor Räumliche Wahrnehmung wurde nur von Linn und Petersen
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(1985) formuliert. Die Beschreibung dieses Faktors zeigte, dass mit Räumlicher Wahrnehmung im Sinne Linn u. Petersens (1985, Maier, 1994) konkret die „Fähigkeit zur Identifikation der Horizontalen und Vertikalen“ angesprochen wird.
Diese sehr spezifische Fähigkeit erachten unter anderem Thurstone (1950) als integrativer Teil des Faktors Räumliche
Orientierung. Daher wurde die Räumliche Wahrnehmung nicht weiter als eigenständiger Faktor berücksichtigt. Bei GeodiKon wurde somit das Modell von Maier – jedoch ohne den Faktor Räumliche Wahrnehmung – als Basis für die Entwicklung der Lernmaterialien und der Zusammenstellung der Testbatterien verwendet.
Konkret beinhaltet das faktorielle Modell der Raumintelligenz für GeodiKon die vier Faktoren:

Veranschaulichung/räumliche Visualisierung

Räumliche Beziehungen

Mentale Rotation und

Räumliche Orientierung.
Neben den Faktoren der Raumintelligenz stellt das Bewusstmachen von unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien zur
Lösung von Raumvorstellungsaufgaben den Fokus bei GeodiKon dar. Als Ziel kann erachtet werden, dass Informationen
über Strategien möglichst fokussiert, klar und strukturiert an die SchülerInnen weitergegeben werden können. Um dies
realisieren zu können, wurde eine Recherche der vorliegenden Literatur vorgenommen (Maresch, 2014). Konkrete Auflistungen von unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien lieferten unter anderen Barratt (Key features strategies, Move
object strategies, Move self strategies; 1953), Just und Carpenter (Mentale Rotation um das Weltkoordinatensystem,
Mentale Rotation um ein Benutzerkoordinatensystem, Merkmale von Objekten miteinander vergleichen, Perspektivenwechsel; 1985), Dünser (Man bewegt sich selbst oder man bewegt das Objekt, Konzentration auf Details oder auf das
Ganze, Nachdenken und Vorstellen; 2005, S. 159) und Schultz (Mental rotation strategy, Perspective change strategy,
Analytic strategy; 1991). Zusätzlich zu den erwähnten Strategien werden oftmals weitere Bezeichnungen und Begriffe
wie Ausweichstrategien, Ergänzungsstrategien, Mischstrategien, verbal-analytische Strategien sowie logisch-folgerndes
Denken (Grüßing, 2002; Maier, 1994; Souvignier, 2000) formuliert, die nach näherer Analyse als integrative Teile der
obigen Strategien zugeordnet werden können. Die Analyse von Strategieuntersuchungen ergab, dass vier Paare von verwendeten Lösungsstrategien identifiziert werden können. Diese vier Strategiepaare erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, wenngleich eine große Zahl von Publikationen diese vier Strategiepaare bzw. diverse Teilmengen daraus als
DIE relevanten Strategien erkannten (Maresch, 2014).
Das strukturierte Modell der „Vier Strategiepaare zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben“, welches bei GeodiKon
verwendet wurde, lautet:
1.
Holistische (ganzheitliche) Strategie – Analytische Strategie
2.
Räumliches Denken – Flächendenken
3.
Objekte werden bewegt (move object) – BearbeiterIn bewegt sich (move self)
4.
Verifizierende Strategie – Falsifizierende Strategie
Die einzelnen Paare von Strategien für die Lösung von Raumvorstellungsaufgaben stellen jeweils Gegenpole dar. Geometrische Objekte werden bei Testfragen im Allgemeinen entweder ganzheitlich (holistisch) erfasst oder sie werden analytisch (Einzelteil für Einzelteil) betrachtet. Versuchspersonen generieren sich entweder ein mentales räumliches Modell
der abgebildeten Objekte (Räumliche Strategie) oder nehmen das ebene Abbild des Objektes als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen (Flächendenken). Bei der Lösung von Raumvorstellungsaufgaben positionieren sich ProbandInnen
oftmals außerhalb der Aufgabenkonstellation und bewegen für die Lösungsfindung die Szene mental. Im Gegensatz dazu
versetzen sich Testpersonen – vor allem bei Aufgaben zur räumlichen Orientierung – in die gegebene Szene und bewegen
sich mental durch die in der Aufgabe dargestellten Objekte. Schließlich kann bei Versuchspersonen ein generell verifizierendes oder falsifizierendes Vorgehen bei der Lösungsfindung beobachtet werden. Bei mehreren Lösungsmöglichkeiten einer Aufgabe wird entweder versucht, direkt auf die richtige Lösung zuzusteuern oder es wird im ausschließenden
Verfahren vorgegangen, indem falsche Lösungen ausgeschlossen werden und somit die einzig richtige schließlich als
letzte noch nicht ausgeschlossene Lösungsmöglichkeit vorhanden ist (Maresch, 2014). Eine eingehende Argumentation
dieser Zusammenstellung, Merkmale dieser Strategien und Querverbindungen zwischen den einzelnen angeführten Strategien kann bei Maresch (2014) entnommen werden.
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Beschreibung der Studie
Das Forschungsprojekt GeodiKon des österreichischen Unterrichtsministeriums und der Pädagogischen Hochschule Salzburg wurde in den Jahren 2013 und 2014 in den drei österreichischen Bundesländern Niederösterreich, Salzburg und
Steiermark durchgeführt. Projektpartner des Projekts waren die Kirchlich-Pädagogische Hochschule Wien-Krems, die
Pädagogische Hochschule Wien, die Pädagogische Hochschule Niederösterreich, die Pädagogische Hochschule Steiermark, die Universität Salzburg, die Universität Innsbruck, die Technische Universität Wien und die Arbeitsgruppe Didaktische Innovation.
Das Finden von Hinweisen auf die oben formulierten Forschungshypothesen war das Kernziel des Projektes. Um dieses
zu erreichen, wurden folgende Zwischenziele/Milestones (M) formuliert:
M1. Entwicklung von Lernmaterialien für 12 Lernwochen zur Schulung der Faktoren der Raumvorstellung (Linn & Petersen; 1985, Maier, 1994; Thurstone, 1950; Maresch, 2014) mit dem Ziel, bei den SchülerInnen eine ausgewogene
und umfassende Entwicklung der Raumvorstellung zu fördern.
M2. Entwicklung eines strukturierten Modells von anwendbaren Strategien zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben
(Barratt, 1953; Just & Carpenter, 1985; Schultz, 1991) mit dem Ziel, das Strategierepertoire der Lernenden zu erweitern.
M3. Entwicklung der Testbatterie, Durchführung der Pre- und Posttest in den Klassen und Schulung der TestklassenlehrerInnen im Umgang mit den Lernmaterialien und den Strategieinformationen. Auswertung und Analyse der Daten.
M4. Zusammenstellung der entwickelten Lernmaterialien und der gewonnenen Erkenntnisse des Projekts zu einem Buch
für LehrerInnen, welche geometrische Inhalte im Unterricht vermitteln, für SchülerInnen zur Förderung des Raumvorstellungsvermögens und weitere am Training der Raumintelligenz Interessierter.
M5. Schulung von Lehrenden und Studierenden im Umgang mit den Lernmaterialien im Rahmen von Fortbildungsseminaren und Workshops und Dissemination der Erkenntnisse des Projekts bei Tagungen und Publikationen.
Die Studie wurde im Pretest-Posttest-Design durchgeführt. Während der ersten Phase des Projekts (Jänner bis September
2013) wurden spezielle Lernmaterialien für 12 Wochen Geometrie-Unterricht und die Testbatterie zusammengestellt. Im
September und Oktober 2013 fanden die Pretests in sämtlichen Testklassen statt. Danach schloss direkt die Interventionsphase an, wo die entwickelten Lernmaterialien im Unterricht eingesetzt wurden und die Schulung des Strategierepertoires erfolgte. Im Jänner und Februar 2014 wurden die Posttestungen an den Schulen durchgeführt. Danach (März bis
Oktober 2014) erfolgte die Auswertung der Daten, die Aufbereitung der Erkenntnisse, die Zusammenstellung der Lernmaterialien zu einem Buch (Maresch, Müller, & Scheiber, 2014a) für Lehrende der Sekundarstufe und die Dissemination
der Ergebnisse und Lernmaterialien im Rahmen von Workshops, Tagungen und mittels Publikationen.
Am Projekt nahmen 46 Klassen mit insgesamt 903 SchülerInnen im Alter von 12 bis 14 Jahren aller österreichischen
Schultypen der Sekundarstufe I (Hauptschule (HS), Neue Mittelschule (NMS), Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS))
in den drei Bundesländern Niederösterreich, Salzburg und Steiermark teil. Die Einladung zur Teilnahme am Projekt
erging an 2.260 LehrerInnen an AHS und HS/NMS (606 an AHS und 1.654 an HS/NMS) via digitalem Newsletter per
Mail, der in regelmäßigen Abständen an Geometrielehrende im deutschsprachigen Raum (mit vorrangig österreichischen
EmpfängerInnen) verschickt wird. Ursprünglich war das Projekt für 10 Klassen konzipiert. Aufgrund der großen Anzahl
der Interessensbekundungen für die Teilnahme am Projekt, wurde die Anzahl der teilnehmenden Klassen auf 46 erhöht.
Mehr als die doppelte Zahl an bewerbenden Klassen (97) konnte registriert werden. Auswahlkriterien für Teilnahme am
Projekt waren: Zugehörigkeit zu einem der Bundesländer Niederösterreich, Salzburg oder Steiermark und eine insgesamt
möglichst ausgewogene Gleichverteilung der Teilnehmenden hinsichtlich Geschlecht, Alter, Schultyp und Stadt- bzw.
Landschule. Die jeweils 12 Testklassen in Salzburg und der Steiermark und die 22 Testklassen aus Niederösterreich
wurden jeweils von Bundeslandkoordinatoren (zwei Personen in Niederösterreich, eine Person in Salzburg und zwei Personen in der Steiermark) betreut. Diese fünf Personen wurden als Testleiter eingeschult und führten sämtliche Prestests
und Posttests in den Testklassen nach gleichlautendem Ablaufplan (inkl. gleichen Zeitvorgaben und Instruktionen für die
SchülerInnen) durch.
Die TestklassenlehrerInnen wurden ebenfalls in allen drei Bundesländern im Umgang mit den Lernmaterialien und den
Informationen über die unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien von Raumvorstellungsaufgaben vertraut gemacht, sodass ein möglichst einheitlicher Einsatz während des Treatments gewährleistet werden konnte. Die Bearbeitung der für
die 12 Wochen der Interventionsphase zusammengestellten speziellen Lernmaterialien betrug pro Woche durchschnittlich
die Hälfte einer Unterrichtsstunde (= 25 Minuten) im Gegenstand Geometrisches Zeichnen. Die zweite Hälfte der Unterrichtsstunde konnten die TestklassenlehrerInnen unabhängig vom Projekt gestalten.
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Im Pretest-Posttest-Design wurden bei allen teilnehmenden SchülerInnen vor der Interventionsphase mittels Pretests und
direkt nach der Interventionsphase durch die Posttests der Leistungsstand durch Paper-Pencil-Tests erhoben. Im Anschluss wurden bei der Auswertung der Daten vorrangig die Leistungsunterschiede zwischen Pre- und Posttest analysiert.
Die Testbatterie
Das zentrale Element der Testbatterie für die Pretests und Posttests stellten die vier Raumvorstellungstests Dreidimensionaler Würfeltest (3DW-Test; Gittler, 1984), Differential Aptitude Test (DAT; Bennett, Seashore, & Wesman., 1973),
Mental Rotation Test (MRT; Peters et al., 1995) und Spatial Orientation Test (SOT; Hegarty & Waller, 2004) dar. Weitere
Fragebögen adressierten folgende Themenbereiche: Bearbeitungsstrategien der Aufgaben bei den einzelnen Tests, Informationen über Geschlecht, Alter, Computererfahrung und –Interessen, Freizeitaktivitäten, Schulnoten des vergangenen
Schuljahres in Mathematik, Deutsch und Englisch und Lerntyp.
Für die Erhebung der verwendeten Bearbeitungsstrategien wurde folgende Vorgehensweise gewählt: Nach jedem der vier
durchgeführten Raumvorstellungstests erhielten die SchülerInnen eine beliebige Aufgabe des jeweiligen Tests nochmals
zur Bearbeitung. Beim Lösen der Aufgabe sollten sich die Probanden selbst beobachten, mit welcher Strategie sie die
jeweilige Aufgabe lösen. In einer achtstufigen Skala waren direkt nach dem Lösen des jeweiligen Beispiels die nachstehenden vier Möglichkeiten, welche das zugrundeliegende Modell der vier Strategiepaare zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben adressiert, zwischen den beiden Polen zu beantworten (Tabelle 1):
Tabelle 1: Die vier Fragen mit Bezug zu den verwendeten Bearbeitungsstrategien
1) Das gesamte Objekt betrachtet:
Nur Teile des Objektes betrachtet:
Du hast dir das gesamte Objekt vorgestellt. Du hast dich
nicht nur auf einzelne kleine Teile des Objektes konzentriert, sondern hast auf „einen Blick“ das Gesamtobjekt erfasst und die Lösung erarbeitet.
o
o
o
o
Du hast dich bei der Lösung auf die Betrachtung
einzelner Teile des Gesamtobjektes konzentriert
und musstest nicht das gesamte Objekt für den
Lösevorgang verwenden.
o
o
o
2) Objekt räumlich vorgestellt:
o
Objekt eben vorgestellt:
Du hast dir das gegebene Objekt als räumliches und damit Du hast dir das gegebene Objekt als ebenes und da3-dimensionales Objekt vorgestellt.
mit 2-dimensionales Objekt vorgestellt.
o
o
o
o
o
o
o
o
3) Selbst bewegt:
Objekt bewegt:
Du hast dich selbst in die Szene hineinversetzt, deine Perspektive verändert und dich selbst bewegt.
o
o
o
o
Du hast das Bild des gezeigten Objekts (vielleicht
auch die Verbindungslinien) bewegt, z.B. verschoben oder gedreht und hast die Objekte als BetrachterIn von außen gesehen.
o
4) Falsche Lösungen zuerst ausgeschlossen (falsifizierend):
o
o
o
o
Du hast beim Lösevorgang versucht, direkt
die richtige Lösung zu finden.
o
40
o
Direkt richtige Lösung gesucht (verifizierend):
Du hast alle möglichen Lösungen betrachtet und hast vorerst die erkennbar falschen ausgeschlossen und hast dich
Stück für Stück zur richtigen Lösung vorgearbeitet.
o
o
o
o
o
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Für die bessere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse seien im Folgenden die vier verwendeten Raumvorstellungstests vorgestellt, da diese tendenziell die vier beim Projekt verwendeten Faktoren ansprechen. Der Dreidimensionaler Würfeltest
(3DW-Test) spricht den Faktor Veranschaulichung/Räumliche Visualisierung vorrangig an, der Differential Aptitude Test
(DAT) wird den Faktoren Veranschaulichung/Räumliche Visualisierung und Räumliche Beziehungen zugeordnet. Der
Faktor Mentale Rotation wird vom Mental Rotation Test (MRT) abgedeckt und schließlich wird der Faktor Räumliche
Orientierung durch den Spatial Orientation Test (SOT) erhoben. Die Zuordnungen sind möglichst passend getroffen worden, sollen aber nicht den Anspruch auf Trennschärfe und ausschließliche Treffsicherheit erheben. Diese Eigenschaften
waren bewusst nicht intendiert, da bei den Auswertungen nicht näher darauf eingegangen werden sollte, wie sich die vier
Faktoren im Vergleich zueinander entwickeln.
Dreidimensionaler Würfeltest (3DW-Test; Gittler, 1984)
Bei diesem Test ist zu prüfen, ob einer der Würfel A bis F derselbe Würfel sein kann wie der Würfel X, oder ob die
Antwort G "kein Würfel richtig" zutreffend ist. Jedes Muster auf den Seitenflächen eines Würfels kommt nur einmal vor
(vgl. Gittler, 1984). Der für dieses Forschungsprojekt vom Testautor G. Gittler adaptierte 3DW-Test beinhaltet 13 Aufgaben (die erste davon eine nichtausgewertete „hidden warming up“-Aufgabe), für deren Bearbeitung 15 Minuten als
maximale Testdauer festgelegt wurden (Abb. 1).
Abb. 1: Ein Beispiel aus dem Dreidimensionalen Würfeltest (Gittler, 1984)
Differential Aptitude Test (DAT; Bennett, Seashore, & Wesman, 1973)
Die Aufgaben dieses Tests bestehen aus Faltvorlagen mit Schattierungen oder Mustern. Diese Faltvorlagen können zu 3dimensionalen Figuren gefaltet werden. Jede Aufgabe zeigt eine Faltvorlage und vier 3-dimensionale Figuren. Jene Figur
A, B, C oder D ist zu identifizieren, welche aus der Faltvorlage erstellt werden kann. Der Test beinhaltet 15 Aufgaben,
wobei bei jeder Aufgabe exakt eine Lösung korrekt ist und die Testzeit mit acht Minuten vorgegeben war (Abb. 2).
Abb. 2: Ein Beispiel aus dem Differential Aptitude Test (Bennett et al., 1973)
Mental Rotation Test (MRT; Peters et al., 1995)
Bei diesem Test ist jeweils das Objekt links gegeben. Zwei der vier Abbildungen A, B, C und D rechts daneben zeigen
dasselbe Objekt. Diese beiden Objekte sollen herausgefunden werden. Ein Beispiel wurde genau dann als korrekt gelöst
gewertet, wenn beide richtigen Lösungsobjekte markiert wurden. Genau dann und nur dann wurde ein Punkt vergeben.
Der Test besteht aus 24 Aufgaben für deren Bearbeitung sechs Minuten Testzeit festgelegt war (Abb. 3).
Abb. 3: Ein Beispiel aus dem Mental Rotation Test (Peters et al., 1995)
41
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Spatial Orientation Test (SOT; Hegarty & Waller, 2004)
Dieser Test misst die Fähigkeit, sich verschiedene räumliche Orientierungen vorstellen zu können. Jede Aufgabe hat
dasselbe Bild als Ausgangssituation. Die Testpersonen sollen sich vorstellen, bei einem dieser Objekte zu stehen und von
dort zu einem anderen Objekt zu blicken. Dann sollen Sie bestimmen, in welcher Richtung von dieser Position aus ein
drittes Objekt liegt und diese Richtung in einem beim Test vorgegebenen Kreis als Pfeil einzeichnen (Hegarty u. Waller,
2004). Bei diesem Test werden keine Punkte vergeben. Vielmehr wird der Abweichungswinkel von der richtigen Lösung
gemessen. Dieser Winkel wird nicht orientiert gemessen, sodass sämtliche Abweichungswinkel im Bereich von 0° und
180° liegen. Der SOT besteht aus 12 Aufgaben für deren Bearbeitung acht Minuten als Testzeit vorgegeben war (Abb.
4).
Abb. 4: Ein Beispiel aus dem Spatial Orientation Test (Hegarty u. Waller, 2004)
Ergebnisse
Insgesamt nahmen 903 SchülerInnen in 46 Testklassen an den Testungen teil. Von diesen 903 SchülerInnen waren 786
bei beiden Tests anwesend. Es gab keine Hinweise auf systematische Ausfälle, wodurch auf Fallebene MCAR (missing
completely at random) angenommen wurde. Von den 786 bei beiden Tests anwesenden SchülerInnen gaben 771 auswertbare Testbögen ab. Diese 771 SchülerInnen (413 männliche und 358 weibliche) bildeten die Basis der Datenanalysen.
Die Analyse der 771 gültigen Datensätze zeigte, dass bei der Prüfung der internen Konsistenzen der verwendeten Tests
in der Gesamtstichprobe alle Reliabilitäten über dem in der Literatur (Kline, 1999) geforderten Wert von 0,7 liegen und
daher alle Tests als hinreichend konsistent betrachtet werden können.
Sämtliche 46 Testklassen wurden in 4 Untergruppen eingeteilt, sodass einerseits der globale Effekt aller Treatmentklassen
(Untergruppen A, B und C) im Vergleich zur Kontrollgruppe (Untergruppe D) analysiert werden konnte und dass zudem
auch Hinweise zu speziellen unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Untergruppen erhoben werden konnten.
Die vier Projektuntergruppen A, B, C (Treatmentgruppen) und D (Kontrollgruppe):

