DEUTSCHLANDFUNK Andruck – Das Magazin für Politische Literatur Montag, 5. Oktober 2015 19.15 - 20.00 Uhr Redakteurin am Mikrophon: Monika Dittrich Gemma Pörzgen: Marina Naprushkina: Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen, Europa Verlag Berlin, 240 Seiten, 16,99 Euro ISBN: 978-3-95890-007-3 Renate Zöller: Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl, Ch. Links Verlag, 232 Seiten, 18 Euro ISBN: 978-3-86153-843-1 Otto Langels: KURSIV Klassiker Niels Beintker: Lukas Hammerstein: Die Guten und das Böse. Ein Deutschland-Essay, Matthes und Seitz, 203 Seiten, 15 Euro ISBN: 978-3-88221-401-7 Anna Seghers; William Sharp: Das siebte Kreuz. Mit den Originalillustrationen von 1942, Aufbau Verlag, 92 Seiten, 18 Euro ISBN: 978-3-351-03604-1 Winfried Dolderer Wolfgang Kaleck: Mit Recht gegen die Macht. Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte, Hanser Berlin, 224 Seiten, 19,90 Euro ISBN: 978-3-446-24944-8 Michael Köhler Andreas Pecar; Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Campus Verlag, 231 Seiten, 24,90 Euro ISBN: 978-3-593-50474-2 Musik Adam Baldych & Helge Lien Trio „Bridges“ LC 07644 Best-Nr. ACT 9591-2 EAN 614427959126 URHEBERRECHTLICHER HINWEIS 2 Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Deutschlandradio /- unkorrigiertes Exemplar - Moderatorin Im Studio ist Monika Dittrich, herzlich willkommen zu unserem Magazin für politische Literatur! Musik - Track 03 - Mosaic Moderatorin "Heimat entdeckt man erst in der Fremde." Dieser Satz stammt von Siegfried Lenz, und der gebürtige Ostpreuße wusste wohl, wovon er sprach. Die vielen Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, werden ebenfalls wissen, was es heißt, die eigene Heimat aufzugeben. Was Heimat überhaupt bedeutet und wie man auch in der Fremde heimisch werden kann, darum geht es in zwei hochaktuellen Büchern, die wir Ihnen heute in Andruck vorstellen. Und wir haben natürlich noch mehr für Sie gelesen: Zum Beispiel einen Essay des Juristen Lukas Hammerstein, der sich fragt, warum die Deutschen unbedingt die „Meister des Moralischen“ sein wollen. Außerdem nehmen wir einen Klassiker zur Hand, nämlich "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers aus dem Jahr 1942. Wir besprechen das Buch des Menschenrechtsaktivisten Wolfgang Kaleck, in dem er beschreibt, wie er sich mit den Mächtigen anlegt. Und wir hören, wie die beiden Historiker Andreas Pecar und Damien Tricoire die Aufklärung entzaubern wollen, die Ihrer Meinung nach völlig zu Unrecht zur Geburtsstunde der Moderne erklärt wird. Und wir empfehlen Ihnen wie immer nicht nur guten Lesestoff, sondern auch eine aktuelle Jazz-CD: Der 29jährige Adam Baldych aus Polen gilt als einer der begabtesten Jazz-Geiger der Gegenwart. Jetzt hat er gemeinsam mit dem norwegischen Helge 3 Lien Trio eine Platte aufgenommen. Sie heißt „Bridges“ und wir hören den Titel "Mosaic". Musik - Track 03 - Mosaic Moderatorin 60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Sie verlassen ihre Heimat, ihr Zuhause, weil dort Krieg oder Elend herrschen, weil sie verfolgt werden oder für sich und ihre Familien keine Zukunft sehen. Anderswo hoffen sie auf eine neue Heimat, vielleicht in Deutschland. Was Heimat überhaupt ist, welches Gefühl dazu gehört und wie schmerzvoll es ist, heimatlos zu sein, darum geht es in den beiden Büchern, die wir Ihnen jetzt vorstellen: Die Journalistin Renate Zöller lässt in ihrem Buch Menschen zu Wort kommen, die ihre Heimat verloren und vielleicht anderswo eine zweite Heimat gefunden haben, es geht um Heimatvertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg, um wiederentdeckte Heimat und Wahlheimat. Das zweite Buch hat die Künstlerin Marina Naprushkina geschrieben. Sie stammt aus Weißrussland, lebt in Berlin und hat dort vor einigen Jahren eine Flüchtlingsinitiative gegründet. Tagebuchartig hat sie zusammengefasst, was sie als freiwillige Flüchtlingshelferin erlebt. Gemma Pörzgen ist unsere Rezensentin: Autorin Im Umgang mit Flüchtlingen hat sich in Deutschland eine neue Willkommenskultur entwickelt. Das ist vor allem dem ehrenamtlichen Engagement tausender freiwilliger Helfer zu verdanken. Sie unterstützen die Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan oder Irak tatkräftig dabei, in der Bundesrepublik nicht nur anzukommen, sondern hier ein neues Leben aufzubauen. Welche bürokratische Hürden und Erschwernisse den deutschen Alltag vieler Flüchtlinge bestimmen, macht das Buch „Neue Heimat“ auf erschreckende Weise deutlich. Dabei steht vor allem das Schicksal von Frauen und Kindern im Vordergrund. Die Autorin Maria Naprushkina ist Künstlerin und selbst aus Weißrussland eingewandert. Seit einigen Jahren engagiert sie sich in einer 4 Berliner Flüchtlingsinitiative. Jeden Nachmittag malen und basteln die Freiwilligen mit den Kindern, organisieren Ausflüge, helfen beim Arztbesuch oder bei