02 006003 190171 4 6 EURO DIE RÄTSEL DES GEORGES DE LA TOUR IM KERZENSCHEIN DIE WIENER, NEWTON, BOWIE UND KIPPENBERGER IM EXIL MÉRIDA, MEXIKO UND DIE WELT DES JAMES BROWN IM PARADIES MÄRZ 2016 EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 9 NICOLE EISENMAN A x e l Ve r v o or dt w w w. a x e l-v e r v o or dt .c om p a r t ic ip a nt at T E FA F, s t a nd 4 24 He i n z M a c k , Unt it le d , 1959 -19 6 0 , o i l o n c a n v a s , 10 6 x 75 c m AUFTAKT „Auch das ist das Spannende an der Kunstgeschichte: Der Weg in die Obskurität ist keine Einbahnstraße“ Als ich Mitte der Nullerjahre anfing über Kunst zu schreiben, traute ich dem Interesse des Publikums nicht. Und dem meiner Chefs noch weniger. Gerade erst hatte die Berichterstattung über zeitgenös-sische Kunst ihre Nische verlassen und Sonntagszeitungen, Nachrichtenmagazine und sogar Tagesthemen erreicht. Das größere Publikum, so dachte ich, würde nur dann am Ball bleiben, wenn es Preisrekorde oder Skandale zu vermelden gäbe, Blitzkarrieren oder unerhörte Dividenden versprechendes Sammlerglück. Jonathan Meeses Hitlergrüße gingen damals sehr gut wie auch patriotische Analysen des Malereistandortes Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Leipziger Schule. Dass man die Erfolge der Becher-Schüler plötzlich mit denen von Michael Schumacher in der Formel 1 vergleichen konnte (Diese weltmeisterliche Präzision! Das ganze Preisgeld!), machte es leicht, Chefredakteure davon zu überzeugen, Platz sogar für Fotokunst freizuräumen. Was gerade noch obskur schien, wurde nun als identitätsstiftend empfunden – Gerhard Richter, Andreas Gursky, Neo Rauch als die CEOs einer ganz neuen Deutschland-AG. Einen Banken-, einen Kunstmarkt-Crash und zehn, zwölf Jahre später hat sich mein Misstrauen nicht bestätigt. Es mag in der deutschen Kunstszene kein andauerndes Sommermärchen-Gefühl mehr geben, Berlin ist nun eben nicht mehr Welt-Kunsthauptstadt der Herzen, sondern musste den Titel, wie wir auf Seite 71 lernen, inzwischen an Los Angeles abgeben. Und doch ist ein starkes mediales Grundrauschen geblieben, sind Museen und Galerien nicht leerer, sondern voller geworden. „Dear Obscurity“ steht auf dem Brief, den unser Cover-Modell in den Händen hält. Die amerikanische Malerin Nicole Eisenman hat das Bild gemalt, und man fragt sich, ob 5 sie selbst es war, die dem gepanzerten Echsenmann geschrieben, und was sie ihm zu sagen hat. In dieser Ausgabe nehmen wir uns die Freiheit, uns Künstlern zu widmen, von denen die meisten Leser (und einige unserer Kollegen) wenig bis nichts gehört haben dürften. Der Weg in die Obskurität muss ja aufs große Ganze gesehen kein falscher sein. Wäre Georges de La Tour nicht nach seinem Tod 1652 vergessen worden, wir würden heute nicht mit demselben frischen Blick auf die Werke des Barockmalers schauen. Und – schlimmer noch – die Rätsel, die sie aufgeben, wären vielleicht längst gelöst. Hätte James Brown nicht nach seinen ersten großen Erfolgen an der Seite von Basquiat und Haring der offiziellen Kunstwelt weitestgehend den Rücken gekehrt, wir hätten niemals in die wunderbare Welt abtauchen können, die er in Mexiko zwischen Studio und Regenwald, Kleinstverlag und Teppichknüpferei geschaffen hat. Und Nicole Eisenman? Hätte sie es nicht ertragen, als offen lesbische, politische, figurativ arbeitende Malerin zwei Jahrzehnte am Rande der öffentlichen Wahrnehmung zu agieren, sie hätte ihr Werk wohl nicht so konsequent und kompromisslos entwickeln können. Ein Werk, das ab Mai nun dank einer Retrospektive im New Yorker New Museum auch einem großen Publikum bekannt werden wird. Auch das ist das Spannende an der Kunstgeschichte: Der Weg in die Obskurität ist keine Einbahnstraße. CORNELIUS TITTEL APÉRO EIN KUNSTMAGAZIN CONTRIBUTORS / IMPRESSUM 13 ESSAY Pornografisierung der Künste 16 NEUES, ALTES, BLAUES 18 DICHTER DRAN Jan Skudlarek 19 DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT Nr. 9 / März 2016 Nicole Eisenman From Success to Obscurity, 2004, Öl auf Leinwand, 130 × 102 cm 20 UM DIE ECKE „Michel legte an Peter O’Tooles letztem Abend einen Walzer für ihn auf“ Tel Aviv 28 BLITZSCHLAG Peter Saville — INGRID WIENER ÜBER DAS EXIL NICOLE EISENMAN LANGE WAR DIE MUTIGE MALEREI DER AMERIKANERIN EIN GEHEIMTIPP. JETZT IST IHRE ZEIT DA s. 30 ALEX DA CORTE EXIL IN KREUZBERG PERFEKT DESIGNTE PSYCHORÄUME AUS PHILADELHPIA BLAU DECKT NOCH EINMAL DEN STAMMTISCH IM EXIL, DER MUTTER ALLER KÜNSTLERLOKALE s. 42 s. 24 INHALT 6 Von oben im Uhrzeigersinn: NICOLE EISENMAN The Breakup, 2011, Öl und Mixed Media auf Tafel, 142 × 109 cm. ALEX DA CORTE A-Boxes (Detail), 2015. Tischrunde im Berliner Restaurant Exil mit Michael Krebber, Michel Würthle, Martin Kippenberger, Cosima von Bonin, Reinhard Nohal und Helmut Middendorf 10 EMILIO VEDOVA SALZBURG MÄRZ – MAI 2016 ROPAC.NET PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG „Der Forschungsstand nennt Geburtsdatum und Sterbejahr. Und doch kann man ganz gut aushalten, dass der Maler sein Lebensgeheimnis mit ins Grab genommen hat. Seine Bilder sind Geheimnis genug“ ENCORE 76 GRAND PRIX Die Kunstmarkt-Kolumne EIN KUNSTMAGAZIN 78 BLAU KALENDER Unsere Termine im März 82 DER AUGENBLICK Judith Joy Ross — HANS-JOACHIM MÜLLER ÜBER GEORGES DE LA TOUR WERTSACHEN Was uns gefällt s. 74 IT’S A BROWN’S WORLD DAS GANZ EIGENE UNIVERSUM DES KÜNSTLERS JAMES BROWN IN MÉRIDA, MEXIKO s. 56 LOS ANGELES MOMENTAUFNAHME EINER STADT IM KUNSTRAUSCH s. 71 GEORGES DE LA TOUR SPURENSUCHE IM KERZENSCHEIN: EIN BAROCKGENIE WIRD DEM VERGESSEN ENTRISSEN s. 64 INHALT 8 Von oben im Uhrzeigersinn: JAMES BROWN in seinem Studio in Mérida, Mexico, fotografiert von FRANÇOIS HALARD. Zwei Schweine aus Blei, spätes 20. Jh., am 2. März bei Sotheby’s in London. Außenansicht Karma International, Los Angeles. GEORGES DE LA TOUR Die Wahrsagerin, Öl auf Leinwand, 102 × 123 cm Nr. 9 / März 2016 77 BILDNACHWEISE Sienna Miller für #jungbleiben CONTRIBUTORS GALERIE HENZE & KETTERER Byung-Chul HAN »Brücke« Expressionismus Heckel Kirchner Mueller Nolde Pechstein Schmidt-Rottluff Art KARLSRUHE 18.2. - 21.2.2016 Es muss sechs Jahre her sein, das Büchlein Müdigkeitsgesellschaft war gerade erschienen – da tauchte Byung-Chul Hans Name plötzlich im Kunstbetrieb auf. Seine Art, Themen wie Totalüberreizung und Digitalästhetik in Klartext zu verwandeln, gab all denen etwas an die Hand, denen Martin Heidegger zu verstiegen war. Es sei denn, man hatte Hans Einführung über ihn gelesen. Heute sind seine Vorlesungen an der Universität der Künste Berlin ein legitimer Grund, Vernissagen abzusagen. Die Errettung des Schönen lautet sein jüngster Titel: eine Reflexion über das Glatte, und so auch über Jeff Koons. Für BLAU hat er über die Pornografisierung der Künste nachgedacht. (Seite 13) Swantje KARICH Als Swantje Karich Nicole Eisenman in ihrem Atelier in Brooklyn besucht, sitzen die beiden lange vor einem unvollendeten Bild: eine Partyszene, in der Karich verschlüsselte Anspielungen auf die deutsche Moderne zu erkennen glaubt. Und siehe da: Plötzlich spielt Eisenman mit offenen Karten, kramt Blätter mit eindeutigen Vorstudien hervor. Hier ein Kopf à la Beckmann, da eine Skizze, die Kandinsky paraphrasiert. Ein Glücksfall für die Kunsthistorikerin Karich. Und ein Glück für uns, dass die frühere Feuilletonredakteurin der FAZ heute stellvertretende Chefredakteurin von BLAU ist – und die Kunstberichterstattung der WELT-Gruppe leitet. (Seite 30) Andrew BERARDINI TEFAF Maastricht 11.3. - 20.3.2016 ART COLOGNE 14.4. - 17.04.2016 wichtrach/bern www.henze-ketterer.ch riehen/basel www.henze-ketterer-triebold.ch Der Autor lebt gemeinsam mit seiner Tochter in Los Angeles. Vor ein paar Wochen begeisterte er uns mit seinem Artikel über das neue Museum von Milliardär und Philanthrop Eli Broad. Da wollten wir mehr wissen über seine Stadt und den ausgerufenen L. A. Hype. Wenn er gerade nicht für Artforum oder ArtReview schreibt, organisiert er eine „metaphysische Disco“ in der Holy-Shroud-Kirche in Turin und schreibt mit Bruce Nauman Botschaften an den Himmel über Pasadena. Im Jahr 2013 wurde der 34-Jährige mit dem Creative Capital | Andy Warhol Foundation Arts Writers Grant ausgezeichnet. (Seite 71) IMPRESSUM Redaktion CHEFREDAKTEUR Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.) MANAGING EDITOR Helen Speitler STELLV. CHEFREDAKTEURIN Swantje Karich ART DIRECTION Mike Meiré Meiré und Meiré: Philipp Blombach, Marie Wocher TEXTCHEF Hans-Joachim Müller BILDREDAKTION Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg REDAKTION Gesine Borcherdt, Dr. Christiane Hoffmans (NRW) SCHLUSSREDAKTION Claudia Kühne, Max G. Okupski REDAKTIONSASSISTENZ Manuel Wischnewski Autoren dieser Ausgabe Andrew Berardini, Max Dax, Byung-Chul Han, Hanno Hauenstein, Ulf Poschardt, Marcus Woeller, Ulf Erdmann Ziegler Fotografen dieser Ausgabe Yves Borgwardt, Frank Carino, François Halard, Franziska Rieder, Heji Shin, Anna Yam Sitz der Redaktion BLAU Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin +49 30 3088188–400 redaktion@blau–magazin.de BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222 Nr. 9, März 2016 Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl. 7 % MwSt. Abonnement und Heftbestellung Jahresabonnement: 48,00 Euro Abonnenten-Service BLAU Postfach 10 03 31 20002 Hamburg +49 40 46860 5237 [email protected] Verlag GESCHÄFTSFÜHRER Jan Bayer, Petra Kalb Sales ANZEIGENLEITUNG Eva Dahlke, (V. i. S. d. P. ), [email protected] HERSTELLUNG Olaf Hopf DIGITALE VORSTUFE Image- und AdMediapool DRUCK Firmengruppe APPL, appl druck GmbH Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 01.01.2016. Copyright 2016, Axel Springer Mediahouse GmbH Galerie Max Hetzler Berlin | Paris Jeff Elrod Eröffnung: Samstag, 12. März, 18 – 20 Uhr Bleibtreustraße 45 10623 Berlin 12. März – 16. April 2016 Albert Oehlen Works on Paper Eröffnung: Samstag, 12. März, 18 – 20 Uhr Goethestraße 2/3 10623 Berlin 12. März – 16. April 2016 Darren Almond Eröffnung: Samstag, 19. März, 18 – 20 Uhr 57, rue du Temple 75004 Paris 19. März – 16. April 2016 maxhetzler.com GERHARD RICHTER 6. FEBRUAR — 29. MAI 2016 BIRKENAU ESSAY IN YOUR FACE JEFF KOONS Antiquity 3, 2009–2011 Die Pornografisierung der Künste oder Vom Zwang, ohne Verführung zur Sache zu kommen. Von Byung-Chul Han A uf die Frage, warum er sich vom Theater endgültig verabschiedet habe, antwortet Botho Strauß: „Auf der Bühne habe ich ein Erotiker sein wollen, heute jedoch dominieren am Theater – ästhetisch oder buchstäblich – die Pornografen. Ich interessiere mich für erotische Verknüpfungen und Wechselfälle, aber heute wird nicht mehr verknüpft und gewechselt.“ In einem Gespräch verweist auch Thomas Ostermeier auf diesen Wandel der Theaterästhetik. Die ästhetische Grundvereinbarung der heutigen Regietheaterkunst sei „Rampe-vorne-Blick-insPublikum-und-brüllen“, ein facial also, ins Publikum ejakulieren. Affekte werden produziert und ins Publikum ergossen. Diesem Porno- und Affekttheater fehlt der fragende und antwortende Blick zum Anderen. Es wird nicht mehr verknüpft und gewechselt. Für erotische Verknüpfungen und Wechselfälle brauche ich den Anderen. Wir erfahren heute die Welt immer mehr vom Ego und immer weniger vom Anderen her. Dem pornografischen Theater fehlt das Dialogische. Es ist, so Strauß, ein „privatpsychopathisches Unternehmen“. Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen, ja zum Zuhören und Antworten schwindet heute auf allen Ebenen. Der Dialog ist keine Inszenierung gegenseitiger Entblößungen. Weder Geständnisse noch Offenbarungen sind erotisch. Affekte sind im Gegensatz zu Gefühlen nicht dialogisch strukturiert. Ihnen fehlt die Dimension des Anderen. Daher gibt es weder Mitemotion noch Mitaffekt. Gefühle sind grundsätzlich Mitgefühle. Der Erotiker unterscheidet sich vom Pornografen durch seine Indirektheit und Umwegigkeit. Er liebt szenische Distanzen. Er begnügt sich mit Andeutungen, statt die Sache direkt zur Schau zu stellen. Der erotische Schauspieler ist kein pornografischer Schausteller. Die Erotik ist allusiv und nicht affektiv. Geradeheraus ist dagegen der Zeitmodus des Pornografischen. Es bezeichnet die Flugbahn des Ejakulats. Verlangsamung und Ablenkung sind zeitliche Modi des Erotischen. Das Deiktische, das direkte Zeigen auf die Sache, ist pornografisch. Die Pornografie meidet Umwege. APÉRO 13 Semiotisch ausgedrückt: Das Erotische entspringt dem Überschuss von Signifikanten (Zeichen), die zirkulieren, ohne sich im Signifikat (Bedeutung) zu erschöpfen. Dieser Überschuss macht Geheimnis und Verführung aus. Das Geheimnis ist kein verdecktes Signifikat. Ein Mehr, das sich der Bedeutung entzieht, macht es aus. Die Pornografisierung beschränkt sich heute nicht aufs Theater. Die Bildwirkung des Pornos weitet sich auf andere Bereiche aus. Sie erfasst die Wahrnehmung selbst und macht sie pornografisch. Wir ertragen heute nicht mehr das Langsame, das Lange, das Leise. Wir haben keine Geduld mehr für eine lange und langsame Narration, die sich in endlosen Verknüpfungen und Wechselfällen ergeht. Es herrscht ein pornografischer Zwang, ohne Verführung und Erotik schnell zur Sache zu kommen. Das Seduktive weicht dem Affektiven. Andeutungen werden vermieden zugunsten direkter Ansteckungen. Im digitalen Werkzeug zur Bearbeitung von Tonspuren gibt es die Einstellung in your face. Sie sorgt für einen unmittelbaren, stärkeren Klangeindruck. Die Klänge ergießen sich direkt ins Gesicht, wieder facial. Das Gesicht wird gleichsam mit lauten Klängen ertränkt. Auch die neuerliche Inszenierung der Aida durch Benedikt von Peter an der Deutschen Oper Berlin zeugt von der Pornografisierung der Musik. Aida beginnt eigentlich mit einem doppelten Pianissimo. Die ersten Geigen spielen con sordino, ‚mit Dämpfer‘. Wenn die ebenfalls con sordino spielenden zweiten Geigen sich hinzugesellen, wird aus dem zweifachen Pianissimo ein dreifaches: ppp. Benedikt von Peters Neuinszenierung der Aida erkläre, so die Musikkritikerin Christine Lemke-Matwey, das Leise, das Intime zum Problem. Hier sei alles laut, brutal viel zu laut. Die Pianissimi träten als Mezzoforti auf. Beim Triumphmarsch im zweiten Akt platze einem schier das Trommelfell. Ein anderer Rezensent schreibt: „So laut, dass die Löcher aus dem Käse fliegen.