Brennpunkt 2 Bieler Tagblatt Mittwoch, 04.11.2015 Brennpunkt Bieler Tagblatt Mittwoch, 04.11.2015 3 Wer hat’s erfunden? Ein Bieler. Ursprünge In den 80erJahren war Carambole in der Schweiz extrem populär. Zu verdanken ist dies dem Bieler Mändu Stauffer, der heute in Brasilien lebt. Es isch spät am ne Donnschtig Aabe im Februar Mir schpile Carambole, si hett wisses Pulver i de Haar Wisses Pulver am Pulli u die wisse Schteine U itz nume no eine u dr rot u sie seit Was gisch mer wenn’i gwinne, mir chunt nüt i Sinn I bi verläge u froh, dass zersch dr wiiss abegheit (aus «7:7» von Züri West, 1987) Carambole ist zurück Mändu Stauffer ist immer schon gerne gereist. Er wollte die Welt sehen, und er hat viel von ihr gesehen. Doch es konnte ihm auch zu viel werden. 1980 zum Beispiel, da hatte er erst mal genug vom Reisen. Fünf Jahre lang war er zuvor immerzu durch die Welt gereist, in seiner beruflichen Funktion als Servicetechniker für Textilelektronik. Er gab seinen Job auf und machte sich selbstständig. Die Entdeckung, die er elf Jahre zuvor gemacht hatte, half ihm dabei ziemlich gut. Biel Vor 15 Jahren hat in Biel das letzte Carambole-Turnier stattgefunden. Zwei passionierte Spieler wollen nun das fast vergessene Brettspiel wieder bekannt machen – und laden diesen Samstag nach Nidau zur Carambole-Meisterschaft. Carmen Stalder Konzentriert schaut Ueli Scheidegger auf das Carambole-Spielbrett. Sein Blick schweift vom einen zum anderen Stein. Dann legt er eine Hand aufs Brett und schnipst mit dem Mittelfinger gegen eine grosse weisse Scheibe. Diese gleitet über das Brett und touchiert einen seiner schwarzen Spielsteine. Der kommt in Bewegung und landet in einem Loch in der Ecke des Holzbretts. Der Zug ist geglückt. «Konzentration ist das A und O», sagt der passionierte Carambole-Spieler. Dem stimmt sein Gegner und guter Freund Marc Schütz zu. «Carambole ist vor allem eine mentale Sache.» Die Technik sei bei dem Spiel nur zweitrangig. Seit mehr als zehn Jahren treffen sich Schütz und Scheidegger jeden Montagabend zum gemeinsamen Carambole-Spiel, abwechslungsweise bei einem der beiden Männer zuhause. Kennengelernt haben sie sich, als Ueli Scheidegger nach Biel ins selbe Haus wie Marc Schütz gezogen ist. Scheidegger brachte sein altes und kaum benutztes Spielbrett mit und fand in Schütz den geeigneten Spielpartner. Der Boom ist längst vorbei Mittlerweile ist Marc Schütz am Zug. Mit ruhiger Hand befördert er mehrere seiner weissen Steine in die Löcher. «Ein ‹Schlotteri› darf man nicht sein», sagt er. Ansonsten sei Carambole ein einfaches Spiel, das jeder schnell beherrsche. So sind auch die Grundregeln relativ unkompliziert (siehe Infobox rechte Seite). Das billardartige Brettspiel hat jedoch seine besten Zeiten längst hinter sich. Der Bieler Mändu Stauffer hat es in den 80er-Jahren nach dem Vorbild des orientalischen Carrom entwickelt. Von da an erlebte das Spiel einen Höhenflug. Ab 1981 fand im Bieler Restaurant St. Gervais jährlich ein Carambole-Turnier statt. Der letzte Stein wurde allerdings schon vor 15 Jahren versenkt. «Seither ist Carambole immer mehr von der Bildfläche verschwunden», sagt Ueli Scheidegger. Zwar habe er in einigen Bieler Restaurants noch alte Spielbretter gefunden. «Die Spieler von damals sind jedoch nicht mehr aktiv, Turniere gibt es erst recht keine mehr.» Auch das Bieler Tagblatt schrieb im Jahr 1999: «Das Carambole-Spiel ist out: Die Stadt Biel erlangte einst als Wiege des Carambole-Spiels in der Schweiz Berühmtheit. Doch der Boom ist längst abgeflaut.» Freude am Spiel im Zentrum Ein unhaltbarer Zustand, fanden die beiden Freunde. Mit einer Schweizer Meisterschaft wollen sie nun dem Spiel wieder auf die Sprünge helfen. Der Wettkampf, der dieses Wochenende im Restaurant Kreuz in Nidau stattfindet (siehe Infobox), läuft unter dem Motto «aus Freude am Spielen». Ziel der Organisatoren ist es, einen Ort zu kre- Dr rot u mini 2 macht 7:0 für mi un’i weiss genau sie hett’s äxtra gmacht u sie leit d’Schteine uf ds Brätt u faht no