Ämtergängen. Naprushkinas Buch lebt von zahlreichen Episoden, die sie selbst miterlebt hat und anschaulich wiedergibt: Zitat „Malika und ich sind mit ihren Töchtern in einem Kindergarten in Moabit. Für Malika mit ihren vielen Kindern ist es kaum möglich, das Heim zu verlassen. Erst vor kurzem hat sie einen Kinderwagen gespendet bekommen und kann sich jetzt im Viertel bewegen. Die Heimleitung kümmert sich nicht um Kindergartenplätze. Eine Kinderbetreuung wird für die über hundert Kinder im Heim ebenfalls nicht angeboten. Frauen mit mehreren Kindern sind buchstäblich an ihre Zimmer im Heim gefesselt. Oft haben die Mütter keinen Kinderwagen, um rauszugehen. Im Hof des Heimes dürfen die Kinder nicht spielen – die Nachbarn beschweren sich über den Lärm. Wir stehen im Büro von einem der größten Kindergärten in Moabit, fast zweihundertfünfzig Kinder haben sie hier. Wir möchten die beiden Mädchen im Kindergarten anmelden. „Nein, zur Zeit gibt es keine freien Plätze“, sagt uns die Leiterin gleich.““ Autorin Die Kinder kommen auf eine Warteliste, aber melden wird sich die Kindergärtnerin bei der Flüchtlingsfamilie nie. Wie wenig Freiraum den Frauen dadurch bleibt, auch nur auf die Straße zu gehen, geschweige denn Sprachkurse zu besuchen, macht Naprushkina eindringlich deutlich. Als ehrenamtliche Helferin, die selbst Familie hat, ist sie ständige Ansprechpartnerin für Nöte und Sorgen der Flüchtlingsfamilien. Selbst nachts klingelt das Telefon, weil eine Abschiebung droht oder ein Kind erkrankt ist. Aber die Helfer decken auch skandalöse Missstände bei der Heimleitung auf, die später zu Strafanzeigen führen. Zitat 5 „Wir müssen mit der Heimleitung sprechen. Die Stimmung ist schlecht, wir werden gegängelt. Das, was wir sehen und was wir von den Flüchtlingen hören, ist mit unserem Bild einer menschenwürdigen Unterbringung nicht vereinbar. Es kann nicht sein, dass die Leute nach Traumatisierung und Flucht hier so behandelt werden. Nicht bei uns und nicht vor unseren Augen. Jeden Tag stehen die Mütter vor mir und berichten von neuen Problemen. Warum gibt es nur fünf funktionierende Waschmaschinen für fast dreihundert Bewohner, nur lauwarmes Wasser in der Dusche, warum sind die Toiletten immer ungereinigt und kaputt, keine Seife da, kein Toilettenpapier, warum gibt es keinen Aufenthaltsraum, kein Internet, Essen, bei dem ich kotzen muss, wenn ich es nur sehe? Und das Ganze für fast dreißig Euro am Tag pro Kopf, die der Senat an den Betreiber bezahlt?“ Autorin Der private Heimbetreiber hatte sich nach Schilderung der Autorin eine regelrechte Gelddruckmaschine gesichert, weil es in Berlin offenbar an Kontrollmechanismen fehlte. Naprushkina schildert eindrucksvoll, wie sich so ein Fehlmanagement zu kriminellen Machenschaften im Flüchtlingsgeschäft weiterentwickeln kann. Die Journalistin Renate Zöller nähert sich dem Thema von einer ganz anderen Seite und lädt mit ihrem Buch „Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl“ dazu ein, sich über Flucht und Vertreibung ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen. Dabei stellt die Autorin gleich zu Beginn fest, dass sich der in Deutschland lange verrufene Terminus „Heimat“ inzwischen längst zum neuen Trendwort gemausert habe. Die Geborgenheit und Verlässlichkeit der kleinen, überschaubaren Heimat erfahre angesichts einer Ohnmacht gegenüber den Katastrophen in einer unüberschaubar großen Welt eine neue Bewertung. Auch die Schicksale von Einwanderern erzählten von Heimat, schreibt Zöller. Heimat und Fremde gehörten zusammen: Zitat 6 „Das Phänomen ist nicht ohne den Verlust zu betrachten. Die meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, solange sie nicht bedroht oder verloren ist. Erst dann beginnen sie, sie zu vermissen – und verstehen oft gar nicht genau, was sie eigentlich vermissen. Manche Menschen träumen ihr Leben lang davon, wieder nachhause zurückzukehren. Und wenn sie es schließlich tun, finden sie dort keine Heimat mehr. Diese Ambivalenz der Sehnsucht bewegte Philosophen, Historiker und Philosophen seit jeher. Schon der römische Philosoph Seneca kam zu dem Schluss, der Mensch brauche eine Heimat und implizierte gleichzeitig, dass er sich auf der Wanderschaft danach sehnt.