„Die Vorstellungskraft ist das eigentliche Medium, das ich benutze“ Jorinde Voigt im Gespräch mit Stephanie Damianitsch ( Berlin/ Juli 2015) Stephanie Damianitsch Wenn über dein Werk gesprochen wird, ist immer auch vom Medium Zeichnung die Rede. Dennoch ist es augenfällig nicht so einfach, den Status deiner Arbeiten zu definieren, die sich neben geometrischer wie expressiver linearer Markierungen stets auch handschriftlicher Notizen und Zahlen bedienen und unter anderem als Projektionsflächen, visualisierte Denkmodelle, wissenschaftliche Versuchsanordnungen, Notationen, Partituren oder Diagramme beschrieben werden. Gerne würde ich mich daher zu Beginn unseres Gespräches deinem Verständnis der Zeichnung zuwenden und in die Jahre 2002 und 2003 zurückkehren, als du dich vom Medium der Fotografie abwandtest und deine ersten Notationen entstanden – ich denke hier etwa an die Serien Notationen Florida (Abb. S. X) oder Indonesia (Abb. S. X). Wie kam es zu dieser „Wende“ zum Medium der Zeichnung? Jorinde Voigt Ursprünglich galt mein Interesse dem fotografischen Bild. Auf einer Reise durch Florida wurde mir jedoch bewusst, dass ich mich nicht aus der Perspektive befreien kann, die dem fotografischen Bild inhärent ist. Aus Abneigung gegen diesen Perspektivismus beschloss ich, die Kamera wegzulegen, fragte mich, wie ich in kürzester Zeit und unabhängig von der Technik sowie den damit verbundenen Festlegungen Situationen beschreiben kann, und beschloss, nur noch zwei Dinge zu notieren: das, was mich interessierte, an dem was ich fotografieren wollte, und meine Gründe, das Foto zu machen. Ich hatte weiße Zettel und einen Kugelschreiber bei der Hand und habe begonnen, Dinge in Form von Kreuzen auf dem Blatt zu verorten oder Bewegungsrichtungen – zum Beispiel von weißen Limousinen (Abb. S. X) – in Form von Pfeilen einzuzeichnen. Ich schuf Bestandsaufnahmen von Situationen, mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr auf den Auslöser drückte, sondern Notizen machte. So entstanden Bilder, die nicht mehr als perspektivisch klassifiziert werden konnten, sondern das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit des Erlebten – vergleichbar einem Blick von oben – widerspiegelten. Nicht zuletzt wollte ich mit diesen Notationen auch sichtbar machen, was hinter den Dingen steht. Gerade im Kontrast zum fotografischen Bild, bei dem ich immer das Gefühl hatte, dass die repräsentierte Oberfläche den Blick auf das Wesentliche verwehrt, auf die Prozesse, die dazu führen, dass etwas so aussieht, wie es aussieht. Ich frage mich immer, was sind die Bedingungen des mir Sichtbaren, was ist die unsichtbare Rückseite dessen, was man wahrnimmt, die absolut entscheidend ist für das Verständnis der Situation. Gleichzeitig stellte ich fest, dass sich mit dieser Art von Bildern ganz anders umgehen ließ. Ich konnte nicht nur Situationen einfangen, sondern auch Aktionsabläufe beschreiben, über meine grafischen Markierungen „Repeat every hour“ notieren und hatte damit plötzlich auch ein Instrument zur Hand, um die Ereignisse zu choreografieren. Unter Einsatz aller Elemente, wie ich sie aus klassischen musikalischen Partituren kannte, gelang es mir schließlich, auch Haltungen zu beschreiben und mit ihnen zu spielen. Das musikalische Moment, das damit Eingang in meine Arbeiten fand, erlaubte mir, alles von mir Wahrgenommene zu einem Bestandteil dieses Notationsprozesses zu machen. Damit war auch die Entdeckung verbunden, welche Dimensionen in der Vorstellungskraft mit einer 1 Markierung auf Papier abzurufen möglich sind. Als ich dieses Spektrum von Möglichkeiten erstmals für mich entdeckte, zu dem sich fast täglich neue Aspekte gesellten, wurde mir klar, dass ich etwas gefunden hatte, mit dem ich den Rest meines Lebens zu tun haben werde. Die Vorstellungskraft ist daher das eigentliche Medium, das ich benutze. SD Du übersetzt das Wahrgenommene in sparsam gesetzte grafische Markierungen, entwickelst eine spezifische Zeichensystematik, mit der du die Eindrücke ordnest, strukturierst und nicht zuletzt auch orchestriert, um mit dieser – der musikalischen Notation einer Partitur vergleichbaren – Schreibweise einen Vorstellungsraum im Jetzt der Zeichnung zu eröffnen? JV Ja, und ich denke, dass der Begriff der Partitur viel mehr als jener der Zeichnung der adäquateste Ausdruck für die Beschreibung meiner Werke ist, sofern man ihn nicht nur aus dem musikalischen Kontext heraus denkt. Partituren sind wie meine Arbeiten als konzeptionelle Setzungen im Grunde Handlungsanweisungen für die Vorstellungskraft. Zwar sind einige meiner Zeichnungen auch konkret auf Musik bezogen, doch weite ich dieses Konzept der Partitur ‒ die Idee einer imaginierten oder intendierten Klanglichkeit ‒ auch auf alle anderen Bereiche des Lebens und der Wahrnehmung aus. Wie das fotografische Bild scheiterte für mich auch die Sprache an der Beschreibung dessen, wie ich die Welt wahrnehme. Daher war es schon immer mein Ansatz, eine an der Partitur orientierte Schreibweise