Deutschlandfunk I 05.102015 I Redaktion Monika

DEUTSCHLANDFUNK
Andruck – Das Magazin für Politische Literatur
Montag, 5. Oktober 2015
19.15 - 20.00 Uhr
Redakteurin am Mikrophon:
Monika Dittrich
Gemma Pörzgen:
Marina Naprushkina: Neue Heimat? Wie
Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen,
Europa Verlag Berlin, 240 Seiten, 16,99 Euro
ISBN: 978-3-95890-007-3
Renate Zöller: Was ist eigentlich Heimat?
Annäherung an ein Gefühl,
Ch. Links Verlag, 232 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-86153-843-1
Otto Langels:
KURSIV Klassiker
Niels Beintker:
Lukas Hammerstein: Die Guten und das Böse.
Ein Deutschland-Essay, Matthes und Seitz,
203 Seiten, 15 Euro
ISBN: 978-3-88221-401-7
Anna Seghers; William Sharp: Das siebte
Kreuz. Mit den Originalillustrationen von
1942, Aufbau Verlag, 92 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-351-03604-1
Winfried Dolderer
Wolfgang Kaleck: Mit Recht gegen die Macht.
Unser weltweiter Kampf für die
Menschenrechte, Hanser Berlin, 224 Seiten,
19,90 Euro
ISBN: 978-3-446-24944-8
Michael Köhler
Andreas Pecar; Damien Tricoire: Falsche
Freunde. War die Aufklärung wirklich die
Geburtsstunde der Moderne? Campus Verlag,
231 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-593-50474-2
Musik
Adam Baldych & Helge Lien Trio
„Bridges“
LC 07644
Best-Nr. ACT 9591-2
EAN 614427959126
URHEBERRECHTLICHER HINWEIS
2
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger
ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung,
Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a
Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
Deutschlandradio /- unkorrigiertes Exemplar -
Moderatorin
Im Studio ist Monika Dittrich, herzlich willkommen zu unserem
Magazin für politische Literatur!
Musik - Track 03 - Mosaic
Moderatorin
"Heimat entdeckt man erst in der Fremde." Dieser Satz stammt von
Siegfried Lenz, und der gebürtige Ostpreuße wusste wohl, wovon
er sprach. Die vielen Millionen Menschen, die derzeit weltweit
auf der Flucht sind, werden ebenfalls wissen, was es heißt, die
eigene Heimat aufzugeben. Was Heimat überhaupt bedeutet und wie
man auch in der Fremde heimisch werden kann, darum geht es in
zwei hochaktuellen Büchern, die wir Ihnen heute in Andruck
vorstellen.
Und wir haben natürlich noch mehr für Sie gelesen:
Zum Beispiel einen Essay des Juristen Lukas Hammerstein, der
sich fragt, warum die Deutschen unbedingt die „Meister des
Moralischen“ sein wollen.
Außerdem nehmen wir einen Klassiker zur Hand, nämlich "Das
siebte Kreuz" von Anna Seghers aus dem Jahr 1942.
Wir besprechen das Buch des Menschenrechtsaktivisten Wolfgang
Kaleck, in dem er beschreibt, wie er sich mit den Mächtigen
anlegt.
Und wir hören, wie die beiden Historiker Andreas Pecar und
Damien Tricoire die Aufklärung entzaubern wollen, die Ihrer
Meinung nach völlig zu Unrecht zur Geburtsstunde der Moderne
erklärt wird.
Und wir empfehlen Ihnen wie immer nicht nur guten Lesestoff,
sondern auch eine aktuelle Jazz-CD: Der 29jährige Adam Baldych
aus Polen gilt als einer der begabtesten Jazz-Geiger der
Gegenwart. Jetzt hat er gemeinsam mit dem norwegischen Helge
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Lien Trio eine Platte aufgenommen. Sie heißt „Bridges“ und wir
hören den Titel "Mosaic".
Musik - Track 03 - Mosaic
Moderatorin
60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, so
viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Sie
verlassen ihre Heimat, ihr Zuhause, weil dort Krieg oder Elend
herrschen, weil sie verfolgt werden oder für sich und ihre
Familien keine Zukunft sehen. Anderswo hoffen sie auf eine neue
Heimat, vielleicht in Deutschland. Was Heimat überhaupt ist,
welches Gefühl dazu gehört und wie schmerzvoll es ist, heimatlos
zu sein, darum geht es in den beiden Büchern, die wir Ihnen
jetzt vorstellen: Die Journalistin Renate Zöller lässt in ihrem
Buch Menschen zu Wort kommen, die ihre Heimat verloren und
vielleicht anderswo eine zweite Heimat gefunden haben, es geht
um Heimatvertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg, um
wiederentdeckte Heimat und Wahlheimat. Das zweite Buch hat die
Künstlerin Marina Naprushkina geschrieben. Sie stammt aus
Weißrussland, lebt in Berlin und hat dort vor einigen Jahren
eine Flüchtlingsinitiative gegründet. Tagebuchartig hat sie
zusammengefasst, was sie als freiwillige Flüchtlingshelferin
erlebt. Gemma Pörzgen ist unsere Rezensentin:
Autorin
Im Umgang mit Flüchtlingen hat sich in Deutschland eine neue
Willkommenskultur entwickelt. Das ist vor allem dem
ehrenamtlichen Engagement tausender freiwilliger Helfer zu
verdanken. Sie unterstützen die
Neuankömmlinge aus Syrien,
Afghanistan oder Irak tatkräftig dabei, in der Bundesrepublik
nicht nur anzukommen, sondern hier ein neues Leben aufzubauen.