“ Autorin Neben solchen philosophischen Perspektiven, einem historischen Abriss und psychologischen Deutungen lebt das Buch vor allem von den bewegenden Interviews mit Gesprächspartnern, die von ihren Lebenswegen und ihrem Verhältnis zur Heimat erzählen. Dabei geht es um Einzelschicksale von Vertriebenen, Wirtschaftsflüchtlingen, Sinti oder Russlanddeutschen, aber auch um vergessene Begebenheiten, wie die Umsiedlung des Dorfes Wollseifen in der Eifel. Weil die britische Besatzungsmacht den ganzen Ort zum militärischen Übungsgelände erklärte, mussten alle Bewohner 1946 innerhalb von drei Wochen ihre einstige Heimat aufgeben. Wollseifen wurde von der Artillerie zerschossen, wie sich eine frühere Bewohnerin schmerzlich erinnert. Das Buch will ein buntes Kaleidoskop voller Denkanstöße zum Thema Heimat sein und löst diesen Anspruch auf anregende Weise ein. Nicht nur das nachdenkliche Schlusswort der Autorin besticht durch seine Aktualität. Zöller schreibt: Zitat „Entscheidend ist daher nicht nur, dass Flüchtlinge in Deutschland entsprechend untergebracht und notversorgt werden, sondern auch, dass sie eine Chance haben, sich neu zu beheimaten. Das erfordert mehr, als nur eine spontane, vorübergehende Empathie. Das bedeutet, Heimat nicht nur aktiv 7 und menschlich zu gestalten, sondern sie zu teilen, für Neues zu öffnen und auch den Hinzukommenden die Chance zu geben, ihr neues Zuhause mitzugestalten. Angesichts der großen Veränderungen, die gerade weltweit stattfinden, angesichts der Konflikte aber auch der zunehmenden Mobilität und Vernetzung muss auch der Heimatbegriff angepasst werden. Die Heimat abzugrenzen gegen andere, bedeutet sie schwach und angreifbar zu machen. Stärker wird die Heimat durch Menschen, die sie lieben. Je mehr, desto besser.“ Moderatorin Schreibt Renate Zöller in ihrem Buch mit dem Titel: „Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl.“ 232 Seiten sind im Christoph Links Verlag erschienen und kosten 18 Euro. Das zweite Buch, das Gemma Pörzgen besprochen hat, heißt „Neue Heimat. Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen“, geschrieben von Marina Naprushkina. Der Europa Verlag Berlin hat die 240 Seiten herausgebracht, Preis: 16 Euro 99. Musik - Track 02 - Polesie Moderatorin Die Deutschen gefallen sich gut in der Rolle der Flüchtlingshelfer: „Refugees Welcome“ steht auf vielen T-Shirts und Plakaten und von einer Willkommenskultur ist die Rede. All das soll wohl auch zeigen: Fremdenfeindliche Ausschreitungen wie im sächsischen Heidenau oder anderswo sind hierzulande die Ausnahme, eigentlich sind die Deutschen ein sympathisches Volk, gastfreundlich und friedliebend. Wir sind eben zu „Meistern des Moralischen“ geworden, schreibt der Jurist Lukas Hammerstein in seinem Deutschland-Essay, und er meint das durchaus kritisch. Denn all die guten Taten gibt es nicht ganz ohne selbstgerechte Besserwisserei, und das habe auch etwas mit der NaziVergangenheit zu tun. „Die Guten und das Böse“ heißt der Essay, den Otto Langels für Andruck bespricht. 8 Autor In kaum einem anderen Land hat die Erinnerungskultur einen so großen Stellenwert wie in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit Nationalsozialismus und DDRDiktatur findet im Ausland Respekt und Anerkennung, die Arbeit der Gedenkstätten, Museen und Medien gilt meist als vorbildlich. Ob Holocaust-Denkmal und Mauermuseum, KZ-Gedenkstätten und Stasi-Akten, Auschwitz-Gedenktag und Erinnern an den Mauerbau, die jüngste Vergangenheit ist auf vielfältige Weise präsent. Doch dem war nach 1945 jahrzehntelang nicht so, meint der Autor Lukas Hammerstein. O-Ton Hammerstein Die Deutschen haben viel geleistet, die historische Zunft hat unglaublich viel geleistet, und es wurde sehr viel geforscht, und es wurde auch wirklich unerschrocken hingeschaut. Nur muss man natürlich gleichzeitig sehen, dass die Gesellschaft erst mal eine ganze Zeit gebraucht hat. Ohne den Auschwitz-Prozess oder diesen Schock wäre vielleicht erst mal gar nichts passiert. Autor Lukas Hammerstein erinnert in seinem klugen, mitunter provozierenden Essay daran, dass die meisten Deutschen lange Zeit die Verbrechen der Nazis verschwiegen und verdrängten. Tatsächlich begann erst Anfang der 1960er Jahre mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main sowie nach der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ 1979 eine breitere Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit. Erleichtert wurde dieser Prozess durch die wachsende zeitliche Distanz. Die Generation der Täter und Mitläufer starb aus, die Nachwachsenden konnten sich, so der Autor, frei von persönlicher Schuld unbefangener mit dem NS-Erbe beschäftigen und leichter mit den Opfern als den Tätern identifizieren. Zitat 9 „Die historische Schuld ist immer weniger unsere Schuld. Wir beugen uns über unzählige Bücher, sehen uns zig Filme an, folgen vielleicht Guido Knopps fahlen Geschichtsstunden und erinnern uns – nein, nicht uns, eher ein allgemeines Bewusstsein – an etwas, das einmal war. Wir blicken auf unsere fremd werdende Geschichte und streiten uns schon lange nicht mehr mit Historikern.