Der Fotokrimi – pures Sozialtraining Das Haus der speziellen

Ausgabe 1 / März 2016
ein blick
Das Haus der
speziellen Lösungen
Der Umzug
auf Zeit
Der Fotokrimi –
pures Sozialtraining
Menschen und Mauern
geben Sicherheit
Ein Tagebuch von
Natalie Hanke
Jugendliche mit Autismus
stellen ihren Fotokrmi vor
INHALT
3 Vorwort 4 Wer wir sind und was wir bieten
3 Hier gibt es uns online
6
Der Fotokrimi – pures Sozialtraining
Jugendliche mit Autismus stellen ihren Fotokrimi vor
Der einblick: Die Wohngruppen für autistische Kinder und Jugendliche
8
Wir sind der Familienersatz
15 Jahre Wohngruppen für autistische Kinder und Jugendliche
9
Das Haus der speziellen Lösungen
Menschen und Mauern geben Sicherheit
10 Der Umzug auf Zeit
Ein Tagebuch von Natalie Hanke
13 Leons erster Schultag
14 Mohammeds erster Schultag
15 Heute ist ein schwarzer Tag
Impressum
Herausgeber: Therapiezentrum für autistische Kinder gemeinnützige GmbH / Autismus Zentrum
Hannover (AZH)
V. i. S. d. P.: Dipl.-Kfm. Markus Kriegel, Geschäftsführer
Redaktionelle Mitarbeit:
Markus Kriegel (mk), Immigje Steenwijk (is), Natalie Hanke (nh), Barbara Fox (bf ), Anja Reuper (reu)
Layout: Anja Reuper
Korrektorat: Dörte Lebahn
Die namentlich gekennzeichneten Beiträge geben nicht in jedem Falle die Meinung der
Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen und
Manuskripte redaktionell zu bearbeiten.
Anschrift:
Therapiezentrum für autistische Kinder gemeinnützige GmbH / Autismus Zentrum Hannover (AZH)
Prinz-Albrecht-Ring 63, 30657 Hannover
Tel.: (05 11) 67 67 59-0, Fax: ( 05 11) 67 67 59 59
E-Mail: [email protected]
Web: www.autismus-zentrum-hannover.de
Kontoverbindung: Evangelische Bank, IBAN DE 58 5206 0410 0000 61 88 88, BIC GENODEF1EK1
Druck: Druckhaus Göttingen, Dransfelder Straße 1, 37079 Göttingen
Seite 2 • Ausgabe 1 / 2016
VORWORT
Verehrte Leserinnen und Leser,
ich freue mich, Ihnen unsere neue Zeitschrift „einblick“
überreichen zu dürfen. Ich bin Markus Kriegel und Geschäftsführer des Autismus Zentrums Hannover, das
vor über 40 Jahren als eine der ersten Einrichtungen für
Menschen mit Autismus gegründet wurde.
Heute betreuen und fördern wir in unseren Einrichtungen insgesamt knapp 200 Kinder und Jugendliche mit
allen Ausprägungen des Autismus in ambulanten und
stationären Angeboten. Tag für Tag geschehen bei uns
spannende und interessante Dinge, über die wir berichten wollen und die ein besseres Verständnis der Welt
geben sollen, in der Menschen mit Autismus leben.
Einblicke also…
Wir planen diese Zeitschrift zweimal im Jahr. Wir freuen uns auch über jede Rückmeldung
oder Anregung! Wenn Sie diese Zeitschrift nicht zugesandt bekommen wollen oder Sie
lieber per E-Mail erhalten möchten, dann folgen Sie bitte unseren Hinweisen. Sie können
den „einblick“ aber auch über unsere Homepage www.autismus-zentrum-hannover.de/
herunterladen!
Erfahren Sie in dieser ersten Ausgabe, wie Jugendliche unter pädagogischer Anleitung eine
fiktive spannende Geschichte um den Diebstahl eines Bildes in einem Fotokrimi umgesetzt
haben. Oder lesen Sie das Tagebuch über die aufregende achtwöchige Ausquartierung
unserer Wohngruppen, die erforderlich wurde, weil umfangreiche bauliche Maßnahmen
am eigenen Haus durchgeführt werden mussten. Das sind nur zwei von vielen Berichten
und ich hoffe, Sie finden auch an allen anderen viel Gefallen.
Wenn Ihnen unsere Zeitschrift und unsere Arbeit gefällt, freuen wir uns auf jede Art von
Unterstützung und Zuwendung. Damit verbleibe ich
herzlichst,
Ihr
Markus Kriegel
Ausgabe 1 / 2016 • Seite 3
AKTUELLES
Wer wir sind und was wir bieten
Geschäftsführer Markus Kriegel,
Pädagogische Leitung Christine
Voigt (vorne) und die Einrichtungsleitungen des AZH:
Barbara Fox, Immigje Steenwijk
und Natalie Hanke (v. l . n. r.).
THZ oder AZH – wie heißt es nun richtig? Beides
stimmt auf seine Weise. Seit 2014 trägt das Therapiezentrum für autistische Kinder (THZ) den
Namen Autismus Zentrum Hannover (AZH). Als
gemeinnützige Gesellschaft ist die autismusspezifische Einrichtung als Therapiezentrum für autistische Kinder gGmbH (THZ) nach wie vor im
Handelsregister eingetragen.
Das heutige AZH blickt auf eine mehr als 40-jährige Erfolgsgeschichte zurück, die ihre Anfänge in einer
Etagenwohnung am Dörriesplatz in Hannover nahm.
Dort gab eine Heilpädagogin vier autistischen Kindern
die ersten Therapiestunden, wofür sie von Eltern des
1973 gegründeten Vereins zur Förderung autistischer
Kinder e.V. engagiert worden war.
Der Namenswechsel im Jubiläumsjahr hatte mehrere
Gründe. Der Begriff „Therapie“ trifft nicht mehr auf
die heutigen pädagogischen Angebote im Rahmen der
Eingliederungshilfe zu. Inzwischen kann die Einrichtung umfangreiche beratende und begleitende Angebote im Rahmen der Ambulanz, ein Wohnangebot für
Kinder und Jugendliche und erweiterte pädagogische
und ergänzende therapeutische Angebote im Rahmen
des Heilpädagogischen Kindergartens vorweisen. Die
Gesellschaft ist mittlerweile zum Zentrum für Autismus
gewachsen und erster Ansprechpartner in der Region
Hannover.
Nach und nach erweiterte sich das Angebotsspektrum im Laufe der Jahrzehnte – ambulant, teil- und
vollstationär. Stets stehen die inzwischen rund 100 MitSeite 4 • Ausgabe 1 / 2016
arbeitenden betroffenen Eltern und ihren autistischen
Kindern oder Jugendlichen zur Verfügung. Heute umfasst das Autismus Zentrum Hannover viele verschiedene Angebote für Kinder und Jugendliche mit Autismus und ist das Zentrum für betroffene Familien.
Individuell, integrativ, ganzheitlich und interdisziplinär arbeitet die Ambulanz und Beratungsstelle für autistische Kinder und Jugendliche unter der Leitung
einer Diplom-Sozialpädagogin. Das ambulante Angebot in der Brehmstraße richtet sich an Kinder und
Jugendliche mit einer Diagnose aus dem gesamten Spektrum autistischer Störungen. Seit 40 Jahren gibt es die
ambulante Förderung für Kinder sowie die Beratung im
Lebensumfeld des betroffenen Kindes. Rund 130 Kinder fördern die 13 Mitarbeitenden mit dem Ziel ihrer
bestmöglichen Integration in das Familien-, Bildungsund Gesellschaftssystem. Kinder mit Asperger-Syndrom stellen aktuell das Gros der jungen Klienten.