Welche bürokratische Hürden und Erschwernisse den deutschen
Alltag vieler Flüchtlinge bestimmen, macht das Buch „Neue
Heimat“ auf erschreckende Weise deutlich. Dabei steht vor allem
das Schicksal von Frauen und Kindern im Vordergrund. Die Autorin
Maria Naprushkina ist Künstlerin und selbst aus Weißrussland
eingewandert. Seit einigen Jahren engagiert sie sich in einer
4
Berliner Flüchtlingsinitiative. Jeden Nachmittag malen und
basteln die Freiwilligen mit den Kindern, organisieren Ausflüge,
helfen beim Arztbesuch oder bei Ämtergängen. Naprushkinas Buch
lebt von zahlreichen Episoden, die sie selbst miterlebt hat und
anschaulich wiedergibt:
Zitat
„Malika und ich sind mit ihren Töchtern in einem Kindergarten in
Moabit. Für Malika mit ihren vielen Kindern ist es kaum möglich,
das Heim zu verlassen. Erst vor kurzem hat sie einen Kinderwagen
gespendet bekommen und kann sich jetzt im Viertel bewegen. Die
Heimleitung kümmert sich nicht um Kindergartenplätze. Eine
Kinderbetreuung wird für die über hundert Kinder im Heim
ebenfalls nicht angeboten. Frauen mit mehreren Kindern sind
buchstäblich an ihre Zimmer im Heim gefesselt. Oft haben die
Mütter keinen Kinderwagen, um rauszugehen. Im Hof des Heimes
dürfen die Kinder nicht spielen – die Nachbarn beschweren sich
über den Lärm. Wir stehen im Büro von einem der größten
Kindergärten in Moabit, fast zweihundertfünfzig Kinder haben sie
hier. Wir möchten die beiden Mädchen im Kindergarten anmelden.
„Nein, zur Zeit gibt es keine freien Plätze“, sagt uns die
Leiterin gleich.““
Autorin
Die Kinder kommen auf eine Warteliste, aber melden wird sich die
Kindergärtnerin bei der Flüchtlingsfamilie nie. Wie wenig
Freiraum den Frauen dadurch bleibt, auch nur auf die Straße zu
gehen, geschweige denn Sprachkurse zu besuchen, macht
Naprushkina eindringlich deutlich. Als ehrenamtliche Helferin,
die selbst Familie hat, ist sie ständige Ansprechpartnerin für
Nöte und Sorgen der Flüchtlingsfamilien. Selbst nachts klingelt
das Telefon, weil eine Abschiebung droht oder ein Kind erkrankt
ist. Aber die Helfer decken auch skandalöse Missstände bei der
Heimleitung auf, die später zu Strafanzeigen führen.
Zitat
5
„Wir müssen mit der Heimleitung sprechen. Die Stimmung ist
schlecht, wir werden gegängelt. Das, was wir sehen und was wir
von den Flüchtlingen hören, ist mit unserem Bild einer
menschenwürdigen Unterbringung nicht vereinbar. Es kann nicht
sein, dass die Leute nach Traumatisierung und Flucht hier so
behandelt werden. Nicht bei uns und nicht vor unseren Augen.
Jeden Tag stehen die Mütter vor mir und berichten von neuen
Problemen. Warum gibt es nur fünf funktionierende Waschmaschinen
für fast dreihundert Bewohner, nur lauwarmes Wasser in der
Dusche, warum sind die Toiletten immer ungereinigt und kaputt,
keine Seife da, kein Toilettenpapier, warum gibt es keinen
Aufenthaltsraum, kein Internet, Essen, bei dem ich kotzen muss,
wenn ich es nur sehe? Und das Ganze für fast dreißig Euro am Tag
pro Kopf, die der Senat an den Betreiber bezahlt?“
Autorin
Der private Heimbetreiber hatte sich nach Schilderung der
Autorin eine regelrechte Gelddruckmaschine gesichert, weil es in
Berlin offenbar an Kontrollmechanismen fehlte. Naprushkina
schildert eindrucksvoll, wie sich so ein Fehlmanagement zu
kriminellen Machenschaften im Flüchtlingsgeschäft
weiterentwickeln kann.
Die Journalistin Renate Zöller nähert sich dem Thema von einer
ganz anderen Seite und lädt mit ihrem Buch „Was ist eigentlich
Heimat? Annäherung an ein Gefühl“ dazu ein, sich über Flucht und
Vertreibung ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen. Dabei
stellt die Autorin gleich zu Beginn fest, dass sich der in
Deutschland lange verrufene Terminus „Heimat“ inzwischen längst
zum neuen Trendwort gemausert habe. Die Geborgenheit und
Verlässlichkeit der kleinen, überschaubaren Heimat erfahre
angesichts einer Ohnmacht gegenüber den Katastrophen in einer
unüberschaubar großen Welt eine neue Bewertung. Auch die
Schicksale von Einwanderern erzählten von Heimat, schreibt
Zöller. Heimat und Fremde gehörten zusammen:
Zitat
6
„Das Phänomen ist nicht ohne den Verlust zu betrachten. Die
meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, solange sie
nicht bedroht oder verloren ist. Erst dann beginnen sie, sie zu
vermissen – und verstehen oft gar nicht genau, was sie
eigentlich vermissen. Manche Menschen träumen ihr Leben lang
davon, wieder nachhause zurückzukehren. Und wenn sie es
schließlich tun, finden sie dort keine Heimat mehr. Diese
Ambivalenz der Sehnsucht bewegte Philosophen, Historiker und
Philosophen seit jeher. Schon der römische Philosoph Seneca kam
zu dem Schluss, der Mensch brauche eine Heimat und implizierte
gleichzeitig, dass er sich auf der Wanderschaft danach sehnt.“
Autorin
Neben solchen philosophischen Perspektiven, einem historischen
Abriss und psychologischen Deutungen lebt das Buch vor allem von
den bewegenden Interviews mit Gesprächspartnern, die von ihren
Lebenswegen und ihrem Verhältnis zur Heimat erzählen. Dabei geht
es um Einzelschicksale von Vertriebenen,
Wirtschaftsflüchtlingen, Sinti oder Russlanddeutschen, aber auch
um vergessene Begebenheiten, wie die Umsiedlung des Dorfes
Wollseifen in der Eifel. Weil die britische Besatzungsmacht den
ganzen Ort zum militärischen Übungsgelände erklärte, mussten
alle Bewohner 1946 innerhalb von drei Wochen ihre einstige
Heimat aufgeben. Wollseifen wurde von der Artillerie
zerschossen, wie sich eine frühere Bewohnerin schmerzlich
erinnert. Das Buch will ein buntes Kaleidoskop voller
Denkanstöße zum Thema Heimat sein und löst diesen Anspruch auf
anregende Weise ein. Nicht nur das nachdenkliche Schlusswort der
Autorin besticht durch seine Aktualität. Zöller schreibt:
Zitat
„Entscheidend ist daher nicht nur, dass Flüchtlinge in
Deutschland entsprechend untergebracht und notversorgt werden,
sondern auch, dass sie eine Chance haben, sich neu zu
beheimaten. Das erfordert mehr, als nur eine spontane,
vorübergehende Empathie. Das bedeutet, Heimat nicht nur aktiv
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und menschlich zu gestalten, sondern sie zu teilen, für Neues zu
öffnen und auch den Hinzukommenden die Chance zu geben, ihr
neues Zuhause mitzugestalten. Angesichts der großen
Veränderungen, die gerade weltweit stattfinden, angesichts der
Konflikte aber auch der zunehmenden Mobilität und Vernetzung
muss auch der Heimatbegriff angepasst werden. Die Heimat
abzugrenzen gegen andere, bedeutet sie schwach und angreifbar zu
machen. Stärker wird die Heimat durch Menschen, die sie lieben.