“ Autor Hammerstein spricht von der „selbstgerechten Läuterung“ der Deutschen, ohne konkret zu werden. Er überlässt es dem Leser, seine Gedanken aufzugreifen: Verlegen die Bundesbürger nicht Tausende Stolpersteine für ermordete Juden vor ihren Häusern? Erklärt die Kanzlerin nicht die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson? Lassen Firmen, Berufsverbände und Ministerien nicht seit Jahren ihre Vergangenheit von renommierten Historikern auf braune Flecken untersuchen, während sie früher schamhaft ihre Verstrickungen in das NS-Regime verschwiegen? „Ohne Auschwitz“, meint Lukas Hammerstein, „wären wir nie so gut geworden“. O-Ton Hammerstein Mir ist immer wieder aufgefallen, dass Deutsche hin und wieder dazu neigen, sich moralisch auf eine besondere Position zu setzen und das manchmal sogar regelrecht begründen mit der furchtbaren Schuld, die wir früher auf uns geladen haben, aus der uns eine besondere Verantwortung erwächst, was ja auch stimmt. Aber daraus kommt dann manchmal so ein Zungenschlag von: Ja, wir wissen, wovon wir reden, wenn wir z.B. vom Krieg reden. Autor Der Friede sei ein Meister aus Deutschland, stellt Lukas Hammerstein mit ironischem Unterton fest und zitiert den damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der im Vorfeld des Irakkrieges den USA vorhielt, im Unterschied zu ihnen wüssten die Deutschen aus ihrer eigenen Geschichte ganz existenziell, was Krieg bedeute. 10 O-Ton Hammerstein Wenn es eben um den Krieg geht, Irakkrieg, dann wurde manchmal gesagt, wir Deutsche können die Welt vor Krieg mahnen, weil wir zwei Weltkriege angezettelt haben. Das stößt mich ab, das ist so unbescheiden formuliert, so ohne jede Demut. Autor Mit feiner Ironie und einem Schuss Sarkasmus hält Hammerstein „den Deutschen“ den Spiegel vor, wenn sie sich zu sehr als „Gutmenschen“ gerieren und in einen moralisierenden Ton verfallen. Manche Passage seines Textes erinnert an den Autor und Kolumnisten Henryk M. Broder. Zitat „Wir haben alle unseren Nazi im Keller, wie in den fünfziger, sechziger Jahren, nur steigen wir jetzt die Treppe selbst hinab, um ihn zu sehen. Manchmal holen wir ihn eigenhändig hervor, um ihn aufzuarbeiten und in das Formaldehyd unseres gereiften historischen Bewusstseins zu legen.“ Autor Lukas Hammerstein hat seinen Essay geschrieben, bevor die Zahl syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland historische Ausmaße erreichte. Es ist zu vermuten, dass er in der im Ausland mit Staunen wahrgenommenen „Willkommenskultur“ – bei aller Großzügig- und Großherzigkeit - auch einen Schuss Selbstgerechtigkeit sieht: Wir zeigen den Ungarn, Polen und Engländern, wie gut wir sind! Hammersteins Essay ist „Die Guten und das Böse“ überschrieben. Das Böse wären, um beim Beispiel der Flüchtlinge zu bleiben, brennende Asylunterkünfte oder die pöbelenden Anwohner von Heidenau. Bei Lukas Hammerstein, so ist hier kritisch anzumerken, taucht das Böse jedoch nur schemenhaft auf: Etwa in 11 Gestalt des KZ-Wächters Iwan Demjanjuk, dessen Prozess er in München verfolgte und ausführlich beschreibt: Der Angeklagte auf der Krankenliege vor Gericht erregte jedoch eher Mitleid als Grauen. Zitat „Das Böse hat es in Deutschland nicht leicht, nicht einmal in der Phantasie, dazu hatte es in den fürchterlichen „tausend“ Jahren auch zu leichtes Spiel. Und doch wird es in der Täterforschung genauer untersucht, in Kriminalromanen von der Leine gelassen, in klugen Büchern umkreist, in Talkshows besprochen, beim politischen Gegner ausgemacht. Bei alldem bleibt es seltsam blass, irgendwie geheimnislos, banal, eine leuchtende Leerstelle.“ Autor Bemerkenswert ist an Lukas Hammersteins Essay, dass er die eigene Person nicht ausspart. Er schildert, wie er sich als Schüler lieber mit verfolgten Juden als mit NS-Tätern identifizierte. Er berichtet, wie er Proto- oder Post-Nazis aufspüren wollte. Er gesteht, dass Geschichten im Radio über den Holocaust ihn regelmäßig zu Tränen rühren. O-Ton Hammerstein Ich habe mich persönlich eingebracht, das ist dann auch immer eine erhöhte Angreifbarkeit. Ich hab’s aber auch getan, um einen gewissen Furor, der zu diesem Thema führt und an dieses Thema bindet, auch zu begründen und auch zu erzählen. Das brennt eben auch bei mir, und deswegen überhaupt der ganze Essay. Moderatorin Sagt der Autor Lukas Hammerstein. Sein Buch heißt „Die Guten und das Böse. Ein Deutschland-Essay“, 203 Seiten sind bei Matthes & Seitz erschienen und kosten 15 Euro. Unser Rezensent war Otto Langels. 12 Jingle Kursiv – Abgestaubt - Klassiker der politischen Literatur Moderatorin „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers ist ein Weltbestseller, millionenfach gelesen, verfilmt, in mehr als 30 Sprachen übersetzt. In der DDR gehörte das Buch lange Zeit zur Pflichtlektüre in der Oberschule. 