Leseprobe - Suhrkamp

Suhrkamp Verlag
Leseprobe
Kluge, Alexander / Richter, Gerhard
Dezember
39 Geschichten. 39 Bilder
© Suhrkamp Verlag
Bibliothek Suhrkamp 1460
978-3-518-22460-1
SV
Band 1460 der Bibliothek Suhrkamp
Alexander Kluge
39 Geschichten
Dezember
Gerhard Richter
39 Bilder
Suhrkamp
Mitarbeit und Redaktion: Thomas Combrink
Suhrkamp Verlag Berlin 2010
Bildrechte bei Gerhard Richter
Alle sonstigen Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung,
des çffentlichen Vortrags sowie der bertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden.
Satz: Hmmer GmbH, Waldbttelbrunn
Druck: Memminger MedienCentrum AG
Printed in Germany
Erste Auflage
ISBN 978-3-518-22460-1
1 2 3 4 5 6 – 15 14 13 12 11 10
Dezember
1. Dezember 1941: Eissturm an der Front vor Moskau.
Es mßten zwei Armeen in Reserve stehen, sagt Generalfeldmarschall Fedor von Bock, der gegen 17 Uhr mit dem Oberkommando des Heeres telefoniert. An sich brauchen wir, fhrt
er fort, keine Waffen zur Bekmpfung der Russen, sondern
eine Waffe zur Bekmpfung des Wetters. Nichts von diesem
Geschehen im Osten ist in den Husern Deutschlands unmittelbar wahrzunehmen.
Dr.-Ing. Fred Sauer, ehemals Siemens, fr die Versuchsabteilung des Heereswaffenamtes ttig, untersucht die Anatomie
von Mammuten. Ließ sich aus den kurzen Rmpfen und gedrungenen Kçrpern dieser erfahrenen Riesen der Kaltsteppe
(die es mit ihren staubigen, immerwhrenden, extrem kalten
Ostwinden im Jahr 1941 nicht mehr gibt) eine winterfeste Panzerwaffe entwickeln? In den gewaltigen Sulenbeinen, so Fred
Sauer, wrmte das sauerstoffhaltige Blut, das aus dem Kçrper
dieser Tiere strçmte, das verbrauchte kalte Blut, das zum Kçrper hinaufstieg. Das war ein Hinweis auf die Mçglichkeit, durch
doppelte Kreislufe in den Motoren (einer zur Erwrmung des
Gertes und einer fr den Antrieb) eine Aushilfe gegen die Tkke des russischen Winters zu finden. Das Projekt kommt fr
die Entscheidung in diesem Jahr zu spt.
Der Monat Dezember 1941 war durch Zeitarmut charakterisiert.
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2. Dezember 1991: Im Matschwinter 1991 hauste Michail Gorbatschow noch in den Rumen des Kreml. Das Zimmer mit
den leinenverhllten Sesseln Lenins gab es noch, zwei Gebude
von Gorbatschow entfernt. Auch die Telefonzentrale links, mit
altertmlichem Gert aus den 20er Jahren, war konserviert.
Die Macht lag nicht auf der Straße, sie war in Form von Versorgungsleitungen und personalen Netzen in den Mauern des
Kreml versteckt und verbaut. Man wird diese in den Wnden,
Rçhren und Leitungen verborgenen Machtlinien mit einem
Stab von vielleicht 16 Getreuen, die nie etwas Praktisches gelernt haben (außer Sitzungen vorzubereiten), nicht finden. Man
mßte den Putz abschlagen: DIE MACHT LIEGT IM VERPUTZ VERSTECKT. Ein Abriß, dachte Gorbatschow, war
die tatschliche Aufgabe, und sie wre (als kompletter Neubau
des ganzen Landes) vor drei Jahren noch ausfhrbar gewesen
durch eine »PARTEI DER GESELLSCHAFTLICHEN BAUARBEITER«. Er war mde. Er wollte ausgerechnet jetzt, in
einer Dmmerstunde des Dezembers, in der er und alle anderen auf das Ende der Krise warteten, DISKUTIEREN . Aus
dem Fenster sah er festgefgte Mauern, Tannen und Matsch,
von vielen Fßen zertretenen Schnee.
