Vom Leben statt vom Sterben reden

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Tages-Anzeiger – Montag, 27. April 2015 Zürich & Region
Streitgespräch
Soll die Stadt im
Seefeld günstigen
Wohnraum bauen?
Schuhmacher
Wie Ex-Börsianer
Fritz Huwyler heute
sein Geld verdient.
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Palliativpflege
Vom Leben statt vom Sterben reden
Selbstbestimmtes Sterben wird meist im Zusammenhang mit Sterbehilfe thematisiert.
Roland Kunz, Palliativmediziner der ersten Stunde, findet, das greife zu kurz.
Kunz stellt in seinen Gesprächen mit
den Schwerkranken oft fest, dass deren
Ärzte mit ihnen nie klar und offen darüber gesprochen haben, wie es um sie
steht. Und welche Möglichkeiten man
ihnen anbieten kann. Studien aus den
USA zeigen auf, dass nur ein Drittel der
Onkologen mit den unheilbar kranken
Patienten das Lebensende zum Thema
gemacht hat. Stattdessen machen sie mit
ihnen bis kurz vor dem Tod Chemotherapien, obwohl diese gemäss jüngsten
Studien aus Harvard und Cornell deren
Lebensqualität eher verschlechtern und
die Lebenszeit nicht verlängern. Kunz
kann das nicht verstehen: «Wichtig
Helene Arnet
Affoltern am Albis – Hier würde ich
gerne leben, denkt sich mancher, der an
der Villa Sonnenberg am Sonnenhang
von Affoltern am Albis vorbeispaziert.
Von der Terrasse aus sieht man in der
Ferne verschneite Berge. Gelebt wird in
dieser Villa tatsächlich sehr bewusst,
denn hier werden Menschen betreut
und gepflegt, die unheilbar krank sind.
Seit fünf Jahren ist die Villa Sonnenberg
eine Palliativstation – etwa 400 Menschen sind in der Zeit hier gestorben.
Und doch ist die Villa Sonnenberg keine
Endstation.
Roland Kunz ist Palliativmediziner
der ersten Stunde – mit internationalem
Renommee. Gian Domenico Borasio,
Leiter des Schweizer Lehrstuhls für Palliativmedizin in Lausanne, bezeichnete
Kunz als «einen der hervorragendsten
Palliativmediziner», die er kenne, als er
kürzlich am Spital Affoltern über seine
Bestseller «Über das Sterben» und
«Selbst bestimmt sterben» sprach. Kunz
sagt von sich nur: «Ich arbeite schon
lange auf diesem Fachgebiet.» Gesprächiger wird er, wenn es um ebendieses
Fachgebiet geht.
Dass eine palliative
Behandlung direkt
zum Sterben führt,
ist ein Irrtum.
wäre, dass frühzeitig über mögliche palliative Begleitmassnahmen gesprochen
wird. Damit der Patient einschätzen
kann, welche Optionen er hat.»
Die zwei Irrtümer
Es gebe zwei grosse Irrtümer im Zusammenhang mit der palliativen Behandlung und Pflege, sagt Kunz. Erster Irrtum: Sie führt direkt zum Sterben. Zweiter Irrtum: Man macht einfach nichts
mehr. «Diese Vorstellung ist auch unter
Ärzten und Pflegenden noch erstaunlich
weit verbreitet.» So komme es, dass
viele Patienten zu oft noch in Akutabteilungen weiterbehandelt würden, was
nicht nur hohe Kosten verursache, sondern oft verhindere, dass diesen Menschen wirklich geholfen werde.
Kunz beschäftigt sich seit 30 Jahren
intensiv mit Palliative Care. Zu Beginn
sei vor allem die Medikation im Vordergrund gestanden: Wie kann ich dem
Kranken die Schmerzen lindern? Wie
bringe ich die Übelkeit weg? «Wir haben
an den Kongressen alles förmlich aufgesogen, was wir zu diesem Thema finden
konnten.» Mittlerweile sei die medikamentöse Behandlung gut erforscht und
wirkungsvoll. «Jetzt stehen die Beratung
und die Unterstützung des Patienten
und der Angehörigen im Vordergrund.»
Für diese Entscheidungsfindung müsse
aber auch das medizinische Personal
sensibilisiert werden.