als Erweiterung des Bildes oder des Begriffes zu etablieren, um zu einer sehr persönlichen Kommunikation über mein individuelles Erleben zu finden. SD Wenn du deine Arbeiten als Handlungsanweisungen für die Vorstellungskraft beschreibst, lassen sich über diese Formulierung auch Schlüsse auf deren performative Charakteristika ziehen. Ich denke hier etwa an das Bildelement 2 küssen sich, das ja nicht nur in zahlreichen deiner Werke aufscheint, sondern 2006 auch als Performance aufgeführt wurde, die wie die Zeichnungen auf einer an der Fibonacci-‐Folge orientierten Handlungsanweisung beruhte, welche die Regeln vorgab, in welcher Frequenz und Dauer acht unterschiedlichen Paare sich insgesamt 54 Minuten lang küssen ... JV Von Beginn an sind meine Arbeiten von einem Performance-‐ beziehungsweise einem Aktionsbegriff getragen. Wahrgenommene Situationen habe ich nicht nur auf ihre charakteristischen Bestandteile, sondern auch auf minimale Handlungsabläufe reduziert, um diese durchzudeklinieren. Daraus entstand dann unter anderem die angesprochene Performance 2 küssen sich, die im Contemporary Art Centre Vilnius aufgeführt wurde (Abb. S. X). Aber ich organisierte auch andere Aktionen, sei es mit einem schwarzen und weißen Toyota, die sich entsprechend einer von mir verfassten Partitur (Abb. S. X) durch den Stadtraum bewegten und dabei den beliebtesten Popsong der Woche spielten. Im Grunde handelte es sich bei diesen Partituren, bei diesen Denkmodellen, bei denen ich bewusst auf sehr einfache Elemente zurückgriff, die aus der Popkultur vertraut sind oder wie der Kuss etwas typisch Menschliches sind, um ein Spiel mit der Frage, was Realität ist, was Vorstellung ist und wie sich diese beiden Ebenen verbinden. Ich habe die Aktionen immer nur so weit umgesetzt, wie sie erfahrbar sind, den weiteren Vorstellungsprozess in meinen Zeichnungen 2 ausformuliert. Die Darstellung des Elements 2 küssen sich in der gleichnamige Serie von Zeichnungen aus demselben Jahr (Abb. S. X) folgt somit ebenso wie die Performance einer Partitur, die eine Übersetzung der Fibonacci-‐Folge ist, die mich aufgrund meiner Beschäftigung mit Pflanzen interessierte, deren äußere Erscheinung einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen ist. Die Verbindung aus Wachstumsprozessen und dem Kuss als charakteristische menschliche Handlung führte dann zu den Aktionsabläufen von 2 küssen sich, die in der Vorstellung ein unendlich weiterschreibbares Modell sind, das sich ‒ wenn es nicht am Format des Papiers scheitern würde ‒ irgendwann einmal, auch als Aktion gedacht, um den Erdball wickeln würde. Jeder Kuss, den man sieht oder erlebt, könnte potenziell Teil dieser unendlich gedachten Aktion sein, selbst wenn einem die dahinterliegende Partitur verborgen ist. SD Gleichzeitig lassen deine Arbeiten damit auch an die Bildcharakter annehmenden Partituren des Avantgardekomponisten John Cage denken, die häufig nur aus Handlungsanweisungen an die Musiker bestehen, die das Musikstück dann in diesem Rahmen frei interpretieren und umsetzen können. Mit seinen Partituren übte Cage starken Einfluss auf die Performances der Fluxusbewegung, die auf sogenannten scores beruhten, oder auch auf die Künstlerinnen und Künstler der Konzeptkunst aus. Hat sein Werk auch deine Arbeit beeinflusst? JV John Cage ist mir natürlich bekannt, und die Entscheidung, solche Aktionsabläufe, solche Handlungsanweisungen ‒ seien sie real oder vorgestellt ‒ zu generieren, hat natürlich auch mit meiner Auseinandersetzung mit der Kunst der 1960er-‐Jahre zu tun, denn die scores, die Blätter mit einzelnen Instruktionen, haben mich stark fasziniert. Gleichzeitig ist es mir jedoch wichtig, zu betonen, dass ich John Cage und die Künstlerinnen und Künstler der Konzeptkunst nicht als Vorbilder sehe. Vielmehr findet alles, was mich fasziniert, Eingang in meine Arbeiten. Ich möchte mich daher auch nicht einem bestimmten Genre oder einer Tradition zuordnen lassen: Ich verstehe meine Arbeit als eine einzige Fragestellung. Die Fragestellung kommt immer direkt aus meinem Leben, letztlich aus der sehr menschlichen Frage, was das ist, was mich hier umgibt. Deswegen verstehe ich meine Arbeiten auch weniger als Zeichnungen, sondern eher als Denkmodelle oder Versuchsanordnungen. Auch in meinen aktuelleren Arbeiten, in welche ich bildhafte, abstrakte Formen integriere, orientiere ich mich nicht an Malerei. Mir geht es darum, Ausdruck zu finden für Atmosphären, für ‒ ohne das esoterisch zu meinen ‒ Energien. Auch das sind Phänomene, die einen täglich umgeben. Die Frage ist, wie man diese notiert, ohne Begriffe zu verwenden, sind es doch Erfahrungen, die sich mit Begriffen nicht fassen lassen. Um diese Aspekte kommunizierbar zu machen, nutze ich Linien, Farben, Formen und Materialien, verstehe das Resultat dann aber als Text, auch wenn er sehr bildhaft wirkt. Je nach Thema und meinen momentanen Ausdrucksmöglichkeiten ist das eben ein reiner, aus der Partitur kommender Schreibprozess, der das Reale mit dem Fiktiven verbindet ‒ was ich in dieser Kombination auch für das „Realste“ halte ‒, oder es sind Untersuchungen zur Wahrnehmung, die sich bildhaft beschreiben lassen. Der performative Charakter schreibt sich jedoch in alle meine Arbeiten ein, er ist das Tun selbst. Performanz verstehe ich nicht als „Staging“, als „Auf-‐ die-‐Bühne-‐Stellen“, sondern als operativen Faktor im Sinn von „Durchführung“. Jede Arbeit, die ich mache, ist eigentlich mein echtes Leben, das auf dieser spezifischen „Ebene des Tuns“ verhandelt wird. Beinahe alle Fragen meines Lebens werden von mir auf dieser „geshifteten“ Ebene bearbeitet, das ist meine Form der Auseinandersetzung damit. 