Je mehr, desto besser.“
Moderatorin
Schreibt Renate Zöller in ihrem Buch mit dem Titel: „Was ist
eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl.“ 232 Seiten sind im
Christoph Links Verlag erschienen und kosten 18 Euro. Das zweite
Buch, das Gemma Pörzgen besprochen hat, heißt „Neue Heimat. Wie
Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen“, geschrieben von
Marina Naprushkina. Der Europa Verlag Berlin hat die 240 Seiten
herausgebracht, Preis: 16 Euro 99.
Musik - Track 02 - Polesie
Moderatorin
Die Deutschen gefallen sich gut in der Rolle der
Flüchtlingshelfer: „Refugees Welcome“ steht auf vielen T-Shirts
und Plakaten und von einer Willkommenskultur ist die Rede. All
das soll wohl auch zeigen: Fremdenfeindliche Ausschreitungen wie
im sächsischen Heidenau oder anderswo sind hierzulande die
Ausnahme, eigentlich sind die Deutschen ein sympathisches Volk,
gastfreundlich und friedliebend. Wir sind eben zu „Meistern des
Moralischen“ geworden, schreibt der Jurist Lukas Hammerstein in
seinem Deutschland-Essay, und er meint das durchaus kritisch.
Denn all die guten Taten gibt es nicht ganz ohne selbstgerechte
Besserwisserei, und das habe auch etwas mit der NaziVergangenheit zu tun. „Die Guten und das Böse“ heißt der Essay,
den Otto Langels für Andruck bespricht.
8
Autor
In kaum einem anderen Land hat die Erinnerungskultur einen so
großen Stellenwert wie in Deutschland. Die Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte, mit Nationalsozialismus und DDRDiktatur findet im Ausland Respekt und Anerkennung, die Arbeit
der Gedenkstätten, Museen und Medien gilt meist als vorbildlich.
Ob Holocaust-Denkmal und Mauermuseum, KZ-Gedenkstätten und
Stasi-Akten, Auschwitz-Gedenktag und Erinnern an den Mauerbau,
die jüngste Vergangenheit ist auf vielfältige Weise präsent.
Doch dem war nach 1945 jahrzehntelang nicht so, meint der Autor
Lukas Hammerstein.
O-Ton Hammerstein
Die Deutschen haben viel geleistet, die historische Zunft hat
unglaublich viel geleistet, und es wurde sehr viel geforscht,
und es wurde auch wirklich unerschrocken hingeschaut. Nur muss
man natürlich gleichzeitig sehen, dass die Gesellschaft erst mal
eine ganze Zeit gebraucht hat. Ohne den Auschwitz-Prozess oder
diesen Schock wäre vielleicht erst mal gar nichts passiert.
Autor
Lukas Hammerstein erinnert in seinem klugen, mitunter
provozierenden Essay daran, dass die meisten Deutschen lange
Zeit die Verbrechen der Nazis verschwiegen und verdrängten.
Tatsächlich begann erst Anfang der 1960er Jahre mit dem
Eichmann-Prozess in Jerusalem und dem Auschwitz-Prozess in
Frankfurt am Main sowie nach der Ausstrahlung der Fernsehserie
„Holocaust“ 1979 eine breitere Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit.
Erleichtert wurde dieser Prozess durch die wachsende zeitliche
Distanz. Die Generation der Täter und Mitläufer starb aus, die
Nachwachsenden konnten sich, so der Autor, frei von persönlicher
Schuld unbefangener mit dem NS-Erbe beschäftigen und leichter
mit den Opfern als den Tätern identifizieren.
Zitat
9
„Die historische Schuld ist immer weniger unsere Schuld. Wir
beugen uns über unzählige Bücher, sehen uns zig Filme an, folgen
vielleicht Guido Knopps fahlen Geschichtsstunden und erinnern
uns – nein, nicht uns, eher ein allgemeines Bewusstsein – an
etwas, das einmal war. Wir blicken auf unsere fremd werdende
Geschichte und streiten uns schon lange nicht mehr mit
Historikern.“
Autor
Hammerstein spricht von der „selbstgerechten Läuterung“ der
Deutschen, ohne konkret zu werden. Er überlässt es dem Leser,
seine Gedanken aufzugreifen: Verlegen die Bundesbürger nicht
Tausende Stolpersteine für ermordete Juden vor ihren Häusern?