“ Die übersteuerten Töne ergießen sich ins Gesicht, wieder facial. In der Pornografie gibt es nichts zu entziffern. Jeff Koons sagte einmal, der Betrachter seiner Werke möge nur ein simples „Wow“ ausstoßen. Angesichts seiner Kunst sei kein Urteil, keine Hermeneutik, keine Reflexion notwendig. Sie ist jeder Tiefe, jeder Untiefe entleert und bietet sich dem Konsum an. Angesichts von Koons’ glatten Skulpturen entstehe, so beschreibt es Hans-Joachim Müller, ein „haptischer Zwang“, sie zu betasten, sogar die Lust, daran zu lutschen. „Wow“ würde auch eine Pornodarstellerin ausstoßen angesichts des entblößten überdimensionierten Phallus, bevor sie zum Lutschen ansetzt. eff Koons’ Kunst fehlt die Transzendenz, die Distanz gebietet. Allein die konsumierbare Immanenz des Glatten löst den haptischen Zwang aus. Sie lädt den Betrachter zum touch ein. Der Tastsinn ist am stärksten entmystifizierend, im Gegensatz zum Gesichtssinn, der der magischste unter den Sinnen ist. Der Gesichtssinn wahrt Distanz, während der Tastsinn sie abschafft. Ohne Distanz ist keine Mystik, keine Verführung möglich. Die Entmystifizierung macht alles genießund konsumierbar. Der Tastsinn zerstört die Negativität des ganz Anderen. Er säkularisiert das, was er berührt. Im Gegensatz zum Gesichtssinn ist er unfähig zum Staunen. Daher ist auch der glatte Touchscreen ein Ort der Entmystifizierung und des totalen Konsums. Er entblößt, entmystifiziert das Berührte. So gesehen ist er ein pornografischer Apparat. Heute herrscht überall die Distanzlosigkeit wie im Porno, in dem endlos betastet und geleckt wird. In der heutigen Filmästhetik wird das Gesicht häufig im Close-up dargestellt. Der Körper, die Körpersprache, ja die Sprache wird zum Verschwinden gebracht. Pornografisch ist diese Entsprachlichung des Körpers. Die im Close-up aufgenommenen, fragmentarisierten Körperteile wirken wie Geschlechtsteile. Die Großaufnahme eines Gesichts wirkt genauso obszön wie die pornografische Nahaufnahme eines Geschlechtsteils. Schön ist der Gegenstand in seiner Hülle, in seiner Verhüllung, in seinem Versteck. So fordert Walter Benjamin auch von der Kunstkritik eine Hermeneutik der Verhüllung. Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen J zu gelangen. Die Schönheit teilt sich weder unmittelbarer Einfühlung noch naiver Beobachtung mit. Beide Vorgehensweisen versuchen, die Hülle zu heben oder durch die Hülle hindurchzuschauen. Zur Anschauung des Schönen als Geheimnis gelangt man nur durch die Erkenntnis der Hülle als solcher. Man muss sich vor allem der Hülle zuwenden, um das Verhüllte zu erkennen. Die Hülle ist wesentlicher als der verhüllte Gegenstand. einen Augenblick ihrem einzigen Geliebten enthüllt, der selbst im Verborgenen bleibt. Die Lektüre wird zu einem erotischen Abenteuer. Die erotische Lust am Text unterscheidet sich, so Roland Barthes, von der „Lust des körperlichen Striptease“, die einer fortschreitenden Enthüllung entspringt. Pornografisch ist auch ein eingängiger Roman, der auf eine endgültige Enthüllung, auf eine finale Wahrheit zustrebt. Die Verführung des Erotischen kommt ohne Wahrheit aus. Sie arbeitet mit dem Schein. Die Großaufnahme Die Pornografie als hüllen- und geheimnislose Nacktheit ist die Gegenfigur eines Gesichts des Schönen. Ihr idealer Ort ist das Schauwirkt genauso obszön wie fenster, in dem, angestrahlt, nur ein einziges Schmuckstück gezeigt wird. Sie geht volldie pornografische kommen in der Zurschaustellung einer Nahaufnahme eines einzigen Sache auf, nämlich des Geschlechtes. Es gibt kein zweites, unpassendes Motiv, Geschlechtsteils das halb verdecken, verzögern oder ablenken würde. Verdecken, Verzögern und Goethes Dichtung sei, so Walter Benjamin, Ablenken sind raumzeitliche Strategien des dem „Innenraum im verschleierten Schönen. Das Kalkül des Halbverdeckten Lichte“ zugewandt, das „in bunten Scheiben erzeugt einen verführerischen Glanz. Das sich bricht“. Die Hülle bewegte Goethe Schöne zögert mit dem Erscheinen. Die immer wieder, „wo er um Einsicht in die Ablenkung schützt es vor direktem Kontakt. Schönheit rang“. So zitiert Benjamin Sie ist wesentlich für das Erotische. Die Goethes Faust: „Halte fest, was dir von allem Pornografie ist ohne jede Ablenkung. Sie übrig blieb. / Das Kleid, laß es nicht los. geht direkt zur Sache. Die Ablenkung Da zupfen schon / Dämonen an den Zipfeln, verwandelt die Pornografie in eine erotimöchten gern / Zur Unterwelt es reißen. sche Fotografie. So schreibt Roland Barthes: Halte fest! / Die Göttin ist’s nicht mehr, die „Eine Gegenprobe: Mapplethorpe läßt du verlorst / Doch göttlich ist’s.“ Göttlich seine Großaufnahmen von Genitalien vom ist das Kleid. Die Verhüllung ist wesentlich Pornographischen ins Erotische übergefür die Schönheit. So lässt sich die Schönhen, indem er den Stoff der Unterhose aus heit nicht entkleiden oder enthüllen. Die nächster Nähe photographiert: das Photo Unenthüllbarkeit ist ihr Wesen. ist nicht mehr einförmig, da ich mich für Die Verhüllung erotisiert auch den die Struktur des Stoffes interessiere.“ Text. Gott verdunkle, so Augustinus, die Anders als das pornografische lenkt Heilige Schrift absichtlich mit Metaphern, das erotische Bild den Blick eigens von der mit dem „figürlichen Mantel“, um sie zu Sache ab. Es macht die Nebensache zur einem Objekt des Begehrens zu machen. Sache oder ordnet diese jener unter. Auch Das schöne Kleid aus Metaphern erotisiert das Schöne findet neben der Sache, im die Schrift. Das Kleid ist also wesentlich Nebensächlichen statt. Es gibt keine schöne für das Schöne. Die Technik der Verhüllung Sache, keine schöne Wahrheit. „Zur Sache macht die Hermeneutik zu einer Erotik. selbst“ ist keine Devise der Kunst. Sie maximiert die Lust am Text und macht die Lektüre zu einem Liebesakt. Auch die Thora bedient sich der Technik der Verhüllung. Sie wird wie eine Geliebte dargestellt, die sich in einer verborgenen Kammer in ihrem Palast verbirgt und ihr Antlitz nur für APÉRO 14 Kazuo Shiraga, KINKO, Bunt wie Herbstblätter. 1991. Öl auf Leinwand. 97 × 130,5 cm. Unten links in japanischer Schrift signiert. Rückseitig signiert, datiert und betitelt. Schätzpreis EUR 500.000–700.000 Frühjahrsauktionen in Berlin 1. bis 4. Juni 2016 Wir freuen uns auf Ihre Einlieferungen! +49 30 885915 0 Fasanenstraße 25, 10719 Berlin grisebach.com APÉRO NEUES, ALTES, BLAUES Das japanische Duo YODOGAWA TECHNIQUE errichtete Black Porgy in Uno als Dauerinstallation aus Meeresmüll für die Setouchi Triennale ART-HOPPING IM SETO-SEE W en man fragt, niemand war da. Aber alle wollen hin. Muss ein Traum sein, die Landschaft um den Seto-Inlandsee, der Japans Süden in bizarre Blöcke teilt. Ein Binnenmeer voller Inseln, die im Nebel, wenn er morgens über dem Licht, Raum und Beton: Mehr braucht Robert Irwin nicht für seine Installation in der Chinati Foundation in Marfa Wasser aufsteigt, wie Walfischbuckel aussehen. Die Gegend wurde schon in den 30er-Jahren zum Nationalpark erklärt und blieb so vor zivilisatorischen Eingriffen bewahrt, zugänglich nur anchmal muss man für die größte Anläufen ist es nun soweit: Einen C-förmigen für Künstler und Architekten und ihre internationale Gefolgschaft. Denn Lebensaufgabe 87 Jahre alt werden. Betonbau ohne elektrische Beleuchtung Robert Irwin, neben James Turrell soll allein das Sonnenlicht in Szene setzen. natürlich hat es nicht ausbleiben können, dass die Gegend irgendwann als zentrale Figur des Light and Space MoveIm Innern werden Wände mit transluzenter ideale Bühne für den edlen Wettkampf ment aus dem Kalifornien der 70er-Jahre, Baumwolle eingezogen, sodass man sich zwischen Kunst und Landschaft enthat seine Außenprojekte verliert wie in einem flämideckt wurde. Die Anfänge reichen in die bisher immer nur geplant: schen Landschaftsgemälde. frühen 90er-Jahre zurück, als der etwa für ein Viadukt Fünf Millionen Dollar Verleger Tetsuhiko Fukutake begann, in Los Angeles oder den kostet das Projekt. Möglich, in der Küstenstadt Naoshima AusstelFlughafen in Miami. dass sich Irwin jetzt an lungen zeitgenössischer Kunst zu Trotz Zusage wurde keiner solche Realitäten gewöhnen veranstalten. Der Erfolg hat die Setouseiner raumgreifenden muss: Das Hirshhorn Wahrnehmungsverstärker Museum in Washington und chi Triennale entstehen lassen, die inzwischen auf zwölf Inseln Künstler und aus Glas, Lampen und das Instituto Inhotim in Pflanzen je ausgeführt. Sein Brasilien wollen nun Arbeiten vor allem Architekten site specific projects realisieren lässt. Im März ist Freund Donald Judd lud für ihre Skulpturengärten. es wieder so weit. Mit dem Ausflugsboot ihn ein, eine Arbeit für Marfa, Ob es dazu kommt? Irwin von Kunstinsel zu Kunstinsel, wo Texas – das Wüstenmekka dürfte skeptisch bleiben. Tobias Rehberger, Pipilotti Rist, Chiharu der Minimal Art – zu „Tief in ihrem Herzen“, Shiota, Christian Boltanski und entwerfen, doch dann starb erklärte er einmal, „wünviele mehr ihr Bestes geben. MÜ Judd 1994. Die Idee lebte schen sich die meisten Leute Sonnenflecken als scharfkantige setouchi-artfest.jp/en weiter. Nach mehreren einen Henry Moore.“ GB Skulptur: Donald Judd hätte M ALLES IST ERLEUCHTET das gefallen APÉRO 16 ALLES PSTE Als im letzten Jahr die Satellitenbilder vom Weltkulturerbe in Palmyra nur noch Trümmerwüsten zeigten, da wirkte der Vorschlag seltsam tröstlich, man könne die Denkmäler anhand von 3-D-Scans wiederauferstehen lassen. Und man staunte auch, wie weit die Technologie inzwischen gediehen ist. Ein von Studenten der Nationalen Kunstakademie Bulgariens gegründetes Start-up hat sich nun auf den Weg gemacht, historische Kunstwerke der griechischen Antike als digitale 3-D-Dateien anzubieten: Skulpturen, Büsten und andere Relikte zum Herunterladen. Wer sich den Weg zum 3-D-Drucker sparen will, kann die Datei auch gleich zum Druck freigeben. Ein paar Klicks nur – und knappe 285 Euro später – und man ist im Besitz etwa einer exakten Replika eines Kopfes der Göttin Hygieia. Genauigkeit ist hier freilich eine Sache der Auslegung: Der geneigte Käufer darf als Druckmaterial zwischen Harz, Metall und Plastik wählen, und auch verschiedene Farben befinden sich im Repertoire. Ob dies der zarte Anfang kleiner, bunter Heimmuseen ist, bleibt offen. Einen gewissen Reiz kann man den 3-D-Kopien sicherlich nicht absprechen. Das Erlebnis großer Kunstwerke wird ein anderes werden, wenn wir jedes kleinste Detail einer uns vertrauten Skulptur nicht mehr nur betrachten, sondern endlich auch berühren können. Trotzdem kann man nur hoffen, dass Palmyra nicht als bunte Plastikstaffage wiederaufersteht. MW threeding.com U IER E N H Die Badische Landesbibliothek Karlsruhe ist jetzt Besitzerin eines Handys aus dem Mittelalter. Im 16. Jahrhundert trugen die Menschen keine Telefone bei sich, sondern Bücher. Damit sie auch ja nicht verloren gingen, gab es: Beutelbücher. Man hängte sie sich an den Neuerdings kann man sich Antiquitäten aus dem 3-D-Drucker ziehen Prima Palazzo W eil die Staatskasse kein Geld ausgibt und bisher im ganzen Land kein einziges öffentliches Museum für Gegenwartskunst auf die Beine gestellt hat, behilft man sich in Italien mit privaten Stiftungen. Vor allem in Mailand. Die größten sitzen abseits vom Zentrum auf schick renovierten Industriearealen. Die Fondazione Carriero hat dagegen kürzlich mitten im historischen Zentrum eröffnet, keine zehn Aus Alt wird Neu: die Fondazione Carriero im historischen Zentrum von Mailand Gehminuten vom Dom. Ihr Sitz ist die Casa Parravicini, ein Palazzo aus dem 15. Jahrhundert, der früher Privatresidenz war und später eine Bank. In sieben Sälen auf insgesamt 500 Quadratmetern will ihr 83-jähriger Gründer Giorgio Carriero, Kunstsammler und Geschäftsmann mit familiären Wurzeln im Ölbusiness, keineswegs seine eigene Privatsammlung präsentieren, sondern Gruppenausstellungen. Im Moment ist Francesco Stocchi vom Museum Boijmans Van Beuningen aus Rotterdam kuratorisch im Einsatz. Zum Auftakt zeigte er Gianni Colombo, Davide Balula und Giorgio Griffa. Vom 6. April bis 9. Juli sind Lucio Fontana und Leoncillo Leonardi zu sehen. GB fondazionecarriero.org APÉRO 17 Das Beutelbuch der Katharina Roeder ist jetzt in der Badischen Landesbibliothek zu sehen Gürtel. Weltweit sind nur noch 23 Exemplare bekannt. Im Jahr 1540 hat die Benediktinerin Katharina Roeder im nordbadischen Kloster Frauenalb ein solches Beutelbuch im Miniaturformat für ihre Gebete ausgemalt. Sie schmückte das Buch mit Federzeichnungen und Randbordüren, ein Pergamentblatt zeigt eine Mondsichelmadonna. Der Text selbst ist noch unerforscht, erzählt aber vom Klosterleben im späten Mittelalter. Berühmt unter Kennern ist auch das Beutelbuch der Margarethe von Münsterberg, Fürstin von Anhalt, aus der Zeit um 1500. Es wird in Dessau in der Anhaltischen Landesbücherei aufbewahrt. Kleriker trugen die Beutelbücher auch gern oben am Band – wie wir unsere Handtaschen. SWKA DICHTER DRAN WIE EIN SCHLAFEN DES TIER Jan SKUDLAREK Wie wir uns entschwistern. Dein Arm hängt vom Sofa wie ein schlafendes Tier. Früher waren wir Codewörter, Körper-Übersetzer. Hände als Zielsprachen; Was für Energien werden frei, wenn die Sprachkunst auf die Bildkunst trifft? Für BLAU hören Lyriker auf den Klang der Kunst. Jan Skudlarek, Jahrgang 1986, sieht auf Finger, die sich sinnlos vertiefen. Finger, die sich sinnlos vertiefen. Inspiriert von Ich möchte Dich verlassen, Cecily Brown Und der Himmel so schiefergrau. Ringsum narkotisiert sich die Landschaft. Siehst Du nicht: Jeder Tag ist sein eigener Winter. wie man einen Raum verlässt CECILY BROWN Merry Widdow, 1998, Öl auf Leinwand, 193 × 249 cm APÉRO 18 O-TON DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT RUBENSARSCH AUS STAHL Alles nur geklaut: Thomas Demand kuratiert für die Fondazione Prada „Die Ausstellung L’image volée kreist um das Stehlen von Bildern – mehr oder weniger kriminell. Wir zeigen den leeren Rahmen von Dr. Gachet aus dem Städelmuseum – van Goghs Bild wurde von den Nazis beschlagnahmt. Oder die Poster von Lucian Freud, auf denen er 300.000 DM Belohnung bietet für den, der ihm sein geklautes Porträt von Francis Bacon wiederbringt. Doch auch Künstler klauen Bilder: Cy Twombly malte für seinen Lebensgefährten einen Picasso. Pierre Huyghe kaufte sich einen Modigliani vom legendären Fälscher Elmyr de Hory. Eigentlich stiehlt man schon, indem man ein Foto macht: Wenn Sophie Calle als Zimmermädchen das Gepäck der Hotelgäste fotografiert, ist das illegal, aber auch Kunst. Auch Oliver Laric bekommt Ärger, weil er im Museum Skulpturen per 3-D-Scanner dupliziert. Und wir zeigen DDRSpionageapparate. Mir geht es um die kreativen Möglichkeiten der Wiederverwendung von Bildern – wir stehen ja alle auf anderer Leute Schultern.