Auf eine ebenso lange Erfolgsgeschichte kann die
Schule im Bonhoeffer-Haus zurückblicken. Insgesamt
31 Kinder mit Autismus besuchen hier die Grund-,
Mittel-, Haupt- und Oberstufe. In jahrgangsübergreifenden Gruppen lernen die Schüler Lebenspraktisches
und Fachorientiertes, angelehnt am Kerncurriculum
für Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige
Entwicklung.
Auf demselben Gelände befindet sich der Heilpädagogische Kindergarten Hummelhaus. Die Einrichtung ist oft die erste Anlaufstelle für Eltern kleiner
Kinder mit Autismus. Sie verbinden damit vielfach die
AKTUELLES
Hoffnung auf Heilung ihres Kindes. Diese können
ihnen die Mitarbeitenden des Hummelhauses nicht
bieten, wohl aber durch eine autismusspezifische Förderung einen Weg für das Kind aufzeigen, die Symptome lindern und den Familien ein System an die Hand
geben, mit dem sie weitergehen können.
Zusätzlich bietet das AZH betroffenen Eltern und
ihren Kindern ein bundesweit einmaliges Angebot:
die frühe Förderung nach autimusspezifischer Verhaltenstherapie (AVT) im Kindergarten des AZH.
Das intensive und individuelle Lernprogramm wird
parallel im Kindergarten und im Elternhaus umgesetzt.
Das Ziel für die Eltern ist, dass sie nach elf Monaten
selbstständig mit ihren Kindern weiterlernen können
und auf diese Weise unabhängiger von Hilfen unterschiedlicher Art werden sollen.
Zu der Einrichtung unter dem Dach der alten Villa
in Bemerode gehört das Fünf-Tage-Internat, das sich
im Haus der Wohngruppen für autistische Kinder und
Jugendliche in Giesen befindet. Vier bis fünf Kinder,
die die Schule oder den Heilpädagogischen Kindergarten besuchen, haben hier die Möglichkeit, während der Woche im Internat zu wohnen. Grundsätzlich ist ihr Aufenthalt zeitlich befristet und erfolgt auf
Antrag der Eltern. Der vorübergehende Internats-
besuch dient der Stabilisierung von Lernzielen für
die Kinder, aber auch einer Entlastung betroffener
Familien. Einige der Kinder, die das Internat besucht
haben, finden später ihr Zuhause in der Wohngruppe für
autistische Kinder und Jugendliche in Giesen,
die im vergangenen Jahr ihr 15-jähriges Bestehen
begangen hat. 13 junge Menschen mit frühkindlichem
oder atypischem Autismus haben hier ihr zusätzliches
Zuhause gefunden und werden von insgesamt 28
Mitarbeitenden ganzjährig betreut.
In der Erstausgabe erfahren Sie zahlreiche Hintergründe zu der Jubiläumswohngruppe und wie sie mit
ihrer größten Herausforderung umgegangen ist: Am
15. Januar mussten die 13 Bewohner die alte Villa am
Ortsrand in Giesen wegen Umbaumaßnahmen verlassen, vorübergehend wohnten sie in einer ehemaligen
Wohngruppe der Diakonie Himmelsthür.
Lesen Sie im Folgenden, wie die Bewohner und
Mitarbeitenden der Einrichtung mit der Situation umgingen und wie sie diese Herausforderung
Text und Foto: reu
meisterten. Weitere Infos unter:
www.autismus-zentrum-hannover.de
Hier gibt es uns online
Liebe Leserinnen und Leser,
über Ihr Interesse an unserer neuen Zeitschrift freuen wir uns sehr. Gern möchten wir Sie mit dem
Magazin regelmäßig über unsere aktuellen Entwicklungen und Ereignisse in den Einrichtungen
informieren und Ihnen einen Einblick in die Arbeit mit
autistischen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien geben. Der einblick erscheint halbjährlich und
steht Ihnen sowohl in Papierform als auch digital zur
Verfügung.
Um Sie in Zukunft optimal informieren zu können, bitten wir Sie an dieser Stelle, sich auf unserer
Homepage www.autismus-zentrum-hannover. de
einzutragen. Dort erhalten Sie die Möglichkeit,
künftig das Magazin per E-Mail als PDF und / oder
in der Printversion zugesandt zu bekommen. Das
Abo ist jederzeit widerrufbar und kostenfrei. So
können Sie sich auf unserer Homepage eintragen:
Ausgabe 1 / 2016 • Seite 5
AKTUELLES
Der Fotokrimi – pures Sozialtraining
Jugendliche mit Autismus stellen ihren Fotokrimi vor
Jugendliche raufen auf dem Gelände des Spielparks Tiefenriede miteinander. Ein Schieben
und Drücken, verzerrte Gesichter, aus denen der
Körpereinsatz jedes Einzelnen spricht. „Klappe,
Szenestopp“, eine Sichtprobe auf dem Kamerabildschirm des Fotografen. „Der Blick kann noch
deutlicher aufeinander gerichtet sein. Wiederholung der Szene.“
Was hier stattfindet, ist ein Ausschnitt aus dem Projekt
„Der Fotokrimi“, das die Ambulanz und Beratungsstelle des Autismus Zentrums Hannover (AZH)
von Juni 2015 bis Januar 2016 umsetzte. Eine
Gruppe von vier Jugendlichen im Alter von elf bis
17 Jahren, die in der Ambulanz eine autismusspezifische Förderung erhalten,
nahm daran teil. Vielfältige
Begegnungen gab es jedoch
weit über die Grenzen des
AZH hinaus.
Das Ergebnis dieses Projektes ist das Fotobuch „Das
Bild von nebenan“, ein Krimi im Comicstil. Diesen präsentierten die Mitarbeiterinnen aus dem AZH unter der
Projektleitung von Diplom-Sozialpädagogin Birte Müller gemeinsam mit den Jugendlichen und dem Fotografen Dr. Harald Gorr am Jahresanfang der Öffentlichkeit
in der Stadtbibliothek Hannover. Der Krimi im Comicstil will zum Dialog und zum gemeinsamen Schmunzeln von Menschen mit und ohne Autismus anregen.
Inhaltlich greift er, ebenso wie das Projekt selbst, ein für
Jugendliche mit Autismus brisantes Thema auf. Einer
ihrer größten Wünsche ist es, gemeinsam mit Gleichaltrigen etwas erleben zu können. Demgegenüber steht
ihre Erfahrung, in ihrem Alltag oft nicht verstanden zu
werden und ausgegrenzt zu sein.
„In unserer täglichen Arbeit stellen wir immer wieder fest, dass sich die Integration von Menschen mit
Autismus schwierig gestaltet. Hintergrund ist ihre eigene Art der Wahrnehmung, über die sie sich nur
selten mitteilen können. Menschen mit Autismus leben in einer eigenen Kultur, die von ihrer Umwelt oft
Seite 6 • Ausgabe 1 / 2016
nicht verstanden wird. Ihre Selbstwahrnehmung und
-reflexion ist anders. Sie können sich nicht aus der Perspektive eines anderen betrachten und es fällt ihnen
schwer, ihr Verhalten entsprechend einem geteilten
Interesse anzupassen. Nicht selten werden Jugendliche
mit Autismus Opfer von Mobbing. Mit dem Projekt
„Der Fotokrimi“ möchten wir Menschen mit Autismus einerseits einen Raum der Zugehörigkeit und der
Gemeinschaft, andererseits die Möglichkeit des Ausdrucks und des Dialogs mit ihren
Mitmenschen anbieten“, erklärt
Birte Müller die Projektidee.