1942 war „Das siebte Kreuz“ erstmals erschienen, ein „Roman aus Hitlerdeutschland“, wie es im Untertitel heißt. Seghers lebte damals im mexikanischen Exil, die gebürtige Mainzerin, eine Jüdin, hatte Nazi-Deutschland verlassen müssen. In dem Buch erzählt sie die Geschichte von sieben politischen Häftlingen, die aus einem Konzentrationslager fliehen und erbarmungslos gejagt werden. Noch im Erscheinungsjahr adaptierte der Zeichner William Sharp die Geschichte als Comic, der vor allem in amerikanischen Tageszeitungen erschien und schon damals ein Millionenpublikum erreichte. Diese illustrierte Fassung von „Das siebte Kreuz“ ist nun erstmals in einer deutschen Ausgabe erschienen. Niels Beintker stellt sie vor. Autor Eigentlich hieß er Leon Schleifer. Doch nach der Emigration Mitte der 1930er Jahre in die USA nannte er sich William Sharp, angeblich eine Anspielung auf sein Arbeitswerkzeug, auf eine stets spitze Feder, die Waffe des Zeichners. Der im Juni 1900 in Lemberg geborene Künstler arbeitete in Berlin als Gerichtsbeobachter und als Karikaturist, in New York war er dann für die großen amerikanischen Magazine tätig und illustrierte Klassiker-Ausgaben sowie Kurzausgaben aktueller Neuerscheinungen, darunter auch Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“, veröffentlicht in einer Zeitungsserie, in der Reihe „Book of the Month“: als eine Art Kurzfassung oder Summary für die, die keine Zeit zum Lesen haben und trotzdem über neue Bücher sprechen möchten, so die damalige Verlagsidee. Zitat 13 „Vielleicht sind in unserem Land noch nie so merkwürdige Bäume gefällt worden als die sieben Platanen auf der Schmalseite der Baracke III. Ihre Kronen waren schon früher gekuppt worden aus einem Anlass, den man später erfahren wird. In Schulterhöhe waren gegen die Stämme Querbretter genagelt, sodass die Platanen von weitem sieben Kreuzen glichen.“ (S. 8) Autor Die Eröffnung von Anna Seghers‘ Roman wurde in die illustrierte englische Kurzfassung übernommen, ansonsten aber wurde der Text massiv gekürzt – von 400 Seiten auf weniger als ein Zehntel, einzelne Sätze und Passagen, großzügig gesetzt, dazu die Schwarz-Weiß-Grafiken von Leon Schleifer alias William Sharp, Tuschezeichnungen, alle übrigens ohne Sprechblasen. Die erste zeigt das fiktive Konzentrationslager Westhofen am Rhein und die sieben Platanen. Stacheldraht durchzieht die Komposition, im Hintergrund eine Hakenkreuzfahne, am linken Bildrand ein Bajonett und ein Schatten, ein bedrohlich wirkender Einstieg. Dann, im nächsten Bild, ist Lagerkommandant Fahrenberg zu sehen, die knochige Hand am Telefon, der Blick finster und gemein – ein SA-Mann als Teufel. Die über 25 Seiten zwischen dem Romanauftakt und der Nachricht von der Flucht der sieben politischen Schutzhäftlinge wurden weitgehend gestrichen, die Chronologie der im Originaltext multiperspektivischen Erzählung wurde zusätzlich neu justiert und konzentriert: Im Roman wird etwa zuerst von der Flucht berichtet, dann folgt der Alarm im Lager. In der illustrierten Fassung, gestaltet als Abenteuergeschichte, ist es anders herum, eines von vielen Beispielen. Zitat „Plötzlich fing etwas Neues an. Erst einen Augenblick später merkte er, dass gar nichts angefangen hatte, sondern etwas aufgehört: die Sirene. Das war das Neue, die Stille.“ (S. 9) Autor 14 Er – das ist Georg Heisler, einer der sieben geflohenen politischen Häftlinge, der einzige, der seinen Verfolgern am Ende entkommen kann und so dem brutalen Martyrium, der Kreuzigung entgeht. Die Bilder von William Sharp, frühe ComicZeichnungen, konzentrieren sich auf Georg Heislers siebentägige Odyssee, seine schwere Verletzung an der Hand, die immer neuen Verstecke und Notunterkünfte und die vielen stillen Helfer, etwa Doktor Löwenstein, der den Verletzten kostenlos behandelt – wohl wissend, was das für ihn und seine Familie im Fall einer Denunziation bedeuten kann. Helle und dunkle Szenen wechseln einander ab, Innen und Außenräume, Licht und Schatten, der Flüchtende und seine unbarmherzigen Häscher, der eine mit eingefallenen Wangen, elend, abgekämpft, müde, die anderen mal dick und rund, mal dürr – man kann, wenn man will, auch Bilder von Göring und Heß als Vorlagen erahnen. Dazu immer wieder die Helfer, Männer und Frauen – und prompt steht Georg Heisler in Kastel vor dem Schlepperkahn, der ihn, am Ende der Flucht, in die Freiheit bringen wird. Im Roman braucht es vierhundert Seiten bis zu diesem Augenblick, in der illustrierten Kurzfassung gerade einmal sechzig. Zitat „Er war noch nicht zwanzig Schritte entfernt von der Anlegestelle, da tauchte an Bord der Wilhelmine der Kugelkopf eines kleinen, fast halslosen Mannes auf, ein rundes Gesicht, das ihn offensichtlich erwartete, ein etwas fettes Gesicht mit runden Nasenlöchern, mit vergrabenen Äuglein, ein Gesicht, hinter dem man nichts Gutes vermutete, eben darum für diese Zeit das rechte Gesicht für einen aufrechten Mann, der allerlei riskierte.