einisch a u seit Du muesch wüsse i ha Päch im Schpiu u när laht sie mi abe nach Strich u Fade u am Schluss han’i genau 2 Schteine z’viu ieren, an dem sich Menschen auf spielerische Art persönlich begegnen können. Der Spassfaktor soll dabei im Vordergrund stehen. Schütz und Scheidegger möchten aber auch selbst vom Turnier profitieren: «Es wird für uns spannend, gegen neue Gegner zu spielen», sagt Scheidegger. Schliesslich fanden die Spiele der letzten zehn Jahre stets zwischen ihnen beiden statt. Ob das Carambole nun vor einem Comeback steht, bleibt offen. «Wir haben keine allzu grossen Ansprüche an diese Meisterschaft», sagt Marc Schütz. Es gehe darum, etwas auszuprobieren. Walter Stuker testet ein Brett in seinem Lager. Comeback der alten Garde Im laufenden Carambole-Spiel steht es derzeit 8:0 für Ueli Scheidegger. Dieser streut nach dem ersten Durchgang ein weisses Pulver auf das Holzbrett. «Kartoffelstärke», sagt er, «das lässt die Steine besser gleiten.» Die beiden Carambole-Spieler sind ein eingespieltes Duo. Sie halten aber fest, dass sie keine Profis sind. «Wir können noch viel lernen von den alten Hasen», sagt Schütz. Sie hoffen denn auch darauf, an der Meisterschaft gegen die Spieler der alten Garde antreten zu können. Ebenso willkommen am Turnier sind auch Carambole-Neulinge. Vor Ort werden zudem einige Bretter zum Ausprobieren bereitstehen. «Zuschauen ist natürlich auch erlaubt», sagt Schütz. Um die Meisterschaft bekannt zu machen, haben sich die angefressenen Spieler einiges einfallen lassen. So sind sie mit ihrem Carambole-Brett nach Bern und Zürich gefahren, um dort in der Öffentlichkeit eine Partie auszutragen. Dabei seien viele Menschen auf sie zugekommen: «Bei den meisten werden Kindheitserinnerungen geweckt», sagen die beiden Bieler. Bereits über 30 Personen haben sich für die Meisterschaft angemeldet. «Von Jugendlichen über Pensionierte bis zu einigen Bekannten haben wir alles – nur die Frauen sind noch in der Minderheit», sagt Scheidegger. Wer sich noch für das Turnier anmelden möchte, ist herzlich willkommen. Und kann sich vielleicht bald Schweizer Meister im Carambole nennen. Carambole-Turnier • Die Schweizer Meisterschaft im Carambole findet diesen Samstag, 7. November statt. • Veranstaltungsort ist das Restaurant Kreuz in Nidau. • Das Turnier startet um 11 Uhr. • Anmeldungen sind möglich via E-Mail ([email protected]) oder am Spieltag vor Ort bis um 11 Uhr. • Es gibt kein fixes Startgeld, der Anlass wird durch Kollekte finanziert. cst Anita Vozza Die wichtigsten Spielregeln Carambole-Spieler Ueli Scheidegger ist dabei, seinen Freund und Spielgegner Marc Schütz zu besiegen. Bilder: Sarah Bittel • Ziel ist es, die eigenen Steine in einem Loch zu versenken, bevor dies dem Gegner gelingt. • Die Steine werden mit der Spielscheibe angespielt. Diese wird mit einem Finger in Bewegung gesetzt. • Die Spielscheibe muss dabei einen Teil der schwarzen Grundlinie vor dem Spieler bedecken. • Die Spielscheibe darf nur vorwärts gespielt werden. • Die Steine dürfen in jedes der vier Löcher versenkt werden. • Weiss beginnt und spielt solange, bis ein Versuch misslingt (es wird kein eigener Stein versenkt, es fällt ein gegnerischer Stein ins Loch, die Spielscheibe fällt ins Loch). • Der rote Stein bringt dem Spieler, der ihn versenkt, Zusatzpunkte ein. Er muss jedoch unmittelbar danach durch das Versenken eines eigenen Steins «bestätigt» werden, andernfalls wird er wieder in der Mitte des Bretts angesetzt. • Wenn alle Steine einer Farbe plus der rote Stein versenkt sind, wird abgerechnet. Jeder andere Stein des Gegners, der am Schluss noch auf dem Brett liegt, zählt einen Punkt. Der rote Stein zählt für den Gewinner fünf Zusatzpunkte, sofern er es war, der ihn erfolgreich versenkt und bestätigt hat. • Eine Partie wird auf 21 Punkte gespielt. tg Ist eine Stelle schlecht verleimt, so hört er dies am Klang Produktion Die Rechte an Carambole sind heute in den Händen von Walter Stuker. Abgeben wird er sie nur, wenn er einen Nachfolger findet, der