Das Projekt verlangte von den
Teilnehmern mit Autismus, genau
die Verhaltensweisen zu üben,
die ihnen im Alltag aufgrund ihrer Andersartigkeit nicht leichtfallen. Sie hatten sich über ihr
Verständnis der Geschichte
mitzuteilen, sich innerhalb der
Gruppe gemeinsam auf Szenen zu einigen, den zur Abbildung der Szenen benötigten
Raum mithilfe von Requisiten
zu kreieren und sich bei der Darstellung aufeinander zu
beziehen. Kurz: Sie waren für alles verantwortlich und
sie mussten in Kontakt kommen, um das gewünschte
Ergebnis zu erreichen. Unterstützung boten ihnen dabei die vier Sonder- und Sozialpädagogen der Ambulanz
und Beratungsstelle Birte Müller, Monika Kowarsch,
Carina Abdisalam-Blome, Anke Slebos sowie der Fotograf Dr. Harald Gorr. Regelmäßige theaterpädagogische
Übungen halfen den jungen Menschen, miteinander in
Kontakt zu kommen.
Die unterschiedlich zusammengesetzte Gruppe
von Menschen mit und ohne Autismus arbeitete aus
Sicht von Birte Müller perfekt zusammen und war in
jeder Szene stets vereint. Und: „Sie haben so etwas wie
Freundschaft entwickelt“, sagt Birte Müller. Das entstandene Buch zeugt von einer besonderen Lebendigkeit und der Beziehungsfreudigkeit, die mit dem Thema
Autismus nur selten in Verbindung gebracht wird. „Wir
haben in der Gruppe etwas erlebt, was wir im Alltag der
Ambulanz nur in Ausnahmen kennen: dass Jugendliche
sich aufeinander freuen, miteinander raufen, kichern
und sich necken, Geheimnisse teilen und auch mal kri-
AKTUELLES
tisch zueinander Stellung beziehen“, erzählt sie. „Zwei
Autisten haben sich in der siebenmonatigen Projektzeit
angefreundet. Einer von beiden ist jetzt so traurig, dass
er seinen Freund nicht mehr regelmäßig am Mittwoch
sehen kann. Daher hat er von sich den Mittwoch zum
Freundschaftstag erklärt“, berichtet Birte Müller.
die Jugendlichen mit Autismus sichtbar verändert, das
äußerte sich ganz unterschiedlich, in ihrem Charakter
konnten wir sie bestärken“, schildert der Fotograf seine Beobachtungen. Selbstbewusster – in der eigentlichen Bedeutung des Wortes – seien sie geworden, sie
seien sich selbst ihrer Stärken bewusst geworden. Das
Buch, das die jungen Menschen mit Autismus nun in
den Händen halten, ist für sie auch eine Erinnerungshilfe. Es soll sie an das Schöne erinnern, das sie während
der sieben Monate erfahren haben – soziales Lernen
auf eine positive Art und Weise. „Das können sie später immer wieder abrufen. Auch die nicht autistischen
Jugendlichen, die die szenische Arbeit unterstützt haben,
waren dankbar für die Begegnungen der Menschen mit
Autismus und umgekehrt. Sie konnten
gegenseitig voneinander profitieren.
Menschen kommen
miteinander in Kontakt, die sonst nichts
miteinander zu tun
haben. Das war für
uns Inklusion“, sagt
Birte Müller.
„Für die Entstehung dieses Buches sind Jugendliche
zusammengekommen, denen es noch schwerer fällt
als uns allen, sich in Gruppenprozessen zurechtzufinden. Denn Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung
haben aufgrund ihrer besonderen Art wahrzunehmen
große Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und
Kommunikation. Es fällt ihnen nicht leicht, soziale Signale anhand von Mimik, Gestik
und Stimme des Gegenübers zu
erkennen und richtig zu interpretieren. Auch die Gespräche
bieten viele Fallstricke und Missverständnisse für sie. Es fällt ihnen schwer, soziale Zusammenhänge zu erfassen und auf diese
mit angemessenem Sozialverhalten zu reagieren. Viele soziale kommunikative Fähigkeiten
müssen zunächst bewusst gemacht und dann geübt werden.
Gelebte Inklusion
Deswegen ist eine Gruppe imerfuhr das gemischte
mer eine größere und besondere
Projektteam überHerausforderung für Menschen Jan-Eric, Lea, Paul, Andre und Dr. Harald Gorr (v.l.n.r.)
all dort, wo es um
mit Autismus-Spektrum-Stö- präsentieren ihr Buch, das in der Stadtbibliothek nach wie vor
Hilfe bat: Die PoliFotos: reu
rung als für Menschen ohne einzusehen und erhältlich ist.
zei kam mit einem
Autismus-Spektrum-Störung“,
Polizeiauto, sicherte
erklärt Andrea Sewing, Einrichtungsleitung der GiB- wie im realen Leben die Spuren und war mit VergnüTagesförderstätten, in ihrem Festvortrag.
gen und Engagement dabei. Ebenso gern lieferte das
Sofa Loft die gewünschte Kulisse. In einer bestehenMithilfe einer Kombination von szenischem Spiel den Ausstellung wurde flugs Raum geschaffen, um das
und Fotografie gelang es, für die Jugendlichen fassba- vermeintlich gestohlene Bild einfach dazuzuhängen.
re Ausschnitte darzustellen. „Ein eigenes Drehbuch Die Ausstellungseröffnung durfte das Fotokrimi-Team
gab klare Handlungsanweisungen zur Orientierung als weitere Kulisse nutzen. Ein Restaurator stiftete den
und der Regisseur wurde zum Coach. Das Einfrie- passenden Rahmen und schließlich flossen Spendengelren der Zeit in Bildern entschleunigte und eröffne- der, um überhaupt das Projekt für die jungen Menschen
te den Teilnehmenden die Möglichkeit, eigene Wir- mit Autismus zu ermöglichen. Ihr Ergebnis durften sie
kungsweisen reflektieren zu können. So entstand ein schließlich in der Stadtbibliothek Hannover präsenOrt des vielfältigen sozialen Lernens und zugleich tieren. Finanzielle Unterstützung gaben die Diakonie
ein Raum, in dem etwas Greifbares, in Erinnerung Niedersachsen, Aktion Mensch, die Stadt Hannover
Bleibendes entstanden ist“, sagt Birte Müller. Für Fachbereich Soziales sowie die Langesche Stiftung, die
den Fotografen des Projektes, Dr. Harald Gorr, führ- Stiftung Irene, die Wilhelm Hirte Stiftung. reu
te die Arbeit mit den jungen Autisten zu besonderen
Erkenntnissen. Bereits zum dritten Mal begleitete er ein
Projekt der Ambulanz. „Positive Momente zu sammeln,
das ist Arbeit und bei Autisten ist das nicht anders. Weitere Infos unter:
Es ging darum, ihnen etwas Positives an die Hand zu www.autismus-zentrum-hannover.de/angebote-des-azh/
geben. Wie auch bei den anderen Projekten haben sich ambulanz-und-beratungsstelle
Ausgabe 1 / 2016 • Seite 7
DIE WOHNGRUPPEN
Wir sind der Familienersatz
15 Jahre Wohngruppen für autistische Kinder und Jugendliche
An die Anfangszeit der Jubiläums-Wohngruppe erinnert sich Natalie Hanke noch genau, auch an die
folgenden Wochen und Monate, in denen im ZweiWochen-Rhythmus nach und nach die einzelnen
Bewohner der neu gegründeten Wohngruppe
für autistische Kinder und Jugendliche einzogen.
Die Einrichtung des AZH feierte ihr 15-jähriges
Bestehen.