Erklärt die Kanzlerin nicht die Sicherheit Israels zur deutschen
Staatsräson? Lassen Firmen, Berufsverbände und Ministerien nicht
seit Jahren ihre Vergangenheit von renommierten Historikern auf
braune Flecken untersuchen, während sie früher schamhaft ihre
Verstrickungen in das NS-Regime verschwiegen? „Ohne Auschwitz“,
meint Lukas Hammerstein, „wären wir nie so gut geworden“.
O-Ton Hammerstein
Mir ist immer wieder aufgefallen, dass Deutsche hin und wieder
dazu neigen, sich moralisch auf eine besondere Position zu
setzen und das manchmal sogar regelrecht begründen mit der
furchtbaren Schuld, die wir früher auf uns geladen haben, aus
der uns eine besondere Verantwortung erwächst, was ja auch
stimmt. Aber daraus kommt dann manchmal so ein Zungenschlag von:
Ja, wir wissen, wovon wir reden, wenn wir z.B. vom Krieg reden.
Autor
Der Friede sei ein Meister aus Deutschland, stellt Lukas
Hammerstein mit ironischem Unterton fest und zitiert den
damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der im Vorfeld
des Irakkrieges den USA vorhielt, im Unterschied zu ihnen
wüssten die Deutschen aus ihrer eigenen Geschichte ganz
existenziell, was Krieg bedeute.
10
O-Ton Hammerstein
Wenn es eben um den Krieg geht, Irakkrieg, dann wurde manchmal
gesagt, wir Deutsche können die Welt vor Krieg mahnen, weil wir
zwei Weltkriege angezettelt haben. Das stößt mich ab, das ist so
unbescheiden formuliert, so ohne jede Demut.
Autor
Mit feiner Ironie und einem Schuss Sarkasmus hält Hammerstein
„den Deutschen“ den Spiegel vor, wenn sie sich zu sehr als
„Gutmenschen“ gerieren und in einen moralisierenden Ton
verfallen. Manche Passage seines Textes erinnert an den Autor
und Kolumnisten Henryk M. Broder.
Zitat
„Wir haben alle unseren Nazi im Keller, wie in den fünfziger,
sechziger Jahren, nur steigen wir jetzt die Treppe selbst hinab,
um ihn zu sehen. Manchmal holen wir ihn eigenhändig hervor, um
ihn aufzuarbeiten und in das Formaldehyd unseres gereiften
historischen Bewusstseins zu legen.“
Autor
Lukas Hammerstein hat seinen Essay geschrieben, bevor die Zahl
syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland historische
Ausmaße erreichte. Es ist zu vermuten, dass er in der im Ausland
mit Staunen wahrgenommenen „Willkommenskultur“ – bei aller
Großzügig- und Großherzigkeit - auch einen Schuss
Selbstgerechtigkeit sieht: Wir zeigen den Ungarn, Polen und
Engländern, wie gut wir sind!
Hammersteins Essay ist „Die Guten und das Böse“ überschrieben.
Das Böse wären, um beim Beispiel der Flüchtlinge zu bleiben,
brennende Asylunterkünfte oder die pöbelenden Anwohner von
Heidenau. Bei Lukas Hammerstein, so ist hier kritisch
anzumerken, taucht das Böse jedoch nur schemenhaft auf: Etwa in
11
Gestalt des KZ-Wächters Iwan Demjanjuk, dessen Prozess er in
München verfolgte und ausführlich beschreibt: Der Angeklagte auf
der Krankenliege vor Gericht erregte jedoch eher Mitleid als
Grauen.
Zitat
„Das Böse hat es in Deutschland nicht leicht, nicht einmal in
der Phantasie, dazu hatte es in den fürchterlichen „tausend“
Jahren auch zu leichtes Spiel. Und doch wird es in der
Täterforschung genauer untersucht, in Kriminalromanen von der
Leine gelassen, in klugen Büchern umkreist, in Talkshows
besprochen, beim politischen Gegner ausgemacht. Bei alldem
bleibt es seltsam blass, irgendwie geheimnislos, banal, eine
leuchtende Leerstelle.“
Autor
Bemerkenswert ist an Lukas Hammersteins Essay, dass er die
eigene Person nicht ausspart. Er schildert, wie er sich als
Schüler lieber mit verfolgten Juden als mit NS-Tätern
identifizierte. Er berichtet, wie er Proto- oder Post-Nazis
aufspüren wollte. Er gesteht, dass Geschichten im Radio über den
Holocaust ihn regelmäßig zu Tränen rühren.
O-Ton Hammerstein
Ich habe mich persönlich eingebracht, das ist dann auch immer
eine erhöhte Angreifbarkeit. Ich hab’s aber auch getan, um einen
gewissen Furor, der zu diesem Thema führt und an dieses Thema
bindet, auch zu begründen und auch zu erzählen. Das brennt eben
auch bei mir, und deswegen überhaupt der ganze Essay.
Moderatorin
Sagt der Autor Lukas Hammerstein. Sein Buch heißt „Die Guten und
das Böse. Ein Deutschland-Essay“, 203 Seiten sind bei Matthes &
Seitz erschienen und kosten 15 Euro. Unser Rezensent war Otto
Langels.
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Jingle Kursiv – Abgestaubt - Klassiker der politischen Literatur
Moderatorin
„Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers ist ein Weltbestseller,
millionenfach gelesen, verfilmt, in mehr als 30 Sprachen
übersetzt. In der DDR gehörte das Buch lange Zeit zur
Pflichtlektüre in der Oberschule. 1942 war „Das siebte Kreuz“
erstmals erschienen, ein „Roman aus Hitlerdeutschland“, wie es
im Untertitel heißt. Seghers lebte damals im mexikanischen Exil,
die gebürtige Mainzerin, eine Jüdin, hatte Nazi-Deutschland
verlassen müssen. In dem Buch erzählt sie die Geschichte von
sieben politischen Häftlingen, die aus einem Konzentrationslager
fliehen und erbarmungslos gejagt werden. Noch im
Erscheinungsjahr adaptierte der Zeichner William Sharp die
Geschichte als Comic, der vor allem in amerikanischen
Tageszeitungen erschien und schon damals ein Millionenpublikum
erreichte. Diese illustrierte Fassung von „Das siebte Kreuz“ ist
nun erstmals in einer deutschen Ausgabe erschienen. Niels
Beintker stellt sie vor.