genau so viel Wert auf Qualität legt wie er. Tobias Graden Im zweiten Stock eines unscheinbaren Industriegebäudes im Grenzgebiet zwischen Oberaargau und Emmental: Hier ist das Reich von Walter Stuker. Unzählige Schachteln lagern in langen Regalen, da- rin sind Holzfiguren, Spielelemente, Holzteile für Kugelbahnen. Und dazwischen, in den weissen Schachteln gestapelt: Carambole-Bretter. Es ist das Lager der Ahorn Holz & Spiel AG, die Stuker seit einem Management Buyout 1998 führt. Stuker überblickt das Lager und sagt: «Eine Zeitlang war ja gar nichts mehr los mit Carambole.» Das war um das Jahr 2000. Fünf Jahre später verkaufte Stuker wieder 40 Spiele pro Jahr, dieses Jahr werden es etwa 200 sein: «Für unsere Verhältnisse haben wir gut verkauft.» Stuker hat als Privatmann die Produktionsund Markenrechte von Carambole dem Erfinder Mändu Stauffer (siehe Text rechts) abgekauft, er war schon früh Zulieferer von ihm, übernahm einzelne Produktionsschritte, 1998 dann das restliche Lager der ursprünglichen Produktionsstätte in Safnern. Es war ein ganzer Lastwagen voll Material. Stuker hofft, dass das Interesse am Spiel wieder anzieht. Gerade eben hat er den Markenschutz für die Schweiz und Deutschland erneuern lassen. Er muss wachsam sein: Immer wieder versuchen Nachahmer, vom Markennamen zu profitieren. Doch beim Brett, das in Behindertenwerkstätten zusammengebaut und von Stuker und seinem Mitarbeiter lackiert wird, kommt es viel stärker auf die Qualität an, als man denken könnte. Das Spielbrett ist aus finnischem Birkensperrholz, der Rahmen aus einheimischer gedämpfter Buche. An der Unterseite wird es sorgfältig mit Sockelleisten aus Fichtenholz verleimt, damit es sich nicht verzieht. Zur Qualitätskontrolle klopft Stuker die Spielfläche mit dem Finger ab, ist eine Stelle schlecht verleimt, so hört er dies am Klang. Das Geheimnis des speziellen Lacks auf der Spielfläche über dem Siebdruck des Musters gibt er nicht preis, «denn da ist das Know-how drin». Walter Stuker ist 65, er will Carambole so lange weiterpflegen, wie es geht – oder bis er einen würdigen Nachfolger gefunden hat. «Er muss die Qualität genauso hochhalten wie wir», sagt er, «das Spiel in der Schweiz fertigen und etwas Geld für die Marke aufbringen können. Dann gebe ich es gerne weiter.» Vorerst aber ist er es, der sich auch Gedanken macht, wie der Absatz von Carambole wieder gefördert werden könnte und sich ein Publikum ausserhalb der Spielfachgeschäfte wie dem Bieler Delirium Ludens finden liesse. Vor zwei Jahren holte er Offerten für eine CaramboleApp ein. Gegen 40 000 Franken hätte sie gekostet, auch mit einer teilweisen Auslagerung der Programmierarbeiten nach Tschechien oder Indien wäre sie nicht viel billiger gekommen, denn wie beim echten Carambole müsste im digitalen Spiel gelten: Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel. Und das ist offenbar aufwändig zu programmieren. Nun aber freut er sich, dass wieder ein Turnier stattfindet. Wer meint, er könne dort als Freizeitspieler vorne mitmischen, den muss der alte CaramboleHase Stuker enttäuschen: «Gegen die erfahrenen Turnierspieler von früher hat man keine Chance.» Per Autostopp reiste Mändu Stauffer 1969 ein erstes Mal nach Asien. Schon damals entdeckte er ein eigentümliches Brettspiel, das die Menschen dort spielten. Es ähnelte vom Prinzip her dem Billard, wurde aber mit den Fingern gespielt: Carrom. Mändu Stauffer war fasziniert und adaptierte später das Spiel auf europäische Verhältnisse. Er passte die Masse des Bretts an, es sollte in jedem Haushalt Platz haben. Es sollte leicht zu spielen sein, Anfängern Spass machen, aber auch den Könnern eine Herausforderung bieten. Er editierte die Spielregeln und baute mit dem Bürener Schreiner Hannes Loosli erste Prototypen. Carambole war geboren, und Stauffer wusste: Darauf lässt sich was aufbauen. Die folgenden Jahre sollten ihm recht geben. Mändu Stauffer dürfte vielen in Biel noch bekannt sein. Einerseits eben als «Erfinder» des Carambole: Er sei ein guter Verkäufer