Eineinhalb Jahrzehnte intensive Förderung, Begleitung von jungen Menschen mit Autismus liegen hinter Diplom-Sozialpädagogin Natalie Hanke und ihrem
Team. Das Ergebnis ist ein stabiler Lebensort für autistische Kinder und Jugendliche, unweit von Hildesheim,
idyllisch am Ortsrand mit Blick auf den Kaliberg gelegen. Die Gruppe hat sich etabliert, nach innen wie nach
außen. Herausforderungen unterschiedlichster Art waren in diesen Jahren immer wieder zu meistern.
Eine der ersten Herausforderungen war der Einzug
der Kinder vor 15 Jahren, alle zwei Wochen kam ein
Kind dazu. Wer braucht wie viel Zeit? Wer passt zu
wem? Wie formiert sich die Gruppe? Diese und weitere
Fragen waren über einen langen Zeitraum das Dauerthema unter dem Dach der Villa. Im Zweifel ist die Einrichtungsleitung darüber, ob es wirklich für jedes Kind
richtig war, alle so schnell hintereinander einziehen zu
lassen. Eine auch noch heute gültige Herausforderung
im positiven Sinne ist die Zusammenarbeit mit den
Eltern. Früher kamen die Kinder zumeist im Alter von
ungefähr zwölf oder 13 Jahren in die Wohngruppe, in
einem Zeitraum, in dem es für Eltern wegen der Pubertät ihrer Kinder immer schwieriger wurde, die häusliche
Situation zu meistern. Nur selten zieht ein erwachsen
gewordener Bewohner aus, womit ein Wohnplatz frei
wird.
Doch auf der Warteliste stehen immer mehr jüngere
Kinder, die in Giesen einziehen wollen. Das hat Natalie
Hanke im Laufe der vergangenen Jahre beobachtet. Viele Eltern autistischer Kinder suchen heute früher nach
Lösungen für ihr Kind aufgrund des Bewusstseins, dass
sie es möglicherweise irgendwann nicht mehr schaffen,
der häuslichen Situation mit ihrem autistischen Kind
gerecht zu werden. Dieser Entscheidung, das Kind
frühzeitig in die Wohngruppe zu geben, zollt Natalie
Hanke großen Respekt. Denn es bedeute einen großen
Schritt für die Betroffenen, ihr Kind in eine Einrichtung
zu geben. Hinter dieser Entscheidung stehen schließlich
die Eltern und keine Behörden. Oft hört sie von Eltern
auch den Satz: „Ich mache das für mein Kind.“ Dazu
gehört es auch, den Blick auf die Geschwisterkinder zu
richten, die oft in den Hintergrund treten müssen. „Wir
begegnen allen Eltern mit großem Verständnis“, betont
die Diplom-Sozialpädagogin.
Ein Ort, wo autistische Kinder sich sicher und geborgen fühlen: Die Villa am
Ein
Ort, wovon
autistische
Kinder sich sicher und geborgen fühlen: Die
Villa am
Foto: Anja Reuper
Ortsrand
Giesen. Foto: Anja Reuper
Ortsrand von Giesen. Seite 8 • Ausgabe 1 / 2016
Um Natalie Hanke bildet sich
ein Team von 28 Mitarbeitenden.
Sieben von ihnen sind von Anfang
an mit dabei. Teamarbeit ist in
der Wohngruppe ein Muss, denn
jeden Tag stehen die Mitarbeitenden beider Gruppen vor neuen Herausforderungen. Vieles ist
trotz genauester Organisation und
Strukturierung einfach nicht planbar. Teamarbeit gilt auch gruppenübergreifend. „Jeder Mitarbeiter
muss auch einmal ehrlich sagen
können: ‚Ich kann nicht mehr.“
Ebenso wichtig sind genaue Absprachen zwischen den Mitarbeitern, denn sonst füllen die Kinder
die Lücken“, erklärt Natalie Hanke. Das Team ist sich bewusst:
DIE WOHNGRUPPEN
„Wir sind der Familienersatz.“ Dies wird bei manchen Bewohnern besonders an Weihnachten oder auch
im Krankheitsfall spürbar. „Krankenhausaufenthalte
funktionieren zumeist nicht ohne uns.“
In der Praxis kann das bedeuten, dass Mitarbeiter
das erkrankte Kind 24 Stunden begleiten. Eine Dauerherausforderung ist der Alltag und die Umgebung.
Immer wieder versuchen die Gruppen, das Haus zu
verlassen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Sie besuchen beispielsweise Konzerte, Feste und Kinofilme. Menschen im Ort haben sich auf die Bewohner
längst eingestellt, die Kinder und Jugendlichen sind etabliert. Dienstleister wie Friseure oder auch der Zahnarzt
suchen immer wieder nach eigenen Lösungen, um den
Bedürfnissen ihrer autistischen Kunden oder Patienten
gerecht zu werden. Jeder Einzug war und ist für das
Team und die Bewohner eine Herausforderung.
Und jeder Auszug ist es auch. Eine Herausforderung stand für diesen Januar an. Wegen eines Umbaus
mussten sie die alte Villa für mindestens drei Wochen
komplett verlassen, mit allen persönlichen Sachen
und Betten. Provisorisch lebten sie in einer ehemaligen Wohngruppe der Diakonie in Sorsum. Ganz
bewusst bereiteten Natalie Hanke und ihre Kollegen
die Kinder auf den besonderen Auszug vor. Die jungen Bewohner sollen bewusst miterleben, wie das Haus
geräumt und die Koffer gepackt werden. Denn Natalie
Hanke ist sich hier sicher: „Das Thema wird aufregen.
Ich werde immer wieder betonen: Wir werden zurückkommen.“ reu
Das Haus der speziellen Lösungen
Menschen und Mauern geben Sicherheit
Victors (Name geändert) Zimmer wirkt auf den
ersten Blick gespenstisch. Kein Teppich, keine
Gardinen, keine Regale, keine Bilder, nur ein Bett
und ein Schrank mit einem besonderen Vorhängeschloss. Die Heizung ist mit einer Holzverschalung geschützt. Victor hat auch keine normale
Zimmertür, sondern eine Schiebetür mit einem
besonderen Feststellmodus des Schlosses. Die
Steckdosen im Zimmer haben einen Holzrahmen
und sind versiegelt. An der Decke hängt ein Lautsprecher, die dazugehörige Stereoanlage hat ihren Platz im Dienstzimmer der Wohngruppen für
Kinder und Jugendliche mit Autismus.
Alles ist so konzipiert, dass der Autist nichts mehr
aus den Angeln heben kann. Türen sind sein spezielles Interesse. Dass Victors Zimmer so aussieht, wie es
aussieht, hat seine Gründe, die in seinem autistischen
Behinderungsbild verankert sind. „Er zerstört die ihn
umgebenden Sachen, weil es ihm in dem Moment
schlecht geht und er innere Not verspürt“, erklärt Natalie Hanke, Leiterin der Wohngruppe für Kinder und
Jugendliche mit Autismus, dieses Verhalten. Die nächste Stufe dieses Ausdrucks seiner inneren Not ist die
Selbstzerstörung. Victors Zimmer ist eines von 13 Zimmern in der alten Villa am Ortsrand von Giesen – jedes
sieht anders aus – abgestimmt darauf, was das Kind mit
Autismus braucht und für sich aufgrund des Behinderungsbildes aushält.
Auch für den Lichtschalter und seine kontrollierte Bedienung
haben die Mitarbeitenden des AZH eine Lösung gefunden.
Fotos: Anja Reuper
Dreizehn Jungen und Mädchen mit Autismus
haben hier ihr Zuhause gefunden an einem Ort, der
ganz auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist, wo sie ein
Zimmer und eine Umgebung haben, die so ausgestattet ist, dass das Kind, entsprechend sich seiner autismusspezifischen Störungen, dort wohlfühlt. Jedes Kind
steht vor anderen Schwierigkeiten in seinem Alltag –
„was der eine gut annehmen kann, kann bei dem anderen schon in das genaue Gegenteil umschlagen“, erklärt
Ausgabe 1 / 2016 • Seite 9
DIE WOHNGRUPPEN
die Diplom-Sozialpädagogin, die seit Eröffnung der
Einrichtung im Jahr 2000 diese auch leitet.