–
–
–
–
Wo saß er?
In seinem Zimmer. Bestellte ein Tablett mit Kaffee.
Was dann? Machte Notizen?
Fing mit Notizen an fr sein Erinnerungsbuch. Da wußten
wir: es ist aus.
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3. Dezember 1931: Eisregen ber den Straßen Mecklenburgs.
Um ein Haar wren Hitler (in seinem schwarzen Mercedes)
und die Brautmutter von Goebbels (in einem roten Maybach)
von dem Aushilfschauffeur des Rittergutes, auf dem die Hochzeitsfeier stattgefunden hatte, zuschanden gefahren worden. In
jener Zeit der Anfnge des Automobilismus waren Bremsverbot auf Eisesflche und die Gefahr beschwipsten Fahrens nicht
allseitig kommuniziert. Die Fahrer der Hochzeitsrckfahrt hatten, parallel zu den Herrschaften, beherzt alkoholische Getrnke zu sich genommen.
Die vorherrschende Auffassung war aber, daß Geist und Herz
am Steuer durch geistige Getrnke nicht gemindert, sondern
befeuert werden. Nichts funktioniert so rasch wie im Rausch.
Das hnelt den Motoren, die Naturkrfte sind. Sie haben Pferdefße, Flgel, atmen Gas. Sie sind nicht wild, sondern technische Diener der kundigen Hand des Menschen, der mit Tritt
und sanfter Bewegung an Knppel und Steuer diese Gewalten
in fließender Bewegung hlt. Zwar beherrscht der Angeheiterte
Zunge und Lautstrke schlecht, dagegen Kanonen und Fahrzeuge um so besser.
In einer langgezogenen Kurve versuchte der Chauffeur des
Maybachs, Hitlers Fahrzeug zu berholen. Als er merkte, daß
das Fahrzeug rutschte, trat er kraftvoll auf die Bremse.
– Nur der Vorsehung ist es zu verdanken, daß die Fahrzeuge
sich verfehlten.
– Was verstehen Sie unter Vorsehung?
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Der Landrat bot den Beteiligten des Unfalls aus einer silberbeschlagenen Flasche einen Jgertrunk an. Inzwischen war ein
Ersatzwagen fr die Brautmutter eingetroffen, einer der Adjutanten Hitlers war im Indianertrab (50 Meter rennen, 100 Meter gehen) zum nchstgelegenen Telefon gelaufen. Sie kçnnen
weiterfahren, Herr Hitler, sagte der Landrat. Der merkwrdige Unfall blieb ihm auf zwei Wochen ein interessantes Gesprchsthema.1
1 Ich, einliegend im wohltemperierten Bauch, wre beinahe geboren worden,
ohne daß Hitler ein Stck Zukunft gehabt htte. Es fehlte am tçdlichen
Zusammenstoß auf der Eisflche ein Abstand von 40 Zentimetern zwischen den hochmotorisierten Fahrzeugen.
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4. Dezember 1941: ber dem Atlantik lag ein riesiges Hoch
mit Maximum sdwestlich Irlands. Ein schwacher Rcken davon erstreckte sich in nordçstlicher Richtung ber Skandinavien hin zum Eismeer. Er trennte ein umfangreiches Tief ber
dem Eismeer von einem schwcheren Tief ber Rußland. An
dessen Sockel mischte sich kontinentale arktische Kaltluft mit
von Sden herandrngenden Wolkenmassen. Dies war die Ursachenkette, die im Dezember 1941 den Klteeinbruch im Osten
bewirkte. Die Truppe htte, so der Wetterforscher und Meteorologe Dr. Hofmeister von der Wetterwarte Potsdam, bei
Anwendung des Prinzips der DYNAMISCHEN METEOROLOGIE zehn Tage zuvor gewarnt werden kçnnen. Einst sagten die Auguren vor Beginn einer Schlacht nach Betrachten
der Eingeweide ihrer Opfertiere den Ausgang der Kmpfe voraus. Heute, im rationalen Dezember 1941, sind die Meteorologen an die Stelle der Auguren getreten.