Autor
Eigentlich hieß er Leon Schleifer. Doch nach der Emigration
Mitte der 1930er Jahre in die USA nannte er sich William Sharp,
angeblich eine Anspielung auf sein Arbeitswerkzeug, auf eine
stets spitze Feder, die Waffe des Zeichners. Der im Juni 1900 in
Lemberg geborene Künstler arbeitete in Berlin als
Gerichtsbeobachter und als Karikaturist, in New York war er dann
für die großen amerikanischen Magazine tätig und illustrierte
Klassiker-Ausgaben sowie Kurzausgaben aktueller
Neuerscheinungen, darunter auch Anna Seghers Roman „Das siebte
Kreuz“, veröffentlicht in einer Zeitungsserie, in der Reihe
„Book of the Month“: als eine Art Kurzfassung oder Summary für
die, die keine Zeit zum Lesen haben und trotzdem über neue
Bücher sprechen möchten, so die damalige Verlagsidee.
Zitat
13
„Vielleicht sind in unserem Land noch nie so merkwürdige Bäume
gefällt worden als die sieben Platanen auf der Schmalseite der
Baracke III. Ihre Kronen waren schon früher gekuppt worden aus
einem Anlass, den man später erfahren wird. In Schulterhöhe
waren gegen die Stämme Querbretter genagelt, sodass die Platanen
von weitem sieben Kreuzen glichen.“ (S. 8)
Autor
Die Eröffnung von Anna Seghers‘ Roman wurde in die illustrierte
englische Kurzfassung übernommen, ansonsten aber wurde der Text
massiv gekürzt – von 400 Seiten auf weniger als ein Zehntel,
einzelne Sätze und Passagen, großzügig gesetzt, dazu die
Schwarz-Weiß-Grafiken von Leon Schleifer alias William Sharp,
Tuschezeichnungen, alle übrigens ohne Sprechblasen. Die erste
zeigt das fiktive Konzentrationslager Westhofen am Rhein und die
sieben Platanen. Stacheldraht durchzieht die Komposition, im
Hintergrund eine Hakenkreuzfahne, am linken Bildrand ein
Bajonett und ein Schatten, ein bedrohlich wirkender Einstieg.
Dann, im nächsten Bild, ist Lagerkommandant Fahrenberg zu sehen,
die knochige Hand am Telefon, der Blick finster und gemein – ein
SA-Mann als Teufel. Die über 25 Seiten zwischen dem Romanauftakt
und der Nachricht von der Flucht der sieben politischen
Schutzhäftlinge wurden weitgehend gestrichen, die Chronologie
der im Originaltext multiperspektivischen Erzählung wurde
zusätzlich neu justiert und konzentriert: Im Roman wird etwa
zuerst von der Flucht berichtet, dann folgt der Alarm im Lager.
In der illustrierten Fassung, gestaltet als Abenteuergeschichte,
ist es anders herum, eines von vielen Beispielen.
Zitat
„Plötzlich fing etwas Neues an. Erst einen Augenblick später
merkte er, dass gar nichts angefangen hatte, sondern etwas
aufgehört: die Sirene. Das war das Neue, die Stille.“ (S. 9)
Autor
14
Er – das ist Georg Heisler, einer der sieben geflohenen
politischen Häftlinge, der einzige, der seinen Verfolgern am
Ende entkommen kann und so dem brutalen Martyrium, der
Kreuzigung entgeht. Die Bilder von William Sharp, frühe ComicZeichnungen, konzentrieren sich auf Georg Heislers siebentägige
Odyssee, seine schwere Verletzung an der Hand, die immer neuen
Verstecke und Notunterkünfte und die vielen stillen Helfer, etwa
Doktor Löwenstein, der den Verletzten kostenlos behandelt – wohl
wissend, was das für ihn und seine Familie im Fall einer
Denunziation bedeuten kann. Helle und dunkle Szenen wechseln
einander ab, Innen und Außenräume, Licht und Schatten, der
Flüchtende und seine unbarmherzigen Häscher, der eine mit
eingefallenen Wangen, elend, abgekämpft, müde, die anderen mal
dick und rund, mal dürr – man kann, wenn man will, auch Bilder
von Göring und Heß als Vorlagen erahnen. Dazu immer wieder die
Helfer, Männer und Frauen – und prompt steht Georg Heisler in
Kastel vor dem Schlepperkahn, der ihn, am Ende der Flucht, in
die Freiheit bringen wird. Im Roman braucht es vierhundert
Seiten bis zu diesem Augenblick, in der illustrierten
Kurzfassung gerade einmal sechzig.
Zitat
„Er war noch nicht zwanzig Schritte entfernt von der
Anlegestelle, da tauchte an Bord der Wilhelmine der Kugelkopf
eines kleinen, fast halslosen Mannes auf, ein rundes Gesicht,
das ihn offensichtlich erwartete, ein etwas fettes Gesicht mit
runden Nasenlöchern, mit vergrabenen Äuglein, ein Gesicht,
hinter dem man nichts Gutes vermutete, eben darum für diese Zeit
das rechte Gesicht für einen aufrechten Mann, der allerlei
riskierte.“ (S. 67)
Autor
Für Comic-Fans und Liebhaber der Illustration, der Neunten
Kunst, ist diese besondere Ausgabe eines großen Romans
sicherlich anregend und spannend – ein Buch, das von einer HochZeit der Bildergeschichten erzählt. Die Lektüre von Anna
15
Seghers‘ berühmtestem Roman ersetzt die Comic-Fassung ganz und
gar nicht, allerdings lädt sie dazu ein, das Buch, ein großes
literarisches Zeitdokument, wieder zu lesen. Das größte
Verdienst dieser Edition besteht aber darin, an einen durchaus
ungewöhnlichen Zeichner und Illustrator zu erinnern, für eine
typisch deutsche Künstlerbiographie im 20. Jahrhundert zu
sensibilisieren. Über William Sharp, den Mann mit der scharfen
Feder, möchte man gerne mehr erfahren.