“ Laut und gemütlich: Das Käfer-Cabrio Käfer-Cab war beides, Brot- und Butter-Auto und u Stili Stilikone der besseren besse Gesellschaft Ge VOLKSWAGEN 1303 CABRIOLET K ommen wir nun zu etwas komplett Sympathischem. Wer genug hat von einer Umwelt, die mürrisch und desorientiert auf einen reagiert, der sollte sich einen VW Käfer kaufen. Keinen Beetle, diese postmoderne Historismuskiste. Das Kindchenschema jenes deutschen Urautos mit dem eigentlich fatalen Nazistammbaum wirkt entwaffnend. Seit 30 Jahren gibt es den Käfer nicht mehr offiziell in Deutschland zu kaufen und mit jedem Jahr ohne ist die Verklärungskurve exponentiell nach oben gestiegen. Die Rührungsklimax erzeugt das Käfer-Cabrio. Selbst, wenn der Motor an der Ampel versehentlich abgewürgt wird, oder die Karre mal wieder spinnt. Auferstanden aus den Ruinen des Nachkriegsdeutschlands war das Oben-ohne-Modell des KdF-Wagens ein erster Anflug JOHN BALDESSARI Ausstellungsplakat L’image volée, 2016 des Hedonismus nach den Jahren der Scham. Das Wirtschaftswunder sollte ein wenig Leichtigkeit zurückbringen in das Land der Täter und Mitläufer. Das von Karmann gebaute Cabrio wurde 1949 vorgestellt: im Geburtsjahr der Bundesrepublik. Zehn Jahre später ist in Heinz Erhardts Klamauk Natürlich die Autofahrer ein Käfer-Cabrio Dingsymbol einer gesamtgesellschaftlichen Wende zum Guten und Besseren. Die Männer sind nicht mehr zäh wie Leder und flink wie Windhunde, sondern drollige Kauze, die nur einen schönen Sonntag mit der Familie haben wollen. Das Käfer-Cabrio war beides: Brot- und Butter-Auto und Stilikone der besseren Gesellschaft. Im Zuge der Hippisierung Deutschlands wurde das offene Käfer-Modell zum Konsens von linken Studenten und emanzipierten Ärztegattinnen. Spätestens Ende der 70er-Jahre haben die Popper das Cabrio als Statussymbol entdeckt. Einer der prominentesten Vertreter dieser Generation von APÉRO 19 Käfer-Freunden war Guido Westerwelle, der als neoliberaler Charismatiker und Jurist im Rheinland quasi selbstverständlich beim Käfer-Cabrio landete, zumindest als er die damalige Oppositionsführerin (und Koalitionspartnerin in spe) Angela Merkel 2001 zu einer Spritztour einlud. Es ist ein lautes, gemütliches Auto. Als Oldtimer versprüht es dank des vielen Chroms (Leisten, Spiegel, Türgriffe, Fensterrahmen, Scheinwerferringe) ähnlichen NostalgieCharme wie die Altstadt von Rothenburg ob der Tauber. Doch auch hippe, urbane Eliten lieben den runden „Rubensarsch aus Stahl“. Die Nachteile sind bekannt: miese Heizung, indiskutable Scheinwerfer, grotesker Benzinverbrauch. Aber, hey, in Zeiten perfektoider Neu(klein)wagen-Ödnis sind Käfer-Cabrios Erinnerungen an eine Zeit, als Dinge noch Identitäten jenseits des Funktionalen hatten. Unbezahlbar eigentlich. ULF POSCHARDT UM D DIE IE E ECKE E IBN-GABIROL TEL AVIV Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie vor. In Tel Aviv spazieren wir mit Hanno Hauenstein über die Ibn-Gabirol-Straße im arrivierten Nordteil der Stadt. Dort spüren wir magischem Essen, alternativen Geheimspots und der israelischen Urgeschichte hinterher M ein Tel Aviv hat eine unsichtbare Grenze, wie eine grüne Linie, unmerklich, aber prägend. Sie anzuerkennen hebt mich von Leuten meines Alters und Geschmacks nicht gerade ab. Die Grenze verläuft zwischen Jaffa, Florentin, dem südlichen Zentrum und dem Norden. Ich habe in Florentin gewohnt, dem Kreuzberg von Tel Aviv, in der Shenkin-Straße, die Berlin-Mitte ähnelt, und am Carmel-Markt, einer Gegend, die sich mit Berlin nicht gut vergleichen lässt. Das Meer legt sich als feiner Salzfilm auf die Lippen, vom jemeniti- schen Viertel riecht ht es nach Saft Saf at und Koriander, in Hinterhofküesten Kibbeh chen werden die besten b d warten KatK der Welt gekocht, abends zen, dass es Reste vom Markt spült, und im Sommer zwängen sich Kakerlaken aus dem Duschabfluss. All das ist mir lieber als der Norden. Z’foni (Nordling) nennt man den Typ Mensch, den man da vermutet, oder sachi (Langweiler). Die Ibn-Gabirol-Straße, die vom Habima-Theater über den Rabin-Platz bis ans nördliche Ende der Stadt führt, verbinAPÉRO 20 ddet mein i T i mit i ddem dder N d Tell A Aviv Nordlinge und Langweiler. Es ist eine anachronistische Straße. Eine der letzten in Tel Aviv, wo altes Handwerk und Familienbetriebe noch einen Platz haben, vom Ledermacher bis zum Steckdosenladen. Gleichzeitig wirkt der Versuch mancher Läden hier, das Israelbild der 50er-Jahre ins Heute zu retten, etwa durch Gemälde Ben Gurions oder Golda Meirs, mühsam konstruiert. EIN STÜCK GESCHICHTE NACH DER ERMORDUNG DES EHEMALIGEN ISRAELISCHEN PREMIERS 1995 WURDE ER UMBENANNT: DER RABIN-PLATZ, FRÜHER „PLATZ DER KÖNIGE“. EIN ZACKENFÖRMIGES MAHNMAL (LINKS) GEDENKT HIER AUCH DER SHOAH. DER MODEIMBISS MIZNON (RECHTS OBEN) BELEBT DIE GEGEND SEIT MEHREREN JAHREN NEU – MIT LAUTER MUSIK UND FRISCHEN ZUTATEN IN PITAS Früher kam ich kaum hierher. Das änderte sich im Juli 2011. Am RothschildBoulevard zogen Freunde in Zelte, um gegen die Verteuerung des Lebens in Israel zu protestieren. Einmal pro Woche Demos, das war Standard. Die Routen führten fast immer die Ibn-Gabirol-Straße hoch und endeten am Rabin-Platz. Der Schweiß und das Endorphin gingen eine symbiotische Verbindung ein mit dem Licht und mit der Lautstärke dieser Tage. Leute schrien sich an, gestikulierten leichtathletisch in alle Richtungen, wollten wissen, was es heißt, links zu sein in diesem Land, oder zumindest nicht rechts. Wenn ich die Ibn-Gabirol-Straße heute ablaufe, ist es die Erinnerung an das Selbstbewusstsein dieser Tage, die Vision, Dinge schaffen zu können, die inzwischen längst als naiver Unfug gelten, die in mir hochsteigt. Zumindest die Straße hat sich verändert. Das Miznon, ein Imbiss an der Ecke zur Dizengoff-Straße, öffnete zeitgleich mit den Protes- ten vor knapp fünf Jahren. Der Begründer, der Starkoch Eyal Shani, unterstützte die Protestler mit kostenlosen Pitakreationen in der Zeltstadt. Die Streetfood-Variante einer Pita im Miznon kostet heute knapp zehn Euro. Voll ist es immer. Worin das Geheimnis dieses Essens liegt, ist so leicht nicht zu sagen. Eyal Shani, das heißt: alles Augenmerk auf die Rohheit der Substanz. Aufs Einfache und Improvisierte. Shanis Essen ist wie ein Spiegel israelischer Kultur, es schmeckt, als wollte er sagen: Seht her, so einfach geht Küche, so einfach ein Staat, so einfach das Leben. Im Miznon kommt alles mit kräftigbraunem Backpapier unterlegt, im Hintergrund läuft viel zu laute Musik, an die zehn Mitarbeiter tänzeln in einem übernatürlichen System an der Küchentheke herum, tauschen Arbeitsschritte, kreischen Kundennamen Richtung Straße. Und es scheint tatAPÉRO 21 sächlich, als hätten sie Spaß bei alldem. Ab und zu gibt’s einen Schnaps umsonst hinterher. Das Sortiment ist simpel: Pita, Meersalz, Zitrone. Qualitätsfleisch, Tahini und brennender Salbei. Und natürlich der berüchtigte, über mehrere Stunden konfierte und in Butter aufgebackene Eyal-Shani-Blumenkohl, am Stück serviert. Es ist ein Erfolgsmodell. Dem Laden auf der Ibn-Gabirol folgten zwei weitere in Tel Aviv, einer in Paris und einer in Wien. Ein paar Blocks weiter oben, in einem unscheinbaren Hinterhof hinter dem RabinPlatz liegt das Gabirol, eine außergewöhnliche Kultureinrichtung. In 35 Räumen arbeiten Künstler, Tänzer, Schriftsteller und Designer zwischen Studios, einer Probebühne und Ausstellungsräumen. Ich soll Ronny Carny treffen, finde aber den Eingang nicht. Das Gebäude ist blockig, die Fassade mit kunstvollen Graffitis überzogen. Eines zeigt zwei Katzen, die eine fett und weiß, darunter steht „Katze aus dem Norden“, die andere ein struppig-schwarzes Etwas, „Katze aus dem Süden“. So oder so ähnlich scheint das Gabirol die schwarzen Katzen der White City zu versammeln, Nachtgeschöpfe, Individualisten, die Südlingsboheme eben. Ronny führt mich übers Telefon zur richtigen Tür. Im ersten Stock strahlt kaltes Neonlicht diesem sonnigen Januartag entgegen. Die Jalousien sind heruntergelassen, ihr Studio hat mehr den Anschein eines Büros – als eines Kunstraums. Neben dem Schreibtisch stapeln sich Klebfolie und buntes Papier. Ronny ist ein gütiger Mensch. Ihr Blick ist wie verzögert, forschend, sie lässt einen kaum aus den Augen, bis zu der pein- DIE GEHEIMNISSE DES NORDENS RONNY CARNY (LINKS OBEN) ARBEITET IN DEN STUDIOS DES GABIROL, EINEM TEMPORÄREN KULTURKOMPLEX IN EINEM HINTERHOF AN DER IBN-GABIROL-STRASSE AN IMMATERIELLER KUNST. UNTEN GIBT ES GALERIERÄUME UND EINEN SZENECLUB IM KELLER. ZUSAMMEN MIT SEINEM ZWILLINGSBRUDER ALON-LEE FÜHRT ELLIE GREEN (RECHTS OBEN) DAS ANTIQUARIAT HA’ACHIM GREEN lichen Millisekunde, wenn Schweigen und Blicke sich überschneiden. Überhaupt scheint das Gespräch unserer Gesichter auf seltsame Weise anspruchsvoller als das unserer Stimmen. Bilder als Ausdrucksmittel interessierten sie nicht so sehr, sagt Ronny. Es gehe ihr ums Abwesende, um Geister, Unsichtbares. Berührungspunkte zwischen der Kunstwelt und der Gegend hier sieht sie nicht. „Die Straßen sind sauberer. Man ist anonymer. Mich entspannt das.“ Nach ein, zwei Gläsern Tee gibt sie mir eine ausgiebige Führung durch den Komplex. Das Gabirol ist temporär. Man weiß nicht genau, ob das, was hier passiert, gerade angefangen hat oder morgen schon wieder vorbei ist. Ich folge Ronny in einen rot beleuchteten Fahrstuhl nach unten und von dort aus über einen Treppenaufgang ins Studio 1, den größten Raum. Die Decke ist ein in Quadrate geteiltes Stahlgerüst, von dem Putz- und Metallreste nach unten herabhänAPÉRO 22 gen. Durch die Mitte des Raums ziehen sich bewegliche Holzleisten wie übergroße Schuppen. Links ist ein kleines Büro, aus dem Eyal Vexler tritt, ein Mann von hagerer Gestalt und festem Stand, der mich freundlich umarmt. Eyal ist der Manager des Gabirol. Früher war das Gebäude die Hauptzentrale der Telefonfirma Bezeq, erklärt er. Nach deren Auszug handelte er einen Deal zur Zwischennutzung zwischen der Stadtverwaltung und einer Immobilienfirma aus. Heute residieren hier fast umsonst knapp 100 Kulturschaffende. „Etwas wie das Gabirol gab es in Tel Aviv so nie zuvor“, wirft Ronny ein. Doch seit der Eröffnung im Sommer 2014 rechnet man jeden zweiten Monat mit der Demolierung und Übernahme der Einrichtung. Nächste Woche sei er weg, sagt Eyal, er ziehe mit seiner Freundin nach Berlin, raus aus Israel, eine Bewegung, für die es im Hebräischen eine suggestive Vokabel gibt: yerida (Abstieg). Seinen Job hier übernehme wer anders. Er selbst sehe politisch keine Zukunft mehr in diesem Land. Worte, wie man sie öfter hört dieser Tage. Einen Raum weiter ist es dunkel, umrisshaft erkenne ich dicke Kabel und eine Wand voller antiquarischer Schalter. Ronny öffnet eine große Metalltür, dahinter ist nur noch Außenmauer. Das eintretende Licht zieht sich in Schlieren durch den Staub und lässt den Raum als das erscheinen, was er mal war: das Herzstück einer Telekommunikationsanlage, heute funktionslose Computermasse. Im Nebenzimmer ragen hautfarbene Plastiken in Form von Fingern aus dem Boden. Ich bitte Ronny, mir die Ausstellung zu zeigen. Die Galerie befindet sich im Erdgeschoss, es sind abstrakte Videoarbeiten der Künstlerin Goni Riskin zum Thema Internet. Einer der Filme bricht als schemenhafte Andeutung durch ein Loch in der Wand in den Nebenraum. Mein Kopf ist derart von Eindrücken gesättigt, es fällt mir schwer, Ronny gegenüber eine nennenswerte Kunsterfahrung zu artikulieren. Zwischen meinen Knien schleicht sich eine schwarze Katze hindurch. Ich solle sie nicht anfassen, sagt Ronny, man wisse nie so genau. Im Tahat, dem derzeit angesagtesten Club in Tel Aviv, findet noch ein Treffen der Gabirol-Mitglieder statt. Es geht um die Zukunft der Anlage. icht weit von hier ist das Penso, ein Traditionsimbiss, wo es morgens Burekas gibt und nachmittags Schnitzel. Joshua kam als Kind aus der Türkei nach Israel. Hier lernte er Miri kennen, sie kam aus Marokko. Zusammen führen sie den Laden seit über 30 Jahren. Die Ermordung Rabins 1995, für viele das sprichwörtliche Ende der Hoffnung auf Frieden in Israel, fand einen Steinwurf vom Penso entfernt statt. Ich bestelle Burekas mit Ei und Spinat. Der Laden mit der geschmacklosen Rose im Logo scheint der Kurzweiligkeit des Gabirol diametral entgegengesetzt, als wollte er beweisen, dass manche Dinge eben doch endlos so weitergehen. N Von den Plastikstühlen aus sehe ich auf die große Tribüne, das Zentrum des RabinPlatzes. Bis auf ein paar Bänke und Palmen am Rand ist der Platz eine einzige Freifläche, wie gemacht für politische Großevents. Am anderen Ende, ich nähere mich der unsichtbaren Grenze zu meinem Tel Aviv, liegt ein wenig versteckt ein Antiquariat, das „Ha’achim Green“ (Gebrüder Green) heißt. Das Wortspiel mit dem deutschen Kanon ist Absicht. Die 28-jährigen Zwillingsbrüder Ellie und Alon-Lee Green eröffneten den Laden vor knapp zwei Jahren. Die Auswahl ist ein eklektischer Mix aus Literatur, Kinderbüchern und Wissenschaft. Ellie sitzt hinter dem zugestellten Schreibtisch und macht Bestellungen für den Online-Shop. Per Handgeste deutet er an, ich solle kurz warten. Im Hintergrund spielt Kendrick Lamar, wenig antiquarisch. Der Laden steht gerade voller Umzugskisten, ein miniaturhafter Treppenaufgang führt in einen noch unscheinbareren Dachstuhl, wo sich noch mehr Kisten stapeln. „Hier, guck mal“, meint Ellie und drückt mir ein paar Karten in die Hand. Es sind Postkarten und Originalfotografien von Leuten wie Haim Arlosoroff, Yosef Brenner und Gershom Scholem, kleine Schätze, Vorboten eines Israels vor Israel. Ellie und Alon-Lee entdeckten all das bei einer Wohnungsräumung. Den Namen des toten Dichters, der dort lebte, sagt Ellie ernst, dürfe ich nicht weitersagen, das müsse unter uns bleiben. „Willst du noch was sehen?“, fragt er. Klar will ich noch was sehen. Er holt ein dunkelblaues Buch mit dickem Einband aus einer der Kisten, darauf ein feingeometrischer Goldschnitt in Form von lauter kleinen Davidsternen. Das Sefer ha-Jaschar wurde 1923 in Berlin gedruckt. Im Einband steht rechts neben dem hebräischen Titel in deutscher Frakturschrift: Das Heldenbuch. Sagen, Berichte und Erzählungen aus der israelischen Urzeit. „Blätter mal um“, sagt Ellie. Innen die hebräische Signatur Shai Agnons, des Mystikers und Nobelpreisträgers, der in Israel einen ähnlichen Status hat wie Goethe in Deutschland. „Nicht weitersagen, ja?“ Ein paar Geheimnisse scheint der Norden doch noch bereitzuhalten. Galer ie Heike Cur tze und Petra Seiser Seiler stätte 15/16 1010 Wien Wir freuen uns über die 4 0 jähr ige Zusammenarbeit mit Günter Br us DER AUTOR IST HERAUSGEBER DES DEUTSCH-HEBRÄISCHEN MAGAZINS AVIV. FOTOS: ANNA YAM ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT APÉRO 23 Diverse Ausstellungskataloge des Künstlers auf Anfrage 043 1 512 93 75, offi[email protected] PORTRÄT „BEI KUNST DENKE ICH NIE ANS VERSTEHEN“ FÜR DEVIL TOWN (2015) VERWANDELTE DA CORTE DIE MAILÄNDER GALERIE GIÒ MARCONI IN EIN SINNBILD SEINER FAMILIE, DIE GROSSEN THEMEN AMERIKAS INKLUSIVE Alex Da Corte baut präzis durchdesignte Psychoräume, in denen Kirche, Kino und Ketchupflaschen zum Gesamtkunstwerk verschmelzen A ls Kind hatte Alex Da Corte eine Zwangsstörung. Irgendetwas befahl ihm, Zimmer und Möbel mit Händen und Füßen abzumessen und so jeden Raum im Elternhaus zu kontrollieren. Das war in den Achtzigern, am Stadtrand von Philadelphia. So eine Krankheit geht nicht einfach weg. Doch sie kann andere Wege nehmen. Zum Beispiel in die Kunst. Wer sich heute durch die grellfarbigpsychedelischen Räume von Alex Da Corte bewegt, spürt, dass hier jemand nichts dem Zufall überlässt – jemand von immenser Verführungsgewalt. Es sind Räume, die in ihrem unheimlichen Perfektionismus ein Feuerwerk an Erinnerungen auslösen: an Discos und Disneyland, Science-Fiction APÉRO 24 und Supermarktregale, David-Lynch-Settings und Mike-Kelley-Albträume, Oma-Tapeten und moderne Kunst. Die großen Themen Amerikas – Familie, Konsum, Religion und Eigenheim – verschmelzen zu bühnenhaften Bildwelten, in denen Shampooflaschen und Memphis-Design gleichermaßen für die Gestaltung eines besseren Lebens zuständig sind. Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte ein Psychopath einen mit bunten Bonbons in sein Pandämonium gelockt. „Ich stamme aus einer sehr religiösen Familie. Meine Mutter war Comiczeichnerin, aber sie zeigte mir auch Bilder von Michelangelo und Giotto, die voller Allegorien waren. Zu Hause haben wir Opern gehört. In dieser harten Gegend mit Tosca WAS MAN SIEHT, IST GAR NICHT DA: FÜR SEINE INSTALLATION TAUT EYE TAU AUF DER BIENNALE VON LYON 2015 TAUCHTE DA CORTE GELBE DINGE IN IHRE KOMPLEMENTÄRFARBE Rechts unten: CHELSEA HOTEL NO. 2 (2010), DAS VIDEO WURDE ZU DA CORTES SCHLÜSSELWERK aufzuwachsen, der großen Erzählung von Triumph und Tragödie, ist ein ziemlicher Mix von High und Low. Das spiegelt sich in meiner Arbeit.“ Da Corte, Jahrgang 1980, spricht druckreif mit dunkel schnurrender Stimme, so höflich und frei heraus, dass seine schlaksig street-smarte Erscheinung fast ein bisschen irritiert. Bis heute lebt er in Philadelphia. Sein Studio im rauen Nordos- ten der Stadt hat mit knapp 600 Quadratmetern die Dimensionen einer Turnhalle, was in New York kaum möglich wäre. „Philadelphia inspiriert mich. Auf den Straßen, hinter den Fenstern und in Supermärkten finde ich alles, was ich brauche. Eine Kunstszene ist mir nicht wichtig.“ Gerade bereitet er seine erste museale Einzelausstellung vor. Das MASS MoCA in Massachusetts wird Arbeiten der letzten zehn Jahre zeigen: einer Zeit, in der er trotz seiner schrillen Ästhetik lange Geheimtipp der Kuratoren war, vor allem am ICA Philadelphia, das ihn eine Zeit lang fast jedes Jahr ausstellte. Weil er eigentlich bei Disney arbeiten wollte, hatte Da Corte Animationsfilm und Zeichnung studiert. Aber Papier interessierte ihn nicht. Stattdessen begann er, in Garagen und Off-Spaces Räume zu bauen. „Das kam daher, dass ich so gern in Diners APÉRO 25 ging“, sagt Da Corte und lacht. „Ich sah sie wie Filmsets: die Kellnerinnen, die Ketchupflaschen und das falsche Holz überall. Mein erstes Kunstwerk war ein Restaurant mit Plastikpflanzen und aufgesprühtem Marmor. Ich wollte eine Atmosphäre kreieren, aber ohne Menschen. So ähnlich wie bei Mike Kelley oder Gregor Schneider.“ 2008 klopfte die Whitney Biennale an, Da Cortes erster Atelierbesuch. Obwohl er mitmachen durfte, hatte er das Gefühl, seine Arbeit nicht richtig erklären zu können – was heute, wo er so geschmeidig Informationen abfeuert, kaum mehr vorstellbar ist. Er bewarb sich in Yale und studierte bei Jessica Stockholder Skulptur, auch wenn er den Begriff nicht mochte. „Skulptur, das hieß für mich Richard Serra und Donald Judd. Aber Metall sagt mir nichts, es ist machohaft und langweilig. Ich liebe Plastik. Eine alte Zahnbürste auf der Straße finde ich viel interessanter.“ 2010 entsteht das Video Chelsea Hotel No 2. Es wird so etwas wie Da Cortes Schlüsselwerk. In einer langsamen Abfolge quasireligiöser Rituale fasst es alles zusammen, worum es in seiner Arbeit geht: Hände, die unreife Kirschen sorgsam mit Nagellack überziehen, Toastbrotscheiben zärtlich aufeinanderstapeln und Neonfarbe in Sodawasser träufeln. Leonard Cohen brummt dazu „I need you, I don’t need you“. Es ist eine hyperästhetische, libidinöse Inszenierung von Objekten der Begierde, in denen der Mensch nach Verortung und Sinngebung sucht. Doch Da Corte verwandelt solche Reminiszenzen an Pop-Art und EDELPUFF ODER OMA-SALON? DIE HEXE HIESS DIE AUSSTELLUNG BEI LUXEMBOURG & DAYAN 2015 IN NEW YORK. DA CORTE SCHMUGGELTE DORT WERKE ANDERER KÜNSTLER EIN – DARUNTER EINES VON BJARNE MELGAARD, DAS DIE AUFGESEXTEN COUCHTISCHE VON ALLEN JONES ZITIERT Unten: WAS WIR SEHEN, BLICKT UNS AN: MIT IHREN VERWINKELTEN ZIMMERN UND ZITATEN WAR DIE HEXE FAST SO ETWAS WIE EIN SPIEGELLABYRINTH APÉRO 26 Surrealismus nicht einfach in aalglatte Postinternet-Ästhetik. Er schafft eine Stimmung, die den Dingen ihre Nostalgie entlockt, ihr spirituelles Potenzial und zugleich ihre totale Verfügbarkeit, die im Digitalzeitalter selbstverständlich geworden ist. Wie auch in seinen Rauminstallationen zeigt sich hier die lustvolle Affirmation, Konsument und zugleich Schöpfer zu sein – in voller Akzeptanz der dunklen, zerstörerischen Seite dahinter. „Ich versuche, von dieser Welt nicht überfordert zu werden“, sagt Da Corte und meint das nicht kokett. „Das geht nur, indem ich mir die Dinge vertraut mache, sie lieben lerne, um mich nicht fremd zu fühlen.“ Tatsächlich sind Da Cortes poppigpräzise Bildwelten voller Emotion, seine Anspielungen auf Kirche, Kunst, Kino und Konsum erstaunlich ironiefrei. Letztes Jahr schmuggelte er die Werke seiner Helden Mike Kelley, Robert Gober und Bjarne Melgaard in seine eigene Ausstellung in dem verwinkelten New Yorker Townhouse der Galerie Luxembourg & Dayan – mit flackernden Elektrokerzen, Plüschteppichen und Spiegelwänden schien es, als hätte jemand das Familienalbum seiner Großmutter in einen Edelpuff oder Concept Store transformiert. Dabei entstand eine neue Form von Appropriation Art, der Kunst der Aneignung: eine, die nicht kunstimmanent oder gesellschaftskritisch sein will, sondern eher der Erklärung der eigenen Psyche dient. „Ich bin kein zynisch-kalter Kritiker wie Richard Prince, der unseren Umgang mit Bildern reflektiert. Aber ich bin auch nicht sentimental. Ich analysiere, welche Formen Gefühle annehmen können. What you see is what you get – aber man bekommt eben immer auch das, was man nicht sieht.“ Obwohl Da Cortes Arbeit so präzise durchdesignt ist, dass man von Gesamtkunstwerk sprechen muss, geht es genau darum: zu zeigen, was man nicht sieht. So funktionierte auch die Installation Devil Town bei Giò Marconi in Mailand. Den Besucher begrüßte eine ausgestopfte Eule, in der eine Kamera versteckt war – eine Einladung, zum Voyeur eines Familienporträts zu werden. Die Rollen von Vater, Mutter und Schwestern übernahmen blau und rot beleuchtete Zimmer (denn Farbe, so Da Corte, kommuniziere Gefühle besser als alles andere), darin Stoffhase, Plastikbaum und Gartenzaun, das suburbane Symbol für die Abwehr des Bösen schlechthin, um es zugleich drinnen einzuschließen, in den eigenen vier Wänden. Staunend stand man in dieser geometrisch durchkomponierten Geisterbahn, begriff nichts, war aber vollkommen gebannt. „Ich denke bei Kunst nie ans Verstehen. Alles ist verständlich, auch wenn es einem fremd ist“, sagt Da Corte und klingt so entspannt wie nur jemand, der intuitiv genau weiß, was er will. „Ich glaube fest daran, dass ein Raketenwissenschaftler und ein Cartoonzeichner im selben Flieger sitzen können. Sie haben nur verschiedene Arten, ihre Sicht auf die Dinge auszudrücken.“ Und auch sie stehen am Ende nur vor einer einzigen großen Frage: Tragik oder Triumph? TEXT: GESINE BORCHERDT DAS MASS MOCA IN MASSACHUSETTS ZEIGT AB 26. MÄRZ ALEX DA CORTES ERSTE MUSEUMSAUSSTELLUNG FREE ROSES LEAVING LAS VEGAS: DEN RIESENPOMMES HAT DA CORTE VOM DACH EINER MCDONALD’S-FILIALE. IM BLAUEN LICHT WIRKT ER WIE DAS SCI-FI-MÖBELSTÜCK EINES FUTURISTISCHEN WOHNZIMMERS BLITZSCHLAG „ICH WAR WIE VERSTEINERT“ Es ist ein Augenblick der Gewissheit: Dieses Kunstwerk trifft mich im Kern. Peter Saville über seine erste s muss im Jahr 1975 gewesen Marilyn im sein. Ich war 20 Jahre alt und studierte am Polytechni- Manchester kum von Manchester Grafikder 70er-Jahre design. Das Einzige, was ich E damals an zeitgenössischer Kunst kannte, war Pop-Art. Ich kannte sie aus dem Sunday Times Magazine, das seit Ende der 60er-Jahre herauskam. Fast jeder Teenager war dadurch mit Andy Warhols Factory vertraut. Aber Manchester war damals nicht gerade der Ort für zeitgenössische Kunst – England generell nicht. Mit mir studierte mein bester Freund Malcolm Garrett, der später die Cover vieler berühmter Bands gestaltete. Wir beide interessierten uns für den Look der Dinge. Und Pop-Art war so etwas wie ein Einstieg in die Kunst. Eines Tages sagte Malcolm zu mir: Da ist eine Marilyn in der Whitworth Art Gallery. Das war damals ein Textilmuseum und gehörte zur Universität. Es musste also ein Witz sein. Eine Marilyn in Manchester, das war geradezu unmöglich. Aber Malcolm insistierte, und so ging ich selber hin. Und da war sie – gleich fünf Mal! Sie hingen alle in einer Reihe. Ich war wie versteinert. Es war wie die letzte Szene des Films Unheimliche Begegnung der dritten Art von Steven Spielberg, da wo die Ufos landen und die Leute von der Erde einsteigen, um zu einem fernen Planeten aufzubrechen. Wie gesagt, ich kannte dieses ganze Universum des New York der 60er-Jahre, die Factory und Velvet Underground – und plötzlich manifestierte sich all das in diesen Marilyns! Das war wie eine Lücke im Raum-Zeit-Kontinuum. Sie sahen aus wie heilige Madonnen. Später begriff ich, dass Andy ja mit dem Anblick orthodoxer Ikonen aufgewachsen war. So wurde sein Weg zur Pop-Art zu meinem eigenen Weg. Und der erste Schritt war tiefschürfend. Ich glaube, das lag auch daran, dass es so unerwartet geschah. Wissen Sie, wenn ich in den Louvre gehe, um mir die Mona Lisa anzusehen, kenne ich sie Mit den Plattencovern für Joy Division und New Order wurde er weltberühmt: PETER SAVILLE, Art Director at Large schon, bevor ich überhaupt da bin. Vor Ort sind dann hunderte Menschen – das ist wie eine Antiklimax, eine Art Nicht-Event. Wenn solche Dinge aber unerwartet passieren, haben sie eine viel größere Wirkung. Man könnte sagen, dass deshalb ein entschieden Warhol’scher Geist in den Dingen steckt, die ich mache. Zum Beispiel das Cover der Platte Technique von New Order mit der Putte – das ist total Warhol. Überhaupt entspricht mir die Vorstellung von einem kohärenten Universum, in dem Kunst und Leben eins sind. Und das ist die Vorstellung von Pop-Art. APÉRO 28 ANDY WARHOL Marilyn, 1967 Der Krater des Vesuvs mit dem Ausbruch von 1828 (Detail), 1828 © Privatbesitz 19. 3. – 17. 7. 2016 Alte Nationalgalerie WWW.AUGUSTKOPISCHINBERLIN.DE WWW.SMB.MUSEUM Alte Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin Museumsinsel Berlin Bodestraße 1–3, 10178 Berlin Die Ausstellung wird ermöglicht durch den Verein der Freunde der Nationalgalerie und unterstützt durch die Volkswagen Aktiengesellschaft. REVUE 30 NICOLE EISENMAN LONG DISTANCE, 2015, ÖL AUF LEINWAND, 165 × 208 CM OB SCHLACHTENBILDER ODER EIN BEZIEHUNGSENDE PER SMS: NICOLE EISENMAN IST DIE MALERIN DES MODERNEN LEBENS. KOLLEGEN VEREHREN SIE SCHON LANGE, DOCH ERST JETZT‚ 20 JAHRE NACH IHREM DEBÜT AUF DER WHITNEY-BIENNALE, BEKOMMT SIE DIE ANERKENNUNG, DIE SIE VERDIENT. VON SWANTJE KARICH HAMLET, 2007, ÖL AUF LEINWAND, 208 × 165 CM M it einem großen Knall betritt Nicole Eisenman 1995 die Museumsbühne. Als das Whitney Museum, das Sprungbrett für junge amerikanische Künstler, sie einlädt, an seiner Biennale teilzunehmen, sprengt sie zum Dank das Museum in die Luft. Im Erdgeschoss malt sie auf eine viele Meter lange Wand ihren Angriff auf den musealen Stillstand als gigantisches Historienbild. Das Museumsgebäude liegt in Trümmern, aus Bergen zerborstener Leinwände werden Verletzte geborgen. Ein junger Mann hockt auf dem Boden, den Kopf in die Hände gestützt, und wird getröstet. Verzweifelt versucht ein anderer, jemanden wiederzubeleben, und eine panische Fernsehjournalistin reißt den Kopf von links nach rechts auf der Suche nach der nächsten Story. Eine Szene, die uns heute angesichts ungezählter Kriege und Selbstmordattentate unheimlich vertraut vorkommt. Doch in der Mitte, auf einem Baugerüst, klein und in gleißendem, endlosen Weiß, sitzt die Künstlerin selbst – als unbesiegbare Freiheitsfigur. Man sieht sie von hinten, wie sie den Pinsel hebt, seelenruhig, als würde all das nur ihrer Fantasie entspringen. Ihre eigene Leinwand ist nach diesem Bang leer gefegt. Sie hat sich allem entledigt, muss auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, hat sich befreit von allen Erwartungen. Das Bild erinnert an Delacroix’ berühmtes Gemälde Die Freiheit führt das Volk, an Bracques mutigen Kubismus und natürlich auch an Bilder des Sozialistischen Realismus. Es markiert den Anfang eines wilden Ritts zwischen Punk, Dilettantismus und Alten Meistern. Drei Dinge, die eigentlich so gar nicht zusammenpassen. Im Whitney Museum verschwindet ihr Angriff auf die Institution bald hinter einer falschen Wand. Sie aber wirbelt mit ihrem comicartigen Strich im New Yorker Underground und lässt viel Tintenblut fließen, gehört zu den bad girls um Sue Williams, Zoe Leonard, Helen Chadwick und Nicola Tyson. Seit ihrem Abschluss an der Rhode Island School of Design in Providence lebt sie sich auf der Lower East Side und in Chinatown aus – bindet alles in ihre Bilder ein, was sie medial umtreibt: Horrorfilme, Volkskunst, Kitsch, Pornografie, Michelangelo oder Max Beckmann, lesbische Subkultur. Ich treffe die feministische Richard Prince, wie die Kuratorin Beatrix Ruf sie nannte, in ihrem Atelier in Brooklyn. Der Schock nach den Anschlägen von Paris sitzt allen noch in den Knochen. In Europa spricht man offen über die eigenen Fluchtgedanken. Draußen in den New Yorker Straßen herrscht Alarmstufe Orange. Hier drinnen aber hocken wir wie in Platons Höhle. Nicole Eisenman, kurze schwarze Haare, durchtrainierter Körper, wirkt gelassen, von der Unruhe in ihren Bildern ist nichts zu spüren. Ihre dunkle Stimme fühlt sich an wie eine lange Umarmung. Vor mir sitzt eine Künstlerin, die den boys’ club der Kunstszene aufmischte und trotzdem weniger Beachtung fand als manche ihrer Zeitgenossen. Also machte sie ihr eigenes Ding, 2005 gründete sie mit der Künstlerin A. L. Steiner „Ridykeulous“, ein Künstlerkollektiv, das Queer Art und feministische Ideen, Ausstellungen und Publikationen fördert. Eisenman gilt in Künstlerinnenkreisen als Heldin. Sie war immer ein artists’ artist. Jetzt aber steht sie an einer Schwelle: Ihre Galerien werden Wartelisten für ihre Bilder anlegen müssen. Was ist anders? Was ist geschehen? Nach Jahr- REVUE 32 EXPLODING WHITNEY, 1995, LATEXFARBE UND TINTE, 422 × 914 CM zehnten der intellektuellen Konzeptkunst und den gesättigten 90er-Jahren sind wir jetzt bereit für ihre Kunst, bereit, angesichts von Syrienkrieg und Flüchtlingskatastrophe den Erzählungen ihrer figurativen Malerei zu folgen. Die Künstler pilgern zu ihren Ausstellungen, weil sie schon früh erkannt haben: Nicole Eisenman ist eine gute Malerin und eine noch bessere Zeichnerin. Sie ist nicht nur ein bad girl, nicht nur eine Zeitgenossin Martin Kippenbergers, mit dem sie oft verglichen wurde, sondern auch ein pictor doctus, eine höchst gebildete, raffinierte Künstlerin. Man spürt, wie sie genießt, dass sich die Zeiten geändert haben, Malerinnen sich langsam durchsetzen wie Amy Sillman oder Charline von Heyl. Und jetzt wartet auf sie eine umfangreiche Überblicksschau im New Yorker New Museum, die im Mai eröffnet. In Deutschland hat sich eine Frau für sie eingesetzt und Treue bewiesen, die Galeristin Barbara Weiss. 