Das Haus ist für seine Bewohner ein sicherer Ort,
abgelegen am Ortsrand von Giesen, weitläufig und geschützt mit einem Zaun. Dass sie dieses sichere Gefühl
haben, liegt nicht nur an dem Haus, sondern auch an
dem 28-köpfigen Team um Natalie Hanke. Sie sorgen
rund um die Uhr, ganzjährig für Struktur und Rituale im
Leben der so unterschiedlichen Bewohner. Dieses
Rund-um-die-Uhr-Paket an Wohlfühlfaktoren gibt ihnen die notwendige Sicherheit im Alltag. Haus und Team
bieten einen geschützten Rahmen, der den Jugendlichen
auch die Möglichkeit einräumt, Freiheiten zu genießen,
ohne sich selbst zu gefährden, fasst Natalie Hanke
zusammen.
Diesen sicheren Ort haben sie Mitte Januar für mehrere Wochen verlassen, weil ein Auszug auf Zeit wegen eines umfangreichen Umbaus der Villa notwendig
geworden war. Der Aus- und Umzug machte viel
Arbeit und Gedanken. Monatelang bewegte Natalie
Hanke in ihrem Kopf Fragen wie: Klappt alles so wie
geplant, welcher Bewohner reagiert wie? Wie lassen sich
Schwierigkeiten im Vorfeld vermeiden? Wie vermitteln
wir den Bewohnern den Ein– und Auszug, ohne dass
sie in Ängste geraten? Wie managen wir die Zeit des
Übergangs? Bewohner haben in der Übergangszeit
eine Begleitung – vom Aufstehen bis zum Einschlafen. Damit war die volle personelle Besetzung nötig,
unter anderem wurde deshalb in diesem Zeitraum das
Internat zur Krisenintervention geschlossen und die
dort tätigen Mitarbeiter verstärkten das Team.
Ihre neue Unterkunft lag auf dem Gelände
der Diakonie Himmelsthür in Sorsum. „Das Gebäude war für unsere Zwecke gut geeignet“, sagt
Natalie Hanke. Bei den Besichtigungen unterschiedlicher Wohnmöglichkeiten hatte Natalie Hanke die
nötigen Feinheiten einer sicheren Übergangsbleibe immer im Hinterkopf: abschließbare Schränke,
abschließbare Fenster, abschließbare Kühlschränke,
abschließbare Schubladen, getrennte Wohnzimmer
und Küchenbereiche für die beiden Wohngruppen.
All das bot das Haus in Sorsum und es war nahe der
Schule, die neun Kinder aus der AZH-Einrichtung
besuchen.
Lesen Sie im Folgenden, wie das Team den Übergang gestaltete, wie insbesondere die Bewohner
mit dieser besonderen Umstellung ihrer Lebens- Die Heizungsverkleidung, das eingeschlossene Telefon und der
situation umgingen und wie sie auf die Veränderungen Schiebetürmechanismus – alles Lösungen für die besonderen
Fotos: Anja Reuper
Bedürfnisse der Bewohner. reagierten.
Seite 10 • Ausgabe 1 / 2016
DIE WOHNGRUPPEN
Der Umzug
auf Zeit
ein Tagebuch von
Natalie Hanke
12. November 2015 Haben heute den Bewohnern erzählt,
dass wir für eine Zeit lang ausziehen müssen. Hatten lange
überlegt, welcher Zeitpunkt der richtige ist. Was ist zu früh?
Wann muss es sein? Aber immer mehr wurde unsere Ausquartierung zum Gesprächsthema z. B. in der Schule in Sorsum. So bestand die Gefahr, dass die Kinder es irgendwo
hören, und so etwas ist nie gut. Haben uns in den Gruppen
zusammen ins Wohnzimmer gesetzt und erzählt. Wobei es
ganz wichtig war, zu sagen, dass wir wieder zurückkommen
und die Zimmer in Giesen bleiben, wie sie sind. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich – von Freude bis Angst.
Häufig gab es keine erkennbare Reaktion.
Im Dezember ab und zu erinnert, aber für die meisten
Kinder war das noch zu weit weg und andere Themen, wie
Weihnachten, im Vordergrund und aufregend genug. Es
zu viel zu thematisieren, kann auch Ängste verstärken. Ein
Bewohner schien Schwierigkeiten mit dem Thema zu haben, daraufhin machten wir einen Plan mit Bildern, wo klar
wurde, von Giesen geht’s nach Sorsum und danach wieder
zurück – mit so viel Zeitangaben wie möglich.
4. Januar 2016 Ab jetzt geht’s in die konkrete Vorbereitung, wir erklären und erzählen es immer wieder, für jeden
Bewohner individuell.
9.1. Einem Bewohner, Johannes, geht es schlecht. Er isst
kaum noch und trinkt wenig, am Ende so wenig, dass er
im Krankenhaus behandelt werden muss. Die Eltern überlegen, ob sie das Kind für die Zeit der Ausquartierung zu
sich nehmen. Die Idee scheitert zum einen bei einigen Telefonaten an der Bürokratie, aber wir glauben/hoffen auch,
dass es für ihn vielleicht vorher schwieriger ist, als wenn das
Ganze tatsächlich da ist.
14.1. Endlich Schlüsselübergabe. Nachmittags fahren wir
mit den Bewohnern zum Angucken in die Gruppen. Alle
sind sehr aufgeregt. Für Lucas haben wir morgens schnell
ein Bett aufgebaut, damit er schon sehen kann, wo er dann
schlafen wird. Er ist erst vor einigen Monaten in die Wohngruppe gezogen und der Umzug ist für ihn eine besondere
Herausforderung. Er wird den Umzug selber nicht miterleben, da er an dem Wochenende zu seinen Eltern fährt.
Wir haben hin und her überlegt: Ist es besser für ihn, wenn
er beim Umzug dabei ist oder nicht? Aber noch wichtiger
schien uns allen, den Rhythmus der Fahrt zu den Eltern
beizubehalten. Wird er das Ganze verstehen können, wenn
er Sonntag wiederkommt?
15.1. Der Tag ist da!! Wir merken den Kindern und Jugendlichen eine große Aufregung an. Wie viel ist davon unsere?
Die Bewohner gehen wie immer zur Schule. Zum Glück
sind alle gesund. Während sie in der Schule sind, wird es in
den Gruppen emsig. Während das Umzugsunternehmen
die Betten abbaut, werden Kisten fertig gepackt. Beruhigend war bei allem der Gedanke, dass wir nicht weit weg
ziehen. An der einen Stelle wird noch gepackt. Der Möbelwagen füllt sich bis zum Rand und startet in Richtung
Sorsum. Dort kommen die nächsten Kollegen, die auspacken – und man wundert sich, wie viel das doch ist. Die
Kinder kommen von der Schule wie sonst in Giesen an.
Es gibt Pizza für alle und danach geht’s los. Das Umzugsunternehmen ist noch nicht fertig, aber die Neugierde ist
bei allen sehr groß. Den Bewohnern gefällt es von Anfang
an gut: ein riesiges Wohnzimmer, von dem aus man in die
Küche gucken kann. Vom Sofa aus hat man alles im Blick
(Wohnzimmer, Essbereich, Büro, Küche), sodass dieses
auch gleich von einer Bewohnerin als Lieblingsplatz ausgesucht wurde. Alles klappt gut, nur ein Bewohner ist sehr
ruhig, so ruhig, wie wir ihn gar nicht kennen.