3 SD Auf deiner Suche nach einer operativen Form der Zeichnung greifst du auf das Regelwerk mathematischer Algorithmen zurück, mit deren Hilfe du sicht-‐, hör-‐ oder fühlbare alltägliche Phänomene – etwa Temperaturverläufe, akustische Impulse, die Flugbahnen eines Adlers etc. – einer spezifischen Ordnung zuführst. Entgegen der vermeintlichen Logik der Algorithmen muss man jedoch festhalten, dass das Wachstum in deinen Arbeiten häufig nicht kontinuierlich verläuft. Chaos tritt in gewisser Weise in die Ordnung ein, warum ist das so? JV Meine Arbeitsweise entspricht einer langen Kette von Fokussierungen auf ein Thema und hat viel mit dem Sortieren von Eindrücken sowie mit dem Versuch zu tun, mit diesen umzugehen. Die algorithmischen Wachstumsfolgen helfen mir dabei, da sie eine bestimmte Zahlenreihe vorgeben, die – bleibt man beim Beispiel des Elements 2 küssen sich – alternierend die Dauer des Kusses und den zeitlichen Abstand zur nächsten Aktion, also zur nächsten Dauer des Kusses, festlegt. Die Zahlenreihe gibt auch vor, wie die Anzahl der Minuten des Kusses der neuen Anzahl der Paare entspricht. Man darf jedoch nicht vergessen, dass man bei diesen auf Algorithmen basierenden Arbeiten zwar weiß, was sich woraus ergibt, was worauf zeigt, welche Anzahl im nächsten Schritt folgt, die konkrete Schreibweise aber immer eine freie spontane Entscheidung bleibt. Hier gibt es kein Richtig und kein Falsch, sondern nur ein Spektrum unendlich vieler Möglichkeiten, aus dem ich stets jene wähle, die mir spontan einfällt. Der Algorithmus lässt unendlich viel Raum für diese spontanen Entscheidungen. Die vom Algorithmus vorgegebene Distanz, die zeitliche Dauer, entspricht ja nicht einer Distanz in Millimetern auf einem mit Lineal eingezeichnetem Raster, sondern wird von mir mit einer frei gezogenen Linie angemerkt, die am Blatt nach oben wie nach unten verlaufen, eine Biegung machen und dadurch eventuell Räumlichkeiten oder Tiefen erzeugen kann. In dieser Spontaneität liegt natürlich sehr viel Ausdruck, da sich dadurch der Moment, in dem man sich befindet, bewusst oder weniger bewusst einschreibt. Die Spontaneität verbindet den Algorithmus schließlich auch mit dem Zufall, mit dem Chaos. Ich verstehe Zufall und Chaos als Freiheit, die Teil des Algorithmus ist und auf einer nonverbalen algorithmischen Ebene mitartikuliert wird. Wichtig ist, dass – abgesehen von meinen zusätzlichen handschriftlichen Anmerkungen über Distanz und Dauer – der gesamte Algorithmus ja nur auf dieser nonverbalen, visuellen Ebene sichtbar wird. SD Bezug nehmend auf diese handschriftlichen Notizen zu Distanz und Dauer möchte ich auf Zeit und Raum als Parameter deiner Zeichnungen eingehen. Diese werden von dir stets ganz konkret ausgewiesen, die dargestellten Aktionsabläufe somit – sei es durch den Vermerk geografischer Koordinaten oder Himmelsrichtungen – klar lokalisiert. Du spannst in gewisser Weise ein raumzeitliches Netz auf, in dem sich die einzelnen Aktionen entfalten. JV Es gibt immer eine Art Koordinatensystem, das allerdings – vergleichbar dem spontanen Umgang mit den Algorithmen – frei geschrieben ist. Es gibt auf demselben Blatt oft Angaben, die in verschiedene räumliche Richtungen weisen. Auch die notierten Bewegungsabläufe gleichen eher der Aufforderung, dasselbe mehrfach und in verschiedenen Versionen zu denken und die Position der Betrachterinnen 4 und Betrachter als alternierend zu verstehen. Ich begreife jedes Thema als etwas Bewegtes, genauso wie ich mich selbst in der Auseinandersetzung damit bewege. Das bedeutet für mich, dass es nie eine einzig wahre Ansicht der Sache gibt, sondern die Aspekte, die am Blatt oder im Verlauf einer Serie in diesem offenen Koordinatensystem gleichberechtigt nebeneinanderstehen, immer nur durch den Prozess der Variation sichtbar werden. SD Wie würdest du unter diesen Vorgaben den „Raum“ deiner Zeichnungen definieren? JV Als Raum zwischen mir selbst und der Welt, als Raum, in dem man alles verhandeln muss: die Wahrnehmung des Anderen und die Stimulationen durch das von außen Kommende ebenso wie das innerlich Empfundene oder Gedachte. Es ist der Erlebnisraum zur Welt und zu sich selbst. Es spielt dann im Endeffekt gar keine so große Rolle, ob die Anteile, die in den Werken verhandelt werden, von mir oder von außen kommen. Am Ende bleibt dies