“ (S. 67) Autor Für Comic-Fans und Liebhaber der Illustration, der Neunten Kunst, ist diese besondere Ausgabe eines großen Romans sicherlich anregend und spannend – ein Buch, das von einer HochZeit der Bildergeschichten erzählt. Die Lektüre von Anna 15 Seghers‘ berühmtestem Roman ersetzt die Comic-Fassung ganz und gar nicht, allerdings lädt sie dazu ein, das Buch, ein großes literarisches Zeitdokument, wieder zu lesen. Das größte Verdienst dieser Edition besteht aber darin, an einen durchaus ungewöhnlichen Zeichner und Illustrator zu erinnern, für eine typisch deutsche Künstlerbiographie im 20. Jahrhundert zu sensibilisieren. Über William Sharp, den Mann mit der scharfen Feder, möchte man gerne mehr erfahren. Moderatorin Soweit das Fazit von Niels Beintker. Die Comic-Adaption von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ ist – wie das Gesamtwerk der Schriftstellerin – im Aufbau-Verlag erschienen. Der Band im Format eines Comic-Albums hat 92 Seiten und kostet 18,00 Euro. Musik - Track 04 - Riese Moderatorin Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt. Doch diese Berufsbezeichnung beschreibt nicht wirklich, was er tut. Wolfgang Kaleck kämpft mit den Instrumenten eines Rechtsanwalts für die Menschenrechte – und er legt sich dafür gerne mit den Mächtigen an: mit Politikern, Diktatoren, Weltkonzernen. So erstattete er Strafanzeige gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen Kriegsverbrechen und er übernahm das Mandat für den Whistleblower Edward Snowden. Was Kaleck bewegt und antreibt, schildert er nun in einem Buch. Es heißt „Mit Recht gegen die Macht“ und Winfried Dolderer hat es gelesen. Autor Dass dies ein Buch ist, das vom Bohren dicker Bretter handelt, verrät schon das Inhaltsverzeichnis. „Siegen, ohne zu gewinnen“, lautet da eine der Kapitelüberschriften. Und eine andere: „Wieder scheitern, besser scheitern“. Der Autor Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt in Berlin. Die Verbrechen der Mächtigen dieser Welt zu ahnden, ist sein Lebensthema. Bei der Bundesanwaltschaft 16 hat Kaleck 2004 und 2006 Anzeige gegen den früheren USVerteidigungsminister Donald Rumsfeld erstattet. Einen argentinischen Manager des Daimler-Konzerns versuchte er wegen Beihilfe zum Mord während der Militärdiktatur zu belangen. Gegen den Lebensmittel-Giganten Nestlé betrieb er in der Schweiz ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung im Fall eines ermordeten kolumbianischen Gewerkschaftsführers. Seit 2007 ist Kaleck Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. Zitat „Unser großes Ziel: Wir wollen dazu beitragen, weltweit Menschenrechte mit juristischen Instrumenten zu schützen und durchzusetzen. Unsere Mittel sind die Einleitung von Strafverfolgung, oft auch Zivilklagen und Beschwerden vor UNStellen; unsere Arenen sind die Gerichtshöfe, Staatsanwaltschaften und die Öffentlichkeit.“ O-Ton Kaleck Die erste Idee war natürlich, die Folterfälle der Welt, die Massakerfälle der Welt vor deutsche oder vielleicht auch noch vor österreichische oder (…) vor spanische Gerichte zu bringen. Und dann war halt die nächste Idee: Ja, aber es dürfen eben nicht nur staatliche Akteure sein, also nicht nur die Generäle und nicht nur die Verteidigungsminister, sondern es sollten auch Unternehmen, wenn sie denn beteiligt sind an diesen Verbrechen, mit auf die Anklagebank. Trotzdem war noch die Idee: hier in Deutschland und in Europa. Autor Darin sieht Kaleck heute eine unnötige, sogar unzulässige Selbstbeschränkung. Längst ist das Berliner Zentrum weltweit unterwegs und vernetzt. Akteur einer „juristischen Globalisierung von unten“, wie der Autor formuliert: O-Ton Kaleck 17 Wir schreiben Gutachten, um Fälle vor indischen Gerichten, vor pakistanischen Gerichten zu unterstützen. Wir machen strategische Kooperationen mit indischen, mit kolumbianischen Anwälten und überlegen ganz genau: Wieviel Sinn macht es, mit dem Stück des Falles vor ein kolumbianisches Gericht zu gehen, oder müssen wir vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen (…), welcher Teil des Falles eignet sich dazu, in Spanien oder in der Schweiz vorzutragen.“ Autor Wie aus dem Berliner Strafverteidiger ein global agierender Strafverfolger werden konnte, darum geht es in diesem Buch. Es ist ein Erlebnis- und Rechenschaftsbericht, die politische Autobiographie eines überzeugt linken Juristen, vermischt mit Reisereportagen aus Südamerika, Afrika und Asien und Notizen über die Menschen, die den Verfasser auf diesem Weg begleiteten und prägten. Menschen wie die Deutsch-Argentinierin Ellen Marx, die als junge Jüdin 1939 dem NS-Regime entkommen war, und deren Tochter Nora 1976 unter der Militärdiktatur verschwand. In ihrem Auftrag strengte Kaleck erstmals 1999 bei der Staatsanwaltschaft in Nürnberg ein Verfahren an. Es führte im zweiten Anlauf zu Ermittlungen in 50 Fällen und 2003 zu einem internationalen Haftbefehl gegen den einstigen Juntachef Jorge Videla. Dass eine deutsche Staatsanwaltschaft gegen argentinische Täter ermitteln soll, ergibt sich für Kaleck aus dem Prinzip der universellen Jurisdiktion. Es besagt, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sich gegen die Menschheit als Ganzes richten und deswegen auch von der Justiz eines unbeteiligten Drittstaates abgeurteilt werden können, wenn sich keine andere