Die DYNAMISCHE METEOROLOGIE untersucht nicht den
Ist-Zustand des Wetters, sondern konzentriert ihre Beobachtung auf die großrumigen Bewegungen der Gesamtzirkulation, welche die einzelne Wetterbildung erst erschafft. Dieses
»Ganze« ist – wie es sich fr einen Nationalsozialisten geziemt – mit den Mitteln der ANSCHAUUNG und nicht mit
den Methoden der BEWEISBARKEIT zu ermitteln.
Die Schulrichtung der dynamischen Meteorologie drngte auf
»aktiven Eingriff in das Wettergeschehen«. Dazu mußten unter Umstnden Wolkenmassen in einer Breite und Lnge von
mehreren 100 Kilometern von Fluggeschwadern mit Trocken13
eis- und Kohlensure-Paketen bombardiert werden. Einen Sinn
hatte das nur, wenn man vorher wußte, was man mit einem
solch aktiven Eingriff anrichtete. Fr die Kmpfe an der Ostfront kam die dynamische Meteorologie zu spt. Dr. Hofmeisters Arbeitsgruppe erhielt jedoch am 4. Dezember, noch bevor die Verwaltungsbehçrden des Reichs ihren Dienst wegen
der vorgezogenen Nikolausfeiern einstellten, die Zusage eines
Reichskredits in Hçhe von 500 000 Reichsmark fr ihre Forschung. Man kann dies den »Beginn des Zeitalters der dynamischen Meteorologie« nennen.
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5. Dezember 1942: Ich muß, sagte Heiner Mller, um das Prinzip zu erklren, warum Stalingrad einerseits historisch notwendig, andererseits, vom Menschen aus betrachtet, so berhaupt nicht nçtig war, eine fiktive Geschichte erzhlen.
Der Hauptmann Slopotka, von Geburt Wiener, wurde durch
Schlamperei des militrischen Apparats noch in den Dezembertagen des Jahres 1942 nach Stalingrad versetzt. Die ihn im
Oktober durch Aktenvermerk dorthin versetzt hatten, wußten
nichts vom Kessel. Im Schneesturm landete er auf dem Flugplatz Pitomnik. Tage zuvor hatte er noch in Catania im winterlich warmen Mittelmeer gebadet.
Alle Lernprozesse im Kessel von Stalingrad hatte er versumt.
An der Ausmergelung der Kçrper, die schon im September begann, hatte er nicht teilgenommen. Mit frischem Blick kam er
jetzt in den Kessel. Den gleichen Zustand des Mutes htte eine
Fallschirmjgerdivision gehabt, die, mit spezieller Winterausrstung versehen, reichlich im Besitz von Munition auf der Winterflche abgesprungen wre und die Verteidigung von Stalingrad bis Anfang Mrz garantiert htte.
Slopotka entsetzte der gewissermaßen doktrinre Glaube der
Kessel-Kameraden ans eigene Unglck, so Mller, lebhafter werdend. Sogleich bernahm Slopotka als Transportoffizier den
Befehl ber den Schneeschippdienst auf dem Hilfsflughafen
Stalingradski. Es sollten, nach einer Anregung des Luftwaffenfeldmarschalls Milch, fnf bis sieben Flugpltze im Kessel,
und zwar innerhalb von drei Tagen, neu geschaffen werden.
Slopotkas Elan, der nur darauf beruhte, daß er aus einem an16
deren Realittsstrom hierhergelangt war, bertrug sich auf die
kleine Mannschaft. Er riß sie mit. Er hatte vor, im nchsten Jahr
das Ingenieursdiplom zu erwerben und wollte auch eine Pilotenausbildung fr Transportflugzeuge absolvieren.
Mehr als den engsten Umkreis des kleinen Hilfsflughafens, der
noch den Zustand aufwies, in welchem die Russen ihn im Herbst
verlassen hatten, beherrschte Slopotkas klarer Geist nicht.