2005 ließ sie sich von ihren Zeichnungen berühren. Ihr Mann, der Kurator Kasper König, trug Eisenmans Werk bis nach Sankt Petersburg und zeigte ausgerechnet in Russland Sloppy Bar Room Kiss von 2011: Zwei androgyne Frauen oder Männer, vielleicht auch eine Frau und ein Mann, sind versunken in ihren Kuss, ihre Köpfe auf dem Kneipentisch verschmolzen. Die kritischen Blicke von der Bar bemerken sie nicht – endlose Küsse, die wohl jeder kennt. Homosexuelle aber verbinden mit diesem Bild noch etwas: das unendliche Glücksgefühl, sich ungefährdet in einem öffentlichen Raum zu bewegen und ihn als Schutzraum zu empfinden. Nicole Eisenman findet ein intensives Bild für diese Fragilität: Im nächsten Augenblick werden sie sie vielleicht verjagen. Wenn man weiß, dass Schwule sogar in einer Stadt wie Berlin immer häufiger bedroht werden, fühlt man den kalten Schauer auf dem Rücken. ohin könne man sich heute denn überhaupt noch flüchten, wenn alles zu schlimm wird?, frage ich die Malerin. „Ich habe viele Fluchtversuche hinter mir“, sagt sie. „Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bin ich aufs Land abgehauen und doch zurückgekehrt. Jetzt treffen wir uns regelmäßig mit anderen Frauen auf Fire Island außerhalb von New York.“ Sie zeigt auf ein Gemälde in der Ecke: Darauf ist eine idyllische Szene zu sehen, eine Figur spielt Gitarre, gekleidet in ein wunderschön türkisfarbenes Kleid, das nach heißem Sommer aussieht, daneben hockt eine junge Frau und lauscht den Klängen. Flucht als Rettung? W REVUE 33 THE WHITNEY BUY ANY OL’ PAINTING SALE, 1995, MIXED MEDIA, GRÖSSE VARIABEL Rechte Seite: NICOLE EISENMAN FOTOGRAFIERT VON HEJI SHIN REVUE 34 THE TRIUMPH OF POVERTY, 2009, ÖL AUF LEINWAND, 165 × 208 CM Nicole Eisenman berabeitet ihre eigene Psyche in einem Bild für alle. Auf dem Gemälde The Session von 2008 zeigt sie sich mit nackten, dreckigen Füßen, einem Kopf gebläht wie ein Luftballon, auf einer Couch beim Psychologen liegend. „Das ist mein Vater, erzählt sie, er ist Psychologe.“ Auf ihrem Geschlecht steht eine Pappschachtel mit Taschentüchern – phallisch und vaginal zugleich. „Das Bild hält fest, wie ich mit ihm über meine Sexualität spreche.“ Er fällt nicht aus seiner Rolle des Psychologen – mit seinem Block und Stift. Den sorgenden Beschützer sucht man hier vergeblich. Weil ich weiß, wie sehr sie sich in ihren Bildern auf Künstler der kurzen Blütezeit der Weimarer Republik bezieht, Max Beckmann oder George Grosz, und die inneren Ängste und äußeren Einflüsse aufeinanderprallen lässt, zeige ich ihr Lotte Lasersteins vor ein paar Jahren in Deutschland wiederentdecktes großformatiges Gemälde Abend über Potsdam. Laserstein war Jüdin und wie Menschen sind sich nahe und bleiben doch allein. Und im Hintergrund lauert die Katastrophe. Nicole Eisenman lesbisch. Sie floh rechtzeitig aus Nazideutschland und überlebte. 1930 schuf sie das visionäre Bild eines Abendmahls auf einer Terrasse mit Blick über Potsdam, wo wenig später die Katastrophe losbrach: Eine Gruppe junger Menschen sitzt zusammen. Alle starren vor sich hin, schauen melancholisch über die Stadt. Das Festmahl ist vorbei. Fast geleert die Gläser und Flaschen. Nicole Eisenman versteht sofort, warum ich ihr das Bild zeige: eine private Szene, so politisch wie ihre eigenen Bilder. Menschen sind sich dort nahe und bleiben doch allein. Und im Hintergrund lauert die Katastrophe. THE DRAWING CLASS, 2011, ÖL UND KOHLE AUF LEINWAND, 165 × 208 CM REVUE 38 Bei Laserstein erinnert sie sich an ihr eigenes Gemälde Sunday Night Dinner, auf dem sie uns in ihr ganz privates Reich lässt, das Haus der Künstlerin und ihrer Freundin. Das Bild zeigt einen Tisch, um den sich Abendgäste versammeln. Es gibt Spaghetti. Eine Frau ist nackt. Ein Mann vorne sieht aus, als käme er direkt aus einem Spätwerk von van Gogh, seine Haare und sein Bart zerfließen in gelben Linien, eine Figur dahinter erinnert im klaren Profil an Frauen von Vuillard. Die Gäste schweigen. Wie bei Lotte Laserstein versinken die Freunde in ihrer eigenen Welt, in ihren privaten Gedanken. Die Nähe zu Manets Frühstück im Grünen ist offensichtlich – übertragen in unsere Zeit. Man denkt an Baudelaires These zum Painter of Modern Life, der forderte, die gesellschaftlichen Konventionen offenzulegen. ie Künstlerin als Malerin des modernen Lebens im 21. Jahrhundert? Malerei ist ihr das natürliche Ausdrucksmittel. Sie arbeitet in Echtzeit, indem sie ihre Erfahrung in die Bilder laufen lässt – sie ist ein Kind ihrer Zeit, ihrer Biografie, ihres Wissens, ihres Körpers, ihrer Liebe, ihrer Wut, ihres Hasses und ihrer Stadt New York, der Lower East Side und Brooklyn. Abhängig ist sie nur von Farbe und Leinwand und ihrem freien Geist. Kein Apparat, keine neueste Technik, keine unnötigen Übertragungen. Drastisch und unmittelbar reagiert sie so im Jahr 2009 auf die politische Lage in den Vereinigten Staaten mit dem Gemälde The Triumph of Poverty, entstanden kurz nach der Wahl von Barack Obama, der doch eigentlich Optimismus verbreiten wollte, dann aber Rezession verwaltete. „Es war eine komische, dumpfe Zeit“, sagt sie. Das Gemälde zeigt einen Trauerzug mit 17 Menschengestalten, die alle in eine Richtung streben, aber de facto stehen. In der Mitte, in einem alten Auto, sitzt eine Frau mit großer, blutiger Nase, ihr Körper zusammengenäht aus vielen Flicken, rosawundgerieben. Die Literaturwissenschaftlerin Terry Castle bringt die Frauenfigur in Beziehung zu einem Gemälde des Alten Meisters Domenico Ghirlandaio, Alter Mann mit Enkel von 1490. Ein kleiner Junge mit Engelslocken schaut dort gebannt hinauf zum Großvater, dessen Nase übersät ist mit dicken Warzen, eines der menschlichsten Bilder des gesamten Quattrocento. Nicole Eisenmans Bilder tun weh. Auf dem Gemälde Tea Party von 2011 zeigt sie ein Quartett dunkler Gestalten in einem Keller. Auch sie reden nicht miteinander, wie (fast) alle ihre Figuren. Rechnen sie mit der Apokalypse? Oder mit ihrem großen Auftritt? Einer bastelt an einer Bombe. Einem alten Mann mit richtungslosem Blick hängt der Arm herab, in der Hand baumelt ein tropfender Teebeutel. Ein humorvolles Gruppenporträt des bemitleidenswerten Grauens. Und jetzt, im Jahr 2016? Sie ist 50 Jahre alt und hat zwei Kinder. Und eine große Trennung hinter sich. Ihre Tochter George lernen wir auf einem gleichnamigen Gemälde kennen, auf dem Nicole Eisenman mit ihr Flugzeug spielt. Jetzt aber zeigt sie auf ihr neuestes Gemälde. Es ist noch nicht fertig, soll aber im Mai in ihrer ersten Schau bei Anton Kern in New York gezeigt werden. Es wirkt wie ein überdimensionales psychedelisches Kifferbild. Eine Wohnung. Ein abendliches Zusammentreffen. Alle hängen rum, trinken, rauchen, hören Musik. Im Hintergrund taucht eine D GUY RACER, 2011, ÖL UND COLLAGE AUF LEINWAND, 193 × 152 CM Terrasse auf, die Skyline von New York im Mondlicht. Auf einem gelben Sofa sitzt eine Frau, die mit ihren klaren Linien und der polierten Haut Erinnerungen weckt an Christian Schads Sonja von 1929. Die geheimnisvolle Schönheit ist versunken in ein Plattencover: Another Green World von Brian Eno aus dem Jahr 1975. Sein Song I’ll Come Running (To Tie Your Shoes) klingt im Ohr: „I’ll find a place somewhere in the corner. I’m gonna waste the rest of my days.“ Ein Frauenpaar dreht sich spiralförmig ineinander, Hand in der Hose, der Juan-Gris-Kopf zurückgeworfen, Rauchringe flattern hoch. Eine giftgrüne Hand, feingliedrig, geisterhaft, hält einen Körper fest umklammert. Am Boden liegt ein Cover der Pantherfrau Grace Jones. Zwei sehr weiße Männer liegen sich in den Armen, ihre Köpfe ruhen auf der Schulter des anderen – ihre verbundenen Hände erinnern an Philip Guston, bei dem man Linien auch nicht immer trennen kann. Ein Mann nimmt einen langen Zug aus einem schweren Bierglas. Ein anderer Mann löst sich auf in weißer Farbe, gehalten von wenigen grauen Strichen. Woher kommen sie alle? Wohin fliehen sie in Gedanken? Ich bitte Nicole Eisenman, mir zu erzählen, wie die kunsthistorischen Zitate in ihre Bilder finden. In der Gegenwartskunst dominiert in den letzten Jahren ein Gefühl der Langeweile, weil man permanent Déjà-vu-Gefühlen ausgesetzt ist. Die junge Kunst sieht aus wie ein Abklatsch der alten. Nicole Eisenman aber REVUE 39 zitiert die Künstler als Stilmittel, sie verschleiert nicht. Sie steht zu ihren Quellen wie ein guter Wissenschaftler, der selbstbewusst genug ist, um zu wissen, dass seine Werke weiter reichen werden als die der Vorgänger. Die Künstlerin zeigt mir Vorzeichnungen für das noch titellose Gemälde. Auf den Köpfen finden sich Nummerierungen und Bezeichnungen, „Blue Rider page 96“, „Beckmann 36“, auch Kandinsky gehört ein Verweis. Sie zieht Kataloge aus ihrem prall gefüllten Regal, in dem viele Bücher vom begnadeten Zeichner Saul Steinberg stehen. „Mit ihm fing in meiner Jugend alles an.“ August Mackes Tegernseer Bauernjunge erscheint auf Seite 96 im Buch über den Blauen Reiter. In ihrem Bild allerdings ist er verschwunden, er hat sich weggedreht. Über seinen Rücken laufen die Lichter der Discokugel. Kommuniziert wird im Werk von Nicole Eisenman nur mit technischen Geräten. Zum Beispiel auf ihrer Skypeszene Long Distance, die zum Trocknen noch im Atelier steht. Dort auf dem Bildschirm liegt eine Frau gemütlich auf dem Sofa, davor fläzt sich jemand, vielleicht die Künstlerin selbst. In dieser wunderbar schlichten Szene beschreibt Nicole Eisenman die Veränderungen durch die Digitalisierung. Auf einem anderen Gemälde starrt ein Gesicht auf ein Handy, beide Hände umklammern das Smartphone. Der Titel: Breakup. SLOPPY BAR ROOM KISS, 2011, ÖL AUF LEINWAND, 99 × 122 CM Rechts: SEANCE, 2011, ÖL AUF LEINWAND, 152 × 183 CM Die Sprachlosigkeit ihrer Abendgesellschaften aus den vergangenen Jahren wandelt sich. Ihre Bilder wirken nun ruhiger, souveräner, weniger wütend, weniger eindeutig. Man kann es nicht mehr entscheiden, Frau oder Mann. Aber es bleibt die Unruhe, die man in ihrem ganzen Werk spürt. Frauen, die Frauen lieben, müssen irgendwann einmal entscheiden, ob sie sich von der geltenden Normalität absetzen. Sie müssen Mut beweisen, egal wie tolerant das Umfeld auch sein mag. Und sie wissen, dass für ihr Glück immer eine Restabhängigkeit bleibt von der Toleranz dieser Gesellschaft. Diese Unruhe wird aus den Bildern von Nicole Eisenman niemals verschwinden. DAS NEW MUSEUM IN NEW YORK ZEIGT VOM 4. MAI BIS ZUM 26. JUNI AL-UGH-ORIES VON NICOLE EISENMAN. AB 19. MAI SIND IHRE NEUEN ARBEITEN IN DER GALERIE ANTON KERN IN NEW YORK ZU SEHEN K REUZBERGER NACHTE TROTZ KNÖDELWEITWURF: NIRGENDWO WAR DIE FRONTSTADT BERLIN MEHR WELTSTADT ALS IM EXIL, DER MUTTER ALLER KÜNSTLERRESTAURANTS. Eine Gesprächsmontage von Max Dax I n den Siebzigern und Achtzigern, als in Berlin noch die Mauer stand, gab es in Kreuzberg ein Restaurant, das wie das Paradies auf Erden war: das Exil, geführt von dem österreichischen Schriftsteller, Musiker und Kybernetiker Oswald Wiener und Michel Würthle, dem heutigen Besitzer der Paris Bar in Berlin. Hier trafen sich ab 1972 die Künstler und die Stars, die Querdenker und Outcasts, um in ebenso verrauchten wie versoffenen Nächten die Zukunft der Kunst und den Sinn des Lebens zu diskutieren. David Bowie und Bianca Jagger, Joseph Beuys, Dieter Roth und die Neuen Wilden waren Stammgäste, sie alle genossen die deftige wienerische Küche von Ingrid Wiener und ihrer Stieftochter Sarah Wiener. Seine Blütezeit erlebte das Exil in den Jahren 1972–1979 – in dieser Zeit war das Restaurant eine einsame Oase in der kulinarischen Wüste Westberlins. Wie alle Paradiese wurde auch das Exil verloren, als Ingrid und Oswald Wiener 1985 nach Kanada auswanderten. Zwar existierte das Restaurant noch bis 1997, aber der alte Charme war dahin. Geblieben sind vor allem Erinnerungen an wilde Nächte. Insel ist, einfach unsere eigene Insel. Eine Insel in der Insel. Als die Entscheidung einmal gefallen war, haben wir vor allem Wert darauf gelegt, dass es schön wird. Der erste Eindruck musste bereits stimmen. Ich habe schöne Laternen angefertigt, die installierten wir draußen an der Weinlaube. Wer an der Kottbusser Brücke am Kanal abends ums Eck gebogen ist, hat schon von Weitem das warme Licht gesehen. Das war einladend und so sollte es auch sein. Michel Würthle: In jeder Großstadt gibt es eine eigene Gesellschaft der Künstler, Outcasts und Denker, die zueinander finden will, und das Exil wurde ihr Treffpunkt. Günter Brus: Das Exil war ein für das kreative Denken sehr wichti- ger Ort. Viele Pläne und auch Zusammenarbeiten sind hier entstanden. Es war kein normales Restaurant. Zumindest am Anfang, in den ersten Jahren nicht. Am Anfang war es wirklich ein Treffpunkt, wo man die Gewissheit hatte, dass man mit irgendjemandem sofort ins Gespräch kommen würde – sei es, dass man sich kannte oder dass man jemanden neu kennenlernte. Michel Würthle: Bei einem Spaziergang im Frühling 1972 entlang des Landwehrkanals in Berlin-Kreuzberg fiel mir am Paul-Lincke- Oswald Wiener: Gemeinsam mit anderen Exilösterreichern Ufer ein Lokal ins Auge, das einen kleinen Gastgarten hatte, der schmiedeten wir enorme Pläne: Eine total autochthone Gemeinde unter einer üppigen Laube aus Weinreben im Schatten lag. sollte geschaffen werden. Damit meine ich einen eigenen Verlag, eine eigene Bücherei, eigene Schneider, alles. Zum Glück ist es dazu Ingrid Wiener: Es war wie verwunschen. Alles war zugewachsen. nicht gekommen. Selbst wenn die Sonne grell schien, war es dunkel und herrlich grün Michel Würthle: Wir waren einfach begeistert vom Blick auf den im Garten. Kanal. Dies ist die schönste Ecke der Stadt. Hier sieht Berlin ein Michel Würthle: Also durchschritt ich das Tor, ging durch den grü- wenig aus wie Paris oder Amsterdam. Und gelegentlich fährt ein nen Schatten und betrat den Laden. Es war ein Ort für Schwerst- Dampfer vorbei und tutet beim Anlegen. alkoholiker, eine dunkle Höhle. Vielleicht fünf oder sechs Gäste WEDER POLITESSEN, ORDNUNGSAMT saßen im Schankraum vormittags beim Bier, und ich sagte zum Wirt: NOCH STEUER „Mir gefällt das sehr gut hier!“ Und der Wirt antwortete: „Find ick jut, dass Ihnen das jut jefällt.“ Wir kamen sofort ins Gespräch, und ich bekam heraus, dass der Wirt genug hatte von der Gastronomie, auf- Sarah Wiener: Im Übrigen ist es schöner, quasi im eigenen Wohnhören wollte: „Wir sind zu alt, und Sie sehn ja: Nüscht los hier, wa!