zuständige Instanz dafür findet. Eine für deutsche Juristen traditionellen Zuschnitts gewöhnungsbedürftige Maxime, wie Kaleck immer wieder feststellen musste. O-Ton Kaleck Viele sagen so wie Sie(…): Aber doch nicht wir. Doch nicht die Staatsanwaltschaft Stuttgart, doch nicht die Staatsanwaltschaft 18 Frankfurt, die Staatsanwaltschaft Nürnberg. Und dann sagen wir: Na ja, es macht aber niemand anders, es kümmert sich niemand anders drum. Also müsst ihr's machen. Autor Vielfach scheitert in solchen Fällen ein Verfahren allerdings an der Kollision zwischen Justiz und Staatsräson, aus der die Justiz oftmals nicht siegreich hervorgeht. Die Anzeige gegen Donald Rumsfeld wegen der Folter an Gefangenen in Guantánamo und im Irak legte die Bundesanwaltschaft flugs zu den Akten, damit der US-Verteidigungsminister 2005 die Münchener Sicherheitskonferenz besuchen konnte - mutmaßt Kaleck. Erfolglos blieb auch der Versuch, den usbekischen Innenminister während eines Klinikaufenthaltes in Deutschland für ein Massaker in seinem Land zur Rechenschaft zu ziehen. Das deutsche Interesse am usbekischen Luftwaffenstützpunkt Termez als Basis für den Afghanistan-Einsatz sei vorgegangen. Rund ein Dutzend Fälle erwähnt Kaleck in seinem Buch, jedoch kein einziges rechtskräftiges Urteil. Hoffnung schöpft er dennoch nicht zuletzt aus der Entwicklung in Argentinien, wo nach langem Stillstand der Justiz mittlerweile hunderte Diktatur-Straftaten abgeurteilt wurden. Zitat „Ich wünschte mir manchmal, dass die Öffentlichkeit außerhalb Argentiniens die dort stattfindenden juristischen und gesellschaftlichen Prozesse aufmerksamer beobachten würde. Zumeist wird nur oberflächlich berichtet (…). Dabei zeigt gerade das Beispiel Argentiniens, dass es manchmal Jahrzehnte dauern kann, bis sich die Bemühungen auszahlen.“ Autor Trotz allem also ein Mut machendes Buch: Das Bohren dicker Bretter bleibt nicht unbelohnt. O-Ton Kaleck 19 Der Rumsfeld reist nicht mehr. Also auch das nochmal zur Betonung: Ein wichtiger Effekt unserer Arbeit. Rumsfeld reist auch deswegen nicht mehr nach Europa, weil er weiß, es kann gefährlich werden. Es kann sein, dass irgendein Staatsanwalt oder Ermittlungsrichter ihn zur Vernehmung oder möglicherweise sogar zur Untersuchungshaft bringt. Deswegen reist weder er noch reisen andere. Der Ex-Präsident Bush wollte 2011 in die Schweiz, hat es dann gelassen, als er gehört hat, dass eine Strafanzeige gegen ihn vorgebracht wird. Ist das alles, was wir wollen? Nein. Aber es ist mehr als nichts. Moderatorin Sagt Wolfgang Kaleck im Beitrag von Winfried Dolderer. Das besprochene Buch heißt “Mit Recht gegen die Macht. Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte.“ 224 Seiten sind bei Hanser Berlin erschienen und kosten 19 Euro 90. Musik - Track 11 - Teardrop Moderatorin Was wäre der Westen bloß ohne die Aufklärung? Demokratie, Gleichberechtigung, die Freiheit des Individuums, rationales Denken – all das verstehen wir als Errungenschaften der Aufklärung. Es war die Geburtsstunde der Moderne – als es plötzlich galt, die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ zu verlassen, wie es Immanuel Kant 1784 formulierte. Doch ist das alles richtig so? War die Aufklärung wirklich so gut und fortschrittlich und wegweisend für die Moderne? Die beiden Historiker Andreas Pecar und Damien Tricoire haben Zweifel – und bieten eine andere, zuweilen provokante Sicht auf die Aufklärung. „Falsche Freunde“ heißt ihre Streitschrift, die Michael Köhler bespricht: Autor 20 Von der Aufklärung als einer Epoche der Erleuchtung zu sprechen, einem „Siècle des Lumieres“, das halten die Autoren für einen Kampfbegriff, um sich von dunklen Zeiten abzusetzen. Was sie mit ihrem Buch wollen, das sagen sie in der Einleitung. Zitat „Es ist ein Plädoyer für die Fremdheit der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Damit treten wir bewusst aus einer seit langem etablierten Tradition heraus, die Moderne mit der Aufklärung beginnen zu lassen und die Ideen der Aufklärung zum ideellen heutigen Markenkern der westlichen Welt zu erheben.“ ( S. 12) Autor Was also, wenn die Wortführer der geistigen Bewegung zur Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit selber reichlich Schatten und Aberglauben produziert haben? Wie aufklärungsfeindlich waren die Aufklärer? Haben sie „die Werte vertreten, die sie erfunden haben“ (S. 23)? Das ist die leitende Frage der Autoren. Sie ist nicht neu. Aber in dieser Radikalität wurde sie noch nicht gestellt, um fragwürdiger Kanonisierung in der Gegenwart entgegenzutreten. Autor Andreas Pecar ist Aufklärungshistoriker in Halle, Damien Tricoire ist dort wissenschaftlicher Assistent. Pecar forscht schwerpunktmäßig über Autoritätsinszenierung und geistige Herrschaftsdiskurse der frühen Neuzeit. In ihrem Buch „Falsche Freunde“ wehren die Autoren sich gegen eine Heldengeschichte aufklärerischen Denkens. Wenn heute von Toleranz und Menschenrechten die Rede ist, werde fälschlicherweise die Aufklärung als Ursprungsort des europäischen Selbstverständnisses angeführt. Das kritisieren die Autoren. Hier liegen ihre Stärken. Sie wollen ausdrücklich historisieren und kontextualisieren. Auch Philosophen und Gedanken fallen bekanntlich nicht vom Himmel oder wachsen auf Bäumen. Deshalb legen sie viel Wert darauf, den institutionellen Rahmen zu beschreiben, in dem aufklärerische Ideen entstehen. 