Interpretation. Siegfried Lenz: "Ein Freund der Regierung"

Hans Wagener
Siegfried Lenz: Ein Freund der Regierung
Reclam
Siegfried Lenz: Ein Freund der Regierung
Von Hans Wagener
Siegfried Lenz’ Kurzgeschichte Ein Freund der Regierung (1959) ist Teil seiner
Erzählsammlung Das Feuerschiff (1960), die außer der Titelnovelle neun
Kurzgeschichten aus den Jahren 1957 bis 1960 umfasst. Eine Reihe dieser Geschichten
signalisieren Lenz’ Abschied von seinem früheren Vorbild Ernest Hemingway, andere
sind zeitkritische Satiren, z. B. auf Verkaufs- und Werbepraktiken damaliger Firmen.
Ein Freund der Regierung gehört jedoch zu den parabelhaften Werken des Autors, in
denen er sich mit der Diktatur und ihren Vorgehensweisen auseinandersetzt, mit dem
»Konflikt zwischen den Ansprüchen einer Diktatur und dem Widerstand des einzelnen
Bürgers«1.
Das Verhalten von Menschen in einer – nicht näher bezeichneten – Diktatur hat
Lenz in einer Reihe anderer Werke ebenfalls behandelt, z.B. in der Erzählung Der Sohn
des Diktators (1960), die ebenfalls in der Sammlung Das Feuerschiff enthalten ist,2 in
den Dramen (bzw. Hörspiel) Zeit der Schuldigen (1962) und Das Gesicht (1964) sowie
in der Erzählung Die Schmerzen sind zumutbar (1966) in der Sammlung Einstein
überquert die Elbe bei Hamburg (1975). Mit den Vorgehensweisen einer Diktatur, sei es
einer braunen oder roten, war das Publikum von 1959 hinlänglich vertraut. Es wusste
von ihrem propagandistischen Bemühen, die Welt von ihrer Fortschrittlichkeit und
Humanität zu überzeugen und die Brutalität ihrer Methoden im Innern zu vertuschen.
Genau darum geht es auch hier: Der Ich-Erzähler reist mit einer
Journalistengruppe durch eine Diktatur, damit die Regierung zeigen kann, »wie viele
Freunde die Regierung hatte« (232). In einem Musterdorf wird ihnen ein Mann namens
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Bela Bonzo vorgeführt, der auf ihre Fragen hin tatsächlich immer wieder betont, er sei
ein »Freund der Regierung« (237 u. ö.). Als er beim Abschied dem Erzähler die Hand
drückt, hinterlässt er darin eine Papierkugel, in der der Erzähler nach der Rückkehr im
Hotel einen »menschliche[n], angesplitterte[n] Zahn« findet: »[…] und ich wußte, wem
er gehört hatte«3 (240).
Bei Ein Freund der Regierung handelt es sich um eine bittere politische Satire.4
Schon der Titel ist ironisch. Er fordert zum fragenden Widerspruch heraus. Der kundige
Leser wird ihn sofort mit jemandem in Verbindung bringen, der eben kein Freund der
Regierung ist.5 Diese durch den Titel vorgezeichnete Ironie wird dann im Laufe der
Geschichte mehrfach bestätigt. Durch die Ironie im Titel wird der Leser von Beginn an
angehalten, beim Lesen der Geschichte selbst auf Anzeichen eines Widerspruchs
zwischen phrasenhaft wiederholtem Bekenntnis und tatsächlichem Sachverhalt zu
achten. Trotzdem hebt sich Lenz »den endgültigen Widerruf […] bis auf den letzten
Satz auf, der dann auch wie eine eingebaute Zeitbombe das ganze Lügengebäude
zusammenfallen läßt«6.