“ zimmer mit Leuten zu essen, zu rauchen und zu trinken, als allein zu Hause. In Wien hatte Oswald bereits eine Zeit lang in seiner Ingrid Wiener: Oswald, Michel und ich hatten zuvor in der Bayeri- Privatwohnung ein Café betrieben. Das hat er dann in Westberlin schen Straße in Charlottenburg das Matala betrieben. Der Michel ist mit dem Exil weitergeführt, nur jetzt eben öffentlich. Er richtete es nach Griechenland gefahren und hat das ganze Geld, das er verdient sich ein, wie er es haben wollte, und wenn die Gäste deppert wurhatte, verspielt. Er ist dann wieder nach Berlin gekommen, mit der den, dann konnte er sie rausschmeißen. Ansonsten gerierte er sich Griechin Katerina Dukas, seiner großen Liebe. Er meinte dann: wie ein König, der es ein paar Randgestalten erlaubte, neben und mit „Ingrid, wir müssen doch was machen, das Matala war doch so toll.“ ihm zu wirken. Michel Würthle: Oswald wollte sich zunächst nicht direkt beteiligen, Oswald Wiener: In Wien haben wir in unserer Wohnung in der bot uns aber seine Hilfe an. Na ja, und dann war er ziemlich bald Judengasse einmal ein Café geführt, allerdings ein kostenloses, für doch voll dabei. unsere Bekannten. Jeder, der uns kannte, konnte zu uns kommen, 24 Stunden am Tag. Unter und über uns war das Lager eines KaufOswald Wiener: Ich hatte mir nach dem Matala vorgenommen, wie- manns. Es war faktisch sturmfrei. der zu schreiben, mich wieder meinen Studien in Kybernetik zu widmen. Ich habe gegen diese Versuche, ein neues Lokal zu machen, Ingrid Wiener: Das Wien dieser Zeit habe ich in einer ganz schlechprotestiert. Ich wollte nicht noch einmal Wirt spielen. Aber nachdem ten Erinnerung. Ständig ist man angeeckt. Es war egal, was man Ingrid und Michel mir das Lokal gezeigt hatten, kam mir diese Idee: gemacht hat, man war immer irgendwie fremd. Wir konnten nicht Wir machen hier in dieser merkwürdigen Frontstadt, die wie eine mehr atmen in Wien. REVUE 44 Günter Brus: Man kam in den 60er-Jahren wegen jeder Kleinigkeit DIE MACHER ins Gefängnis. Ich saß mehrmals. Wegen meiner Kunstaktionen, aber auch wenn man in der Nacht um zwei Uhr im Wiener Zentrum bei Rot über die verwaiste Straße gegangen ist. Bei der kleinsten Regelverletzung wurde man bereits von einem Polizisten mit dem Gummiknüppel bearbeitet. Ich habe mich immer gewehrt und dann saß ich anschließend drei Tage oder zwei Wochen im Gefängnis. OSWALD WIENER Mit seinem Buch die verbesserung von mitteleuropa, roman prägte Oswald Wiener 1968 die literarische Avantgarde Österreichs. Im selben Jahr musste der Schriftsteller, Musiker und Kybernetiker aus seiner Heimat fliehen und landete in Westberlin, wo er 1972 gemeinsam mit seiner Frau Ingrid das Restaurant Exil gründete. Oswald Wiener: Günter Brus hat zig Briefe bekommen, in denen INGRID WIENER Die Künstlerin Ingrid Wiener folgte ihrem Mann ins Exil nach Westberlin, wo sie bald ihr gastronomisches Talent entdeckte. Das Exil erfüllte sie mit Leben, indem sie die böhmischwienerische Küche in Berlin als kulinarisches Novum einführte. ihm anonym gedroht wurde: „Du Schwein, wir bringen dich um!“ Sarah Wiener: 1968 wurde Oswald vor ein Geschworenengericht gezogen unter der falschen Anklage, er habe beim Hörsaal-1Happening „Kunst und Revolution“ in der Wiener Universität dazu aufgerufen, „in den Stephansdom zu scheißen“. Sein Foto landete in der Fahndungskartei für Sexualstraftäter. Die Bürgerrechte wurden ihm daraufhin zwar nicht entzogen, aber es wurde bald ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. Ingrid Wiener: Sie hätten ihn jederzeit verhaften können. Oswald war in Westdeutschland auf Lesereise mit seinem eben erschienenen Buch die verbesserung von mitteleuropa, roman. Wir rieten ihm, nicht nach Österreich zurückzukehren. So kamen wir überhaupt erst nach Westberlin. Wolfgang Müller: Die österreichischen Künstler, allen voran die Wiener Aktionisten, waren ständig in großer Bedrängnis, und Westberlin bot ihnen Freiraum vor Schikane und Verfolgung. In Westberlin konnten sie in Freiheit neu anfangen. Michel Würthle: Der Name „Exil“ stammte von mir und stand für „Charlottenburger Exil“. Oswald hat mir den Kitsch durchgehen lassen. Vor allem aber waren Flaubert und Balzac schuld daran, dass wir überhaupt eine Vorstellung vom Restaurant hatten, wie es zu sein hatte. Sie haben die Vorstellungskraft geliefert. Und wir haben aus dieser Imagination das Exil gebaut. Stephan Landwehr: Es war das schönste Restaurant, das ich in mei- nem ganzen Leben gesehen habe. Das war so ein positiver Ort. Man musste zwar immer aufpassen wie der Luchs, dass Oswald einen dort nicht zum Frühstück gefressen hat, aber ansonsten … Günter Brus: Das ist eben noch die alte Schule von einem gut geführten Restaurant. Man hat auf die Einrichtung großen Wert gelegt, aber nicht jeden Kratzer gleich zugekleistert, sodass man ein gutes Gefühl hatte in diesem leicht abgenutzten Ambiente. UNA WIENER Sie ist eines von drei Kindern von Oswald Wiener und der bildenden Künstlerin Lore Heuermann. Im Exil heuerte sie als Hilfsköchin an und fiel erst einmal angesichts „der Vulkanhitze in der kleinen Küche“ in Ohnmacht. SARAH WIENER Bekannt geworden ist die jüngere Tochter von Oswald Wiener und Lore Heuermann als Fernsehköchin, Franchise-Unternehmerin und Stargastronomin. Wie ihre Schwester Una begann sie ihre Karriere in der kleinen Küche des Exil. GÜNTER BRUS Wie Oswald Wiener musste der Aktionskünstler 1970 vor der österreichischen Justiz fliehen, um einer Haftstrafe zu entgehen. In Westberlin war er bald Stammgast im Exil, für das er ein riesiges Deckengemälde malte. Die neue Nationalgalerie Berlin zeigt ab 12. März eine Brus-Retrospektive im Martin-Gropius-Bau. MICHEL WÜRTHLE Der heutige Betreiber des Künstlerrestaurants Paris Bar in Berlin-Charlottenburg gründete das Exil 1972 mit Ingrid und Oswald Wiener. Seine Erinnerungen an die gemeinsam erlebte Zeit hielt Würthle in ausdrucksstarken Zeichnungen fest. BRUNO BRUNNET Bevor Bruno Brunnet die Berliner Galerie Contemporary Fine Arts (CFA) gründete, war er in den 80er-Jahren Kellner im Exil. WOLFGANG MÜLLER Der Musiker (Die tödliche Doris), Chronist (Subkultur Westberlin 1979–1989, Philo Fine Arts) und Künstler zählt zu den größten Experten des Werks von Dieter Roth. STEPHAN LANDWEHR Der Rahmenbauer war Stammgast im Exil während der 80er-Jahre. Als er ein Jahrzehnt nach dessen Ende das Grill Royal an der Spree eröffnete, wollte er mit seinem Restaurant den freien Geist des Exil weiterführen. Michel Würthle: Wir haben das Exil im Winter 1972 aufgemacht. Und zu dieser Jahreszeit lag ganz Kreuzberg, das ja zu drei Himmelsrichtungen umgeben war von der Mauer, in einem Smog aus Kälte, Nebel und Braunkohlepartikeln aus der DDR. Und so roch das auch. Uns hat diese abweisende Dunkelheit aber gefallen. Sarah Wiener: In Westberlin herrschte Anarchie und Freigeist. Das war in dieser Zeit so, weil die Politik froh war, dass ein paar Leute, AUFMACHERSEITE, LINKS: Helmut Newton, Fotoshooting Knödel essen im Exil, 1977 MITTE: Exil mit Deckengemälde von Günter Brus RECHTS OBEN: Exilstammtisch mit Rainer Fetting, Claudia Skoda, Herbert Weinand, Berthold Schepers und Elvira Bach MITTE: Harald Szeemann (r.) und der Galerist Ala UNTEN: Kasper König (l.) und Galerist Paul Kasmin (M.) REVUE 45 IM UHRZEIGERSINN VON LINKS OBEN: Thomas Voburka. Julia Hacker und Rainer Fetting. Günter Brus, Oswald Wiener und Dieter Roth. Elvira und Karl Horst Hödicke. Bianca Capitanio. Oswald Wiener vor dem Exil. Unbekannt, Maria Gilissen-Broodthaers, Hermann Stober. Ingrid Wiener in der Küche. Speisekarte, von Günter Brus gestaltet Zwei Klassiker gucken weg: Markus Oehlen, Albert Oehlen, Martin Kippenberger, Hubert Kiecol, Günther Förg (von links) bei der Eröffnung der Ausstellung Wahrheit ist Arbeit, Museum Folkwang in Essen, 1985 REVUE 46 v IM UHRZEIGERSINN VON LINKS OBEN: Ingrid Wieners Mutter, Ingrid und Oswald Wiener. Blick auf das Exil im Grünen. Michel Würthle (l. u.) mit Gästen. Handgezeichnete Speisekarte. Peter Raue, Marlene und Dieter Hauert. Markus Lüpertz, Karl Horst Hödicke, Helmut Middendorf, Stephan Landwehr Die Zeichnungen auf S. 49 sind von Michel Würthle aus dem Buch Aufzeichnungen eines REVUE bewaffneten Schankprinzen. Im Exil 1972–1979 47 und seien es auch nur Verrückte und Künstler, nach Berlin zogen. Una Wiener: Viele Gäste dachten, dem Herrn auf dem Kunstwerk Da gab es keine Politessen und auch kein Ordnungsamt, noch nicht sei schlecht. einmal die Steuer. Das war eine Zwischenzeit, eine geografische Günter Brus: Der Mann greift sich ans Herz. Ich wollte eine SpanLücke, die übersehen worden war. nung zwischen dem Schmerzensmann da oben und den darunter Una Wiener: Das Bargeld hat Michel immer im Schuber einer dinierenden Gästen. Chopin-Schallplattenbox versteckt. Jeder wurde nach der Schicht Oswald Wiener: Auch für Dieter Roth war das Exil Wohn- und Speistets in bar auf die Hand bezahlt und in die Nacht entlassen. sezimmer zugleich. Er war eigentlich immer da. Ich fragte ihn, ob er Ingrid Wiener: Es gab keine Sperrstunde in Berlin. Und bis um fünf nicht den hinteren Raum bebildern wolle. Er tapezierte den Raum Uhr ging es im Exil meistens. Dann waren wir natürlich auch betrun- dann mit der Biertapete. ken. In einem der Sommer, es war schon heller Morgen, hat sich Michel vor dem Lokal nackt ausgezogen und hat gerufen: „Die Una Wiener: Die Biertapete hat nur ein sich wiederholendes Motiv: Sonne! Die Sonne!“ Um die Zeit sind die Leute zur Arbeit gegangen. einen Blumentopf, aus dem eine Biertulpe herauswächst. Sie haben ihn angeschaut und gelacht! Wolfgang Müller: Die waren in der typischen Dieter-Roth-Art Una Wiener: Gelegentlich drangen Stammgäste, aber auch Leute gestaltet und wie ein serielles Muster über den ganzen Raum vervon der Besatzung im Suff nachts in die Küche ein und stahlen teilt. Sie zeigten ein Bierglas von Sonnenaufgang bis Sonnenunetwa die Semmelknödel, die wir für den nächsten Tag vorbereitet tergang. hatten. Die warfen sie dann aus Spaß in den Landwehrkanal und nannten es „Entenwerfen“. Wir aus der Küche waren am nächsten Oswald Wiener: Die Tapete umschloss den Raum 360 Grad: Der erste Druck war ganz hell, man hat kaum Farben gesehen, dann ging Tag stets stinksauer. man an der Tapete entlang, und es wurde fast schwarz – je weiter EIN MAFIACN MIT man ging, desto dunkler wurden die Farben. Jedes Blatt war ein UniSTRIKTER KOMMANDOSTRUKTUR kat. Leider gibt es keine guten Fotos davon. Wir hatten nicht die Zeit, an die Nachwelt zu denken. Sarah Wiener: Das Exil fügte sich in Kreuzberg in die soziale Struktur ein. Es stand für Laisser-faire, unheimlich gutes Essen und tolle Wolfgang Müller: Das Beste aber war, dass Roth das Unmittelbarste Getränke. Möglich war das nur in dieser Zeit, in diesem Kosmos, mit wahrgenommen hatte, nämlich das, was auf dem Tisch steht: das diesen Menschen – in dieser Gegend, die das Gegenteil von schick Glas Bier. Das absolut Naheliegende ist stets das am schwierigsten war. Wer ins Exil ging, der wollte da hin. Es war eine lange Taxifahrt zu Erkennende. Viele Gäste haben die Biertapete bei ihrem ersten Besuch im Exil gar nicht wahrgenommen. von Zehlendorf nach Kreuzberg. Wolfgang Müller: Das Exil war in diesem Sinne eine Künstlerkneipe, in der die absolute Avantgarde ihrer Zeit verkehrt hat, aber eben völlig unprätentiös – also ohne so eine demonstrative Geste des Künstlerischen. Die Künstler wussten auf alle Fälle bald, dass es dieses freigeistige Lokal mit dem guten Essen und einer ausgewählten Schnapsauswahl gab. Günter Brus: Man konnte während der im schummrigen Licht geführten Tischgespräche aber auch alles um sich herum vergessen. Una Wiener: Und im Winter war es angenehm warm! Der alte Kano- nenofen wurde immer ziemlich heiß. Ständig haben sich irgendwelche Gäste an ihm verbrannt. Oswald Wiener: Eine wichtige Klarstellung: Wir waren keine Gour- Sarah Wiener: Es war zudem so was von verräuchert! Viele haben mets. Wir haben nicht über die Küche philosophiert, sondern wir Zigarre geraucht, darunter mein Vater. Ich mochte diesen Geruch. wollten gut essen. Ich habe selbst öfters eine geraucht. Und viel Bier ist dort getrunken worden. Stephan Landwehr: Oswalds Geist und Ingrids Küche haben den Raum beseelt. Es reicht halt nicht, sich ein wenig Kunst an die Wände Oswald Wiener: Das Bier ist in Strömen geflossen. Die Gäste waren zu hängen. Die komplette Decke des Gastraums war mit einem rie- ja auch großzügig. Nicht dass wir sie abgezockt hätten. Wir haben ja keine Rechnungen gemacht und wir haben auch nicht aufgeschriesigen Gemälde von Günter Brus bemalt. ben, was die Gäste konsumiert haben. Wenn ein Gast „Zahlen!“ Michel Würthle: Das hat er, auf der Leiter stehend wie der Michel- gerufen hat, dann ist Michel hingegangen und hat es eingeschätzt. angelo, direkt auf die Decke gemalt. Bis er es fertiggestellt hatte, vergin- Der hat immer Fantasiesummen genannt. Aber es hat nie einen gen vielleicht zwei Monate. Jeden Abend haben die Gäste also ein biss- Anstoß gegeben. Er hat es immer ungefähr so hingekriegt. Ob da chen mehr vom Bild zu sehen bekommen. Das Beste war, dass er das einer ein Bier mehr oder weniger getrunken hatte – das hat sich ausMotiv aus einer AOK-Zeitschrift über Herzinfarkte genommen hatte. geglichen im Laufe der Zeit. REVUE 48 Günter Brus: Es hat sich herumgesprochen, dass es dort besonders interessant ist. Von der Musik her, vom Essen, von der Bedienung. Oswald Wiener stand wie ein Mafiaboss, der sein Dorf nie verlässt, immer selbst an der Theke. Oswald Wiener: Wir wollten keine Heimat. Wir wollten einen Clan, einen Mafiaclan. Mit Vätern und Söhnen und mit einer strikten Kommandostruktur. Una Wiener: Im Exil gab es jeden Abend Trink- und Musikpädago- gik. Es wurde den Gästen beigebracht, was gut ist. Oswald drehte die Musik jeden Abend von beruhigend zu aufputschend. Er spielte Billie Holiday und Bessie Smith, aber auch Charlie Parker und Chet Baker, Tito Puente und Rembetiko-Musik. Roberto Murolo und Peppino di Capri waren Michel Würthles Lieblingssänger. Man hat im Exil als Gast seinen musikalischen Horizont erweitert. Sarah Wiener: Oswald war das Zentrum, er war die Hauptfigur. Aber er hatte auch spannende Freunde. Er war wie ein Planet, um den die anderen wie Satelliten kreisten. Bestimmte Leute fühlten sich von ihm angezogen oder auch abgestoßen. Manche kamen einmal und nie wieder, andere kamen plötzlich täglich. Oswald Wiener: Ich habe mich mit Härte durchgesetzt, wo es mir nötig schien, und habe nicht viel Rücksicht genommen auf die Gefühle von anderen. Das war halt so. Ich war damals nicht gut zu genießen und hatte ein ziemlich ausgeprägtes Aspergersyndrom. Da habe ich manchem ins Gesicht geschissen, der mir eigentlich wohlwollte. Mit einigen von damals habe ich es mir bis heute verdorben. Sarah Wiener: Damit zog er natürlich auch eine Menge Irrer an. Und nicht wenige zitterten vor seinem Scharfsinn und seiner rhetorischen Angriffslust. Aber das gute Essen und die Seele, das kam von Ingrid. Sie hat das alles zum Leben gebracht und ohne sie hätte er das alles nicht machen können. Ingrid Wiener: Wir haben das schon sehr familiär aufgebaut. Die Kellner und die Küchenleute waren alle keine Bediensteten, sondern es waren Freunde. Genau wie Oswald, der eigentlich kein Wirt ist, war ich keine Köchin. Ich habe dann aber schnell gelernt, wie man Gulasch macht und auch Schweinsbraten. Überhaupt fiel mir das Kochen auf Anhieb nicht schwer. Oswald Wiener: Das war ja die nächste völlig unerwartete Sache: dass sich herausstellte, dass die Ingrid nie gekocht hatte, und plötzlich ist es wunderbar, was sie macht. Ingrid Wiener: Ich habe mich von Anfang an in der Küche wohlge- fühlt. Ich wollte gar nicht da draußen sein, wo die alle gesoffen haben. Also habe ich meine Mutter gefragt, was meine verstorbene Großmutter, die so gut hat kochen können, an Rezepten hinterlassen habe. Sie sagte: Großmutter hätte immer das Kronen Zeitung-Kochbuch gehabt. Das hat sie mir dann auch gegeben, und ich muss ehrlich sagen, dass ich da heute noch reinschaue, weil es ein Kochbuch ist, das so normal ist. Da stehen sehr viele Sachen drin, die man einfach nachkochen kann. So habe ich mir das Kochen selbst beigebracht – und ich merkte sofort, dass mir das Kochen auch für größere Gesellschaften leicht von der Hand ging. Michel Würthle: Die ersten Wochen gab es noch kein Essen à la carte. Da wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Da waren wir froh, wenn wir einen Rinderbraten für zwanzig Gäste in gleichbleibender Qualität haben servieren können. Erst mit der Zeit hat Ingrid die Speisekarte erweitert und ausgebaut. Sarah Wiener: Kaiserschmarrn, Palatschinken, Grießnockerl- suppe – das waren echte Sehnsüchte, die vom Exil erst geweckt und dann befriedigt wurden. Für die Westberliner war diese Küche eine Offenbarung. Die hatten ein solches Essen noch nie im Gaumen geschmeckt. Günter Brus: Ich wurde von Michel gefragt, die Vorderseite der Spei- sekarte zu zeichnen. Kurios war, dass sie mehr oder minder auf Altwienerisch gehalten war. Oft gab es Missverständnisse: „Herr Wiener, was ist denn der ‚Palatschinken‘ für ein Schinken?