alles der gleiche Raum. Der Raum ähnelt dem, den man erlebt, wenn man Musik hört, oder ist sogar der gleiche. Wenn ich so konkrete Faktoren wie Bewegungsabläufe oder geografische Angaben vermerke, dann halte ich das für richtig, denn das sind ja alles Parameter, die auf einen wirken, während man erlebt. Selbst wenn man sich in einem sehr innerlichen Zustand befindet, wirken die äußeren Faktoren auf einen ein. Ganz so, wie das in Wirklichkeit ist: Wenn man an einem Ort sitzt und überlegt, dann ist dies ein konkreter Ort; man hört Geräusche, blickt in eine bestimmte Himmelsrichtung, die Schwerkraft wirkt auf einen ebenso ein wie das Wetter; die Atmosphäre des Orts, von dem man gerade herkommt, ist ebenso noch präsent wie das, worüber man im Moment nachdenkt. Wobei die Gedanken selbst sehr wohl auch auf Zukünftiges gerichtet sein können. Das alles passiert auf ganz natürliche Weise gleichzeitig und unterliegt einem ständigen Wandel. Meine neuesten Werke – die kunsthistorische Untersuchungen zu Flügeldarstellungen sind und damit das mich schon lange beschäftigende Thema des Fliegens auf einer erweiterten Ebene aufgreifen – durchkreuzen schließlich auch das Historische, das nun als eine Achse im Raum meiner Arbeiten bezeichnet werden kann. Analog zur Aufführung eines historischen Musikstückes werden vergangene Formen in die Jetztzeit geholt und unter gegenwärtiger Perspektive vorgestellt. SD Das heißt, dass der Raum deiner Zeichnungen durchaus auch Veränderungen unterliegt beziehungsweise Erweiterungen erfährt? JV Auch wenn die Matrix, die den Raum und seine Parameter beschreibt, in jeder meiner Arbeiten in Erscheinung tritt, so würde ich, wenn ich auf meine Arbeiten zurückblicke, dennoch sagen, dass sich eine Entwicklung vom Konstruierten hin zum Modellhaften abzeichnet, vom Vorstellungsraum zum Erfahrungsraum. Vor allem durch die in jüngster Zeit erfolgte Integration von Farben und bildhaften Formen habe ich den Eindruck, dass Aspekte konkret ausgedrückt werden können, die früher nur über die handschriftlichen Notizen „benannt“ wurden, um sie vorstellbar zu machen. SD 5 Damit sprichst du ein weiteres zentrales Charakteristikum deiner Werke an, in denen handschriftliche Notizen häufig den einzigen Bezug zur Realität darstellen: ihr Changieren zwischen Schrift und Bild. JV Was das Verhältnis von Schrift und Bild angeht, lassen sich in meinem Werk ebenso wie in Bezug auf den Raum auch Verschiebungen und Änderungen der Gewichtung beobachten. Ich finde, dass sich das Bildliche im Sinn abstrakter, visuell wahrnehmbarer Zeichenstrukturen mit dem Sprachlichen in Form handschriftlicher Matrixbeschreibungen in meinen früheren Arbeiten das Gleichgewicht hielt. Mittlerweile hat sich ein Ungleichgewicht eingestellt, durch das die schriftliche Matrix abnimmt. Ich habe nun den Eindruck, dass viele Dinge verlieren, wenn sie als Wort neben einer Form stehen, die ich ebenso als Kommunikationsmedium begreife. Unabsichtlich eröffnet sich eine Konkurrenz, und es wird parallel auf zwei Ebenen kommuniziert. Derzeit habe ich meine sprachliche Matrix noch beibehalten, da sie mir hilft, Dinge zu fokussieren, aber ich denke, dass diese mit der Zeit auch aufgegeben werden könnte, allerdings erst, wenn es mir gelingt, für die Übersetzung von Begriffen in Bilder eine ideale Form zu finden. Denn was ich als entscheidend ansehe, ist, dass in der Vorstellungskraft viel mehr möglich ist als im zeitbasierten echten Jetzt. Mit Schrift und Richtungsangaben lassen sich Dinge in einer höheren Komplexität beschreiben als in ihrer Übersetzung in visuelle Formen oder Objekte wie zum Beispiel in einen sich tatsächlich drehenden Hügel in einer bestimmten Materialität im Raum. Das ist so ähnlich wie bei der Aufführung eines Musikstückes: Die spezifische Aufführung im Sinn einer fixierten Form beziehungsweise eines Objektes gibt es nur einmal, aber in der Partitur ist jede andere mögliche Aufführung prinzipiell latent vorhanden. Darin liegt für mich die Freiheit des Skripturalen, die für mich zentral ist. SD Du sprichst davon, dass es deiner Meinung nach Gefahren birgt, Überlegungen und Beobachtungen anstatt in Form einer Partitur als Objekte im Raum umzusetzen. Dennoch finden sich in deinem Werk immer wieder auch installative Arbeiten. Wie können diese „gelesen“ werden? JV Meine Installationen sind mit meinen anderen Arbeiten gleichwertig und auch entsprechend zu lesen. Einzelne Aspekte kopple ich in Form einer Überprüfung als Bewegung, als Vorhandensein im Realraum aus. So untersuchte ich in meiner Installation Grammatik von 2010 (Abb. S. X) ebenso das für mich in dieser Zeit zentrale Thema der Rotation, wie ich den Möglichkeitsraum von Sprache einmal in Gänze anhand des Wortes „lieben“ durchdeklinieren wollte. Analog zu den vierundsechzig Optionen, welche die Sprache bietet, vermerkte ich auf insgesamt vierundsechzig Flugzeugpropellern – hier findet sich natürlich auch eine Parallele zu meiner Auseinandersetzung mit dem Fliegen – alle positiven und