21 Zitat „Entgegen ihrer Selbstinszenierung als isolierte Avantgarde der Wahrheit waren viele `philosophes´ integraler Bestandteil der Hofpolitik und agierten teilweise als Propagandisten von Aristokraten.“ (S. 177) Autor Natürlich waren die Aufklärer nicht durchgängig rational oder säkular im modernen Sinne. Sie konnten, um mit Kant zu sprechen, nur erkennen, was sie innerhalb ihrer eigenen Herkunft und sozialen Stellung erkennen konnten. Kant war preußischer Philosophieprofessor. Hölderlin und Hegel waren als junge Studenten im Tübinger Stift hochnäsige Schnösel, zwei elitäre Schwaben. Sind sie deshalb imperiale Staatsdenker? Sind sie frauenfeindlich und kolonialistisch? Begrüßen sie den Sklavenhandel und die Eroberung fremder Länder? Mehr noch sind sie Rassedenker? Pecar und Tricoire legen das nahe. Sie schreiben: Zitat „Die Rassentheorie ist tatsächlich eine Erfindung der Aufklärungszeit.“ (S. 92) Autor Wenn Diderot in seiner “Geschichte beider Indien“ von 1780, die Hottentotten, die südafrikanischen Völker, als eine Art unaufgeklärtes `Vieh´ beschreibt, ist er kein „Rassist“, wie die Autoren behaupten, sondern ein hochnäsiger französischer Satiriker. Pecar und Tricoire wollen geradezu obsessiv die Aufklärung vom Sockel stoßen. Man solle sie gefälligst nicht mit Antirassismus und Abolitionismus verbinden, um sie für heutige Traditions- und Identitätsbildung heranzuziehen. Sie schreiben allen Ernstes: „Philosophen wie Hume, Voltaire und Kant hingen einem rassistischen Weltbild an“. Die Verfasser legen damit indirekt nahe, es gebe einen Weg von Königberg nach Buchenwald. 22 Die Abschaffung der Sklaverei ist Pecar zufolge auch kein Akt der Menschenliebe, sondern gehört in die Zeit der - Zitat „imperialen Expansion und der protestantischen Erweckungsbewegungen“. Es sei ein „Kampf für die Befreiung und das Wohl der Weißen“ gewesen. (S. 127) Sie plädieren auch in der Geschlechterfrage dafür, die Aufklärung weder „patriarchalisch noch egalitaristisch“ einzuschätzen. Man könne nicht durchweg sagen, die Aufklärung habe eine breite öffentliche Debatte über Geschlechterfragen angestoßen. Im Gegenteil. Diderot und Rousseau verweigerten den Frauen das Bürgerrecht. Pecar und Tricoire widersprechen der These, es handle sich bei den frühen Aufklärern um Feministen. Selbst ein radikaler Aufklärer wie Condorcet, der die intellektuelle Gleichheit der Geschlechter annahm, ging nicht soweit, den Frauen Bürgerrechte zuzugestehen. Zitat „Die Etablierung einer politischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert geht mit einer Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben einher.“ ( S. 154) Autor Viele der klassischen Texte der Aufklärungsliteratur seien für Leser von heute zu „Falschen Freunden“ geworden. Insbesondere die Historiker würden fragwürdige Traditionspflege und Kanonisierung betreiben, wenn sie die Widersprüche glätten und ungefragt Diderot und Voltaire zu Ahnherren der Moderne machten. Denn auch sie entwarfen eurozentristische Bilder mit privilegierten Philosophen als Königen des Denkens. Dies zu entmonumentalisieren ist Ziel der Autoren. Zitat „Unser Anliegen war es, die Aufklärung zugleich zu normalisieren und auf Distanz zu setzen - sie als Epoche wahrzunehmen, die wie jede andere auch durch spezifische politische und soziale Kämpfe und vielfach durch ältere Vorstellungen geprägt war - nicht als 23 ein Zeitalter, das unsere heutige Welt hervorgebracht hat.“ (S. 181) Moderatorin Soweit ein Zitat aus dem besprochenen Band von Andreas Pecar und Damien Tricoire. Der Titel heißt „Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?“, 231 Seiten sind bei Campus erschienen und kosten 24 Euro 90. Musik - Track 08 – Missing You Moderatorin Und das war Andruck, Ihr Magazin für Politische Literatur am Montagabend. Wie immer können Sie alle Beiträge oder die ganze Sendung auch im Netz noch einmal anhören, auf Deutschlandfunk.de. Nächste Woche besprechen wir in Andruck – rechtzeitig vor den Parlamentswahlen in der Schweiz eine Darstellung über die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Die Musik kam heute von Adam Baldych und dem Helge Lien Trio, „Bridges“ heißt die Platte und unsere Sendung geht zu Ende mit dem Titel „Missing You“. Am Mikrofon war Monika Dittrich, vielen Dank fürs Zuhören! Musik - Track 08 – Missing You
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