Gruppe A (163 SchülerInnen mit gültigen Datensätzen, Treatmentgruppe): Die Lernenden der Gruppe A-Klassen erhielten von Ihren Lehrenden während der Interventionsphase (12 Lernwochen) kontinuierlich Informationen über unterschiedliche Strategien zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben und sie arbeiteten wöchentlich im Rahmen des
Unterrichts zwischen 25 bis 35 Minuten mit den entwickelten Lernmaterialien.

Gruppe B (267 SchülerInnen mit gültigen Datensätzen, Treatmentgruppe): Die Lernenden der Gruppe B-Klassen arbeiteten wöchentlich für 25 bis 35 Minuten mit den entwickelten Lernmaterialien (und erhielten keinerlei Informationen zu Strategien zur Lösung von Raumvorstellungsaufgaben).
 Gruppe C (189 SchülerInnen mit gültigen Datensätzen, Treatmentgruppe): Die Lernenden der Gruppe C-Klassen hatten den Gegenstand „Geometrisches Zeichnen“ in ihrem Fächerkanon, welcher im Allgemeinen für eine (in wenigen
Ausnahmefällen für zwei) Unterrichtsstunden pro Woche angeboten wurde. Sie arbeiteten mit ihren gewohnten Unterrichtsmaterialen, erhielten keine speziellen Lernmaterialien und keinerlei Strategieinformationen.
42
Mathematik im Unterricht

Heft Nr. 06, 2015
Gruppe D (152 SchülerInnen mit gültigen Datensätzen, Kontrollgruppe): Die Lernenden der Gruppe D-Klassen bildeten die Kontrollgruppen, hatten weder „Geometrisches Zeichnen“ in ihrem Fächerkanon, erhielten weder StrategieInformationen noch die entwickelten Lernmaterialien.
Die Leistungen der SchülerInnen in den vier Gruppen (Treatmentgruppen A, B und C und die Kontrollgruppe D) beim
Pretest und beim Posttest werden in Tabelle 2 durch die Angabe des Arithmetischen Mittels (AM) und der Standardabweichungen (SD) ausgewiesen. Zudem stellt die Übersicht für jeden Test (3DW-Test, DAT, MRT und SOT) die deskriptivstatistische Differenz der Werte des Pretests und Posttests dar, welche der Leistungssteigerung der SchülerInnen entspricht.
Tabelle 2: Arithmetische Mittel (AM) und Standardabweichungen (SD) der Testergebnisse von Pretest und Posttest aller beteiligter Gruppen (vgl.
Svecnik, 2014)
Kontrollgruppe
Treatmentgruppen
A
162 ≤ n ≤ 170
B
C
D
263 ≤ n ≤ 270 187 ≤ n ≤ 191 150 ≤ n ≤ 155
AM
3,47
4,22
3,47
3,44
SD
2,71
2,65
2,64
2,61
Posttest
AM
4,61
5,46
4,63
4,25
SD
2,83
2,89
2,87
2,95
Differenz
AM
1,14
1,24
1,16
0,81
SD
2,27
2,48
2,45
2,35
AM
7,57
8,79
7,94
8,33
SD
3,54
3,24
3,32
3,36
Posttest
AM
8,71
10,35
9,83
9,45
SD
3,75
3,71
3,57
3,71
Differenz
AM
1,14
1,56
1,90
1,12
SD
3,06
2,97
2,75
2,95
AM
8,71
9,12
8,39
8,19
SD
4,52
4,60
4,17
4,57
Posttest
AM
12,07
13,80
12,20
11,31
SD
5,69
5,61
5,33
5,28
Differenz
AM
3,36
4,68
3,81
3,12
SD
4,64
4,31
4,34
4,48
AM
65,98
57,63
64,86
59,43
SD
30,23
29,94
30,37
26,95
Posttest
AM
56,56
48,50
57,12
52,62
SD
31,11
29,57
30,89
28,92
Differenz
AM
-9,42
-9,12
-7,74
-6,81
SD
24,37
22,95
21,68
21,02
3DW-Test
Pretest
DAT
Pretest
MRT
Pretest
SOT
Pretest
Abbildung 5 visualisiert die Daten von Tabelle 2 grafisch. Diese Darstellung lässt bereits vermuten, dass die drei Treatmentgruppen A, B und C Leistungssteigerungen in ähnlichem Umfang aufzuweisen haben und zeigt anschaulich, dass
ausnahmslos bei jedem Test die Kontrollgruppe D eine geringere Leistungssteigerung hat als die Treatmentgruppen. Die
43
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
statistische Überprüfung dieser Annahme zeigt, dass der simultane Vergleich der Versuchs-/Kontrollgruppenzugehörigkeit insgesamt (TestschülerInnen zusammen) bei allen vier Tests keinerlei Effekt ergeben (3DW-Test: F3; 36,36=0,661;
p=0,582; DAT: F3; 44,04=1,40; p=0,257; MRT: F3; 42,09=1,49; p=0,231; SOT: F3; 41,39=0,46; p=0,715; Svecnik, 2014). Es
muss somit festgehalten werden, dass eine einfache und direkte Beantwortung der beiden Forschungsfragen (siehe oben
Kapitel „Die Forschungsfragen“) nicht möglich ist. Zahlreiche Auswertungen von Detailaspekten liefern zahlreiche Hinweise und Erkenntnisse, die im nachfolgenden beschriebenen werden.
6
12
5
10
4
8
3
6
2
4
1
2
0
0
Pre
Post
16
14
12
10
8
6
4
2
0
Pre
3DW
70
60
50
40
30
20
10
0
Post
Pre
DAT
Post
A
B
C
D
Pre
MRT
Post
SOT
Abb. 5: Leistungssteigerungen der Gruppen A, B, C und D (Pretest – Posttest)(vgl. Svecnik, 2014)
Geometrie-Unterricht im Gegenstand Geometrisches Zeichnen (GZ)
Aufgrund der Beobachtung der „ähnlichen“ Verläufe der Leistungssteigerungen der drei Treatmentgruppen A, B und C
(Abbildung 5) wurden diese drei Gruppen zu einer Gruppe zusammengefasst. Dies ermöglicht die Untersuchung, ob der
Unterricht im Gegenstand Geometrisches Zeichnen erkennbare Auswirkungen auf die Förderung des Raumvorstellungsvermögens aufweist. Abbildung 6 visualisiert die Entwicklung der beiden Gruppen (mit GZ und ohne GZ; Gruppe „ohne
GZ“ = Kontrollgruppe D) grafisch.
6
12
14
70
5
10
12
60
4
8
10
50
3
6
8
40
6
30
2
4
4
20
1
2
2
10
0
0
Pre
Post
3DW
0
Pre
ohne GZ
mit GZ
0
Post
Pre
DAT
Post
MRT
Pre
Post
SOT
Abb. 6: Leistungssteigerungen der beiden Gruppen „mit GZ“ und „ohne GZ“ (Pretest – Posttest)(Svecnik, 2014)
Die arithmetischen Mittel (AM), die die Basis von Abbildung 6 bilden, sind in folgender Tabelle 3 dargestellt.
44
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Tabelle 3: Arithmetische Mittel (AM) der Leistungssteigerungen der beiden Gruppen „ohne GZ“ und „mit GZ“ (vgl. Svecnik, 2014)
ohne Geometrisches Zeichnen (GZ)
mit Geometrisches Zeichnen (GZ)
Pretest
3,44 Items korrekt gelöst
3,79 Items korrekt gelöst
Posttest
4,25 Items korrekt gelöst
4,99 Items korrekt gelöst
Pretest
8,33 Items korrekt gelöst
8,20 Items korrekt gelöst
Posttest
9,45 Items korrekt gelöst
9,75 Items korrekt gelöst
Pretest
8,19 Items korrekt gelöst
8,79 Items korrekt gelöst
Posttest
11,31 Items korrekt gelöst
12,85 Items korrekt gelöst
Pretest
59,4° durchschnittliche Abweichung
62,0° durchschnittliche Abweichung
Posttest
52,6° durchschnittliche Abweichung
53,6° durchschnittliche Abweichung
3DW
DAT
MRT
SOT
Im Rahmen der inferenzstatistischen Prüfung in Bezug auf den Aspekt des Einflusses des Unterrichts in Geometrisches
Zeichnen auf das Raumvorstellungsvermögen werden zwei Fragestellungen untersucht:

Effekt GZ: Erbringen SchülerInnen, die GZ-Unterricht haben, unabhängig vom Messzeitpunkt bessere Leistungen bei
den vier verwendeten Raumvorstellungstests?

Effekt Grundpotential GZ: Erzielen SchülerInnen mit GZ-Unterricht während der zwölf Wochen des Versuchszeitraums einen größeren Lernzuwachs gegenüber den SchülerInnen der Kontrollgruppe, also SchülerInnen ohne GZUnterricht?
In Tabelle 4 werden die beiden Effekte GZ und Grundpotential GZ in Bezug auf die vier verwendeten Raumvorstellungstests ausgewiesen. Zudem wird in der letzten Zeile der Tabelle die allgemeine Entwicklung aller SchülerInnen insgesamt
(d.h. ohne Differenzierung in Untergruppen) dargestellt. Die statistisch signifikanten Effekte sind farblich grau hinterlegt
und fett gedruckt.
Tabelle 4: Arithmetische Mittel (AM) der Leistungssteigerungen (vgl. Svecnik, 2014)
Effekt
3DW
DAT
MRT
SOT
GZ
F1; 764=5,502
p=0,019
F1; 784=0,096
p=0,757
F1; 784=6,929
p=0,009
F1; 771=0,419
p=0,518
Grundpotential GZ
F1; 764=2,944
p=0,087
F1; 784=2,683
p=0,102
F1; 784=5,606
p=0,018
F1; 771=0,941
p=0,332
F1; 764=83,901
p<0,001
F1; 784=101,968
p<0,001
F1; 784=323,937
p<0,001
F1; 771=59,191
p<0,001
Leistungssteigerung allgemein
Deutlich erkennbar zeigt sich bei allen vier Tests ein hochsignifikanter allgemeiner Leistungszuwachs während des Interventionszeitraums. Für diesen unspezifischen Trend können Lern- bzw. Übungseffekte durch die Testwiederholung,
Effekte zwischenzeitlicher Reifungs- und Entwicklungsprozesse, Treatment-Effekte sowie Kombinationen dieser Effekte
verantwortlich sein (Gittler, 2014; Svecnik, 2014).
SchülerInnen, die GZ-Unterricht haben, zeigen signifikant höhere Leistungen (bereits zu Beginn des Versuchszeitraums)
beim 3DW-Test (F1; 764=5,502; p=0,019) und beim MRT (F1; 784=6,929; p=0,009). Dieser Effekt zeigt sich nicht beim
DAT (F1; 784=0,096; p=0,757) und beim SOT (F1; 771=0,419; p=0,518).
Der Effekt Grundpotential GZ, welcher Hinweise darauf liefert, ob SchülerInnen alleine wegen des Unterrichts im Gegenstand Geometrisches Zeichnen ein höheres Grundpotential an Raumvorstellungsvermögen mitbringen und dadurch
während der Interventionsphase höhere Leistungszuwächse erzielen können als ihre KollegInnen ohne GZ, zeigt bei allen
vier durchgeführten Tests eine höhere Leistungssteigerung als die Kontrollgruppe D. Beim MRT ist die übermäßige Steigerung der Leistung zudem signifikant (F1; 784=5,606; p=0,018).
45
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Lehrer-/Klasseneffekt
Im Rahmen der Auswertungen wurden die ProbandInnen nicht als einzelne Individuen in die Gesamtstichprobe aufgenommen, sondern im Klassenverband (Cluster Sampling). Diese Art und Weise der Stichprobenziehung erlaubt es nicht,
den Standardfehler korrekt zu schätzen, da zu erwarten ist, dass die SchülerInnen innerhalb der Klassen homogener reagieren als zwischen den Klassen. Die Mehrebenenstruktur der Daten wird mit einem Linear Mixed Model Ansatz (West,
Welch, & Galecki, 2007; Tabachnick & Fidell, 2007) berücksichtigt (Svecnik, 2014). Um die Zahl der zu schätzenden
Parameter überschaubar gering zu halten, wurde der Lernzuwachs vom Pretest zum Posttest als abhängige Variable eingesetzt. Für jeden der vier eingesetzten Tests wurde im Nullmodell die Intraklassenkorrelation (ICC; diese entspricht dem
Varianzanteil, der durch Klassengruppierung erklärbar ist) ermittelt (vgl. Svecnik, 2014). Die Überprüfungen zeigen auf,
dass beim 3DW-Test (ICC von 5,20%; Wald-Z=2,065; p=0,039), beim DAT (ICC von 5,36%; Wald-Z=2,387; p=0,017)
und MRT (ICC von 14,29%; Wald-Z=3,46; p=0,001) ein substanzieller Klasseneffekt feststellbar ist, d.h. dass SchülerInnen innerhalb einer Klasse ähnlichere Leistungen als SchülerInnen verschiedener Klassen erbrachten (Svecnik, 2014).
Beim MRT ist dieser Effekt am größten. Im Gegensatz dazu zeigt sich bei der Auswertung, dass es sich bei der mit dem
SOT erfassten Leistung um eine rein individuelle Leistung handeln dürfte, bei der die üblichen Klassenfaktoren (Lehrperson, Unterrichtsführung etc.) keine Rolle spielen (Svecnik, 2014).
Dreidimensionaler Würfeltest (3DW-Test)
Bei der Auswertung des 3DW-Tests wurden sogenannte Fähigkeitsparameter (des dichotomen logistischen Modells von
Rasch) in den Mittelpunkt gerückt. Dies bedingte eine Reihe von Handlungsschritten im Rahmen der Datenaufbereitung,
die nachfolgen angeführt werden:

Die erste Aufgabe des 3DW-Tests ist als „hidden warming up“-Aufgabe konzipiert und wird daher nicht berücksichtigt.

Es werden nur jene Tests ausgewertet, bei denen zumindest acht Items (inkl. „warming up“-Beispiel) bearbeitet wurden, da nur diese Tests ausreichend Informationen für eine reliable Messung liefern.

Je nach Anzahl von richtig gelösten Aufgaben (= Test-Rohwert RW als Teil der insgesamt bearbeiteten Items) wird
ein Rohwertschätzer (RWS) errechnet, welcher eine beste Schätzung von richtig gelösten Beispielen für den Fall ausweist, dass die jeweilige Testperson alle 12 Wertungsaufgaben bearbeitet hätte.

Die RWS, die Rangskalenniveau besitzen, stellen den Testscore pro Testperson dar, da nur in diesem Fall alle Ergebnisse realistisch miteinander vergleichbar sind, selbst wenn nicht die gleiche Anzahl von Aufgaben bearbeitet wurde.