“ Michel Würthle: Nicht alle Gäste haben auch gegessen. Die haben Ingrid Wiener: Wir konnten ja gar nicht so wahnsinnig viel nur gesoffen, geraucht und geredet. Die haben teilweise die Tische kochen, weil wir gar nicht den Platz gehabt haben. Dann war halt dies oder jenes aus. Das war sehr häufig der Fall. Manchmal haben wir dann doch noch was nachgekocht, wenn Freunde wie Ira Wool noch gekommen sind. Die kamen oft spät, nach ihren Lectures. Dann haben wir denen halt noch was gemacht. Und wenn ich es recht bedenke, ist der kleine Christopher Wool auch mit seinen Eltern im Exil gewesen. Ira hat uns irgendwann erzählt, das Exil mit seinen Künstlergästen und den Arbeiten von Brus und Roth sei Christophers erste Berührung mit der Kunst gewesen. als Stühle genutzt. Und wer nicht auf den Tischen saß, stand. Ich habe sie zum Essen zwingen müssen. So wurde ich zum Pusher. Wollten sie nicht essen, bekamen sie eine Rindsuppe von der Ingrid. Da konnte kaum einer widerstehen. Sarah Wiener: Auf dem Herd stand immer ein Riesentopf mit kräftiger Suppe, darin der Tafelspitz. Wenn jemand einen geordert hatte, ging man mit der Fleischgabel rein in den Topf, holte den Tafelspitz raus, knallte ihn auf ein Brett, schnitt etwas davon ab, und dann kam er wieder rein in den Topf. Das ist die Küche des Machbaren. Diese Haltung hat viel mit den eigenen Wurzeln zu tun, mit kulturhistoriUna Wiener: Vor allem war das Exil antimodisch. Wir haben uns nie schen Aspekten: Wie ist etwas an dem Ort entstanden, an dem du einem Trend gebeugt, sondern immer versucht, unsere Gäste für bist? Da bin ich mir absolut treu. In einem Leben, das ohnehin schon unsere Küche und unsere Getränke zu begeistern. wild ist, muss ich nicht jeden Tag die Küche neu erfinden. So wird das vertraute Essen zum Anker. Stephan Landwehr: Alle Tische waren immer schön mit weißem FINANZIERT MIT DEM VERKAUF Tischtuch eingedeckt, alles blitzsauber. Messer, Gabel, Serviette aus EINER BEUYS-SKULPTUR Stoff. Das war schon richtig schick. Wenn die aufgemacht haben, um 18 Uhr, dann sah das picobello aus – es war eine andere Welt. Und diese hatte nichts mehr mit der Welt da draußen zu tun. Man konnte Una Wiener: Die österreichische Küche des Exil hatte ein paar wirkliche Kaliber im Programm. Gerade die Innereien waren alles vergessen. bemerkenswert. Wo konnte man in Berlin Innereien essen außer Michel Würthle: Die weiße Tischdecke war für viele ein Affront. im Exil? Dafür wurden wir von den Autonomen und von bestimmten Gästen gehasst. „Tränke der Reaktion“ und „Faschisten“ haben sie uns Ingrid Wiener: Vor Kutteln oder Nieren oder Hirn hat es damals geschimpft. Deshalb haben wir sie zum Teufel geschickt! Man muss jedem gegraust. Genau das habe ich dann aber gemacht: Stierhoes von der ästhetischen Seite sehen: Wir hatten ein von der Farbstim- den in Aspik. Viele Leute sind dann durch das Exil darauf gekommung her dunkelbraunes Lokal übernommen. Wenn wir da keine men, dass man das essen kann. Das war dann für die AbenteuerDecken gehabt hätten, wären gar keine Lichtpunkte und Kontraste essen. mehr im Lokal gewesen. Michel Würthle: Man muss dazu sagen, dass dem Oswald oder mir Oswald Wiener: Es ist aber in den ersten zwei Monaten nur wenig mitnichten alles immer super geschmeckt hat, was aus der Küche Publikum gekommen – und das, obwohl wir im Matala unser Stamm- kam. Oswald war da in seinem Urteil extrem hart. Ich war, was die publikum gehabt hatten. Kreuzberg war offenbar zu weit von Char- Kritik am Essen anbetraf, wesentlich konzilianter. Aber Oswald lottenburg entfernt. Man musste entweder mit der U-Bahn zum ließ seinen Rostbraten schon mal mit der Bemerkung „Das ist Kottbusser Tor fahren und dann zu Fuß weiter oder eben mit dem unessbar“ in die Küche zurückbringen. Wenn das passierte, konnte Taxi kommen. man sich auf etwas gefasst machen. Dann kam Ingrid aus der Küche zum Tresen und fragte den Ossi: „Hast du wirklich gesagt, Una Wiener: Aber die Gäste begannen zu kommen. Viele nur wegen der Rostbraten ist ‚unessbar‘? Was ist daran unessbar?“ Und wenn des Essens. Es gab dezidierte Lieblingsspeisen: Marillenknödel, er dann die Schraube weiterdrehte und sagte: „Darüber werde ich Tafelspitz, Innereien. doch nicht diskutieren!“, dann durfte man sich ducken, denn dann REVUE 50 flogen Teller auch im Gastraum. Andererseits wusste man natürlich Una Wiener: Der Ludwig Attersee war anfangs als Stipendiat des nie, was der Kellner im Wortlaut gesagt hat, als das Fleisch in die DAAD in Westberlin und kam immer ins Exil, denn er hat mit meiKüche zurückging. nem Vater irre viel zusammengearbeitet. Ich erinnere mich an einen wunderschönen Abend, als Attersee für Joseph Beuys gesungen hat, Sarah Wiener: Die kleine, völlig überhitzte Neonlicht-Küche war der oft bei uns gegessen hat. durch eine Holzschwingtür mit dem Restaurant verbunden. Immer wieder bin ich während des Kochens an die Tür gegangen, um den Oswald Wiener: Beuys und ich haben uns kennengelernt, weil ihm Kellner zu rufen, damit er etwas abholt. Und in diesen Momenten mein Buch so gut gefallen hat. Ich verdanke ihm sehr viel, dabei habe ich dann in dieses gedämpfte, jazzbeschallte, zigarrenver- waren wir nie eng befreundet. rauchte, lachende, im Vergleich zur Küche atmosphärisch ganz andere Exil geschaut. Was ich sah, war die freie Welt. Dabei waren es Michel Würthle: Man darf den Eindruck nicht unterschätzen, den gefühlt immer die gleichen Gäste, die irgendwann spätabends ange- die verbesserung von mitteleuropa, roman bei den Leuten hinterlassen hat. schwemmt wurden und weinselig, sich gegenseitig die Füße knetend, Das hatte zwar kaum einer gelesen, aber alle hatten einen Mordsrespekt vor dessen Autor. dort saßen und philosophierten, während sie futterten und soffen. Una Wiener: Das eigentliche Publikum des Exil kam nach dem The- Ingrid Wiener: Das Exil hat uns Joseph Beuys mit seiner Skulptur ater oder nach der Vernissage – also erst gegen 22 Uhr ging es los, finanziert, das dürfen wir nicht vergessen! wenn andere Küchen bereits geschlossen hatten. Und wer so spät erst von der Arbeit kam, der war bereits gut geladen – geladen im Oswald Wiener: Stimmt, Beuys hat uns eine Skulptur geschenkt, Sinne von Adrenalin. Wenn der Fassbinder mit seiner Entourage damit wir sie verkaufen. kam, dann nicht zum Abhängen. Die blieben dann stundenlang. Ingrid Wiener: Ehrlich gesagt: Wir haben die Skulptur nie richtig Sarah Wiener: Da mein Vater und Ingrid aber tiefstapelten und nie- gesehen, weil Beuys sie gleich für uns verkauft hat. mals angaben, sind mir die ganzen berühmten Leute, die bei uns ein und aus gingen, gar nicht groß aufgefallen. Ich spürte es höchstens Oswald Wiener: Das hat uns damals um die 20.000 Mark eingeam Rande, wenn Quincy Jones oder David Bowie im Laden waren. bracht – viel Geld, das wir tatsächlich dringend benötigten und das uns half, das Exil so einzurichten, wie wir es für richtig hielten. Günter Brus: Am Anfang waren gar nicht so viele berühmte Menschen im Exil, das war eher untergrundmäßig. Aber dann ist Peter Michel Würthle: Zu uns kamen auch die Großbürger-Anarchos, die Falk gekommen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit Richard es in Grunewald und Zehlendorf abends nicht mehr aushielten. Huelsenbeck an einem Tisch gesessen bin. Der alte Mann hat drauf- Wobei anzumerken ist, dass Oswald die österreichischen Kommulosgewettert gegen einen Dadakollegen. Max Frisch war auch oft dort. nisten, von denen sich gelegentlich auch mal einer blicken ließ, nicht ausstehen konnte. Österreichische Kommunisten waren strenge, staSarah Wiener: Der Kreis weitete sich mit der Zeit beständig aus. linistische Trottel, während die Kommunisten in Westberlin immerManche streiften das Exil nur elliptisch, aber jeder, der in Deutsch- hin bereits chineserische Kommunisten waren, genauer gesagt: land einen Namen hatte und auch internationale Stars landeten bald schwäbische chineserische Kommunisten. Schon angenehmer zu alle bei uns – es gab ja sonst nix. ertragen waren die italienischen Anarcho-Dandys aus Mailand, Rom und Neapel, deren sprezzatura mir imponierte. Oswald Wiener: Das Exil entwickelte sich explosionsartig. Sarah Wiener: Der einzige Gast, der mich damals wirklich beeinUna Wiener: Im Exil war es bald teilweise so extrem wahnsinnig voll, druckt hat, war Christo – damals kannte den kaum jemand. Ich verdass man sich nicht mehr wirklich hat bewegen können. Die Kellner packte ihm sein Dessert. Er war darüber sehr gerührt. kamen nicht mehr durch, die Gäste auch nicht. Und wenn die Leute zu tanzen angefangen haben, hat man mitgetanzt. Oder man hat sich Michel Würthle: Von Hausbesetzern bis zu Hollywoodstars kamen bei wildfremden Leuten auf den Schoß gesetzt – oder auf irgendei- sie alle, und natürlich auch Anwälte, Diplomaten und Zahnärzte. Mein Job war es, zu erkennen, wem man wie viel Geld aus den Ripnen just frei gewordenen Sessel. pen leiern konnte. Und einigen kam ich bei der Abrechnung entgeSarah Wiener: Im Exil war es wirklich immer sehr lustig. Und gen, weil ich wusste, dass sie als Künstler schwer zu kämpfen hatten. manchmal auch traurig, weil einer gestorben war. Es gab ein Klavier, Una Wiener: Martin Kippenberger, der im Exil Stammgast war, leiund es wurde in die Tasten gegriffen. tete eine Zeit lang das SO36 in der Oranienstraße. Der hat die ganzen Günter Brus: Da haben dann Christian Ludwig Attersee und Dieter englischen Punkbands immer vor ihren Auftritten ins Exil geschickt. Roth und Gerhard Rühm ganze Abende bis zum frühen Morgen Also saßen da Siouxsie Sioux and the Banshees an einem Tisch und durchgeklimpert. die Einstürzenden Neubauten an einem anderen. REVUE 51 IM UHRZEIGERSINN VON LINKS OBEN: Michel Würthle, Michael Krebber und Martin Kippenberger. Oswald Wiener. Exil-Küchencrew. Bianca Jagger und Heiner Bastian. Hommage an Ingrid und Oswald Wiener von Michel Würthle, 2015. Karl Horst Hödicke (l.), Helmut Middendorf (2. v. l.). Zeichnung von Michel Würthle aus dem Buch Aufzeichnungen eines bewaffneten Schankprinzen. Im Exil 1972–1979. Kellner Amadeus IM UHRZEIGERSINN VON LINKS OBEN: Tischrunde mit Michael Krebber, Michel Würthle, Martin Kippenberger, Cosima von Bonin, Reinhald Nohal und Helmut Middendorf. Vor dem EXIL: Michel Würthle und Jenny Capitain. Ed Kienholz. Bianca Capitanio und Rainer Fetting. Michel Würthle hinterm Tresen. Bruno Brunnet und Antonia Lerch. Mario Merz (l.), Christos Joachimides REVUE 53 Oswald Wiener: Der Kippenberger war mir sympathisch. Er hat eine Eine wohlige Lähmung. Nach einem solchen Wein will man nicht gefaltete Zeitschrift gemacht, die hieß sehr gut|very good. Das hat mir mehr heruntersteigen. Also trinkt man nach einem Burgunder, gefallen. Er hat Ingrid eingeladen, im SO36 zu singen. Und sie ist wenn man sich keine zweite Flasche leisten kann, einen Schnaps. dort dann auch aufgetreten. Und zwar aus einem großen Schwenker, in dem sich der Cognacduft sammelt. Der ist dann wie ein Gong. Man wacht dann kurz Ingrid Wiener: Mit einem Lama. Das Lama wollte aber absolut nicht wieder auf. auf die Bühne. Dann stand es halt unten im Publikum. Bruno Brunnet: Wenn große Leute in der Stadt sind, dann muss Michel Würthle: Heutzutage ist der ein VIP, dessen Ponem lange man ihnen auch einen Respekt entgegenbringen, damit sie das genug im TV zu sehen ist. In den Siebzigern waren Berühmthei- Gefühl haben, dass sie etwas Besonderes sind, sich dementsprechend ten manchmal noch Leute, zu denen man aufgeblickt hat, weil auch öffnen und anschließend ihren Teil dazu beitragen, dass der man von denen was hat lernen können. Ich spreche von seltsamen Abend im Exil zu etwas Besonderem wird. und sehr interessanten Figuren wie Richard Hamilton, Dennis Hopper, Julian Schnabel oder Francesco Clemente, die bei uns ein- Michel Würthle: Was tut man, wenn ein berühmter Hollywoodstar den Laden betritt? Man begrüßt ihn mit Namen. Das und ausgingen. mögen sie alle. Ich grüßte also mit „Good evening, Mr. Duck“. Bruno Brunnet: Und wo Berühmte verkehren, finden sich auch Ver- Oder, wenn man sich schon etwas besser kannte und wusste, da ehrer. Das war aber okay, denn die Berühmten brauchen auch ein kommt einer zum wiederholten Mal: „Good evening, Donald, how Publikum. Sie genießen es, wenn sie merken, dass eine Energie von do you do?