Lebensmut kommt oft wieder
Roland Kunz im Gespräch mit einem Patienten. Foto: Doris Fanconi
Nur rund 10 Prozent der Menschen sterben plötzlich. Die grosse Mehrheit sieht
sich früher oder später damit konfrontiert, dass er oder sie in absehbarer Zeit
sterben wird. «Diesen Lebensabschnitt
vor dem Sterben müsste man differenzierter anschauen», sagt Kunz. Und zwar
nicht mit dem Fokus aufs Sterben, sondern aufs Leben. Denn beim derzeit oft
behandelten Thema des selbstbestimmten Sterbens gehe es zu oft nur um Sterbehilfe; darum, den Stecker zu ziehen.
«Das greift viel zu kurz.»
Laut Kunz kann man heute über 90
Prozent der Menschen, die an einer
nicht mehr heilbaren Krankheit leiden,
die Schmerzen wirksam und ohne
grosse Bewusstseinstrübungen nehmen.
Er erzählt von einem Mann, der völlig
erschöpft in die Villa Sonnenberg kam,
weil er unter starken Schmerzen litt. Er
wollte möglichst schnell sterben. «Die
Schmerzen bekamen wir relativ schnell
in den Griff – danach erwachten seine
Lebensgeister wieder.» Er wurde nicht
gesund. Aber er konnte sich mit seiner
Familie noch zwei lang gehegte Wünsche erfüllen, eine Auslandreise und
den Besuch einer Veranstaltung, die ihm
sehr viel bedeutete.
Selbstbestimmtes Sterben heisst für
Roland Kunz, dass alle Beteiligten bereits früh daran denken, welchen Weg
man einschlagen will. «Oft werden
Krebskranke von den Hausärzten automatisch zum Onkologen geschickt, auch
wenn der nichts mehr ausrichten kann.»
Auf einer Palliativstation jedoch könnte
man diesen Patienten stabilisieren, ihm
aufzeigen, wie er seine Symptome in den
Griff bekommt, und ihn, wenn er sich
dazu imstande fühlt, wieder nach Hause
entlassen. Meist dauert das ein bis zwei
Wochen. Doch kommt es bei komplexen
Schmerztherapien vor, dass jemand sogar einige Monate bleibt – «wenn wir der
Krankenkasse die Notwendigkeit dazu
aufzeigen, bezahlt sie auch solche längeren Aufenthalte anstandslos», sagt Kunz.
Die Zielsetzung ändert sich
Für Kunz beginnt das selbstbestimmte
Sterben sogar noch einen Schritt früher.
Wenn der Kardiologe stolz darauf hinweise, dass Todesfälle wegen HerzKreislauf-Krankheiten um ein Drittel gesunken seien, sei das nicht zu Ende gedacht. «Dann nimmt die Sterbeursache
einfach anderswo zu – vor allem bei der
Demenz», sagt Kunz. Beispiel: Ein
83-jähriger Mann hat eine leicht defekte
Herzklappe. Kein Problem für einen
Herzchirurgen, diese zu ersetzen. Vom
Herzen her kann der Mann nun 90 werden. Doch wenn der Kopf nicht mitspielt? Wäre es ihm nicht vielleicht besser ergangen, wenn er in drei bis vier
Jahren an Herzversagen gestorben wäre,
statt Gefahr zu laufen, längere Zeit mit
einer Demenz vor sich hinzudämmern?
«Das sind schwierige Entscheide, doch
sollten wir uns ihnen stellen.»
Letztes Jahr konnte mehr als die
Hälfte der Patienten der Villa Sonnenberg wieder heim. Vor fünf Jahren war
es ein Drittel. «Das Bewusstsein, dass
Palliativstationen keine Sterbehospize
sind, hat sich verbessert», sagt Kunz.
«Doch werden immer noch viel zu viele
Menschen in Akutspitälern so behandelt, als ob es weiterginge.» Viele Ärzte
und Patienten interpretieren eine Überweisung in die Palliativpflege immer
noch als ein Aufgeben. Dabei handele es
sich um einen Wechsel in der Zielsetzung. «Man führt den aussichtslosen
Kampf gegen die Krankheit nicht weiter,
sondern sorgt trotz Krankheit für einen
guten letzten Lebensabschnitt.»
Es fehlt eine Palliativ-Spitex
In Zürich gibt es drei Spitäler
mit eigenen Palliativzentren.
Es fehlt aber vor allem
an Betreuungsmöglichkeiten
für unheilbar Kranke, die
zu Hause bleiben möchten.