16.1. Dieses legt sich schnell. Am ersten Wochenende wird
die Umgebung erkundet. Viele kennen das Gelände schon
und können es den anderen zeigen. Die Cafeteria wird geAusgabe 1 / 2016 • Seite 11
DIE WOHNGRUPPEN
testet und für gut befunden. So etwas haben wir in unserem
Garten natürlich nicht.
17.1. Die Bewohner, die am Freitag zu ihren Eltern gefahren sind, kommen heute wieder und dann auch ganz gut
an. Aufregend ist es natürlich! Johannes ist nun wieder ganz
munter – immer wiederkehrende Erklärungen haben ihm
geholfen. So richtig gut war es aber erst, als er alles sah und
merkte, dass wir alle mitkommen.
18.1. Der normale Wochenalltag beginnt. Allerdings mit
zwei Tagen ohne Wasser in der Gruppe. Wir haben nun
gelernt, dass man zwei Elektrogeräte nicht gleichzeitig benutzen darf – dann fliegt die Sicherung heraus. Trifft leider
auch auf den Trockner und die Waschmaschine zu – sodass
es nicht leicht wird, unsere viele Wäsche zu bewältigen. Ein
Mädchen aus dem Internat kommt heute zum ersten Mal
dazu. Sie wird die Zeit immer Montag bis Freitag bei uns
verbringen – in einem Doppelzimmer mit einer Bewohnerin. Die freut sich schon darauf.
27.1. Wir haben uns gut eingelebt. Es ist schön, dass wir
viel spazieren gehen können, oder Ausflüge machen. Unsere Betreuungssituation ist gut, da das Internatsteam uns
unterstützt. Auch ist es für alle besser, dass wir rausgehen,
da in den Gruppen Gefahrenquellen sind. Zum Bespiel
ein Brandmeldeknopf mitten im Wohnzimmer, der eine
Aufschaltung zur Feuerwehr hat. Dieser wurde zwar extra
abgesichert, aber wir wissen, dass es nicht ausreichend ist.
Dieser muss ständig bewacht werden. Lucas hat alles viel
besser bewältigt als gedacht! Wie schön!
3. Februar 2016 Es ist weiterhin eigentlich alles ganz nett.
Ab und zu, vor allem an den Wochenenden, geht es nach
Giesen mit den Bewohnern, um die Fortschritte auf der
Baustelle zu begutachten. Da geht es leider langsamer
voran als geplant. Plan war, dass wir in dieser Woche zurückziehen. Neben der Kontrolle der Baustelle müssen
Heidi und Susi, unsere Ziegen, versorgt werden. An die
wird immer gedacht.
10.2. Man merkt, dass mittlerweile der „Urlaubseffekt“, von
dem wir alle zunächst profitiert haben, langsam schwindet.
Die Bewohner haben sich an alles gewöhnt und Sorsum ist
nun Alltag. Das heißt, dass immer besser aufgepasst werden
muss – vor allem auf den Brandmeldeknopf. Die Abende werden gemütlich auf dem Sofa verbracht. Es wird gespielt und Fernsehen geschaut. Fernsehen heißt ARTE und
Vox, alles andere ist gesperrt.
17.2. Uns geht es an sich gut – es gibt weiter viele Spaziergänge,
viele Ausflüge. Aber immer mehr kommt der Wunsch, nach
Giesen zurückzuziehen. Dieses fragen manche der Bewohner konkret, bei anderen ist es zu erahnen. Am Sonntag gibt
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es für manche Kinder immer noch eine Übergabe von den
Eltern zur Wohngruppe in Giesen. Wir treffen uns am
Haus, füttern die Ziegen, und das Kind steigt um zu uns.
Unsere Gruppen in Sorsum sind schwer zu finden, und für
die geplanten zwei Wochenenden hatten wir zum Anfang
keinen Sinn gesehen, allen den komplizierten Weg zu erklären….Na, ja, das hätte sich wohl doch gelohnt.
24.2. Seit dem ersten Tag finden alle Kollegen es zumeist
sehr nett, dass sich hier beide Gruppen ein Büro teilen. Zunächst war die Grenze zwischen Grün und Gelb mit einem
Klebestreifen gezogen worden. Wobei es schwierig war, die
Toilette, die davon abging, beiden zuzuteilen. Die Aufteilungen blieben bis zu Schluss schwierig – wer bekommt
den schöneren Schreibtischstuhl, wer hat alle Bleistifte,
Radiergummis? Insgesamt eine schöne gemeinsame und
kommunikative Sache, das Büro, und leider fällt uns nicht
ein, wie wir diese „Sache“ mit nach Giesen transportieren
können. Der gut bewachte Brandmeldeknopf war erstaunlicherweise kaum in Gefahr. Aber andere Schäden passieren
immer mehr. Türen, Heizung. Das passiert wie immer so
blitzschnell, dass kein Eingreifen möglich ist.
2. März 2016 Mittlerweile wird ein Umzugsdatum genannt.
Wenn wir so die Baustelle sehen, können wir uns das mit
dem 11.3. nicht wirklich vorstellen. Und bleiben noch vorsichtig in unserer Vorfreude.
9.3. Es bleibt erstaunlicherweise beim Termin. Zwar wird
das ganz ganz knapp mit den Klempnern, Malern, Trockenbauern, und wie sich zum Schluss zeigt, besonders knapp
mit der Reinigungsfirma, aber wir haben auch den Willen:
Es ist Zeit, wieder nach Hause zu kommen!!! Als wir es –
sicherheitshalber erst zwei Tage vorher – den Bewohnern
sagen, ist die Freude riesig! Zum Teil wird gestrahlt und gehüpft! Natürlich kommt auch Aufregung dazu: Kommen
wirklich alles und alle wieder mit?
10.3. Es geht los mit Packen und Bettenbeschriften in Sorsum, mit Umräumen und Putzen in Giesen. Wie soll das
morgen nur geschafft werden? Der Stand in Giesen ist
noch ziemlich wirr. Wir versuchen, positiv zu bleiben, hat
doch bis jetzt alles irgendwie immer geklappt. Übrigens:
Der Feueralarm hat nicht einmal ausgelöst! Gut bewacht!
11.3. Wir ziehen heute wirklich um! Es ist geschafft und alle
Mitarbeitenden und Bewohner freuen sich sehr, Haus und
Garten wieder genießen zu können. DANKE an ALLE
Mitarbeitenden. Ihr habt dazu beigetragen, dass Sorsum
trotz der Umstände vor allem in guter Erinnerung bleiben
wird und die Bewohner sich wohlgefühlt haben! nh
Weitere Infos unter:
www.autismus-zentrum-hannover.de/angebote-des-azh/wohngruppen
DIE SCHULE IM BONHOEFFER-HAUS
Leons erster Schultag
Immer mal wieder blättert Christine Wolf in der
grünen Fotomappe „Mein erster Schultag“, die
sie als Erinnerung an den Einschulungstag ihres
Sohnes Leon von der Schule im Bonhoeffer-Haus
bekam. Leon bastelte die Mappe gemeinsam mit
seinen neuen Lehrern. Seite an Seite reihen sich
die Fotos aneinander, die sie an den besonderen,
für sie sehr wichtigen Tag erinnern.