Moderatorin
Soweit das Fazit von Niels Beintker. Die Comic-Adaption von Anna
Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ ist – wie das Gesamtwerk der
Schriftstellerin – im Aufbau-Verlag erschienen. Der Band im
Format eines Comic-Albums hat 92 Seiten und kostet 18,00 Euro.
Musik - Track 04 - Riese
Moderatorin
Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt. Doch diese Berufsbezeichnung
beschreibt nicht wirklich, was er tut. Wolfgang Kaleck kämpft
mit den Instrumenten eines Rechtsanwalts für die Menschenrechte
– und er legt sich dafür gerne mit den Mächtigen an: mit
Politikern, Diktatoren, Weltkonzernen. So erstattete er
Strafanzeige gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister
Donald Rumsfeld wegen Kriegsverbrechen und er übernahm das
Mandat für den Whistleblower Edward Snowden. Was Kaleck bewegt
und antreibt, schildert er nun in einem Buch. Es heißt „Mit
Recht gegen die Macht“ und Winfried Dolderer hat es gelesen.
Autor
Dass dies ein Buch ist, das vom Bohren dicker Bretter handelt,
verrät schon das Inhaltsverzeichnis. „Siegen, ohne zu gewinnen“,
lautet da eine der Kapitelüberschriften. Und eine andere:
„Wieder scheitern, besser scheitern“. Der Autor Wolfgang Kaleck
ist Rechtsanwalt in Berlin. Die Verbrechen der Mächtigen dieser
Welt zu ahnden, ist sein Lebensthema. Bei der Bundesanwaltschaft
16
hat Kaleck 2004 und 2006 Anzeige gegen den früheren USVerteidigungsminister Donald Rumsfeld erstattet. Einen
argentinischen Manager des Daimler-Konzerns versuchte er wegen
Beihilfe zum Mord während der Militärdiktatur zu belangen. Gegen
den Lebensmittel-Giganten Nestlé betrieb er in der Schweiz ein
Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung im Fall eines
ermordeten kolumbianischen Gewerkschaftsführers. Seit 2007 ist
Kaleck Generalsekretär des European Center for Constitutional
and Human Rights in Berlin.
Zitat
„Unser großes Ziel: Wir wollen dazu beitragen, weltweit
Menschenrechte mit juristischen Instrumenten zu schützen und
durchzusetzen. Unsere Mittel sind die Einleitung von
Strafverfolgung, oft auch Zivilklagen und Beschwerden vor UNStellen; unsere Arenen sind die Gerichtshöfe,
Staatsanwaltschaften und die Öffentlichkeit.“
O-Ton Kaleck
Die erste Idee war natürlich, die Folterfälle der Welt, die
Massakerfälle der Welt vor deutsche oder vielleicht auch noch
vor österreichische oder (…) vor spanische Gerichte zu bringen.
Und dann war halt die nächste Idee: Ja, aber es dürfen eben
nicht nur staatliche Akteure sein, also nicht nur die Generäle
und nicht nur die Verteidigungsminister, sondern es sollten auch
Unternehmen, wenn sie denn beteiligt sind an diesen Verbrechen,
mit auf die Anklagebank. Trotzdem war noch die Idee: hier in
Deutschland und in Europa.
Autor
Darin sieht Kaleck heute eine unnötige, sogar unzulässige
Selbstbeschränkung. Längst ist das Berliner Zentrum weltweit
unterwegs und vernetzt. Akteur einer „juristischen
Globalisierung von unten“, wie der Autor formuliert:
O-Ton Kaleck
17
Wir schreiben Gutachten, um Fälle vor indischen Gerichten, vor
pakistanischen Gerichten zu unterstützen. Wir machen
strategische Kooperationen mit indischen, mit kolumbianischen
Anwälten und überlegen ganz genau: Wieviel Sinn macht es, mit
dem Stück des Falles vor ein kolumbianisches Gericht zu gehen,
oder müssen wir vor den Interamerikanischen Gerichtshof für
Menschenrechte gehen (…), welcher Teil des Falles eignet sich
dazu, in Spanien oder in der Schweiz vorzutragen.“
Autor
Wie aus dem Berliner Strafverteidiger ein global agierender
Strafverfolger werden konnte, darum geht es in diesem Buch. Es
ist ein Erlebnis- und Rechenschaftsbericht, die politische
Autobiographie eines überzeugt linken Juristen, vermischt mit
Reisereportagen aus Südamerika, Afrika und Asien und Notizen
über die Menschen, die den Verfasser auf diesem Weg begleiteten
und prägten. Menschen wie die Deutsch-Argentinierin Ellen Marx,
die als junge Jüdin 1939 dem NS-Regime entkommen war, und deren
Tochter Nora 1976 unter der Militärdiktatur verschwand. In ihrem
Auftrag strengte Kaleck erstmals 1999 bei der Staatsanwaltschaft
in Nürnberg ein Verfahren an. Es führte im zweiten Anlauf zu
Ermittlungen in 50 Fällen und 2003 zu einem internationalen
Haftbefehl gegen den einstigen Juntachef Jorge Videla.
Dass eine deutsche Staatsanwaltschaft gegen argentinische Täter
ermitteln soll, ergibt sich für Kaleck aus dem Prinzip der
universellen Jurisdiktion. Es besagt, dass schwerste
Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sich gegen die
Menschheit als Ganzes richten und deswegen auch von der Justiz
eines unbeteiligten Drittstaates abgeurteilt werden können, wenn
sich keine andere zuständige Instanz dafür findet. Eine für
deutsche Juristen traditionellen Zuschnitts gewöhnungsbedürftige
Maxime, wie Kaleck immer wieder feststellen musste.