Helene Arnet
Zürich – Vor fünf Jahren hat der Bund
eine nationale Strategie für Palliative
Care für die Jahre bis 2012 definiert, die
mittlerweile bis 2015 verlängert wurde:
Darin hält er fest, welche spezialisierten
Angebote es für die Versorgung von unheilbar kranken Menschen braucht. Die
Umsetzung hat er den Kantonen delegiert. In Zürich konnten sich daraufhin
Spitäler um die entsprechenden Leistungsaufträge bewerben. Derzeit gibt es
im Kanton Zürich im Bereich der Akut-
spitäler sieben Kompetenzzentren für
spezialisierte Palliative Care und drei
sozialmedizinische Institutionen mit
Palliativauftrag im Bereich der Langzeitpflege.
Umgesetzt wurden diese unterschiedlich: So gibt es im Akutbereich lediglich am Universitätsspital, am Kantonsspital Winterthur und am Spital Affoltern eigenständige Palliativabteilungen. Einige andere Spitäler haben einzelne Betten für Patienten reserviert,
welche palliativ behandelt werden – was
Fachleute allerdings als nicht optimal
betrachten. «Die Kultur und das Denken
in der Palliativpflege sind grundlegend
anders als auf einer gewöhnlichen Station im Akutspital», sagt Roland Kunz,
Leiter der Villa Sonnenberg in Affoltern
am Albis, wo in zehn Betten ausschliesslich Palliativpflege angeboten wird. Es
sei vorab für Pflegende schwierig umzuschalten, wenn in einem Zimmer ein
Mann mit einem Beinbruch liegt, im
nächsten einer mit einem unheilbaren
Krebs.
Ambulante Betreuung fehlt oft
Ein Zwischenbericht zur Umsetzung der
Nationalen Strategie Palliative Care
kommt zwar zum Schluss, dass das Angebot der Palliativpflege in der Schweiz
langsam «in Schwung» komme. Doch
beurteilt ein Drittel der befragten Kantone das Angebot im Spitalbereich als
quantitativ und qualitativ ungenügend.
Ungenügend und verbesserungswürdig
ist aber vor allem das ambulante Angebot für unheilbar kranke Menschen, die
zu Hause bleiben möchten.
Auch hier brauche es speziell auf Palliativpflege geschultes Betreuungspersonal, welches Tag und Nacht erreichbar ist. In Zürich gibt es dafür die spezialisierte Spitex Onko plus. Sie kommt
in der Nacht aber nur zu jenen Kranken,
die sie auch tagsüber betreut. Bei der
Spitex der Stadt Zürich existiert eine
Fachstelle für Palliative Care, doch auch
diese ist nur tagsüber besetzt. In Winterthur und im Zürcher Oberland gibt es
ein mobiles Palliative-Care-Team. Für
solche ambulante Dienste ist die Finanzierung schwierig, weil die Krankenkasse nur wirkliche Einsätze bezahlt,
nicht aber einen Pikettdienst. «Hier
muss der Kanton oder eine Stiftung bei
der Finanzierung einspringen», fordert
Kunz.
Pallifon neu für alle
Roland Kunz hat in diesem Bereich gelernt, kleine Schritte zu tun: Er ist Initiant des Pallifons. Dabei handelt es sich
um eine Notfallnummer, die dem Ärztefon angegliedert ist, aber sofort erkenntlich macht, dass es sich beim Anrufenden um einen Palliativpatienten
handelt. Damit können unnötige Spital-
einweisungen vermieden werden. «Oft
muss nämlich lediglich die Dosis eines
Medikaments etwas angepasst werden,
um Schmerzen zu lindern oder Atemnot
zu beheben», sagt Kunz.
Zuerst war das von der gemeinnützigen Foundation Zürich Park Side finanzierte Pallifon eigentlich nur für den
Raum Zimmerberg, Knonauer Amt,
Höfe, March, Rigi-Mythen und Einsiedeln gedacht. Doch seit einer Woche
kann jedermann die Telefonnummer
0844 148 148 wählen. Und die Idee soll
Schule machen: Angestrebt wird, dass
Spitäler und Onkologen Palliativpatienten jeweils einen Notfallplan mitgeben,
in dem neben den auf sie zugeschnittenen Therapien auch die Pallifon-Nummer für Notfälle angegeben ist. «Aber
auch hier braucht es Geldgeber», sagt
Roland Kunz. Die entsprechende Nummer 148 ist dafür bereits landesweit reserviert.