gewesen, sagt Walter Stucker, der Stauffer später die Rechte an Carambole abkaufte (siehe Text links), und ein sehr aktiver Mensch dazu – in der ganzen Schweiz sei er herumgereist, um das Spiel bekanntzumachen, habe keine Mühen gescheut. Stauffer sagt dazu: «Mir ging es nicht nur um das Produkt, sondern auch um das Drumherum. Mit dem Spiel konnte man sich treffen, es ging mir auch um das Soziale.» Anderseits erinnert man sich an Stauffer in seiner Heimatstadt als engagierten Bürger: Er gehörte der Gründergeneration des AJZ an. Im letzten Juli war er mal wieder für ein paar Tage in Biel, ging wandern auf den Jurahöhen, spazierte durch die Stadt und dachte für sich: «Die Stadt hat an Pfeffer verloren. Wir waren damals aufmüpfiger. Nicht im Sinne einer Rebellion, sondern konstruktiv, wir haben Neues ausprobiert.» Stauffer verstand Carambole auch als menschenverbindende Reaktion auf die aufkommenden ersten Computerspiele, und er ging mit dem Spiel auch ins Massnahmenzentrum St. Johannsen oder spielte mit Aslybewerbern in Durchgangsheimen. Carambole war für Stauffer mehr als nur ein Geschäft. 7:7, sie seit si sött eigentlech ga No ds letschte Schpiu, i schteue uf u schpile a I triffe dernäbe u luege se a U frage se blibsch hüt da wenn’i gwinne In einer Werkstatt in Safnern begann Stauffer mit der Produktion der Carambole-Bretter. Zur Verfügung hatte er 1980 ein Startkapital von 40 000 Franken, ein guter Teil ging alleine für die Markenschutzrechte drauf. Acht Jahre später hatte die Firma einen Steuerwert von einer Million Franken. Schon bald nach dem Start gab es im Bieler «St. Gervais» einen ersten Wettkampf, immer mehr Leute wollten spielen, es entstand eine Turnierszene, bald entstand der erste Club im Emmental, in Biel gab es die «Famille du Carambole». Carambole war besonders auch in der Westschweiz populär; anstatt zu Jassen, spielten die Leute am Abend in der Beiz Carambole. Ein Geniestreich sicherte die weitere Verbreitung: Mändu Stauffer vor einen Messmast. zvg Stauffer lieferte Bausätze für den Werkunterricht an Schulen. Unzählige junge Leute lernten so das Spiel noch zusätzlich kennen. Züri West schrieben 1987 mit «7:7» die Hymne des Carambole, die schwarzen und weissen Steine waren nun auch Teil des ewigen Spiels der Geschlechter. Bis 1990 fand sich Stauffers Angaben zufolge schliesslich in jedem 20. Haushalt der Schweiz ein Produkt von ihm. Carambole war zugleich Teil der alternativen Subkultur als auch generationenübergreifendes Familienspiel, es gab regelmässig Schweizer-, gar Europameisterschaften. Sie lachet u seit, hesch der’s guet überleit Wüu de chasch sicher sii De zielen’i nümme Dann aber kam die Rezession. Stauffer lieferte Wiederverkäufern Bretter aus, auch wenn die nicht gerade zahlen konnten. Und obwohl er um die 150 000 Bretter verkauft hatte: Wirklich reich war er davon nicht geworden, und nun ging viel Geld wieder verloren. Hinzu kam, dass sich der Boom dem Ende zuneigte: «Als auch die Freunde der Spieler ein Brett hatten, war der Markt gesättigt.» Das Brett wanderte in den Haushalten vom Familientisch hinter eine Türe und von dort auf den Estrich. Und auch Stauffer befand nach vielen sehr intensiven Jahren, es könnte ja noch etwas Anderes geben im Leben. Er engagierte sich als Geschäftsführer des Vereins Jopper, der Beschäftigungsprojekte für Arbeitslose anbot. 1999 schliesslich wollte er noch einmal eine andere Ecke der Welt kennenlernen und wanderte nach Brasilien aus. Dort lebt er noch heute, in Salvador da Bahìa. Er ist mittlerweile 67 und arbeitet immer noch für das Windkraftunternehmen Sowitec. Er klettert auf 120 Meter hohe Messmasten an entlegenen Standorten in Brasiliens Hinterland, wo er zwei Stunden oben bleibt und Messdaten per Laptop und GPS weiterleitet. Er sei «guet zwäg», sagt er, und: «Arbeiten ist doch kein Müssen, sondern ein Dürfen!» 7:7 Unentschide isch’s nid Es isch 7:7 für mi In seiner Wohnung hat er zwei Carambole-Bretter. Er spielt nur noch selten. Tobias Graden
© Copyright 2024 ExpyDoc