O-Ton Kaleck
Viele sagen so wie Sie(…): Aber doch nicht wir. Doch nicht die
Staatsanwaltschaft Stuttgart, doch nicht die Staatsanwaltschaft
18
Frankfurt, die Staatsanwaltschaft Nürnberg. Und dann sagen wir:
Na ja, es macht aber niemand anders, es kümmert sich niemand
anders drum. Also müsst ihr's machen.
Autor
Vielfach scheitert in solchen Fällen ein Verfahren allerdings an
der Kollision zwischen Justiz und Staatsräson, aus der die
Justiz oftmals nicht siegreich hervorgeht. Die Anzeige gegen
Donald Rumsfeld wegen der Folter an Gefangenen in Guantánamo und
im Irak legte die Bundesanwaltschaft flugs zu den Akten, damit
der US-Verteidigungsminister 2005 die Münchener
Sicherheitskonferenz besuchen konnte - mutmaßt Kaleck. Erfolglos
blieb auch der Versuch, den usbekischen Innenminister während
eines Klinikaufenthaltes in Deutschland für ein Massaker in
seinem Land zur Rechenschaft zu ziehen. Das deutsche Interesse
am usbekischen Luftwaffenstützpunkt Termez als Basis für den
Afghanistan-Einsatz sei vorgegangen. Rund ein Dutzend Fälle
erwähnt Kaleck in seinem Buch, jedoch kein einziges
rechtskräftiges Urteil. Hoffnung schöpft er dennoch nicht
zuletzt aus der Entwicklung in Argentinien, wo nach langem
Stillstand der Justiz mittlerweile hunderte Diktatur-Straftaten
abgeurteilt wurden.
Zitat
„Ich wünschte mir manchmal, dass die Öffentlichkeit außerhalb
Argentiniens die dort stattfindenden juristischen und
gesellschaftlichen Prozesse aufmerksamer beobachten würde.
Zumeist wird nur oberflächlich berichtet (…). Dabei zeigt gerade
das Beispiel Argentiniens, dass es manchmal Jahrzehnte dauern
kann, bis sich die Bemühungen auszahlen.“
Autor
Trotz allem also ein Mut machendes Buch: Das Bohren dicker
Bretter bleibt nicht unbelohnt.
O-Ton Kaleck
19
Der Rumsfeld reist nicht mehr. Also auch das nochmal zur
Betonung: Ein wichtiger Effekt unserer Arbeit. Rumsfeld reist
auch deswegen nicht mehr nach Europa, weil er weiß, es kann
gefährlich werden. Es kann sein, dass irgendein Staatsanwalt
oder Ermittlungsrichter ihn zur Vernehmung oder möglicherweise
sogar zur Untersuchungshaft bringt. Deswegen reist weder er noch
reisen andere. Der Ex-Präsident Bush wollte 2011 in die Schweiz,
hat es dann gelassen, als er gehört hat, dass eine Strafanzeige
gegen ihn vorgebracht wird. Ist das alles, was wir wollen? Nein.
Aber es ist mehr als nichts.
Moderatorin
Sagt Wolfgang Kaleck im Beitrag von Winfried Dolderer. Das
besprochene Buch heißt “Mit Recht gegen die Macht. Unser
weltweiter Kampf für die Menschenrechte.“ 224 Seiten sind bei
Hanser Berlin erschienen und kosten 19 Euro 90.
Musik - Track 11 - Teardrop
Moderatorin
Was wäre der Westen bloß ohne die Aufklärung? Demokratie,
Gleichberechtigung, die Freiheit des Individuums, rationales
Denken – all das verstehen wir als Errungenschaften der
Aufklärung. Es war die Geburtsstunde der Moderne – als es
plötzlich galt, die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ zu
verlassen, wie es Immanuel Kant 1784 formulierte. Doch ist das
alles richtig so? War die Aufklärung wirklich so gut und
fortschrittlich und wegweisend für die Moderne? Die beiden
Historiker Andreas Pecar und Damien Tricoire haben Zweifel – und
bieten eine andere, zuweilen provokante Sicht auf die
Aufklärung.
„Falsche Freunde“ heißt ihre Streitschrift, die Michael Köhler
bespricht:
Autor
20
Von der Aufklärung als einer Epoche der Erleuchtung zu sprechen,
einem „Siècle des Lumieres“, das halten die Autoren für einen
Kampfbegriff, um sich von dunklen Zeiten abzusetzen. Was sie mit
ihrem Buch wollen, das sagen sie in der Einleitung.
Zitat
„Es ist ein Plädoyer für die Fremdheit der Geistesgeschichte des
18. Jahrhunderts. Damit treten wir bewusst aus einer seit langem
etablierten Tradition heraus, die Moderne mit der Aufklärung
beginnen zu lassen und die Ideen der Aufklärung zum ideellen
heutigen Markenkern der westlichen Welt zu erheben.“ ( S. 12)
Autor
Was also, wenn die Wortführer der geistigen Bewegung zur
Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit
selber reichlich Schatten und Aberglauben produziert haben? Wie
aufklärungsfeindlich waren die Aufklärer? Haben sie „die Werte
vertreten, die sie erfunden haben“ (S. 23)? Das ist die leitende
Frage der Autoren. Sie ist nicht neu. Aber in dieser Radikalität
wurde sie noch nicht gestellt, um fragwürdiger Kanonisierung in
der Gegenwart entgegenzutreten.