„Mein Kind kommt zur Schule! Ich war ganz aufgeregt an diesem Tag. Leon fand es cool, dass er endlich den Schulranzen tragen durfte. Tage und Wochen
vorher war das nicht erlaubt. Ganz phantastisch war
es, dass wir so viele Gäste zur Einschulung mitbringen
durften, deshalb waren sein Vater, seine Tante, seine
Patentante und ich dabei. Nachdem Frau Steenwijk eine
kleine Ansprache gehalten hatte, die Lehrer sich
einzeln vorgestellt und die
Kinder mit ihnen ein Spiel
gespielt hatten, konnten
wir ganz entspannt Fragen stellen und uns umsehen. Wie läuft das mit dem
Essen, wie läuft es mit
dem Bustransport? Wie
funktioniert es mit dem
Essensgeld? Vor der Einschulung hatte ich die
Möglichkeit zu hospitieren, so wusste ich schon
im Voraus, wo ich Leon
lasse.“
Seit der Einschulung hat sich viel getan. Das merkt
Christine Wolf im Alltag mit ihrem Sohn. So wie jüngst.
Seine bunte Laterne auf der Fensterbank ist Leon heilig.
Er hat sie in der Schule im Bonhoeffer-Haus gebastelt.
Neulich hüpfte er auf dem Trampolin am Fenster und
die Laterne fiel herunter. Ganz behutsam hob Leon sie
auf und stellte sie wieder an ihren alten Platz. Zuletzt
streichelte er sie noch einmal ganz behutsam. Für seine
Mutter Christine Wolf ist das ein außergewöhnliches
Verhalten und Ergebnis seiner ersten Monate in der
Schule im Bonhoeffer-Haus.
Noch vor einem halben Jahr hätte diese Laterne
nicht auf der Fensterbank stehen dürfen, Leon hätte
sie sofort zerstört. „Mein Sohn geht achtsamer mit seinen Sachen um“, erzählt Christine Wolf von der ersten
Veränderung. „Alles, was er aus der Schule mitbringt,
wird behandelt wie ein rohes Ei.“ Die Schule macht
ihm Spaß und strengt ihn an. Regelrecht erschöpft ist
der Junge mit frühkindlichem Autismus, wenn er aus
dem AZH nach Hause kommt. Auch das ist für sie
neu. Ebenso, dass Leon häufiger am Tisch sitzen bleibt,
wenn es Essen gibt. Das ist ebenfalls ein Erfolg seines
Schulbesuchs. „Leon geht gern zur Schule, das merke
ich. Als er jüngst krank war und zu Hause bleiben musste, brachte er jeden Tag seinen Schulranzen, manchmal
bringt er ihn auch am Samstag“, sagt Christine Wolf.
„Seit August besucht der Sechsjährige die Schule
des AZH in Hannover-Bemerode. Ganz bewusst hat
Leons Mutter die Einrichtung für autistische Kinder und
Jugendliche ausgewählt. „Dort arbeiten die Profis, hier
bekommt Leon eine individuelle Förderung, hier kann
ich mir Hilfe holen, hier kann
ich nachfragen“, erklärt sie ihren Standpunkt. Andernorts
war es für sie nicht einfach,
vielfach wurde ihr geraten,
dem Jungen Medikamente zu
geben, damit er und sie auch
schlafen können. Ich fühlte mich alleingelassen mit
meinem kranken Kind“,
erinnert sie sich.
In der Schule im Bonhoeffer-Haus gibt es Antworten auf Fragen und
Christine Wolf fühlt sich mit
ihrem Sohn gut aufgehoben.
Eine inklusive Beschulung
ihres Sohnes schloss Christine Wolf grundsätzlich
aus. „Das ist für Leon nichts, für die anderen Kinder nichts und auch nichts für die Lehrer. Leon würde einfach untergehen“, erklärt sie die Entscheidung aus der Erfahrung, wie schwierig der Umgang
mit ihrem Sohn sein kann. Dabei war es keineswegs
so sicher, dass Leon den Platz in der anerkannten
Tagesbildungsstätte bekam. Dann aber erreichte sie der
Anruf Immigje Steenwijks und die Frage, ob sie denn
noch Interesse an einem Schulplatz für ihren Sohn
habe. Und ob sie das hatte. „Das war das Beste, was
Text und Foto: reu
Leon passieren konnte.“ Weitere Infos unter:
www.autismus-zentrum-hannover.de/angebote-des-azh/
schule
Ausgabe 1 / 2016 • Seite 13
DIE SCHULE IM BONHOEFFER-HAUS
Mohammeds erster Schultag
Wenn Mohammed die einzelnen Buchstaben
aufsagt, wenn er bis zehn zählt, dann sind seine
beiden älteren Brüder begeistert und sehr stolz
auf Mohammed. Es sind seine Erfolge, die sie
genießen. Mohammed ist frühkindlicher Autist, seit
August besucht er die Schule im BonhoefferHaus. Mohammeds Brüder und Mutter Maren
waren bei der Einschulung des Sechsjährigen dabei, seine Brüder applaudierten laut und lange, als
Mohammed auf das Podest in der Turnhalle der
Schule stieg, um sich vorzustellen.
An den Tag der Einschulung ihres Sohnes erinnert sich Mohammeds Mutter noch ganz genau. „Für
die Schultüte interessierte sich Mohammed nicht. Die
Turnhalle war sehr schön geschmückt, jedes einzelne Kind wurde vorgestellt,und auch jeder Lehrer stieg
auf das Podest, um sich vorzustellen. Nach ihrer kleinen Ansprache stellte die Lehrerin Ute van Treek den
Kindern eine kleine Aufgabe mit Farben. Und nachher
sind wir alle zusammen nach oben gegangen, um uns
die Klassenräume und die Küche anzusehen. Es war schön,
dass wir das alles kennen lernen durften, denn mein Sohn
spricht nicht und ich habe jetzt
eine Vorstellung davon, wo er
tagsüber ist“, erzählt Maren
von diesem besonderen Tag.
zen bleiben, lautieren und damit die anderen ablenken“,
beschreibt sie die Nachteile einer inklusiven Beschulung
ihres Sohnes mit frühkindlichem Autismus. „Das AZH
war zu 100 Prozent die richtige Entscheidung, denn hier
wird individuell auf die Kinder eingegangen und hier
besuchen nur Autisten die Klasse, hier gibt es die für
sie notwendige, spezielle Förderung. Außerdem kennt
Mohammed hier alles und fühlt sich wohl, er kann auch
mit dem gleichen Bus zur Schule fahren, wie zuletzt
zum Kindergarten“, sagt Maren. Sieben Kinder sind in
seiner Klasse und bilden eine überschaubare Gruppe.
Die Förderung ist eins zu eins, die Kinder lernen nicht
nur die Inhalte des vorgegebenen Lehrplans wie Sport,
Sachkunde, Kunst usw., sondern auch Lebenspraktisches wie Zähneputzen, Toilettentraining und Hauswirtschaft.
Wenige Monate liegt seine Einschulung erst zurück,
doch seine Mutter spürt schon die ersten Fortschritte.
„Zahlen und Buchstaben sind sein Thema, er versucht
alles zu zählen und sagt alle Buchstaben auf, er hat
richtig Spaß daran. Ich spüre, Mohammed geht gern zur
Schule, aber nachmittags ist er
auch richtig erschöpft von dem
Schulprogramm. Und: Mohammeds Essverhalten hat sich zum
Positiven verändert. Er lernt
dort, richtig zu essen“, berichtet
seine Mutter.