Schon die Funker in Pitomnik, welche die Sprechfunkverbindung zur Absprungbasis der Flugzeuge außerhalb des Kessels
aufrechterhielten, waren aus ihrer Lethargie nicht zu lçsen. So
wurden auf die freigeschaufelte Landebahn keine Transportmaschinen dirigiert.
Am 24. Januar wurde die von Slopotka eingerichtete Kleinstgruppe berrollt. Die Rote Armee kmmerte sich nicht um
den Seelenzustand derer, die sie links oder rechts umging. Slopotkas Leichnam lag in einer Gruppe von Toten, an einen geschichteten Schneehaufen angelehnt, nur dadurch von den brigen Toten unterschieden, daß die Fettschicht unter seiner
Haut noch intakt schien.
Stichwort: BASILISKENBLICK . Die Kaufleute in den Niederlanden, sagt Mller, auf dem Gebiet der Macht nicht bewandert, sahen zu, wie der Herzog von Alba den Grafen Egmont
hinrichten ließ. Sie lasen die Zeichen nicht. So kapitulierte die
DDR . Gestern besuchte mich Valentin Falin, fuhr Mller fort.
Falin war ja selbst nicht in Stalingrad. Er hat aber wohl jede
Zeile darber gelesen in den Geheimpapieren des Kreml. Die
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russischen Befehlshaber, heißt es dort, nahmen an, sie htten in
ihrer berraschenden Aktion 86 000 Mann umzingelt. Tatschlich waren es 300 000. Es waren in der Umzingelungsfront zahlenmßig nie mehr Truppen versammelt, als sich Deutsche im
Kessel befanden. Was bewirkt, daß eine Armee des Blitzkriegs
sich binnen zwei Monaten fr wehrlos erklrt? Die Schlachtentscheidung, sagt Mller, findet in den Kçpfen der Kmpfenden statt.
»Bei mir war letzthin eine Katze zu sehen, die einen hoch
auf einem Baum sitzenden Vogel beobachtete; nachdem sich
beide eine gewisse Zeit lang angestarrt hatten, ließ sich der
Vogel wie tot in ihre Krallen fallen; entweder von seinen
Angstvorstellungen betubt oder von einer magnetischen
Kraft der Katze angezogen.« Montaigne, Essais, ber die
Macht der Phantasie
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6. Dezember 1989: Jerusalem. Bei Bauarbeiten unterhalb des
Felsendoms hatten Ingenieure einen Stollen freigelegt, der
300 Meter tief in den Berg hinabfhrte. Begierig nach Funden
aus der Antike und gemß ihrem Auftrag, der sich auf die Erkundung der Stabilitt des Untergrundes bezog, betraten sie
die Flche, mçglicherweise ein Artefakt aus frheren Phasen
der Bauarbeiten Jerusalems, zu welcher der Stollen fhrte. Als
sie sich mit ihrem Gert in der unterirdischen Hçhlung fortbewegten, strzte der Boden ein, und sie fanden sich in einer
zwçlf Meter tiefen Grube wieder, von Gemuer begraben. Noch
waren die Handys intakt, und es gelang, von oben Hilfe zu organisieren.
Die Tiefen des Tempelberges, berichteten die Geretteten, seien
durchgngig mrbe. Von Aufbauten und Grabungen wre abzuraten. Was wrde man in 500 Metern Tiefe, was in fnf Kilometern, was in sechzig Kilometern Tiefe finden? Noch aus der
Zeit des Statuts der britischen Besatzungsmacht waren Tunnelarbeiten unter dem Tempelberg ohne Genehmigung der palstinensischen Baubehçrde verboten. Die Ingenieure hatten hier
illegal gegraben. Wren sie bei ihrem Absturz umgekommen,
htte das Unternehmen, das sie ausgesandt hatte, eine Lgengeschichte erfinden mssen. Ihre Leichen wren nach Bergung
an einen Ort transportiert worden, wo man das Unglck nachgestellt htte.
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