negativen Konjugationsformen des Verbs, also etwa „Ich liebe dich – Ich liebe dich nicht“. Die Rotationsgeschwindigkeit der Propeller wurde bewusst auf keinen konkreten Wert festgelegt. Daraus resultierten Aspekte, die sich in einer Zeichnung nicht beschreiben lassen, wie etwa die Tatsache, dass die Schrift unsichtbar wird, wenn sich die Propeller extrem schnell drehen. Die schwimmenden Grenzen des Effektes, dass Dinge ihre Lesbarkeit verlieren, lassen sich an der Konkretisierung im dreidimensionalen Raum sehr viel genauer überprüfen. SD 6 Kann man daraus schließen, dass die Installationen Punkte in deinem Arbeitsprozess markieren, an denen neue Aspekte, neue Gedanken in dein Werk treten – so etwa das Thema der Rotation in Grammatik, das Interesse an der Interaktion mit den Betrachtenden in MI und MII von 2009 (Abb. S. X), deine Auseinandersetzung mit Farbe in den Installationen der Gruppe Botanic Code von 2009/2010 (Abb. S. X) – oder es zu einer neuen Gewichtung deiner Fragestellungen kommt? JV Meine Notationen widmen sich primär vorgestellten Dingen, sind Partituren. Mit der Übersetzung einzelner Aspekte und Fragestellungen in den Realraum, auch unter Bewegung, versuche ich Wissen zu gewinnen, Möglichkeiten durchzuspielen. Insofern sind meine Installationen meist auch Wegmarken, dennoch stehen sie für sich und sind nicht als Kommentare zu meinen restlichen Arbeiten misszuverstehen. Stets fußen sie auf der Überprüfung eines Phänomens, bringen dann jedoch eine Vielzahl neuer Aspekte zum Vorschein, an die ich vorher nie gedacht hätte. SD Ich möchte bei dem in Bezug auf die Installationen der Gruppe Botanic Code angesprochenen Thema der Farbe bleiben. In Serien wie STAAT/Random von 2008 (Abb. S. X) oder Symphonic Area von 2009 (Abb. S. X) greifst du stellenweise auf rote Tinte zurück, um bestimmte Elemente, etwa die Linie Strom oder das Element Beat, abzuheben oder mit Assoziationen aufzuladen. In Botanic Code spielt jedoch das gesamte Farbspektrum eine entscheidende Rolle und findet schließlich auch Eingang in deine Zeichnungen. Kannst du skizzieren, weshalb die Farbe plötzlich so eine Bedeutung in deinem Werk erhalten hat? JV Das Bedürfnis, vermehrt mit Farbe zu arbeiten, resultierte aus der Tatsache, dass Farbe ein entscheidender Parameter in der Wahrnehmung der Wirklichkeit ist, den ich in meinen früheren Arbeiten, die sich mehr der Konstruktion von Möglichkeitsräumen widmeten, vernachlässigen konnte. Erstmals versuchte ich in den Arbeiten der Serie Superdestination (Abb. S. X), die ab 2009 entstanden, das Wahrgenommene mit höchster Spontaneität mit der entsprechenden Farbe und Form über Linien zu kennzeichnen. Doch tritt Farbe ja nicht nur als Linie in Erscheinung, sondern auch als Umriss beziehungsweise als flächige Form, woraus sich meine Arbeiten mit Scherenschnitten ergaben. Schließlich weitete ich meine Analyse der Farbe auch auf die Wahrnehmung von Räumen, auf den Blick auf Gärten – wie unter anderem in den Arbeiten Botanic Code – oder auf die Betrachtung von Malerei aus. SD Wie von dir angesprochen, fandest du ab 2011 über die Integration collagierter Farbflächen in deine Werke zu einem System, das Form und Farbe koppelt und gleichzeitig erschließt. Kann man diese Hinwendung zur Form auch als Reflex auf deine beginnende Auseinandersetzung mit der chinesischen und japanischen Kultur begreifen? JV Initiiert wurde meine Auseinandersetzung mit chinesischer und in Folge auch japanischer Kunst durch den Besuch einer Ausstellung über chinesische Albumblätter. Ich habe an diesen Bildern gesehen, wie Farbe und Form unheimlich exakt Text sein können. Wie die Feinheiten des Gemalten, 7 jedes Muster einer Decke, auf der Personen sitzen, einen Informationscode darstellen über das, was die Personen denken und tun, während jede Farbe detaillierte Auskunft über Atmosphären gibt. Diese Gleichwertigkeit der Ebenen sprach auch für meine Form der Kommunikation, in der ich Farbe, Form, Linie und Schrift als ebenbürtige Informationsträger begreife. Unter diesem Aspekt begann ich mich eingehender mit diesen Kulturen zu beschäftigen. In Bezug auf die chinesische Malerei artikulierte sich dies in Form einer Analyse des Wahrgenommenen, das ich nach Farben sortierte. Meine Auseinandersetzung mit den japanischen Shungas in Japanese Erotic Art von 2012 (Abb. S. X) hingegen überführte ich in eine sich über die vierundsechzig Blätter der Serie erstreckende Matrix, während ich die einzelnen Blätter vertikal untereinander anordnete. So ist die Serie ‒ denkt man an die japanische Schrift ‒ eine Art Text, der meine Wahrnehmung aller Shungas verdichtet. SD Diese Methodik wendest du in der Folge auch auf den Lektüreprozess philosophischer beziehungsweise literarischer Texte an – etwa von Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes, Die Kunst, glücklich zu sein von Arthur Schopenhauer, Johann Wolfgang von Goethes Faust oder Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität von Niklas Luhmann. Was motivierte dich