Es ist charakteristisch für Lenz’ Werke aus den 50er und 60er-Jahren, dass er
keine konkrete Ortsangabe, weder in dem Drama Zeit der Schuldlosen (1962) noch in
dem Roman Stadtgespräch (1963) gibt. Selbst in einem Roman wie Der Mann im Strom
(1958) legt er nicht einfach ›Hamburg‹ explizit fest, obwohl die Stadt leicht zu
identifizieren ist. Der parabelhafte Charakter seiner Werke, die Übertragbarkeit der
Aussage wird auf diese Weise erleichtert. Das dürfte auch der Grund für das Fehlen
einer konkreten Ortsangabe in Ein Freund der Regierung sein: Lenz will es dem Leser
ermöglichen, seine Aussage der Geschichte eben nicht auf eine spezifische, sondern auf
alle Diktaturen zu beziehen.7 Die Personennamen scheinen jedoch zumindest auf ein
osteuropäisches Land hinzudeuten: Der Beamte der Regierung, der die Journalisten als
Reiseführer begleitet, heißt Garek, hat also einen tschechischen bzw. slowakischen
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Namen, der »Freund der Regierung« heißt Bela Bonzo, was auf Ungarn hinzudeuten
scheint. Die Landschaft, durch die der Bus fährt, ist allerdings nicht die ungarische
Puszta, sondern karstiges Land mit »braunen Hängen« (232), Schluchten und »heißen
Ebenen« (233), von denen Kalkstaub durch die Fenster dringt, »totes Land« (233), was
eher an Jugoslawien, Griechenland oder die Türkei erinnert.
Es ist ein trostloses, ödes Land. Die Hauptstadt hat zwar eine Oper, Parks und
eine Mustersiedlung, aber der Eindruck der Trostlosigkeit und des brüchigen
Untergrunds wird auch hier schon dadurch angedeutet, dass eine Mustersiedlung auf
einem »kalkigen Hügel« (232) liegt. Kalk und sein Staub, d. h. sein Verfallsprodukt,
bestimmen auch das Land, durch das der Bus anschließend fährt: Verfall kennzeichnet
das Dorf, das der Bus gegen Mittag durchquert:
[…] die Fenster waren mit Kistenholz vernagelt, die schäbigen Zäune aus
trockenem Astwerk löcherig, vom Wind der Ebene auseinandergedrückt. Auf den
flachen Dächern hing keine Wäsche zum Trocknen. Der Brunnen war abgedeckt;
kein Hundegebell verfolgte uns, und nirgendwo erschien ein Gesicht. (233)
Offensichtlich ist das Dorf verlassen, und der offizielle Reiseleiter möchte es so schnell
wie möglich hinter sich lassen, denn der Bus »fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit
vorbei, eine graue Fahne von Kalkstaub hinter sich herziehend, grau wie eine Fahne der
Resignation« (233). Anschließend geht die Fahrt durch hügeliges, rostrotes Land, das
von großen Steinen bedeckt ist, zwischen denen allerdings »farblose Büsche wuchsen«
(234) – auch hier also wieder die Betonung des Eindrucks der Farblosigkeit und damit
Trostlosigkeit, eben wie sich auch das Leben unter einer Diktatur durch Farblosigkeit,
Normierung auszeichnet. Dann ist das Ziel erreicht. Wieder dominiert Kalk den
Gesamteindruck. Der Bus hält vor einer »sauber gekalkten Hütte. Der Kalk blendete so
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stark, daß beim Aussteigen die Augen schmerzten.« (234) Sauberkeit und Ordnung
scheinen diese neue Umgebung zu bestimmen, aber in diesem Fall blendet der weiße
Kalk die Besucher – so wie sie sich auch von den Worten des Bewohners der Hütte,
Bela Bonzo, des »Freundes der Regierung«, zunächst blenden lassen.
Die versuchte Täuschung der Journalisten macht Lenz bereits in der
Beschreibung Bela Bonzos deutlich: Er hat ein altes Gesicht, das »staubgrau« (234) ist,
also mit denselben Attributen der Trostlosigkeit, mit denen das Land belegt wird. Die
Tatsache, dass seine Oberlippe geschwollen ist, wird vom Erzähler nicht kommentiert.