Bevor
Mohammed
in
Die intensive Elternarbeit
der Schule im Bonhoefferder Schule war für sie ein weiHaus eingeschult wurde, beteres, schlagendes Argument,
suchte er zwei Jahre lang
ihren Sohn im Bonhoefferauf dem gleichen GelänHaus einzuschulen. Täglich ist
de den Heilpädagogischen
sie mit den Lehrern im AusDer erste Schultag: Ein stolzer Moment für MoKindergarten
Hummel- hammed und seine Brüder. tausch
– ein kleines Heft hilft
Foto: AZH
haus. Weil sich seine Mutdabei. Hier tragen Eltern und
ter nicht sicher sein konnte, dass sie einen der we- Lehrer kurze Mitteilungen über Mohammed ein. Damit
nigen Plätze im Bonhoeffer-Haus für ihren Sohn sind beide Seiten bestens informiert im Sinne des Kinbekommt, suchte sie parallel nach einer möglichen des. „Mein Sohn kann nicht sprechen und mir ist es auch
Alternative für den Fall einer Absage. Eine inklusive sehr wichtig, zu wissen, was mit meinem Sohn passiert.“
Beschulung schloss sie von vornherein aus, obwohl Passieren, im positiven Sinne, soll noch viel mit ihrem
einer ihrer älteren Söhne eine Inklusionsklasse besucht Kind. Ich bin froh, wenn er sich verständigen kann,
und sie diese Entwicklung begrüßt. Doch: „Für Mo- und ich wäre glücklich, wenn Mohammed noch mehr
reu
hammed ist das nichts und es auch nichts für die an- sprechen lernt und noch selbstständiger wird.“
deren Kinder. Mohammed liebt Kinder, aber er würde
in einer großen Gruppe nichts lernen, denn er wäre zu
stark abgelenkt, er würde aus dem Unterricht nichts Weitere Infos unter:
mitnehmen. Die Förderung wäre weder für ihn noch www.autismus-zentrum-hannover.de/angebote-des-azh/
für die anderen Kinder optimal, denn er würde nicht sit- schule
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AMBULANZ UND BERATUNGSSTELLE
Heute ist ein schwarzer Tag
„Heute ist ein schwarzer Tag.“ Damit antwortete Jannik auf die Frage, wie er sich heute fühle.
Es war seine letzte Förderstunde in den Räumen
der Ambulanz und Beratungsstelle. Fast drei Jahre ambulante Förderung lagen hinter ihm. Jannik
orientiert sich immer noch gerne an Farben und
Zahlen, um seine Emotionen auszudrücken. Grün
bedeutet auf der Farbskala: Heute ist ein guter
Tag, Schwarz heißt schlecht. „Worte kann er dafür
nicht immer finden“, sagt Ellen Stamme, DiplomSozialpädagogin der Ambulanz und Beratungsstelle. Sie fördert Jannik seit drei Jahren, im Sommer
endet diese Zeit. „Wenn ich Jannik heute in einer
Gruppe sehe, würde ich den Asperger-Autisten in
ihm nicht erkennen.“
Vor drei Jahren wäre ihr das leichtgefallen. Ein Junge – sehr intelligent, sehr höflich, voll mit naturwissenschaftlichem und technischem Wissen, aber immer
allein. Wenn er Kontakt suchte, dann verstärkt zur Erwachsenenwelt, denn die bot ihm Kontrolle und Sicherheit. Heute winkt der Achtjährige ihr zu und wendet
sich dann dem Spielen mit seinen Schulkameraden wieder zu. Der Kontakt zu anderen Kindern war ein zentrales Förderziel, denn Jannik wünscht sich Freunde. Er
wusste aber nicht: Wie spreche ich Kinder an, wie komme ich in Kontakt und ins Spiel mit ihnen? Emotionen
konnte das damalige Kindergartenkind nicht erkennen
und einordnen, es wusste nicht, ob jemand traurig oder
wütend ist. Gestik, Mimik, vieles war ihm unbekannt.
„Jannik hat an meinem Gesichtsausdruck nicht erkennen können, dass ich wütend bin, ich habe es ihm sagen
müssen“, erinnert sich Janniks Mutter.
Ein Dreivierteljahr war „The Transporters“ Gegenstand der Förderstunde. Auf unterhaltsame Weise entdeckte Jannik Emotionen, lernte sie einzuordnen. 15
Episoden bietet das Programm, das von Simon BaronCohen, Professor des Autismus-Forschungszentrums
der Universität Cambridge, mitentwickelt wurde. „Das
Programm hat einen hohen Aufforderungscharakter,
weil es am Computer gespielt wird und weil nicht reale
Menschen, sondern Fahrzeuge mit menschlichem Gesicht die Emotionen widerspiegeln. In einem kleinen
Quiz am Ende jeder Episode muss das Kind erraten,
um welches dargestellte Gefühl es sich handelt“, beschreibt Ellen Stamme das Förderprogramm. Der richtigen Antwort folgt eine computeranimierte Belohnung.
Nicht in künstlicher, sondern in realer Umgebung
arbeitete Ellen Stamme am Ziel, Jannik die Kontaktaufnahme mit Gleichaltrigen zu ermöglichen. Sie begleitete
ihn in seiner Vorschulgruppe, sah, woran eine Situation
krankte, und war präsent, um ihm Lösungsvorschläge
in der Situation anzubieten. Jannik konnte sie sofort, im
direkten Umgang mit den Kindern anwenden. Das half.
„Heute wird er immer selbstständiger, baut Kontakte auf und hat zwei bis drei Spielkameraden“, berichtet
seine Mutter. Er hat die Qualifikation für sich erlangt,
andere Kinder anzusprechen, zum Spiel einzuladen und
hält es auch aus, wenn er eine Absage bekommt. „Das
Aushalten von Situationen sowie die Steigerung seiner
Konzentration und die Erhöhung der Aufmerksamkeitsspanne waren weitere Förderziele “, ergänzt Ellen
Stamme. Wenn sie ihn heute auf dem Schulhof beobachtet, erkennt sie immer mehr: Jannik löst sich zunehmend von der Erwachsenenwelt und sucht vermehrt
den Kontakt zu Kindern. Was andere Eltern ärgert,
freut die Mutter und seine Förderin. Jüngst flunkerte
Jannik. Bei anderen Kindern ist das ein Ärgernis, bei
Menschen mit Autismus eigentlich etwas Unmögliches.
Hier ist es Zeichen einer positiven Entwicklung.
Dass Jannik heute so ist, wie er ist, verdankt er zum
großen Teil einem gut funktionierenden Netzwerk für
das Kind. „Wir haben immer die richtigen Leute zum
richtigen Zeitpunkt getroffen“, erinnert sich Janniks
Mutter. Und diese Menschen haben immer im Sinne der
Förderung des Jungen eng verzahnt zusammengearbeitet. Frühförderung, Ambulanz, die Eltern, Kindergarten und später Schule sowie Schulbegleitung – sie alle
vermittelten Jannik eine stetige, konsequente Haltung
aller Beteiligten, in dem sie ihm einen Weg aufzeigten,
an dem er sich entlanghangeln konnte. „Es war ein vorbildhaftes System im Sinne von Jannik. Unsere Aufgabe
ist es, Kinder in die soziale Gesellschaft zu integrieren,
damit sie ein gleichberechtigtes und zufriedenstellendes
Leben führen können. Wir haben ihm die Brücke dafür
geschlagen, damit Jannik ein möglichst selbstständiges
Leben führen kann“, betont die Diplom-Sozialpädagogin. Dafür nutzen seine Eltern jede, sich bietende Möglichkeit. Seit der Diagnose prüfen sie immer wieder:
Was ist der nächste Schritt für Jannik? Aktuell ist Jannik Proband der Studie „Zirkus Empatico“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Diese Trainingsstudie will
untersuchen, ob und wie emotionale, soziale und andere alltagsrelevante Fähigkeiten wirksam trainiert werden
reu
können. Weitere Infos unter:
www.autismus-zentrum-hannover.de/angebote-des-azh/
ambulanz- und-beratungsstelle
Ausgabe 1 / 2016 • Seite 15
Den
Dennächsten
nächsteneinblick
einblick
haben
habenSie
Sieininden
den
Heilpädagogischen
Heilpädagogischen
Kindergarten
KindergartenHummelhaus
Hummelhaus
und
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die
Schule
Schuleim
imBonhoeffer-Haus
Bonhoeffer-Haus