zu dieser Überführung des Leseaktes in Zeichnungen? Über welche Kriterien erfolgt die Auswahl der entsprechenden Texte? JV Das Interesse, meine Lektüre philosophischer oder literarischer Texte in Zeichnungen zu überführen, liegt in der Entwicklung meiner Arbeit von der Ebene der Vorstellung über die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung hin zur Reflexion über Erfahrung begründet, sind philosophische Texte doch stets auch Erfahrungsberichte spezifischer Auseinandersetzungen mit der Welt. Es ist hochinteressant, zu sehen, wie andere Menschen sich bestimmter Fragestellungen angenommen haben und welche Deutungen, Interpretationen und Zugänge sie fanden. Mich interessieren auch stets die Bedingungen, die zu den Gedanken der Personen führten, weil die Texte ja immer auch Spiegel ihrer Zeit sind. Die Auswahl der Texte hat immer mit meiner spezifischen Lebenssituation zu tun und läuft daher beinahe automatisch zu meinen künstlerischen Fragestellungen parallel. Doch ist dies kein spiegelbildliches Verhältnis, wie ich anhand meiner Beschäftigung mit Arthur Schopenhauers Lebensregeln Die Kunst, glücklich zu sein beschreiben kann, die ich geschenkt bekam. Ich fand die bereits über den Titel vollzogene Ankündigung, darüber sprechen zu wollen, was Glück ist, gleichzeitig provokant und absurd. „Die Kunst, glücklich zu sein“ – was soll daran Kunst sein, was ist überhaupt Kunst? Diese Konfrontation hat ausgereicht, um zu entscheiden, dass mich interessiert, was während des Lektüreprozesses in meinem Inneren passiert. Dabei geht es weniger um Empfindungen denn darum, welche inneren Bilder der Text hervorbringt. Das Lesen von Texten ruft Vorstellungen ab, die ich in meiner Arbeit festzuhalten versuche. Auch im Fall Niklas Luhmanns, eines Systemtheoretikers, der sehr detailliert, wenn auch plakativ und nicht ohne Humor über Liebe geschrieben hat, erzeugte allein die Art und Weise, wie er seine Texte formuliert, eine Wucht an Bildern in meiner Vorstellung, die einen extrem lebendigen Ausdruck erforderten. Meine Zeichnungen spiegeln dann den Abgleich meiner Erfahrungen mit dem Gesagten genauso wider wie meine Vorstellungen darüber, was ich lese. Man darf das nicht als Illustration des Textes missverstehen, es ist eigentlich die Notation des Lektüreprozesses und der dadurch evozierten inneren Bilder. Manchmal bringt der Text seitenweise keine Vorstellungen hervor, dann wieder reicht 8 ein halber Satz oder eine interessante gedankliche Konstellation, um eine ganze Serie entstehen zu lassen. SD Auf formaler Ebene fällt auf, dass im Zuge deiner Beschäftigung mit philosophischen Texten plötzlich auch Blattgold und Blattsilber Eingang in deine Arbeiten finden. Nun haben diese Edelmetalle ja zahlreiche Konnotationen – denkt man etwa an die Verwendung von Gold in der Ikonenmalerei. Bist du dir dieses Assoziationspotenzials bewusst? Worauf fußt deine Entscheidung, edelmetallene Oberflächen in deine Werke zu integrieren? JV Ich habe 2012 im Zuge meiner Analyse von Arthur Schopenhauers Die Kunst, glücklich zu sein (Abb. S. X) mit Gold zu arbeiten begonnen. Grund dafür waren nicht die mit dem Metall verbundenen Konnotationen, sondern die Suche nach dem adäquaten Material für philosophische Inhalte unter dem Überbegriff des Glücks. An Blattgold hat mir gefallen, dass es je nach Lichteinfall oder Blickwinkel anders aussieht und sich damit nicht auf ein Erscheinungsbild festlegen lässt. Die Form, die man bestimmt und mit Gold füllt, erhält dadurch den Charakter einer Bereichsmarkierung für etwas, das sich nie endgültig fixieren oder aussagen lässt. Die Veränderlichkeit und Nichtfestlegbarkeit dieser Reflexionsflächen sehe ich als ideal an, um darüber ideelle, philosophische Aspekte zu thematisieren. SD Warum hast du dann in der Serie Inkommunikabilität von 2014 (Abb. S. X), in der doch eher die Beschäftigung mit dem eigenen Körper im Vordergrund steht, auf Blattkupfer und Blattweißgold zurückgegriffen? JV In diesem Fall wählte ich Kupfer, weil es ein extrem leitendes Material ist. Die Materialwahl stand hier eher in Zusammenhang mit Überlegungen, die mir von meiner Auseinandersetzung mit Joseph Beuys vertraut sind. Gleichzeitig hat Kupfer eine Farbigkeit, die der Hautfarbe sehr nahekommt, und wirkt unglaublich warm. Kupfer korrodiert auch stark. Es verändert sich, wird grün oder schwarz, je nachdem welchen Bedingungen es ausgesetzt ist. Bewusst habe ich die Kupferoberflächen nicht fixiert, denn vor allem dieser Aspekt von Kupfer ist als Teil der Arbeit zu begreifen, in deren Fokus der menschliche Körper steht, der ja ebenso einer hohen Veränderlichkeit unterliegt. SD Wie kam es zu deiner Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper? Diesbezügliche Fragestellungen verbindet man ja eher weniger mit deiner Arbeit? JV Die Serie Inkommunikabilität resultiert einerseits aus meiner Analyse von Niklas Luhmanns Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, andererseits hängt sie mit einem dramatischen Erlebnis in