Dass Bonzo »gerade bei einer Hausarbeit überrascht worden war, […] sauber
gekämmt« (235), erscheint im Nachhinein als beschönigende Verharmlosung, denn
offensichtlich ist er geschlagen worden. Wenn Lenz weiter berichtet: »[…] die
verkrusteten Blutspuren an seinem alten, mageren Hals zeugten von einer heftigen und
sorgfältigen Rasur« (235), so will dies im Rückblick ebenfalls als in der Geschichte
konnotiert ironische Fehlinterpretation der Besucher erscheinen, denn auch dies deutet
eher auf seine Misshandlung. Weiter heißt es: »Er trug ein frisches Baumwollhemd,
Baumwollhosen, die zu kurz waren und kaum bis zu den Knöcheln reichten; seine Füße
steckten in neuen, gelblichen Rohlederstiefeln, wie Rekruten sie bei der Ausbildung
tragen.« (235) Die Kleidung ist offensichtlich neu. Es ist wenig glaubhaft, dass Bonzo
angeblich »gerade bei einer Hausarbeit« war (234). Die Kleidung passt ihm obendrein
nicht, und die neuen Stiefel stammen ebenso offensichtlich aus dem Rekrutendepot,
sind ihm also von den Soldaten gegeben worden, damit er damit auf die Besucher
einen guten Eindruck machen kann.
Dass Bonzo geschlagen und dadurch verwundet worden ist, wird symbolisch
durch die »fast faustgroße[n] Früchte« (235) verdeutlicht, die eine alte Frau den
Besuchern anschließend in der Hütte anbietet, denn sie hatten »ein saftiges Fleisch, das
rötlich schimmerte« (235) – wie Blut –, sodass der Erzähler am Anfang das Gefühl hat,
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»in eine frische Wunde zu beißen« (235). Im Nachhinein wird deutlich werden, dass
Bonzo seine frischen Wunden durch Fausthiebe empfangen hat, um ihn zum
»gefügige[n] Sprachrohr der Regierung« zu machen.8
Draußen stehen barfüßige Kinder, die sich nicht rühren und auch nicht
miteinander sprechen. Die Tatsache, dass sie barfüßig sind, reflektiert nicht unbedingt
die Armut des Landes, sondern ist in südlichen Ländern nicht außergewöhnlich. Aber
dass sie sich nicht rühren und auch nicht miteinander sprechen, ist für Kinder höchst
unnatürlich. Sie sind offensichtlich eingeschüchtert und haben Angst.
Anschließend wird Bonzo von den Journalisten interviewt, und die Fragen, die
ihm gestellt werden, sind darauf angelegt, seine positive Einstellung der Regierung
gegenüber in Frage zu stellen: Ein Mann namens Pottgießer fragt ihn, ob er Kinder
habe. Bonzo erwidert, er habe einen Sohn gehabt, der sich gegen die Regierung
aufgelehnt habe; er sei faul gewesen, habe nie zu etwas getaugt und sei deshalb zu
den Saboteuren gegangen, die gegen die Regierung kämpfen, »weil sie glauben, es
besser machen zu können« (235f.). Unmittelbar danach gibt der Erzähler wieder einen
Hinweis, dass mit diesem Zeugen etwas nicht stimmt, indem er, ohne es zu
kommentieren, feststellt, »daß ihm die Schneidezähne fehlten« (236). Auf Pottgießers
Kommentar »Vielleicht würden sie es besser machen«, gibt Bonzo eine philosophische
Antwort: Alle Regierungen glichen sich darin, dass man sie ertragen müsse, die einen
leichter, die andern schwerer. »Diese Regierung kennen wir, von der anderen kennen
wir nur die Versprechungen.« (236) Dass die Kinder daraufhin einen langen Blick
tauschen, bezeugt ihre Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse. Als ein anderer
Besucher namens Bleiguth daraufhin einwirft, immerhin sei das größte Versprechen die
Unabhängigkeit, spult Bonzo weiter die ihm eingebläuten Standardantworten ab: die
Unabhängigkeit könne man nicht essen, was nütze sie, wenn das Land verarme. Der
Rest der Antwort besteht in einer Aufzählung der angeblichen Verdienste der
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