Im letzten Schritt werden die Rohwertschätzer in Fähigkeitsparameter (PAR) des Rasch Modells umgerechnet. Da
diese Parameter Intervallskalenniveau besitzen, können statistische Tests zur weitere Bearbeitung und Analyse eingesetzt werden, da diese Intervallskalen voraussetzen (Gittler, 2014)
Diese Schritte wurden in einer Umrechnungstabelle (siehe Gittler, 2014) durchgeführt, sodass schließlich für jeden Fall
von bearbeiteten Items der entsprechende Fähigkeitsparameter (PAR) abgelesen werden kann.
Beim 3DW-Test ist insgesamt (wie auch bei den drei anderen verwendeten Tests) ein hochsignifikanter allgemeiner Leistungszuwachs feststellbar (siehe Tabelle 4). Bei Ausdifferenzierung der vier Projektgruppen (A, B, C und D) ist dies auch
für jede einzelne Gruppe bemerkbar. Die Leistungssteigerungen werden in Tabelle 5 als Differenzwerte der Fähigkeitsparameter zwischen Pretest und Posttest angegeben. Diese Effekte können als klein bis mittelgroß entsprechend Cohen‘s
d betrachtet werden (Tabelle 5), wobei generell ein Effekt von d = 0,20 einem kleinen Effekt entspricht, d = 0,50 einem
mittleren Effekt und d = 0,80 einem großen/starken Effekt entspricht (Gittler, 2014).
Tabelle 5: Leistungssteigerungen sämtlicher Gruppen beim 3DW-Test (vgl. Gittler, 2014)
Gruppe
A
B
C
D
Fähigkeitsparameter PAR
0,61
0,60
0,63
0,41
46
Cohen‘s d
0,418
0,436
0,437
0,270
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Bemerkenswert ist im Besonderen, dass die Leistungszuwächse in den Treatmentgruppen A, B und C vergleichbar groß
sind und dass dieser in der Kontrollgruppe D deutlich geringer ausfällt (siehe Abbildung 7).
0,63
0,61
0,6
0,41
A
B
C
D
Abb. 7: Leistungssteigerungen der Gruppen A, B, C und D beim 3DW-Test in Fähigkeitsparameter (PAR) aus Tabelle 4 (vgl. Gittler, 2014)
Bei der Betrachtung der Leistungssteigerung beim 3DW-Test aller Gruppen wird in Folge zusätzlich nach Geschlecht
getrennt. Es kann wiederum bei sämtlichen Teilgruppen ein signifikanter Leistungszuwachs festgehalten werden. Tabelle
6 weist die entsprechenden Werte aus (m = männlich; w = weiblich; N = Anzahl der SchülerInnen in der jeweiligen
Teilgruppe; PAR = Fähigkeitsparamterdifferenz zwischen Pretest und Posttest).
Tabelle 6: Geschlechtersensitive Leistungssteigerungen sämtlicher Gruppen beim 3DW-Test (vgl. Gittler, 2014)
Gruppe
Geschlecht
Anzahl N
PAR
Cohen's d
A
m
97
0,60
0,403
A
w
58
0,66
0,468
B
m
160
0,59
0,431
B
w
104
0,63
0,456
C
m
89
0,52
0,376
C
w
96
0,72
0,473
D
m
57
0,44
0,316
D
w
92
0,36
0,222
In den drei Treatmentgruppen A, B und C weisen die weiblichen ProbandInnen jeweils einen größeren Leistungszuwachs
auf als die männlichen TestteilnehmerInnen. Bemerkenswerterweise ist dies genau umgekehrt bei den TeilnehmerInnen
der Kontrollgruppe D. In dieser Gruppe steigern sich die Schüler deutlich mehr als die Schülerinnen (siehe Abbildung 8).
47
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
0,75
0,7
0,72
Fähigkeitsparamter PAR
0,65
0,66
0,63
0,6
0,55
0,6
0,59
0,5
PARm
0,52
PARw
0,45
0,44
0,4
0,35
0,36
0,3
0,25
A
B
C
D
Abb. 8: Leistungssteigerungen der Gruppen A, B, C und D beim 3DW-Test in Fähigkeitsparameter (PAR) differenziert nach Geschlecht (PARm =
männlich (links, blau); PARw = weiblich (rechts, gelb))
Diese Beobachtung gibt Hinweise darauf, dass eine Untersuchung hinsichtlich der Sensitivität gegenüber den Geschlechtern interessant sein könnte.
Sensitivität gegenüber dem Geschlecht
Die geschlechtersensitive Auswertung wurde bei jedem Test durchgeführt und wird nachfolgend entsprechend in testrelevanter Zuordnung erörtert.
Beim 3DW-Test zeigt die hinsichtlich der Geschlechter differenzierte Auswertung, dass die t-Tests für die männlichen
Probanden mit t = 0,762, df = 401 und p = 0,447 nicht signifikant sind und dass auch der Cohen’s d-Effekt mit 0,11 als
sehr klein bewertet werden muss. Bei den weiblichen Testeilnehmerinnen ist der t-Test mit t = 1,972, df = 348 und p =
0,049 signifikant. Cohen’s d weist ebenfalls mit einem Wert von 0,24 auf einen kleinen Effekt hin. Die geschlechtsspezifische Analysen beim 3DW-Test zeigen auf, dass bei den weiblichen Probandinnen ein signifikanter Treatmenteffekt
(p = 0,049) vorhanden ist, der nach Cohen’s d als kleine Effekte bezeichnet werden können (Gittler, 2014).
Von der DAT-Varianz lassen sich 11,8 % (p < 0,001) durch die Variablen Geschlecht, Schulform und Schulstufe erklären,
wobei das Geschlecht keinerlei Beitrag leistet (Svecnik, 2013).
Die Ergebnisse beim MRT lassen sich zu 16,4 % (p < 0,001) durch Geschlecht, Schulform und Schulstufe erklären. Bei
diesem Test erzielen die männlichen Probanden um 2,11 Punkte mehr als die Schülerinnen. Insgesamt erzielen die männlichen Testteilnehmer mit im Schnitt 9,82 richtigen Items deutlich bessere Leistungen beim MRT (F = 45,68; p < 0,001)
als die weiblichen mit einer durchschnittlichen Lösungsleistung von 7,27. Bei der Untersuchung der Frage, wie viele
Beispiele getrennt nach Geschlecht durchschnittlich bearbeitet wurden (unabhängig davon, ob diese richtig oder falsch
gelöst wurden), zeigt sich der gleiche Effekt wie zuvor in abgeschwächter Form: Schüler haben im Schnitt 11,31 Aufgaben bearbeitet und Schülerinnen 10,90 (F=9,24; p=0,002) (Svecnik, 2013).
Beim SOT beträgt die mittlere absolute Abweichung aller TestteilnehmerInnen beim Pretest 59.04°, beim Posttest 50,64°.
Die mittlere (balancierte) Reduzierung des Abweichungswinkels von der Pre- zur Posttestung beträgt über alle Klassen
und Gruppen hochsignifikante 8,40° (F1; 44,99=80,56; p<0,001). Die Abweichung vom korrekten Winkel ist bei Schülern
beim Pretest um 14,4° und beim Posttest um 13,5° geringer als bei Schülerinnen. Dies zeigt, dass der Geschlechtsunterschied nahezu gleich bleibt und dass kein statistisch signifikanter Treatmenteffekt (F1; 757=0,28; p=0,597), der Hinweise
auf unterschiedliche Entwicklungen der Mädchen und Burschen geben würde, bemerkbar ist. Die Analysen bestätigen
die wissenschaftliche Literatur, die berichtet, dass Geschlechterunterschiede bei der Raumvorstellung weit geringer sind
als in früheren Jahren vermutet und dass sich die Unterschiede konkret auf die beiden Faktoren Mentale Rotation (nur bei
48
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Aufgaben unter Zeitdruck) und Räumliche Orientierung (bei GeodiKon erhoben durch den SOT) festmachen lassen
(Glück, Kaufmann, Dünser, & Steinbügl, 2005).
Die Schülerinnen und Schüler haben bei der Bearbeitung der einzelnen Tests geschlechtsspezifisch unterschiedliche Strategien verwendet:
 3DW-Test: Geschlechtsunterschiede zeigen sich beim 3DW-Test nur bei der Anwendung der falsifizierenden Strategie, die von den Probandinnen wesentlich intensiver genutzt wird als von den Probanden (F=6,92; p=0,009).
 DAT: Beim DAT zeigt sich ebenfalls der geschlechtsspezifische Effekt, dass die Testteilnehmerinnen auch hier öfter
die falsifizierende Strategie nutzen als die Testteilnehmer (F=17,64; p<0,001).
 MRT: Beim MRT gibt es zwei signifikante Auffälligkeiten. Schülerinnen verwenden auch bei diesem Test intensiver
die falsifizierende Lösungsstrategie als die Schüler (F=8,72; p=0,003). Sie neigen zudem weniger oft als männliche
Testpersonen dazu, die Objekte holistisch zu betrachten (F=15,85; p<0,001).
 SOT: Der Einsatz der falsifizierenden Strategie ist bei diesem Test schwer nachvollziehbar. In dementsprechend geringem Umfang wird diese Strategie insgesamt eingesetzt. Allerdings wird sie von den Schülerinnen (F=4,43;
p=0,036) öfter angegeben als von den Schülern (vgl. Svecnik, 2013).
Welche Lösungsstrategien für Raumvorstellungsaufgaben haben die SchülerInnen angewandt?
Objekt als ebene Figur
betrachtet
Objekt räumlich vorgestellt
Nur Teile des Objektes
betrachtet (analytisch)
Das gesamte Objekt betrachtet (holistisch)
Diese Fragen zu den verwendeten Strategien wurden von den Testpersonen durchgehend differenziert beantwortet, was
auf eine stimmige Ernsthaftigkeit bei der Beantwortung dieser Fragen hindeutet. Unterschiedliche Strategien wurden bei
den vier verwendeten Tests in unterschiedlicher Intensität verwendet. Insbesondere zeigt sich bei der Strategie „Selbst
bewegt“ eine deutlich häufigere Verwendung beim SOT als bei den anderen drei Tests, bei denen jeweils das abgebildete
„Objekt (mental) bewegt“ wurde. Der SOT unterscheidet sich erwartungsgemäß auch insofern von den anderen Tests, als
bei ihm die Ausgangsszene tendenziell als ebene Figur betrachtet wurde. Beim MRT hingegen wurde deutlich häufiger
als bei den anderen drei Tests das gesamte Objekt betrachtet („holistische Strategie“). Sehr ähnlich sind die angewendeten
Strategien beim DAT und beim 3DW-Test (vgl. Svecnik, 2013). Abbildung 9 stellt die verwendeten Strategien (aufgegliedert im Sinne des Modells der vier Strategiepaare zur Bearbeitung von Raumvorstellungsaufgaben) pro Test dar.
Jeder Balken wird in acht unterschiedlich gefärbte Rechtecke geteilt, die jeweils angeben, wie viele Prozent aller Testpersonen in der achtteiligen Skala des Fragebogens den ersten Wert, den zweiten Wert, usw. angekreuzt haben.
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Selbst bewegt
Objekt bewegt
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Abb. 9: Übersicht über die von den SchülerInnen verwendeten Strategien bei den vier Raumvorstellungstests (Svecnik, 2013)
Strategieänderung von Pretest zu Posttest
Im Rahmen der Untersuchung der Änderungen der Lösungsstrategien von Testpersonen von Pretest und Posttest wurde
zunächst die ICC (Intraklassenkorrelation; Varianzanteil, der durch Klassengruppierung erklärbar ist) als Indikator für
Klasseneffekte berechnet. Es wurde angenommen, dass Strategien im Zusammenhang mit dem Unterricht, den Lehrpersonen usw. stehen. Dadurch wurde erwartet, dass SchülerInnen innerhalb der Klassen in deutlich ähnlicherer Art und
Weise ihre Strategien ändern als zwischen den Klassen. Tabelle 7 zeigt, dass diese Annahme nicht bestätigt werden kann.
Die Intraklassenkorrelationen sind für alle erhobenen Strategien im niedrigen einstelligen Prozentbereich und (bis auf
einen Wert beim 3DW-Test) damit deutlich über der Signifikanzschwelle. Es ist somit festzuhalten, dass die Lösungsstrategien und deren Änderung ein reines Individualmerkmal ohne Klasseneffekte darstellen (Svecnik, 2014).
Tabelle 7: Intraklassenkorrelationen (ICC) für alle Strategieänderungen bei allen vier Tests (vgl. Svecnik, 2014)
SOT
MRT
DAT
3DW
Strategiepaar
ICC
Wald-Z
p
Holistisch-Analytisch
2,31%
1,176
0,240
Räumlich-Eben
0,53%
0,390
0,696
Objekt/Selbst bewegt
2,22%
1,272
0,203
Verifizierend-Falsifizierend
4,48%
1,981
0,048
Holistisch-Analytisch
0,41%
0,281
0,779
Räumlich-Eben
2,66%
1,544
0,123
Objekt/Selbst bewegt
0,96%
0,627
0,531
Verifizierend-Falsifizierend
2,84%
1,473
0,141
Holistisch-Analytisch
0,41%
0,297
0,767
Räumlich-Eben
1,33%
0,851
0,395
Objekt/Selbst bewegt
2,32%
1,393
0,164
Verifizierend-Falsifizierend
3,15%
1,593
0,111
Holistisch-Analytisch
1,51%
0,922
0,357
Räumlich-Eben
0,77%
0,554
0,581
Objekt/Selbst bewegt
0,76%
0,500
0,617
Verifizierend-Falsifizierend
0,25%
0,197
0,843
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Daher werden die Effekte der Versuchs- bzw. Kontrollgruppenzugehörigkeit mit der multivariaten Varianzanalyse im
Folgenden untersucht.
3DW-Test: Eine hochsignifikante Veränderung der mit dem 3DW-Test verbundenen Bearbeitungsstrategien (PillaiSpur=0,065; F4; 694=12,026; p<0,001) kann festgestellt werden. Es werden beim Posttest gegenüber dem Pretest vermehrt
Objekte holistisch betrachtet und (mental) bewegt.
DAT: Auch bei diesem Test ändern die ProbandInnen ihre Bearbeitungsstrategien hochsignifikant (Pillai-Spur=0,073; F4;
682=13,491; p<0,001). Es kann festgehalten werden, dass dies ebenfalls auf eine Zunahme der Verwendung der holistischen Strategien und der „Objekt bewegt“-Strategie zurückzuführen ist.
MRT: Wie bei den beiden Tests zuvor gibt es auch beim MRT eine hochsignifikante Veränderung bei den verwendeten
Lösungsstrategien der SchülerInnen zwischen Pretest und Posttest (Pillai-Spur=0,061; F4; 706=11,497; p<0,001). Hier zeigt
die Detailanalyse, dass die Verschiebung beim dritten Strategiepaar von „BeobachterIn bewegt sich“ hin zu „Objekte
werden bewegt“ die Signifikanz begründet.
SOT: Auch bei den im SOT eingesetzten Bearbeitungsstrategien gibt es eine hochsignifikante Veränderung von der Erstund Zweiterhebung (Pillai-Spur=0,020; F4; 673=3,518; p=0,007). Zum einen bedingt durch die vermehrte Verwendung der
analytischen Strategie und zum anderen durch die Verschiebung vom räumlichen Denken hin zum ebenen Denken
(Svecnik, 2014).
Ausschließlich die SchülerInnen der Gruppe A haben während der Interventionsphase Informationen über unterschiedliche Strategien erhalten. Daher wurde untersucht, ob sich die Gruppe A hinsichtlich des Änderungsverhaltens der Strategie
von Pretest und Posttest von den anderen drei Gruppen B, C und D (– für diese Untersuchung zu einer Gruppe zusammengefasst –) unterscheidet. Die multivariaten Betrachtung zeigt keine Effekte zwischen den beiden Gruppen beim 3DWTest (p=0,084), beim MRT (p=0,223) und beim SOT (p=0,527). Beim DAT hingegen kann ein statistisch bedeutsamer