meinem eigenen Leben zusammen. Die Serie basiert auf der grundlegenden Frage, was übrig bleibt, wenn man alles weglässt. Egal was passiert, es bleibt der Kontakt zum Raum. Man merkt immer, wo man den Boden berührt. Diese Erkenntnis war der Ausgangspunkt der Serie, welche die 9 Kontaktstellen meines Körpers auf dem Papier während des Arbeitens wiedergibt. Viele Positionen meines Körpers sind nebeneinander dargestellt, überlagern einander, weil ich stets auch das Verhältnis zur vorherigen Position mitreflektierte. Dies zeigen die Linien an, die immer zwei Positionen, zwei Abdrücke miteinander verbinden, sodass eine Art Relationsgeflecht entsteht. Somit ist Inkommunikabilität auch eine Arbeit über Relation, über Bezugnahme – ein Thema, mit dem ich mich von Beginn an intensiv befasst habe, vor allem in meinen Werken zwischen 2000 bis 2008, die dual aufgebaut sind beziehungsweise Prinzipien behandeln, die auf Dualität beruhen. Relation bezeichnet für mich das Verhältnis zu einem Gegenüber, wie man es aus menschlichen Beziehungen kennt, aber auch die Auseinandersetzung mit einem Thema, mit einem Text oder mit dem Raum bedingt ein Gegenüber. Um diese Zweiseitigkeit aufzuzeigen, griff ich neben Kupfer auch auf Weißgold zurück, da es den höchsten Kontrast zu Kupfer hat. SD Während das Thema der Relation ein durchgängiges Movens deiner Werke ist, lassen sich von der Betrachtung der Serie Inkommunikabilität ausgehend jedoch auch Entwicklungen innerhalb deiner Arbeit erkennen. Vergleicht man Inkommunikabilität etwa mit der Serie 8er-‐Deklination von 2009 (Abb. S. X), wo das Vermerken von Positionen auf dem Papier bereits einmal Grundlage deiner Reflexionen zur Wahrnehmung darstellte, macht dies den von dir bereits angesprochenen Wandel vom Vorstellungsraum zum Erfahrungsraum nachvollziehbar. JV Ja, absolut, der Vergleich zeigt diesen Wechsel an. Bei der Serie 8er-‐Deklination handelt es sich um je achtzehn Positionen, die exakt ausgemessen und gleichmäßig über das Blatt verteilt sind und von denen aus ich mir die Wahrnehmung des Raumes, die unterschiedlichen Blickwinkel vorstellte. Bei der Serie Inkommunikabilität sind es spontan am Blatt eingenommene Positionen, die nicht in der Vorstellung generiert wurden, sondern Umrisszeichnungen der Kontaktstellen meines Körpers mit dem Raum sind. Die Blätter der Serie 8er-‐Deklination sind komplett konstruiert. Sie beruhen zwar auf tatsächlich gemessenen Proportionen, jedoch nicht auf real eingenommenen Positionen. Mein Ziel war, mir die Wahrnehmung, die Bewegung von einer Position aus vorzustellen, und jeder weitere Strich, jede weitere Markierung ist die Auffächerung aller Möglichkeiten im Rahmen dieser einen konkreten Aufgabenstellung. Alle Variationen werden in diesem vorgegebenen Schema, in dem sich alles um einen Zentimeter verändert, zu-‐ oder abnimmt, einmal durch-‐ und ineinandergespielt. Dieses Vorgehen prägte viele meiner frühen Arbeiten, in denen ich mich eines singulären Themas annahm und versuchte, dessen Möglichkeitsspektrum auszufalten. War das in der Serie 8er-‐ Deklination das Element Blickwinkel, so etwa in der 2006 entstandenen Serie O. T. 1–14 der Temperaturverlauf (Abb. S. X). Hier schrieb ich über elf Blätter die immer um ein Grad abnehmende Temperatur von der Erdoberfläche bis in das Weltall aus. SD Während in deinen frühen Arbeiten das Konstruieren von Möglichkeitsfeldern und Vorstellungsräumen im Mittelpunkt steht, wendest du dich in deinen aktuelleren Serien dem konkret Erfahrenen beziehungsweise Widerfahrenen zu. Die Gegenüberstellung deiner Serien Symphonic Area von 2009 (Abb. S. X) und Ludwig van Beethoven/Sonate 1‒32 von 2012 (Abb. S. X) bietet diesbezüglich eine gute Vergleichsgrundlage. 10 JV Die Serie Symphonic Area kann man eigentlich als eine Metapartitur beschreiben, die sich aus den Grundelementen der Musik – unter anderem Melodie, Zäsur (Pause) und Beat – zusammensetzt. Jedes Blatt der Serie ist dual aufgebaut, besteht aus zwei Systemen, die gegengleich, aber nicht homogen expandieren und kontrahieren, und basiert auf einer strengen numerischen Partitur, die in einer durchgezählten Abfolge exakt festlegt, wie viele Melodien, Zäsuren, Beats etc. pro Blatt in Erscheinung treten und wie diese zueinander in Beziehung stehen. Es handelt sich also um ein vollkommen konstruiertes Metasystem. So findet sich auch über den als geschwungene Linien dargestellten Melodien die Bemerkung, dass es sich um jede mögliche Melodie handeln kann … SD Mit diesem Metasystem öffnest du einen Vorstellungsraum, der es den Betrachterinnen und Betrachtern erlaubt, ihr persönliches Musikstück zu imaginieren. JV Ja, genau. Bei der Serie Ludwig van Beethoven/Sonate 1‒32 hingegen, die ja auch auf konkrete Musikstücke Bezug nimmt, ging es vielmehr darum, das emotionale Spektrum, das den Partituren Beethovens eingeschrieben ist, zu extrahieren. Grundlage dafür waren alle Haltungen, Geschwindigkeiten, also alle Intonations-‐ und Dynamikangaben, die Beethoven vermerkt