Autor Andreas Pecar ist Aufklärungshistoriker in Halle, Damien
Tricoire ist dort wissenschaftlicher Assistent. Pecar forscht
schwerpunktmäßig über Autoritätsinszenierung und geistige
Herrschaftsdiskurse der frühen Neuzeit. In ihrem Buch „Falsche
Freunde“ wehren die Autoren sich gegen eine Heldengeschichte
aufklärerischen Denkens. Wenn heute von Toleranz und
Menschenrechten die Rede ist, werde fälschlicherweise die
Aufklärung als Ursprungsort des europäischen
Selbstverständnisses angeführt. Das kritisieren die Autoren.
Hier liegen ihre Stärken. Sie wollen ausdrücklich historisieren
und kontextualisieren. Auch Philosophen und Gedanken fallen
bekanntlich nicht vom Himmel oder wachsen auf Bäumen. Deshalb
legen sie viel Wert darauf, den institutionellen Rahmen zu
beschreiben, in dem aufklärerische Ideen entstehen.
21
Zitat
„Entgegen ihrer Selbstinszenierung als isolierte Avantgarde der
Wahrheit waren viele `philosophes´ integraler Bestandteil der
Hofpolitik und agierten teilweise als Propagandisten von
Aristokraten.“ (S. 177)
Autor
Natürlich waren die Aufklärer nicht durchgängig rational oder
säkular im modernen Sinne. Sie konnten, um mit Kant zu sprechen,
nur erkennen, was sie innerhalb ihrer eigenen Herkunft und
sozialen Stellung erkennen konnten. Kant war preußischer
Philosophieprofessor. Hölderlin und Hegel waren als junge
Studenten im Tübinger Stift hochnäsige Schnösel, zwei elitäre
Schwaben. Sind sie deshalb imperiale Staatsdenker? Sind sie
frauenfeindlich und kolonialistisch? Begrüßen sie den
Sklavenhandel und die Eroberung fremder Länder? Mehr noch sind
sie Rassedenker? Pecar und Tricoire legen das nahe. Sie
schreiben:
Zitat
„Die Rassentheorie ist tatsächlich eine Erfindung der
Aufklärungszeit.“ (S. 92)
Autor
Wenn Diderot in seiner “Geschichte beider Indien“ von 1780, die
Hottentotten, die südafrikanischen Völker, als eine Art
unaufgeklärtes `Vieh´ beschreibt, ist er kein „Rassist“, wie die
Autoren behaupten, sondern ein hochnäsiger französischer
Satiriker.
Pecar und Tricoire wollen geradezu obsessiv die Aufklärung vom
Sockel stoßen. Man solle sie gefälligst nicht mit Antirassismus
und Abolitionismus verbinden, um sie für heutige Traditions- und
Identitätsbildung heranzuziehen. Sie schreiben allen Ernstes:
„Philosophen wie Hume, Voltaire und Kant hingen einem
rassistischen Weltbild an“. Die Verfasser legen damit indirekt
nahe, es gebe einen Weg von Königberg nach Buchenwald.
22
Die Abschaffung der Sklaverei ist Pecar zufolge auch kein Akt
der Menschenliebe, sondern gehört in die Zeit der - Zitat „imperialen Expansion und der protestantischen
Erweckungsbewegungen“. Es sei ein „Kampf für die Befreiung und
das Wohl der Weißen“ gewesen. (S. 127)
Sie plädieren auch in der Geschlechterfrage dafür, die
Aufklärung weder „patriarchalisch noch egalitaristisch“
einzuschätzen. Man könne nicht durchweg sagen, die Aufklärung
habe eine breite öffentliche Debatte über Geschlechterfragen
angestoßen. Im Gegenteil. Diderot und Rousseau verweigerten den
Frauen das Bürgerrecht. Pecar und Tricoire widersprechen der
These, es handle sich bei den frühen Aufklärern um Feministen.
Selbst ein radikaler Aufklärer wie Condorcet, der die
intellektuelle Gleichheit der Geschlechter annahm, ging nicht
soweit, den Frauen Bürgerrechte zuzugestehen.
Zitat
„Die Etablierung einer politischen Öffentlichkeit im 18.
Jahrhundert geht mit einer Verbannung der Frauen aus dem
öffentlichen Leben einher.“ ( S. 154)
Autor
Viele der klassischen Texte der Aufklärungsliteratur seien für
Leser von heute zu „Falschen Freunden“ geworden. Insbesondere
die Historiker würden fragwürdige Traditionspflege und
Kanonisierung betreiben, wenn sie die Widersprüche glätten und
ungefragt Diderot und Voltaire zu Ahnherren der Moderne machten.
Denn auch sie entwarfen eurozentristische Bilder mit
privilegierten Philosophen als Königen des Denkens. Dies zu
entmonumentalisieren ist Ziel der Autoren.
Zitat
„Unser Anliegen war es, die Aufklärung zugleich zu normalisieren
und auf Distanz zu setzen - sie als Epoche wahrzunehmen, die wie
jede andere auch durch spezifische politische und soziale Kämpfe
und vielfach durch ältere Vorstellungen geprägt war - nicht als
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ein Zeitalter, das unsere heutige Welt hervorgebracht hat.“ (S.
181)
Moderatorin
Soweit ein Zitat aus dem besprochenen Band von Andreas Pecar und
Damien Tricoire. Der Titel heißt „Falsche Freunde. War die
Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?“, 231 Seiten
sind bei Campus erschienen und kosten 24 Euro 90.
Musik - Track 08 – Missing You
Moderatorin
Und das war Andruck, Ihr Magazin für Politische Literatur am
Montagabend. Wie immer können Sie alle Beiträge oder die ganze
Sendung auch im Netz noch einmal anhören, auf
Deutschlandfunk.de. Nächste Woche besprechen wir in Andruck –
rechtzeitig vor den Parlamentswahlen in der Schweiz eine
Darstellung über die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.
Die Musik kam heute von Adam Baldych und dem Helge Lien Trio,
„Bridges“ heißt die Platte und unsere Sendung geht zu Ende mit
dem Titel „Missing You“.
Am Mikrofon war Monika Dittrich, vielen Dank fürs Zuhören!
Musik - Track 08 – Missing You