Globaleffekt (Pillai-Spur=0,016; F4; 681=2,808; p=0,025) bemerkt werden. Dieser signifikante Effekt ist auf eine Veränderung bei der Verwendung der falsifizierenden Strategie bei der Versuchsgruppe A zurückzuführen, während die anderen drei Gruppen kaum eine Veränderung aufweisen (F1; 684=7,74; p=0,006). Die Gruppe A bewegt sich deutlich stärker
in Richtung falsifizierender Strategie (Differenz zum Pretest: -0,68), während die anderen drei Gruppen sich leicht zur
verifizierenden Strategie bewegen (Differenz zum Pretest: +0,13).
Gibt es erfolgversprechende Lösungsstrategien für Raumvorstellungsaufgaben?
Um den Einfluss der Lösungsstrategien auf die erfasste Leistung zu ermitteln, wurden Regressionsmodelle aufgestellt, in
die neben Geschlecht, Schulform und Schulstufe die Items zu Lösungsstrategien einbezogen wurden und deren zusätzlicher Beitrag zu Varianzaufklärung ermittelt wurde.
Beim 3DW-Test steigt die Varianzaufklärung von 16,3 % auf 18,0 %, die Strategien tragen also ihrer Gesamtheit statistisch signifikant bei (F=4,73; p=0,001), wobei zwei Strategien signifikante Beiträge leisten: Wenn die SchülerInnen Teile
des Objekts betrachten (analytische Strategie; ß=0,096; p=0,005) und wenn sie sich das Objekt räumlich vorstellen (räumliches Denken; ß=0,078; p=0,025; Svecnik, 2013).
Beim DAT steigt die Varianzaufklärung durch Hinzunahme der Lösungsstrategien statistisch signifikant von 11,8 % auf
15,6 % (F=9,48; p<0,001). Wie beim 3DW-Test tragen beim DAT zwei Strategien zu einer Steigerung der erfassten
Leistung bei: Wenn Teile des Objekts betrachtet werden (analytische Strategie; ß=0,109; p=0,002) und wenn das Objekt
sich räumlich vorgestellt wird (ß=0,169; p<0,001).
Beim MRT steigt die Varianzaufklärung von 16,4 % auf 23,7 % (F=18,68; p<0,001). Zurückzuführen ist dies bis auf die
falsifizierende Strategie (p=0,438) auf alle drei anderen abgefragten Strategien, allerdings ist hier die holistische Betrachtung des Objekts (ß=0,115; p=0,001) im Gegensatz zur Konzentration auf Teile relevant, zudem das räumliche Denken
(ß=0,202; p<0,001) und die Bewegung des Objekts (ß=0,098; p=0,003).
Schließlich steigert auch noch beim SOT die Hinzunahme der Lösungsstrategien die Varianzaufklärung statistisch hochsignifikant von 15,7 % auf 18,7 % (F=7,58; p<0,001). Verantwortlich dafür sind die Strategie „Objekt wird bewegt“
(ß=0,093; p=0,007) und „Falsifizieren“ (ß=0,150; p<0,001)(Svecnik, 2013).
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Diskussion und Ausblick
Die im Rahmen von GeodiKon beim Pretest und Posttest (2013 und 2104) an insgesamt 903 SchülerInnen im Alter
zwischen 12 und 14 Jahren erhobenen Daten ermöglichen eine Vielzahl von Analysen und daran anschließend das Formulieren von Hinweisen über die Entwicklung und Förderung der Raumintelligenz bei Jugendlichen. Die beiden zentralen
Forschungshypothesen (– Das Training jedes einzelnen der Faktoren der Raumintelligenz und die Schulung eines Strategierepertoires zur Bearbeitung von Raumvorstellungsaufgaben bewirken eine Verbesserung des Raumvorstellungsvermögens –) können nicht direkt und undifferenziert beantwortet werden, da die Leistungssteigerung der drei Interventionsgruppen A, B und C „nahezu“ identisch war. Gründe dafür könnten die große Zahl von Einflussfaktoren außerhalb
des Treatments in der Schule und dem allgemeinen Umfeld der Testpersonen, möglicherweise auch der kurze Interventionszeitraum (12 reine Unterrichts-Wochen, d.h. ca. ein Semester) und die zeitlich kompakte Intensität (ca. 25 Minuten
pro Woche im Rahmen des GZ-Unterrichts) des Treatments sein. Das Strecken der Interventionsphase auf mehr Wochen
(ev. ein Jahr oder länger) und das Ausdehnen der Treatmentphasen pro Woche (auf eine Unterrichtsstunde oder mehr)
sind Ansätze, die hoffen lassen, dass statistisch signifikante unterschiedliche Entwicklungen in den drei Treatmentgruppen A, B und C erfassbar werden. Unabhängig davon ist es denkbar, eine weitere Nachtestung bei den teilnehmenden
SchülerInnen nach ein bis zwei Jahren durchzuführen. Hierbei könnten mögliche Langzeiteffekte sichtbar und messbar
werden.
Bemerkenswert ist, dass selbst innerhalb der „kurzen“ Interventionsphase von 12 Wochen die Testpersonen insgesamt
bei allen vier Tests hochsignifikante Leistungssteigerungen vorzuweisen hatten (siehe Tabelle 4). Grund dafür könnte ein
unspezifischer Übungseffekt sein (Svecnik, 2014), könnten Lern- bzw. Übungseffekte durch die Testwiederholung, Effekte zwischenzeitlicher Reifungs- und Entwicklungsprozesse sowie Effekte der Maßnahmen (Treatments) in speziellen
Gruppen verantwortlich sein. Natürlich sind auch Kombinationen dieser Effekte in Betracht zu ziehen (Gittler, 2014).
Diese hochsignifikante Leistungssteigerung aller Gruppen könnte darauf hinweisen, dass die Untersuchungen von Bloom
(1971) partiell hinsichtlich des Faktors Raumintelligenz bestätigt werden können, der gerade für die Altersphase von
Kindern zwischen ca. 5 und 14 Jahren ein überdurchschnittliches Potential für die Entwicklung und Förderung des Raumvorstellungsvermögens festhält. Daraus würde wiederrum folgen, dass vermehrt gerade in dieser Altersphase der kindlichen Entwicklung strukturierte Impulse für die Forderung und Förderung des Raumvorstellungsvermögens im Unterricht
zu intergerieren sind.
Durch die Zusammenfassung der drei Treatmentgruppen A, B und C zu einer Gruppe, die als Gemeinsamkeit hat, dass
sie Geometrisches Zeichnen als Unterrichtsgegenstand hat, konnten Untersuchungen durchgeführt werden, die unterschiedliche Effekte dieser Gruppe gegenüber der Kontrollgruppe ausweist. Es zeigt sich, dass die zusammengefasste GZGruppe sich bei jedem der vier Tests deutlich mehr steigert als die SchülerInnen der Kontrollgruppe. Bei zwei Tests
(3DW-Test und MRT) verfügen die GZ-SchülerInnen bereits zu Beginn des Treatments über ein signifikant höheres
Leistungsniveau (siehe Tabelle 4) und steigern sich speziell beim MRT während der Treatmentphase signifikant mehr als
die ProbandInnen der Kontrollgruppe. Der MRT erweist sich somit als besonders sensitiver Test. Worin können dafür die
Gründe liegen? Ist dies, da der MRT speziell die Wirkungen des aktuellen GZ-Unterrichts gut abbildet oder ist es genau
umgekehrt, da im GZ-Unterricht (unbewusst) verstärkt der Faktor mentale Rotation der Raumintelligenz gefördert wird,
der wiederrum gerade durch den MRT als Marker für mentale Rotation erhoben wird? An dieser Stelle sei bemerkt, dass
die vier im Projekt GeodiKon verwendeten Raumvorstellungstests (3DW-Test, DAT, MRT und SOT) „klassische“ paperpencil-Tests sind und daher geeignet sind, die oben (im Kapitel „Die Forschungshypothesen“) formulierten und in diesem
Projekt als Grundlage verwendeten vier Faktoren der Raumintelligenz (Veranschaulichung/räumliche Visualisierung,
räumliche Beziehungen, mentale Rotation und räumliche Orientierung) zu beleuchten. Die weitere Reihe von räumlichen
Fähigkeiten, die versucht das Konstrukt Raumintelligenz insgesamt möglichst vollständig zu beschreiben und die vorrangig während der vergangenen ca. 20 Jahre identifiziert wurden, werden im Rahmen von GeodiKon nicht untersucht. Unter
diesen räumlichen Fähigkeiten sind beispielhaft folgende zu erwähnen: dynamische räumliche Fähigkeiten, die Fähigkeit
in kleinen und großen Maßstäben räumlich zu denken (small scale und large scale) und die Fähigkeit das Arbeitsgedächtnis (working memory) optimal für das Lösen von räumlichen Aufgaben zu nutzen. Weiterführend sei erwähnt, dass für
das Erheben der räumlichen Intelligenz und deren Faktoren spezielle Tests verfügbar sind, die die Fähigkeiten der ProbandInnen bei den jeweiligen Faktoren erheben. Hierfür stehen z.B. für den Faktor räumliche Orientierung unterschiedlichste Testverfahren zur Verfügung: Klassische paper-pencil-Tests (wie z.B. der bei GeodiKon verwendete SOT), aber
auch Tests, bei denen Testpersonen sich aktiv im dreidimensionalen Raum bewegen bzw. Aufgaben in virtuellen Räumen
bearbeiten. Die Gedanken dieses Absatzes führen zu Fragen wie: Erhebt speziell der MRT „optimal“ die räumlichen
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Fähigkeiten, die im GZ-Unterricht entwickelt werden? Oder: Dieser Aspekte aus der entgegengesetzten Richtung betrachtet: Ist der GZ-Unterricht vorrangig darauf ausgerichtet klassische Faktoren (wie im Falle des MRT mentale Rotation) zu fördern? Oder: Inwiefern werden „neue“ räumliche Fähigkeiten (dynamische, small scale/large scale,…), die das
Konstrukt der Raumintelligenz ergänzend zu den „klassischen“ Faktoren umfassender beschreiben, im Geometrie-Unterricht und allgemein in der Schule gefördert? Weitere Untersuchungen werden sich diesen Fragestellungen widmen.
Bei der Untersuchung der Klassen- bzw. Lehrereffekte stellt sich heraus, dass bei den drei Tests 3DW-Test, DAT und
MRT substanzielle Klasseneffekte feststellbar sind, d.h. dass SchülerInnen innerhalb einer Klasse ähnlichere Leistungen
als SchülerInnen verschiedener Klassen erbringen. Beim SOT zeigen sich keine Klasseneffekt. Deutet dies darauf hin,
dass der durch den SOT erhobene Faktor räumliche Orientierung im besonderen Maße ein Individualfaktor ist. Dieses
Ergebnis könnte auch auf den Umstand hindeuten, dass den Lehrpersonen beim Unterricht eine besondere Schlüsselrolle
zukommt, dass demnach die Sicht Hatties („the teacher matters“) (2013) bekräftig werden kann.
Geschlechtsspezifische Analysen beim 3DW-Test zeigen zum einen, dass bei Mädchen ein signifikanter Treatmenteffekt
vorhanden ist und zum anderen, dass sich Mädchen in den drei Treatmentgruppen deutlich mehr steigern als Burschen,
wohingegen genau umgekehrt sich Burschen in der Kontrollgruppe mehr steigern als Mädchen (Tabelle 5 und Abbildung
8). Beim MRT und beim SOT lässt sich eine umgekehrte Entwicklung erkennen. Bei diesen beiden Tests entwickeln sich
männliche Testteilnehmer deutlich mehr als weibliche Probandinnen.
Worauf lässt sich diese divergente Entwicklung zurückführen? Entwickelt sich der Faktor Veranschaulichung/räumliche
Visualisierung, der durch den 3DW-Test erhoben wurde, tatsächlich bei Mädchen besser als bei Burschen? Leistet das
Treatment des Forschungsprojekts zu dieser Entwicklung einen Beitrag? Waren Mädchen ernsthafter bei der Bearbeitung
der Testhefte bei der Sache als Burschen? Sind Mädchen motivierter am Unterrichtsgeschehen beteiligt als Burschen?
Sind unsere Didaktik oder/und unsere Beispiele im Geometrieunterricht mehr auf Mädchen ausgelegt?
Diese Fragen hinsichtlich des Geschlechts lassen sich aufgrund der Ergebnisse beim MRT und beim SOT genau umgekehrt formulieren. Der MRT war der einzige der vier verwendeten Tests, der als speeded-power-Test ausgelegt war (, der
also eine deutliche Zeitbeschränkung ausweist). Burschen bearbeiteten dabei mehr Beispiele und lösten mehr Beispiele
richtig als Mädchen. Beim SOT wiesen Burschen beim Pretest als auch beim Posttest eine deutlich bessere Leistung auf
als Mädchen.
Diese Beobachtungen könnten darauf hindeuten, dass sich bei der hinsichtlich der Geschlechter differenzierten Betrachtung der Entwicklungspotentiale der Faktoren nur beim Faktor mentale Rotation (und hier ev. auch nur bedingt durch die
Zeitbeschränkung) und beim Faktor räumliche Orientierung die männlichen Individuen besser entwickeln. Diese Vermutungen werden gestützt von Forschungsergebnissen von Glück (Glück et al., 2005) und Hosenfeld (Hosenfeld, Strauss,
& Köller, 1997).
Beim Blick auf die Art und Weise der Verwendung von Bearbeitungsstrategien von Raumvorstellungsaufgaben zeigt
sich, dass SchülerInnen generell verschiedenartige Strategien verwenden und miteinander in unterschiedlicher Abfolge
verknüpfen. Hier zeigt sich zum einen, dass SchülerInnen individuell unterschiedliche Strategien und Kombinationen von
Strategien für die Bearbeitung der vier Tests verwenden. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass es sinnvoll ist, SchülerInnen mit einem breiten Repertoire an Bearbeitungsstrategien vertraut zu machen, sodass in Folge Individuen über ein
möglichst großes Strategierepertoire verfügen und dieses situativ-individuell bei geometrischen Aufgaben anwenden und
kombinieren können. Dieses bewusste Auswählen von geeigneten Strategien in unterschiedlichen Kontexten bedingt wiederum ein spezifisches Metawissen, welches Individuen ermöglicht, aus dem zur Verfügung stehenden Pool an Strategien
situativ passend die geeigneten auszuwählen und in passender Abfolge zu kombinieren (vgl. Kaufmann, 2008). Der häufige Wechsel von Bearbeitungsstrategien bei gleichen Aufgaben von Pretest zu Posttest ist ein Hinweis darauf, dass SchülerInnen bei steigender Routine bei gleichen Aufgabenstellungen unterschiedliche Strategien verwenden. SchülerInnen
setzen erst bei entsprechender Routine in einem Themenfeld neuartige effizientere kognitive Strategien ein. Dies führt
zur Formulierung der didaktischen Leitidee für den Unterricht: Lehrpersonen sollen bewusst ausgewählte Themenbereiche im Unterricht derart oftmals mit SchülerInnen beleuchten, sodass SchülerInnen in diesem Themenfeldern routiniert
agieren und dadurch neuartige Bearbeitungsstrategien von Aufgaben auch bereits während der schulischen Bildung kennenlernen und anwenden können.
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
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Anmerkungen:

Die Lösung zur Raumvorstellungsaufgabe in Abbildung 1 lautet „B“, in Abbildung 2 „D“ und in Abbildung 3
„A und D“.

Die englische Übersetzung dieses Beitrags ist im „Journal for Geometry and Graphics“, 19, 2015, Nr. 1, 133157 im Heldermann Verlag erschienen. Besten Dank an Prof. Stachel für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung der deutschsprachigen Version des Beitrags.

Diese deutschsprachige Version des englischen Beitrags „How to develope spatial abiliy? Factors, Strategies,
and Gender Specific Findings“ wird mit freundlicher Genehmigung durch den Heldermann Verlag veröffentlicht.
Adresse des Autors:
Ass. Prof. Mag. Dr. Günter Maresch
Universität Salzburg
School of Eduaction
Fachdidaktik Mathematik und Geometrie
5020 Salzburg
[email protected]
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Zur Komplexität von Operationen und deren Auslagerung auf die Technologie
Simon Plangg
Zusammenfassung. Der Beitrag stellt vier aktuelle Perspektiven zur Betrachtung der Komplexität von Operationen vor. Dabei steht
vor allem die Diskussion zur Komplexität von Operationen und deren Auslagerung auf die Technologie in diversen Dokumenten zur
standardisierten schriftlichen Reifeprüfung an Österreichs Schulen im Fokus. Neben dem Begriff Komplexität einer Operation wird
auch der Einbezug der Lernenden sowie der verfügbaren Technologie bei der Beurteilung der Komplexität von Operationen diskutiert.
In den rezenten Unterlagen des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen
Schulwesens (BIFIE) zur zentralen schriftlichen Reifeprüfung in Mathematik für die allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) (BIFIE, 2013a, 2013b, 2013c) ist immer wieder von der Komplexität von Operationen die Rede.1
Umformungen von Termen, Formeln oder Gleichungen, Ungleichungen und Gleichungssystemen beschränken sich auf Fälle geringer Komplexität. (BIFIE, 2013a, S. 7)
Gerade eine kompetente Technologienutzung erfordert aber, dass Grundkompetenzen im händischen Rechnen in allen Inhaltsbereichen erworben werden und langfristig verfügbar sind. Das bedeutet, Schüler/innen sollen einfachere Operationen selber
ausführen können und komplexere Operationen auf die Technologie auslagern. (BIFIE, 2013b, S. 87)
Entsprechend den derzeitigen Richtlinien zur neuen Klausur wird gerade auf naturwissenschaftliche und finanzmathematische
Kontexte Wert gelegt. In diesen Anwendungsbereichen können bei Nutzung von Technologie sehr praxisnahe Probleme behandelt werden, die sonst wegen der Datenfülle oder der Komplexität der Operationen nicht zugänglich wären. (BIFIE, 2013c, S.
98)
Eine Relevanz für den Mathematikunterricht ergibt sich daraus insofern, als das den Akteuren damit nahegelegt wird,
Operationen ab einer gewissen Komplexität auf die verfügbare Technologie auszulagern. Die Komplexität von Operationen erscheint demnach als ein entscheidendes Kriterium für die Auslagerung von Operationen. Was kann jedoch mit
einfacheren bzw. komplexeren Operationen in diesem Zusammenhang gemeint sein?
Dazu sollen im Folgenden vier mögliche Perspektiven betrachtet werden. Die anschließenden Ausführungen sind dabei
zum einen als ein Versuch zur Klärung der Begriffsauffassung zu verstehen. Zum anderen werden auch Schwierigkeiten
in der Verwendung dieses Begriffs aufgezeigt.
1.
Externe Perspektive
Bei der Komplexität von Operationen in dieser Perspektive handelt es sich um ein a priori, von externer Stelle festgelegtes Merkmal von Operationen. Das heißt, das was als einfachere bzw. komplexere Operation gilt, wird für alle Beteiligten gleichermaßen durch eine in Bezug auf den Mathematikunterricht externe Institution, derzeit das BIFIE, festgelegt.
Diesbezügliche Hinweise auf einfachere bzw. komplexere Operationen geben bspw. das Dokument zu den inhaltlichen
und organisatorischen Grundlagen der standardisierten schriftlichen Reifeprüfung in Mathematik (BIFIE, 2013a) sowie die Praxishandbücher Mathematik AHS Oberstufe (BIFIE, 2013b, 2013c).
Die Aufgaben aus dem 1. Teil der schriftlichen standardisierten Reifeprüfung (Typ-1-Aufgaben zur Überprüfung der
Grundkompetenzen) sind nach BIFIE (2013a, S. 24) (weitgehend) technologiefrei lösbar. Die Lehrkräfte können daher
davon ausgehen, dass ein technologiefreies Lösen von Aufgaben in diesem Ausmaß unterrichtet bzw. eingefordert werden soll. Es ist folglich naheliegend anzunehmen, dass die Operationen in Typ-1-Aufgaben (weitgehend) dem einfacheren und nicht dem komplexeren Typ zuzuordnen sind. Diese Richtlinie wird bei der zentralen Klausur derzeit allerdings
nicht eingefordert. Auch im 1. Teil der Klausur ist der Einsatz von Technologie uneingeschränkt erlaubt. Eine gewisse
Steuerung des Technologieeinsatzes bei der Klausur ist momentan über die Art sowie die Anzahl der Aufgabenstellungen möglich. Bei 18 bis 25 Aufgaben im 1. Teil mit einer Bearbeitungszeit von gesamt 120 Minuten bleiben im Durchschnitt in etwa fünf bis sechs Minuten Arbeitszeit pro Aufgabe. Ein gänzliches Bearbeiten der Typ-1-Aufgaben mit
1
Falls nicht explizit auf einen bestimmten Schultyp verwiesen wird, beziehen sich alle Ausführungen auf die AHS
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Technologieunterstützung, soweit dies überhaupt möglich und sinnvoll ist, erscheint nur schwer durchführbar zu sein.
Was zudem weitgehend in diesem Zusammenhang bedeutet, bleibt ungeklärt.
Für die Bearbeitung der Aufgaben des 2. Teils der schriftlichen standardisierten Reifeprüfung (Typ-2-Aufgaben) hingegen, wird ab dem Haupttermin 2018 der verbindliche Einsatz von höherwertiger Technologie gefordert. Ab diesem
Zeitpunkt können somit im 2. Teil der Klausur (enthält Aufgaben zur Vernetzung von Grundkompetenzen) auch komplexere Operationen erwartet werden.
Explizite Hinweise zu dieser Klassifikation in einfachere und komplexere Operationen finden sich im Grundkompetenzen-Katalog (BIFIE, 2013b, S. 13f). Es handelt es sich dabei um normative Setzungen, bspw. im Inhaltsbereich Analysis (Abb. 1).
Abb. 1: Auszug aus dem Grundkompetenzen-Katalog für den Inhaltsbereich Analysis für die 7. und 8. Klasse (BIFIE, 2013b, S. 13)
Die Anwendung der Potenzregel, der Summenregel sowie der Regeln für die Ableitung von [k ⋅ f(x)] bzw. [f(k ⋅ x)]
würden demnach einfachere Operationen, hingegen insbesondere die Anwendung der Produkt-, der Quotienten sowie
der Kettenregel komplexere Operationen darstellen. Ähnliches gilt für die Integrationsmethoden (Abb. 2).
Abb. 2: Auszug aus dem Grundkompetenzen-Katalog für den Inhaltsbereich Analysis für die 8. Klasse (BIFIE, 2013b, S. 14)
Die Anwendung der Potenzregel, der Summenregel sowie die Integration von [𝑘 ∙ 𝑓(𝑥)] bzw. [𝑓(𝑘 ∙ 𝑥)] werden als
einfache Regeln des Integrierens bezeichnet. Komplexere Operationen würden daher insbesondere die partiellen Integration sowie die Anwendung der Substitutionsmethode umfassen.
Folgende Hinweise zu weiteren Beispielen für komplexere Operationen können auch in didaktischen Kommentaren zu
Aufgaben in BIFIE (2013c) entdeckt werden. Inwieweit diese jedoch als relevant für zukünftige Klausuren und zentrale
Aufgaben gewertet werden können, kann den Unterlagen nicht entnommen werden.

Operationen für die Produktsummenbildung und Grenzwertermittlung (BIFIE, 2013c, S. 84),
Aufgabe 1:
𝑏
Gegeben ist die Funktion f mit 𝑓(𝑥) = 𝑥 2 . Berechnen Sie das bestimmte Integral ∫𝑎 𝑓(𝑥)𝑑𝑥 mit Hilfe der Definition des Integrals als Grenzwert von Produktsummen und verwenden sie die Funktionswerte am rechten Rand der Rechtecksstreifen.
Kommentar:
Schon bei den einfachsten quadratischen Funktionen ist die Komplexität der erforderlichen Operationen für die Produktsummenbildung und die Grenzwertermittlung meist zu groß. Aber warum soll man vom eigentlichen Problem des Grenzwertes von
Produktsummen durch schwierige Termumformungen und Reihenentwicklungen abgeschreckt werden, wenn CAS-Werkzeuge
die Rechenarbeit übernehmen können, und man sich dadurch auf das Modellieren konzentrieren kann?

Grenzwertermittlungen in der Differentialrechnung (BIFIE, 2013c, S. 97f),
Aufgabe 2:
Berechnen Sie den Differenzenquotienten
∆𝑦
∆𝑥
=
𝑓(𝑥+ℎ)−𝑓(𝑥)
ℎ
für die folgenden Funktionsbeispiele, vereinfachen Sie den Term und
ermitteln Sie den Grenzwert für ℎ → 0! Ist eine Regel erkennbar? Formulieren Sie die erkennbare Regel!
Beispiele: (1) 𝑓1 (𝑥) = 𝑥 3 (2) 𝑓2 (𝑥) = 𝑥 7 (3) 𝑓3 (𝑥) = 𝑥 −2
57
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Kommentar:
Der größte Nutzen der Technologie in dieser Phase besteht wohl in der Auslagerung komplexer Operationen und in der direkten
Verfügbarkeit von Visualisierungen.