hatte, damit die Stücke richtig gespielt werden können. Jedes Blatt ist von einer Achse zwischen zwei internen Zentren geprägt. Die internen Zentren verweisen als Markierungen auf das, was beim Hören des jeweiligen Stückes im Inneren vorgeht. Jede meiner frei gezogenen Linien ist mit dieser Achse sowie mit einer der Angaben Beethovens verbunden, die Ideen, Haltungen und emotionale Verfassungen beschreiben. So benennt das, was man als Zeichnung, als Struktur sieht, den Raum zwischen dem Unbenennbaren, dem Empfundenen und der benennbaren Haltung. Jede Linie verfolgt den Weg von dem Punkt, an dem die Haltung noch nicht benennbar, noch nicht ausdifferenziert ist, bis zu dem Punkt, wo sie benennbar wird. Und dann zeigen sich natürlich die Gleichzeitigkeit und die Überlagerung dieser Dynamiken. Alle Kreuzungen von Linien auf dieser Achse ergeben im Grunde, wenn man die Zeichnungen als Partitur liest, neue emotionale Zustände in diversen, auch als bewegt beschriebenen Varianten. Beethoven faszinierte mich bereits als Kind, da seine Musik nicht nur innere Bilder in mir auslöste, sondern ich sie stets als Abtasten der Seele empfand. Meiner Meinung nach erlangte er Meisterschaft darin, eine Art von musikalischem Raum zu beschreiben und zu generieren, an dem auch ich mich in meinen Zeichnungen orientiere. Die Partitur, die Zeichnung, macht ja nichts anderes, als diesen Raum abrufbar zu machen. Sie ist eine Verschriftlichung, eine Beschreibung von Atmosphären, von Erfahrungen, von Innenwelten. SD Ich würde gerne bei dem von dir angesprochenen Begriff des Emotionalen bleiben. Denn entgegen der teilweise wissenschaftlichen Ästhetik deiner Arbeiten scheinen Emotionen – und das nicht nur bei Ludwig van Beethoven/Sonate 1‒32 – eine wichtige Rolle darin zu spielen. Wenn du das Element Popsong als Speicherelement für private und kollektive Emotionalität definierst, dich mit 2 küssen sich der emotionalen Tätigkeit des Küssens zuwendest, dich mit chinesischen Albumblättern oder japanischen Shungas beschäftigst, die den Liebesakt darstellen, oder die Texte 11 Fragmente einer Sprache der Liebe oder Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität analysiert, drängt sich die Frage auf, welche Rolle das Emotionale als Faktor deiner Arbeiten spielt? JV Niemand ist frei von Emotionen. Emotionen begreife ich daher als zentrale Parameter meiner Analysen, da jede Vorstellung oder Wahrnehmung von persönlich Empfundenem mit beeinflusst ist. So war die emotionale Ebene in meinen Arbeiten immer schon präsent. Rückblickend würde ich jedoch sagen, dass sich im Umgang mit diesem emotionalen Faktor eine zunehmende Freiheit in meiner Arbeit sowie ein verstärktes Eintauchen in diese Thematik abzeichnen, was wiederum in Parallelität mit der Verlagerung meines Interesses von der Vorstellung hin zur konkreten Erfahrung gesehen werden kann. In meinen frühen Arbeiten habe ich – etwa was das erwähnte, 2006 entwickelte Element Popsong (Abb. S. X) betrifft – Emotionalität noch aus einer sehr distanzierten Blickposition als Apparat beschrieben, mittlerweile werden meine diesbezüglichen Fragestellungen spezifischer, etwa in der Serie Ludwig van Beethoven/Sonate 1‒32 oder auch in der damit zusammenhängenden, zwischen 2012 und 2013 entstandenen Arbeit Emotional Spectrum (Abb. S. X), die auf der Auseinandersetzung mit einer Auflistung aller emotionalen Ausdrücke im Englischen beruht. Der Begriff Emotion ist mir mittlerweile sogar zu diffus. Eigentlich geht es mir um das innere Erleben, um Haltungen, Empfindungen, Ahnungen und zahlreiche andere Faktoren, die ich alle als fließend ineinander übergehend begreife. SD Die Rede vom „inneren Erleben“ möchte ich als Anknüpfungspunkt nehmen, um abschließend über deine Arbeiten auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive zu sprechen. Es ist auffällig, dass du, indem du in deinen Werken selbst ihre Matrix und damit deine Vorgehensweise offenlegst, eine explizite Einladung zu deren Lektüre aussprichst. Parallel dazu bestechen deinen Arbeiten auch durch ihre ästhetische Evidenz. Wie nimmst du das – und das damit eventuell verbundene Spannungsverhältnis – wahr? JV Für mich sind beide Dimensionen von Relevanz, und ich finde es wichtig, dass in der Rezeption meiner Werke diverse Möglichkeiten offenstehen, da es ja auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist, wie man sich einer Sache nähert, wie man für sich sondiert, ob einem das Dargestellte anspricht, ob man etwas damit zu tun hat oder nicht. Auch wenn der Ausgangspunkt meiner Themen privater Natur ist, denke ich, dass in meiner Arbeit auch grundsätzliche menschliche Fragestellungen aufgeworfen werden. Meine Werke öffentlich zu zeigen ist ja nichts anderes als der Wunsch, in eine Kommunikation darüber einzutreten. Dass meine Werke multiple Arten der Rezeption ermöglichen, entspricht aus dieser Perspektive ihrer Struktur als umfassendes Kommunikationsangebot an die Betrachtenden. 12
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