Lösen von polynomialen Gleichungen vom Grad drei sowie
die Berechnung von bestimmten Integralen mit teilweise unbekannten Grenzen (BIFIE, 2013c, S. 101f).
Aufgabe 3:
Eine Firma stellt kugelförmige Öltanks her, die 10000 Liter Wasser fassen. Im Inneren des Tanks soll ein Kontakt angebracht
werden, der ein Warnsignal als Aufforderung für das Nachfüllen auslöst, wenn nur mehr 1000 Liter Öl im Tank sind. In welcher
Höhe muss der Kontakt angebracht werden?
Kommentar:
Bei dieser Aufgabe besteht der Vorteil der Technologie in der Auslagerung komplexer Operationen.
2.
Perspektive des Kompetenzmodells aus der Sekundarstufe I
Zur Klassifikation von Operationen in einfachere bzw. komplexere Operationen kann auch das aus der Sekundarstufe I
stammende Kompetenzmodell (Heugl und Peschek 2007), welches in BIFIE (2013b, S. 18f) für die Sekundarstufe II
(AHS) adaptiert, dargestellt und erläutert wird, herangezogen werden.
In diesem Kompetenzmodell beschreibt die Komplexitätsdimension die Art und den Grad der Vernetzung. Dabei werden die drei Komplexitätsbereiche Einsetzen von Grundkenntnissen und -fertigkeiten, das Herstellen von Verbindungen
sowie das Einsetzen von Reflexionswissen unterschieden (Heugl und Peschek 2007, S. 14):
Einsetzen von Grundkenntnissen und -fertigkeiten (K1): […] meint die Wiedergabe oder direkte Anwendung von grundlegenden
mathematischen Begriffen, Sätzen, Verfahren und Darstellungen. In der Regel ist nur reproduktives mathematisches Wissen und
Können oder die aus dem Kontext unmittelbar erkennbare direkte Anwendung von mathematischen Kenntnissen bzw. Fertigkeiten geringer Komplexität erforderlich.
Herstellen von Verbindungen (K2): […] ist erforderlich, wenn der mathematische Sachverhalt und die Problemlösung komplexer sind, sodass mehrere Begriffe, Sätze, Verfahren, Darstellungen bzw. Darstellungsformen (aus verschiedenen mathematischen Gebieten) oder auch verschiedene mathematische Tätigkeiten in geeigneter Weise miteinander verbunden werden müssen.
Einsetzen von Reflexionswissen, Reflektieren (K3): Reflektieren meint das Nachdenken über Zusammenhänge, die aus dem dargelegten mathematischen Sachverhalt nicht unmittelbar ablesbar sind.
Reflektieren umfasst das Nachdenken über eine mathematische Vorgehensweise (Lösungsweg/Lösung, Alternativen), über Vor
und Nachteile von Darstellungen/Darstellungsformen bzw. über mathematische Modelle (Modellannahmen, Idealisierungen,
Aussagekraft, Grenzen des Modells, Modellalternativen) im jeweiligen Kontext sowie das Nachdenken über (vorgegebene) Interpretationen, Argumentationen oder Begründungen.
Nach diesem Klassifikationsschema würden die Aufgaben bzw. Aufgabenteile zum Operieren vom Komplexitätsgrad
eins somit die einfacheren Operationen darstellen, während diejenigen vom Komplexitätsgrad zwei die komplexeren
Operationen bilden. Der zweite Komplexitätsgrad würde demzufolge insbesondere dann vorliegen, wenn für die korrekte Durchführung der geforderten Operation(en) Wissen aus verschiedenen mathematischen Gebieten erforderlich ist
bzw. die Handlung mehrschrittig ist. Der dritte Komplexitätsgrad, das Reflektieren, als Möglichkeit zur Beschreibung
von komplexeren Operationen erscheint hingegen wenig sinnvoll zu sein. In Bezug auf das Operieren beschreibt Reflektieren nach Heugl und Peschek (2007, S. 14) das Nachdenken über eine Operation, bspw. über eine Lösung oder einen
Lösungsweg und charakterisiert daher nicht direkt die Anforderungen des eigentlichen Operationsprozesses.
Werden nun die bei der externen Perspektive genannten drei Aufgaben unter dem Aspekt dieser Komplexitätsdimension
betrachtet, so ist leicht einsehbar, dass diese Aufgaben oder zumindest diejenigen Anforderungen der Aufgaben, welche
sich auf Operationen beziehen, ohne Schwierigkeiten dem zweiten Komplexitätsgrad zugeordnet werden können. Diese
drei genannten Beispiele für Operationen, die auch zuvor bereits als komplexer beschrieben wurden, würden somit auch
im Sinne des Komplexitätsgrades des Kompetenzmodells aus der Sekundarstufe I zu den komplexeren Operationen zu
zählen sein.
Unterschiede zwischen der externen und der vom Kompetenzmodell motivierten Perspektive werden offensichtlich,
wenn bspw. die Ableitung der Funktionen 𝑓 bzw. 𝑔 mit den Funktionsvorschriften
𝑓(𝑥) = 𝑥 2 ⋅ 𝑒 2𝑥 bzw.
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
𝑔(𝑥) = 𝑥 2 + 𝑒 𝑥 − sin(2𝑥)
betrachtet werden.
𝑓 ′ (𝑥) = 2𝑥 ⋅ 𝑒 2𝑥 + 𝑥 2 ⋅ 2𝑒 2𝑥
Für die korrekte Durchführung der Operation müssen die Ableitung von Potenzfunktionen, die Ableitung der Exponentialfunktion in Verbindung mit der Kettenregel sowie die Produktregel in geeigneter Weise miteinander verbunden
werden.
𝑔′ (𝑥) = 2𝑥 + 𝑒 𝑥 − 2 ⋅ cos(2𝑥)
Hier kommen die Ableitung von Potenzfunktionen, die Ableitung der Exponentialfunktion, die Ableitung der Sinusfunktion in Verbindung mit der Kettenregel sowie die Summenregel zum Einsatz.
Nach der Klassifikation des Kompetenzmodells weisen beide Operationen denselben Komplexitätsgrad auf, voraussichtlich den Grad zwei, da in beiden Fällen mehrere Differentiationsregeln in geeigneter Weise miteinander verknüpft
werden müssen. Nach der externen Perspektive stellt die Ableitung von 𝑓 eine komplexere, die Ableitung von 𝑔 hingegen eine einfachere Operation dar. Zwei nicht deckungsgleiche Komplexitätsbegriffe mit derselben Bezeichnung liegen
demnach vor.
3.
Individuelle Perspektive
Da bei der zentralen Klausur für beide Aufgabenbereiche, also im 1. und im 2. Teil, Technologie zulässig ist, obliegt es
am Ende den Schülerinnen und Schülern zu entscheiden, ob die vorliegende Operation komplexer ist und auf die Technologie ausgelagert oder einfacher ist und daher selbst ausgeführt wird. Wobei auch bei subjektiv empfundenen einfacheren Operationen immer noch ein Technologieeinsatz in Hinblick auf eine Kontrolle, vorausgesetzt die zeitliche Situation lässt dies zu, durchaus möglich und sinnvoll ist. Diese Sichtweise wird vor allem für die Organisation des Mathematikunterrichts mit Technologie in den berufsbildenden höheren Schulen (BHS-Modell) konstatiert. So soll sich hier
der bedarfsgerechte Einsatz von Technologie explizit insbesondere auch in Eigenverantwortung der Lernenden vollziehen (BIFIE, 2011, S. 18):
Als Idealszenario muss die Ausstattung jeder/jedes einzelnen Lernenden mit mobilen Computern oder grafikfähigen Taschenrechnern angesehen werden, damit der Computer auch für Hausaufgaben jederzeit zur Verfügung steht. Erst der „eigene“
Computer ermöglicht den bedarfsgerechten Einsatz des Computers als Werkzeug, passend zur Situation und in Eigenverantwortung der Lernenden.
Diese Sichtweise betont somit verstärkt die Eigenverantwortung der Lernenden bei der Auslagerung von Operationen
auf die verfügbare Technologie. So liegt es, um es an einem Beispiel zu veranschaulichen, nicht mehr in der Verantwortung der Lehrkraft in der 11. Schulstufe das Umformen von Gleichungen zu thematisieren, wenn die Lernenden aufgrund einer unüberlegten Auslagerung von Operationen etwaige diesbezügliche Defizite aufweisen.
4.
Technologische Perspektive
Nachdem das Operieren immer die verständige und zweckmäßige Auslagerung an die verfügbare Technologie mit einschließt (BIFIE, 2013b, S. 21) und auch bei der zentralen Klausur potentiell zu jedem Zeitpunkt elektronische Hilfsmittel eingesetzt werden dürfen, kann eine Annäherung an die Komplexitätsfrage auch in der entgegengesetzten Richtung
erfolgen. Eine Operation wird zuerst auf die verfügbare Technologie ausgelagert und dann wird rückblickend beurteilt,
ob es sich dabei um eine einfachere bzw. komplexere Operation handelt. Insbesondere sind in dieser Hinsicht diejenigen Operationen als komplexer einzustufen, welche in Bezug auf die Eingabe sowie die Interpretation der Ausgabe
hohe Anforderungen an die Lernenden stellen. Als Beispiel dazu soll ein Teil einer Aufgabe aus der Aufgabensammlung des BIFIE zur Vorbereitung auf die schriftliche Klausur (BIFIE, 2014, S. 419) herangezogen werden.
Aufgabe 4: Kugelstoßen
Für die Beschreibung der Flugbahn der gestoßenen Kugel beim Kugelstoßen kann mit guter Näherung die Gleichung der Wurfparabel verwendet werden.
Diese Gleichung lautet: 𝑦 = 𝑡𝑎𝑛(𝛽) ∙ 𝑥 −
𝑔
2𝑣02 ∙𝑐𝑜𝑠(𝛽)2
∙ 𝑥 2 (𝑔 = 9,81 𝑚/𝑠 2 )
Dabei ist 𝑣0 die Abwurfgeschwindigkeit der Kugel und 𝛽 der Winkel, unter dem die Parabel die x-Achse schneidet.
59
Mathematik im Unterricht
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Die größte Wurfweite wird für 𝛽 = 45° erzielt. […]
Als Teil dieser Aufgabe sind die Nullstellen dieser Funktion in Abhängigkeit von 𝑥 zu bestimmen. Wird nun diese zur
Grundkompetenz AG 2.3 (Quadratische Gleichungen in einer Variablen umformen/lösen) zugehörige Operation durchgeführt, ist ohne Technologieunterstützung dabei, wie auch in der Lösungserwartung angeführt, folgender Lösungsweg
denkbar:
tan(β) ⋅ x −
2v02
𝑥 ⋅ (tan(β) −
𝑥 =0∨𝑥 =
g
⋅ x2 = 0 ⟺
⋅ cos(β)2
g
⋅ x) = 0 ⟺
2v02 ⋅ cos(β)2
tan(β) ⋅ 2v02 ⋅ cos(β)2
𝑔
Jetzt könnte man annehmen, dass die Auslagerung dieser Operation auf die Technologie eine wesentliche Vereinfachung darstellt. Die Auslagerung auf das Ti-Nspire CX CAS (Version 4.0.0.235) hält jedoch eine Überraschung bereit
und liefert dabei folgende Ausgabe (Abb. 3).
Abb. 3: Ausgabe bei Auslagerung der Operation auf das Ti-Nspire CX CAS (Version 4.0.0.235)
Zunächst sind zwei Lösungen angegeben, die auch mit 𝑥 = gekennzeichnet sind. Danach folgt mit
1
cos(𝛽)2 ⋅𝑣 2
ein weite-
rer Term, welcher angeblich Null ist.
Vom Standpunkt der Lernenden aus betrachtet, stellt sich nun die Frage, ob es sich dabei um eine weitere Lösung der
Gleichung handelt oder nicht. Die Mathematik zeigt, dass es bei einer quadratischen Gleichung maximal zwei Lösungen
𝑔
2
geben kann. Wozu dann diese Ausgabe? Eine Faktorisierung von tan(𝛽) ∙ 𝑥 − 2
2 ∙ 𝑥 verschafft Einsicht (Abb.
2𝑣0 ∙cos(𝛽)
4).
Abb. 4: Ausgabe bei Faktorisierung des Terms durch das Ti-Nspire CX CAS (Version 4.0.0.235)
Aus der Faktorisierung können dabei die folgenden drei Faktoren entnommen werden:
2 ⋅ sin(𝛽) ⋅ cos(𝛽) ⋅ 𝑣 2 − 𝑔 ⋅ 𝑥
1
2 ⋅ cos(𝛽)2 ⋅ 𝑣 2
𝑥
Die erste und der letzte Faktor führen auf die beiden Lösungen der Gleichung. Der zweite Faktor ist genau jener weitere
Term der Ausgabe in Abb. 3. Da es sich bei
1
2⋅cos(𝛽)2 ⋅𝑣 2
stimmten Größen 𝛽 und 𝑣 handelt, legt die Ausgabe
ebenfalls um einen Faktor in diesem Produkt mit den unbe1
2⋅cos(𝛽)2 ⋅𝑣 2
= 0 nahe, diesen Term als weitere potentielle Möglich-
keit für eine Lösung näher zu betrachten. Es ist jedoch klar, dass dieser Term keine weitere Lösung der Gleichung liefern kann. Nur obliegt es in diesem Fall den Lernenden dies festzustellen bzw. zu erkennen. Dies stellt für Schülerinnen
und Schüler eine anspruchsvolle Aufgabe dar.
Dieses Beispiel zeigt, dass eine Auslagerung von Operation auf die Technologie, unerwartet hohe Anforderungen in
Bezug auf die Interpretation der Ausgabe an die Schülerinnen und Schüler stellen kann. Wenn nun derartige Auslagerungen von operativen Tätigkeiten für die korrekte Lösung, unter anderem auch wie in diesem Fall, Kompetenzen im
60
Mathematik im Unterricht
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Interpretieren erfordert, so kann durchaus von einer verstärkten Vernetzung von verschiedenen mathematischen Tätigkeiten gesprochen werden. In der Perspektive des Kompetenzmodells aus der Sekundarstufe I ist das ein klares Indiz für
einen höheren Komplexitätsgrad.
Bei Verwendung des Ti-Nspire CX CAS (Version 4.0.0.235) erscheint daher eine Zuordnung dieser Teilaufgabe zu den
komplexeren Operationen durchaus naheliegend. Die Computeralgebrasysteme Geogebra, Derive sowie Maxima liefern
diesen weiteren Term bei der Ausgabe der Lösungen nicht. Daraus ergibt sich die Forderung, dass diesbezüglich zwischen den einzelnen Computeralgebrasystemen unterschieden werden muss.
Resümee
Mit diesen Ausführungen wurde versucht zu zeigen, dass aktuell mehrere Sichtweisen zur Komplexität von Operationen
existieren, die durchaus auch schulartenspezifisch ausgeprägt sind. Während in den BHS vor allem die Eigenverantwortung der Lernenden betont wird, gibt es für die AHS Hinweise auf einen verstärkt externen Einfluss. Ob die eine oder
die andere Perspektive zu favorisieren ist, hängt meines Erachtens vom eingenommenen Standpunkt ab. Zum einen
liefert die externe Perspektive den Lehrkräften eine gewisse Sicherheit für die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die zentrale Klausur, zum anderen aber auch die Aufgabe, einen darauf abgestimmten Unterricht anzubieten.
Klar unterschätzt in der Diskussion wird meiner Ansicht nach die technologische Perspektive auf die Komplexität von
Operationen. Gerade die letztgenannte Aufgabe zum Kugelstoßen zeigt auf, dass bei der Thematisierung der Auslagerung von Operationen und den dafür notwendigen Kompetenzen eine Abhängigkeit von der verfügbaren Technologie
berücksichtigt werden muss.
Literaturverzeichnis
BIFIE. (2011). Praxishandbuch Angewandte Mathematik BHS.
BIFIE. (2013a). Die standardisierte schriftliche Reifeprüfung in Mathematik. Inhaltliche und organisatorische Grundlagen zur Sicherung mathematischer Grundkompetenzen (Stand: März 2013), BIFIE.
https://www.bifie.at/system/files/dl/srdp_ma_konzept_2013-03-11.pdf. [Zuletzt aufgerufen am 07.08.2015]
BIFIE (Hrsg.). (2013b). Praxishandbuch Mathematik AHS Oberstufe. Auf dem Weg zur standardisierten kompetenzorientierten Reifeprüfung. Teil 1 (2. Aufl.). Wien.
BIFIE (Hrsg.). (2013c). Praxishandbuch Mathematik AHS Oberstufe. Auf dem Weg zur standardisierten kompetenzorientierten Reifeprüfung. Teil 2. Wien.
BIFIE. (2014). Übungsaufgaben zur Vorbereitung auf die standardisierte kompetenzorientierte schriftliche Reifeprüfung in Mathematik (AHS), BIFIE. https://www.bifie.at/node/2681. [Zuletzt aufgerufen am 07.08.2015]
Heugl, H. & Peschek, W.; Dangl, M.; Jurkowitsch, G.; Katzenberger, M.; Kröpfl, B.; Picher, F.; Schneider, E. & Scheriau, R. (Mitarbeiter) (Institut für Didaktik der Mathematik - Österreichisches Kompetenzzentrum für Mathematikdidaktik, Hrsg.). (2007). Standards für die mathematischen Fähigkeiten österreichischer Schülerinnen und Schüler
am Ende der 8. Schulstufe. Version 4/07, Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung - Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt.
Adresse des Autors:
Mag. Simon Plangg
Didaktik der Mathematik
Universität Salzburg
Hellbrunnerstr. 34
5020 Salzburg
[email protected]
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Eine Gleichung für den Torus
Fritz Schweiger
Zusammenfassung. Die räumliche analytische Geometrie ist in der Schule nur wenig vertreten. Es gibt einige Flächen im Raum,
deren Gleichungen nicht wesentlich schwieriger aussehen als die Gleichungen für Ebene oder Kugel. Ein Beispiel ist der Torus.
Die räumliche analytische Geometrie ist in der Schule eher bescheiden vertreten. Man verwendet die Gleichung einer
Ebene
𝐴𝑥 + 𝐵𝑦 + 𝐶𝑧 = 𝐷
und gelegentlich die Gleichung einer Kugel, etwa der Einheitskugel
𝑥 2 + 𝑦 2 + 𝑧 2 = 1.
Aber es gibt viele andere Flächen im Raum, deren Gleichungen nicht wesentlich schwieriger aussehen. Ein Beispiel ist
der Torus. Um konkret zu bleiben, lassen wir einen Kreis mit Radius 1, dessen Mittelpunkt von der z-Achse den Abstand 2 habe, um diese Achse rotieren. So entsteht ein Torus, anschaulich ein Schlauch oder ein Doughnut (Abb. 1).
Abb. 1: Entstehung des Torus durch Rotation eines Kreises um die z-Achse
Wir betrachten den Schnitt mit der Ebene y = 0 (Abb. 2).
Dann hat ein Punkt des Kreises (𝑥 − 2)2 + 𝑧 2 = 1 die Koordinaten (𝜛𝐼 (𝑧), 𝑧) = (2 − √1 − 𝑧 2 , 𝑧), wenn er an der
Innenseite des Torus liegt und die Koordinaten (𝜛𝐴 (𝑧), 𝑧) = (2 + √1 − 𝑧 2 , 𝑧), wenn er an der Außenseite liegt. Dies
ergibt
𝜛𝐼 2 = 5 − 𝑧 2 − 4√1 − 𝑧 2 , 𝜛𝐴 2 = 5 − 𝑧 2 + 4√1 − 𝑧 2 .
Da 𝑟 2 = 𝑥 2 + 𝑦 2 das Quadrat des Abstandes eines Punktes (𝑥, 𝑦, 𝑧) von der z-Achse ist, erhalten wir als Gleichung des
Torus
(𝑥 2 + 𝑦 2 − 5 + 𝑧 2 − 4√1 − 𝑧 2 ) (𝑥 2 + 𝑦 2 − 5 + 𝑧 2 + 4√1 − 𝑧 2 ) =
𝑥 4 + 𝑦 4 + 𝑧 4 + 2𝑥 2 𝑦 2 + 2𝑦 2 𝑧 2 + 2𝑧 2 𝑥 2 − 10𝑥 2 − 10𝑦 2 + 6𝑧 2 + 9 = 0.
Für 𝑧 = 0 erhält man
𝑥 4 + 𝑦 4 + 2𝑥 2 𝑦 2 − 10𝑥 2 − 10𝑦 2 + 9 = (𝑥 2 + 𝑦 2 − 1)(𝑥 2 + 𝑦 2 − 9).
Der Schnitt des Torus mit der Ebene 𝑧 = 0 besteht aus dem innersten und dem äußersten Kreis (Abb. 2).
62
Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
Abb. 2: Schnitt des Torus mit der Ebene 𝑦 = 0 (mittig) bzw. mit der Ebene 𝑧 = 0 (rechts)
Ein möglicher Erweiterungsstoff könnte sein, auch eine Parameterdarstellung des Torus herzuleiten. Ein Ergebnis ist
etwa
(𝑥, 𝑦, 𝑧) = ((2 + 𝑐𝑜𝑠𝜃) 𝑐𝑜𝑠𝜙, (2 + 𝑐𝑜𝑠𝜃) 𝑠𝑖𝑛𝜙, 𝑠𝑖𝑛𝜃 ).
So schön ein Torus auch aussieht, er ist nicht mehr so gleichförmig wie die Kugel. Man kann dies an der Betrachtung
der Tangentialebenen in drei ausgewählten Punkten sehen. Im Punkt (3,0,0) ist die Tangentialebene die Ebene x = 3
(Abb. 3).
Man sieht und es ist leicht nachzurechnen, dass diese Ebene nur den Punkt (3,0,0) mit dem Torus gemeinsam hat. Wählen wir den Punkt (2,0,1), so ist die Ebene z = 1 offenbar tangential. Anschaulich berührt diese Ebene den Torus von
oben (Abb. 3). Setzt man in der Gleichung des Torus z = 1, so erhält man
𝑥 4 + 𝑦 4 + 2𝑥 2 𝑦 2 − 8𝑥 2 − 8𝑦 2 + 16 = (𝑥 2 + 𝑦 2 − 4)2 = 0.
Dies ist, wie zu erwarten, die Gleichung des Kreises, wo sich die Ebene z = 1 und der Torus berühren.
Abb. 3: Tangentialebene im Punkt (3,0,0) (links) bzw. im Punkt (2,0,1) (mittig), Schnitt des Torus mit der Ebene 𝑥 = 1 (rechts)
Nun wählen wir den Punkt (1,0,0). Die Tangentialebene ist x = 1. Schneidet man diese Ebene mit dem Torus, so erhalten wir
𝑦 4 + 𝑧 4 + 2𝑦 2 𝑧 2 − 8𝑦 2 + 8𝑧 2 = 0.
Diese Kurve (in der y-z-Ebene) sieht etwas neuartig aus (Abb. 3), aber wir haben Glück. Eine Rechnung zeigt, dass
𝑦 4 + 𝑧 4 + 2𝑦 2 𝑧 2 − 8𝑦 2 + 8𝑧 2 = ((𝑦 − 2)2 + 𝑧 2 )((𝑦 + 2)2 + 𝑧 2 ) − 16
gilt.
Diese Kurve ist daher eine Lemniskate, eine spezielle Cassinische Kurve, der geometrische Ort aller Punkte (𝑦, 𝑧), für
welche das Produkt der Abstände von den festen Punkten (2,0) und (−2,0) konstant gleich 4 ist.
Vielleicht sollte man einige Worte zum Begriff der Tangentialebene anfügen. Leider haben Funktionen in mehreren
Variablen noch keinen festen Platz in der Schule, obwohl uns diese Funktionen dort auf Schritt und Tritt begegnen
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Mathematik im Unterricht
Heft Nr. 06, 2015
𝜕𝐴
(Schweiger, 1995). Die Flächenformel für das Rechteck 𝐴 = 𝑎 𝑏 belegt dies. Die partielle Ableitung = 𝑏 ist leicht zu
𝜕𝑎
interpretieren. Ist die Länge der Seite 𝑏 klein, so bewirkt auch eine Änderung von 𝑎 nur wenig. Der Gradient
(
𝜕𝐹
𝜕𝑥
(𝑥0 , 𝑦0 , 𝑧0 ),
𝜕𝐹
𝜕𝑦
(𝑥0 , 𝑦0 , 𝑧0 ),
𝜕𝐹
𝜕𝑧
(𝑥0 , 𝑦0 , 𝑧0 )) einer Funktion 𝐹(𝑥, 𝑦, 𝑧) ist geometrisch leicht zu deuten. Die Tangenti-
alebene im Punkt ist (𝑥0 , 𝑦0 , 𝑧0 ) ist die Ebene durch diesen Punkt mit dem Gradienten als Normalvektor.
In unserem Beispiel kann man aber anschaulich anders vorgehen. Durch jeden Punkt (𝑥0 , 𝑦0 , 𝑧0 ) auf dem Torus gehen
zwei Kreise, der Breitenkreis mit Radius 𝑟0 = √𝑥 2 + 𝑦 2 und Mittelpunkt (0,0, 𝑧0 ) und der Meridian mit Radius 1 und
𝑦
Mittelpunkt (2𝑐𝑜𝑠𝜙0 , 2𝑠𝑖𝑛𝜙0 , 0). Die Richtung 𝜙0 ist durch 𝑡𝑎𝑛𝜙0 = 0 besimmt. Ein Breitenkreis ist in der oben ge𝑥0
nannten Parameterdarstellung durch 𝜃 = 𝜃0 bestimmt und ein Meridian durch 𝜙 = 𝜙0. Die Tangenten dieser beiden
Kreise im Punkt (𝑥0 , 𝑦0 , 𝑧0 ) spannen die gesuchte Tangentialebene auf. Interessierte Schülerinnen und Schüler könnten
überlegen, dass diese Tangenten stets aufeinander senkrecht stehen.
Literatur
Schweiger, F. (1995): Funktionen in mehreren Variablen – Aschenputtel der Schulmathematik. In: Didaktikhefte der
ÖMG, H 24, S. 21-34.
Adresse des Autors:
em. O. Univ-Prof. Dr. Fritz Schweiger
School of Education & Fachbereich Mathematik
Universität Salzburg
Hellbrunner Str. 34
5020 Salzburg
Österreich
[email protected]
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