“ ihnen ausgeht, die die Leute elektrisiert. Ingrid Wiener: Peter O’Toole war während eines Filmdrehs in Berlin Una Wiener: Helmut Newton, der oft bei uns gegessen hat, fotogra- vierzehn Tage lang jeden Abend bei uns. Am letzten Abend hat fierte im Exil mal vor dem Tresen zwei von seinen nackerten Frauen. Michel dann Wiener Walzer aufgelegt und Peter O’Toole hat mich Das Bild ist heute weltberühmt. gefragt, ob wir nicht gemeinsam tanzen wollten. Also sind wir rausgegangen, in den Vorgarten, und haben Walzer getanzt. Und dann Michel Würthle: Im Exil konnten sich Stars entspannen. David haben wir uns geküsst und das war so romantisch! Er hat mich dann Bowie war oft da mit Iggy Pop und hat sich seinen Tisch stets unter gefragt, ob ich nicht mit ihm nach Venedig fahren wolle. Und ich dem Namen „Mrs. Jones“ reservieren lassen. habe gesagt: „Ich muss leider arbeiten.“ Una Wiener: Die waren immer da, wenn Bowie im Hansa Studio Bruno Brunnet: Es gab gelegentlich Momente großer Oper: Ich aufgenommen hat. Ein Kellner hat von ihm einmal 700 D-Mark erinnere mich noch daran, als Raging Bull auf der Berlinale Premiere Trinkgeld bekommen auf eine Rechnung von 300 D-Mark. hatte. Das war am selben Abend, an dem Die Orestie von Aischylos an der Schaubühne aufgeführt wurde. Da saß die ganze Schaubühne Bruno Brunnet: Er hat viel geraucht und Bier getrunken und war schon im Lokal und dann kamen Harvey Keitel, Robert de Niro und rappeldürr. Ich glaube, der war auch eine schwere Koksnase. Oft kam Martin Scorsese rein. Da gab es einen Riesenapplaus und irgendjeer auch mit Coco Schwab, seiner Privatsekretärin – die hatte er bis zu mand ist auch auf die Knie gegangen. Für fünf Minuten gab es das seinem Tod. Der hat sich einfach gefreut, die Schönheit der Situation ganz große Schauspieler-Hallo, aber dann sind auch wieder alle an genießen zu können, ohne jemals belästigt zu werden. Zu mir war er ihre Tische zurückgekehrt. immer total freundlich, und er hat auch hin und wieder mal mit Otto Schily und Oswald Carambol gespielt – im Exil gab es ja auch einen Stephan Landwehr: Zur Berlinale war das Exil immer bumsvoll. Die ganzen amerikanischen Schauspieler sind dort hingegangen, alle. Jack Caramboltisch. Nicholson war immer da: „The best place in the whole world. I love Oswald Wiener: David Bowie war ein Superstar, als er zu uns kam. Exil!“ Und dann hat er gesoffen. Der hat aber immer sehr bescheiden gegessen und nie über die Stränge geschlagen. Wir mussten allerdings stets darauf gefasst sein, Una Wiener: An den erinnere ich mich gut. Nie wurde er behelligt. Außer an diesem einen Abend, als Salomé an der Bar stand und dass er mehrere wirklich gute Burgunder bestellte. unentwegt „Jack! Jack! Jack!“ rief, mit ganz hoher Stimme. Und Michel Würthle: Unsere Weinkarte hatten wir nach literarischen Nicholson brachte ihn zum Schweigen mit den Worten: „Who’s Vorbildern zusammengestellt. Auch wenn wir die Weine selbst that fucking seagull?“ Aber auch er wusste zu schätzen, dass er für noch gar nie getrunken hatten – wir kannten sie zumindest aus der gewöhnlich problemlos im Exil abhängen konnte, weil die Gäste Literatur. Von Marcel Proust und Flaubert. Ab und zu haben wir eh nur mit sich selbst beschäftigt waren und sich Abend für Abend einen der teuren Weine selbst getrunken. Ein guter Grand oder in ebenso endlosen wie ziellosen Diskussionen verrannten. Ich Premier Cru aus Burgund sorgt für einen ganz seltsamen Rausch. habe nie jemanden ein Autogramm geben sehen. Man spürt seinen Körper nur noch ab kurz oberhalb der Knie. REVUE 54 aussagen können, aber mit dem Fall der Mauer habe ich von Anfang an fest gerechnet. Der Mensch baut nicht für die Ewigkeit. 1978 WAREN PLÖTZLICH ALLE REICH Sarah Wiener: Im Exil haben sich die Neuen Wilden formiert. Bruno Brunnet: Die haben alle fußläufig in der Nähe gewohnt. Die konnten sich einfach den Helm vollkippen und dann nach Hause wanken. Die hatten alle anfangs gar kein Geld, sind aber trotzdem immer ins Exil gegangen. Zum Beispiel der Rainer Fetting. Der hat immer getrunken, aber nie etwas gegessen. Weil die Kohle einfach nicht da war. Michel Würthle: Und 1978 waren die plötzlich alle reich. Salomé, Fetting und Middendorf waren wie ausgewechselt: Da wurde dann von einem Tag auf den anderen nicht mehr Bier getrunken, sondern flaschenweise Champagner bestellt. Bruno Brunnet: Fetting sagt an einem Sonntagabend zu mir: „Du, Bruno, ich hätte gern eine Flasche Dom Pérignon.“ „Klar“, sage ich, „warum nicht gleich zwei?“ Da sagt er: „Warum eigentlich nicht.“ Ich: „Du weißt, Deckel sind kein Problem, aber einen Dom Pérignon, das kriege ich nicht durch, da werde ich gefragt, ob ich noch ganz dicht bin.“ Da greift er in die Hosentasche und holt einen riesigen Knödel Hundertmarkscheine raus. „Wow“, sage ich. Und dann haben wir die Flaschen aufgemacht. Dann ging eine ziemlich wilde Party los – über mehrere Jahre. Stephan Landwehr: Der immense Erfolg der Neuen Wilden hat das Exil auf ein anderes Level gebracht – einfach, weil die den Laden mit viel Geld zu ihrem Hauptquartier machten. Bruno Brunnet: Es wurde einfach anders. Es gab auf einmal mehr internationale Kunsthändler, die vorbeikamen, genauso wie Kuratoren und Museumsleute. Das Trinkverhalten hat sich verändert. Es ging nicht mehr um 22 Uhr mit ein paar Bierchen los, sondern zwei Stunden früher mit Champagner, und dazu wurde opulent gegessen. Das ging alles sehr schnell und es war auf einmal Geld da. Das verändert ein Restaurant und es bringt zwangsläufig andere Leute mit sich. Michel Würthle: Ingrid und Oswald sind dann 1985 weiter nach Kanada gezogen. Ich habe das Exil eine Zeit lang weitergeführt und nach mir kamen noch andere Pächter. Günter Brus: Die ganze Prominenz hat sich auch auf die Preisgestaltung des Restaurants ausgewirkt. Es ist eine logische Folge: Dann ist man verführt, die Preise anzuheben, denn sie haben Geld. Das Exil wurde zu einem Reiseführerlokal. Ich bin dann aus Berlin weggezogen. Davor war es aber wirklich in einem gewissen Sinne bis zuletzt ein Untergrundlokal. Sarah Wiener: Nachdem mein Vater das Exil weggegeben hat, hatte das Restaurant noch eine solche Energie und einen solchen Ruf, dass die Leute noch jahrelang dorthin gepilgert sind und es haben hochleben lassen. Una Wiener: Es gab in den Achtzigern noch mehrere Pächterwech- sel, aber keiner hat es vermocht, an den alten Geist wirklich anzuknüpfen. Die letzte Pächterin hat sich unmöglich benommen, nachdem sie das Exil schließlich heruntergewirtschaftet hatte. Im Moment ihres Scheiterns hat sie die Biertapete vom Roth und das Deckengemälde vom Brus abreißen und verhökern wollen. Nicht nur befanden sich diese Werke gar nicht in ihrem Besitz – viel schlimmer: Sie zerstörte die Werke. Oswald Wiener: Die haben gar nicht gewusst, was sie da zerstörten. Die haben nur geahnt, dass sie Geld damit machen konnten. Günter Brus: Ich bin dann später, als es umgebaut worden war, noch einmal dort gewesen und habe es kaum wiedererkannt. Der Laden hieß auch nicht mehr Exil. Und die Weinlaube im Vorgarten gab es auch nicht mehr. Oswald Wiener: Das war eine uralte Pflanze. Die ist jetzt weg, ver- nichtet worden. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, wie man das Herz haben konnte, das zu tun. r und Chor. Von links Foto für das Cover der Exil-Schallplatte Ingrid Wiene r Többen, Thomas Werne r, Wiene d Oswal Nohal, d Reinal d: nach rechts stehen Ingrid Wiener, Fuchs, Wolf et, Hornemann. Sitzend: Tom Re, Bruno Brunn ehr Landw n Stepha Helmut Middendorf, Günter Brus: Das ist der Lauf der Dinge. Es ist, wie wenn Künstler irgendwelche Stadtteile besetzen und dann von den Gutbürgerlichen irgendwann überrumpelt und verdrängt werden, sodass sie wieder ein neues Gebiet aufsuchen müssen. Oswald Wiener: Wir haben schon gespürt, dass die Zeitenwende bevorsteht, Anfang der 80erJahre. Ich habe den genauen Zeitpunkt nicht vorREVUE 55 Direkt von der Altstadtstraße betritt man diesen ersten Raum – und blickt auf ein Gemälde von Michael Heizer MÉRIDA MAGIC Was ist die Kunstwelt, wenn man sein eigenes Universum baut? Ein Haus- und Studiobesuch bei James Brown. Fotos: François Halard Im Schlafzimmer: Porträts von Alexandra Brown (links mittig) und James (rechts unten), von dem die zwei Gemälde in der Reihe dazwischen stammen Man muss sich James Brown als glücklichen Mann vorstellen. „Ich war immer davon besessen, mein eigene Welt zu kreieren“, sagt er an diesem warmen Dezembermorgen in Mérida, Mexiko, am Steuer seines Pick-ups. Gerade waren wir noch in seinem Atelier, einem ehemaligen Lager des örtlichen Elektronik-Großhandels, fünf Minuten später parkt er schon vor einer abgeblätterten Altstadtmauer, in der sich eine schmale, von verrostetem Gitter nur notdürftig geschützte Tür befindet. Die eigene Welt versus die echte dort draußen, die für Künstler, so hart es manchmal sein mag, eben immer auch „die Kunstwelt“ bedeutet – James Brown kennt sich aus mit Rallyes und Kursstürzen an der Aufmerksamkeitsbörse. Als er 1983 gemeinsam mit Jean-Michel Basquiat und Keith Haring in New York bei Tony Shafrazi debütiert, trifft er mit seinen Gemälden exakt den Zeitgeist. Großgaleristen wie Leo Castelli, Pace und Bruno Bischofberger stehen Schlange, um ihn REVUE 57 Vom Entree gelangt man in die Bibliothek, die an ein kleines Büro angrenzt. Hut und Umhängetasche verraten: Der Hausherr kann nicht fern sein zu zeigen. Browns von Volks- und Stammeskulturen beeinflusstes Werk wirkt im Kontext von Graffitis und Neoexpressionismus plötzlich ultramodern. Doch so rasant die 80er-Jahre für den in Los Angeles geborenen Künstler verlaufen, so ruhig wird es um ihn in den 90ern, in denen es ihn schließlich an einen Ort verschlägt, der nicht weiter von der offiziellen Kunstwelt hätte entfernt sein können: Oaxaca, Mexiko. „1995 besuchte ich mit meiner Frau Alexandra und den Kindern meinen Bruder, der dort mit lokalen Teppichknüpfern arbeitete“, erinnert er sich. „Ich weiß es noch genau: Vier Tage nachdem wir zurück in New York waren, um ein Uhr morgens, kam uns gleichzeitig diese Eingebung: Was, wenn wir alle Zelte abbrechen und auch dort leben?“ Wenig später beziehen James, Alexandra und ihre drei Kinder eine Finca. „Es gab dort nichts. Im Umkreis von 500 Kilometern gab es nicht REVUE 58 Im Bad ließ sich Brown vom Pariser Musée Nissim de Camondo inspirieren, über dem Bett hängt ein Beauvais-Gobelin aus dem 17. Jahrhundert mit Rubens-Motiv mal eine englischsprachige Zeitung zu kaufen.“ – James Brown, der Weltenerfinder, beginnt alles selbst zu machen. Er lernt einen lokalen Tischler kennen, der nach seinen Entwürfen die einfachen Möbel für die Finca entwirft. Auch die Teppiche für sein Haus lässt er nach seinen Zeichnungen auf traditionellen Holzrahmen in einem Bergdorf knüpfen. So wie er von nun an Künstlerbücher in Kleinstauflagen per Hand beim örtlichen Drucker setzen lässt, dessen Holz- und Bleialphabete noch aus dem 18. Jahrhundert stammen. Carpe Diem Press heißt der ultimativ entschleunigte Kleinstverlag, der knapp zwanzig Jahre nach seiner Gründung zuletzt ein Fotobuch seiner Freundin Joan Jonas veröffentlichte. Auflage: 20. Nach neun Jahren in Oaxaca verschlägt ihn ein Zufall nach Mérida, die Hauptstadt Yucatáns. Der Interior-Fotograf Tim Street-Porter ist in der Stadt, um ein Hotel zu fotografieren. Im Gespräch mit den Besitzern REVUE 59 Vom offenen Wohnzimmer fällt der Blick in die Küche … Mónica Hernández und Aníbal González erwähnt er, vor kurzem James Brown besucht zu haben. Die Besitzer outen sich als Fans und bitten ihn, den Künstler in ihr Hotel einzuladen. „Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, uns als Nachbarn zu gewinnen. Als wir ankamen, zeigten sie uns gleich die schönsten Immobilien.“ 2005 kaufen sie ein Kolonialhaus in der Altstadt, die nach Havanna und Mexiko City die größte erhaltene in Lateinamerika ist. Öffnet man die unscheinbare Tür, steht man direkt in einem prächtigen, fünf Meter hohen, blaugestrichenen Raum, in dem James und Alexandra ein Gemälde von Michael Heizer über ein normannisches Holz-Daybed gehängt haben. Rechts davon stehen zwei metallene Himmelbetten aus napoleonischer Zeit, wie sie die Offiziere auf ihren Kriegszügen in ihren Zelten hatten. „Cy Twombly hat irgendwann eine ganze Wagenladung von diesen Betten aufgetrieben. Und uns netterweise zwei abgegeben.“ REVUE 60 … und in den ersten Innenhof, auf den der Kindertrakt folgt Hinter dem Eingangsraum und dem angrenzenden Büro öffnen sich eine Bibliothek und ein Schlafzimmer hin zu einem in den ersten von zwei Innenhöfen übergehenden Open-Air-Wohnzimmer. Die einfachen Holzmöbel sind noch die, die er in Oaxaca anfertigen ließ, kombiniert mit auf Reisen erstandenen Stoffen, religiöser Volkskunst, barocken Tapisserien, Zeichnungen von Jack Pierson und einem Vesuv-Siebdruck von Andy Warhol, den er einst von seinem italienischen Galeristen Lucio Amelio geschenkt bekam. „Es war ein organischer, wie von selbst ablaufender Prozess, dieses Haus einzurichten. Du findest Sachen, mit denen du leben willst. Und die Sachen, die du nicht findest, machst du selbst.“ Auch den hinter dem ersten Innenhof anschließenden Trakt für seine inzwischen im Ausland studierenden Kinder hat er selbst entworfen, so wie den Swimmingpool im zweiten Hof und ein Gästehaus. Besuch kommt jetzt öfters, anders als in der Abgeschiedenheit der Berge REVUE 61 Im Atelier hängt Browns Gemälde Mysteries of my Other House. Auch die Keramiken und der Teppich sind – anders als die zum Maismahlen benutzten Steine – von ihm Oaxacas. Spätestens seit immer mehr Amerikaner in Mérida Häuser kaufen, ist in den Wintermonaten eine kleine kreative Szene entstanden. Der amerikanisch-kubanische Installationskünstler Jorge Pardo hat sein Hauptstudio von Los Angeles nach Mérida verlegt, die Gründer der Boutique-Hotel- und Parfümkette Coqui Coqui eröffneten kürzlich in einem Stadtpalast ihre Fundación de Artistas mit Goya-Radierungen und einer Schau von James Brown. „Es sieht so aus, als würde mich die Kunstwelt wieder einholen“, sagt er. „Bis jetzt hatte Mérida vor allem den Ruf, sicher zu sein. Wir können hier problemlos unsere Tür auflassen.“ Als kürzlich die Lokalnachrichten darüber berichteten, dass zwei gefürchtete Drogenbosse aus dem Norden ihre Mütter in Mérida einquartiert hatten, sei niemand überrascht gewesen: „Ich hätte es an ihrer Stelle genauso gemacht.“ Doch so sehr er das Leben in Mérida genießt, so sehr ist er bereits in neue Abenteuer verstrickt. 500 REVUE 62 James Brown im Eingang seines Studios. Die Korallen und Schwämme hat er auf einer Reise entlang der Baja California gesammelt. Davor eine Bronzeskulptur von 1992 Hektar Regenwald hat er gekauft. Und restauriert dort mit Alexandra eine alte Siedlung, die aufgegeben wurde, als die Rodungsteams der internationalen Holzwirtschaft zu nahe rückten. Unterstützt werden sie von ihrem Freund Silvano – der noch seine Kindheit dort verbrachte – sowie anderen ehemaligen Bewohnern. „Sie hatten damals alles, was sie brauchten. Wasser, Essen und Magie. Jetzt, wo wir gemeinsam die Wege wieder freilegen, die Brunnen und Unterkünfte restaurieren, lernen wir so viel von ihnen.“ James Brown wird sich revanchieren. Inmitten seines Weilers möchte er einen kleinen Schauraum für seine Maya-Nachbarn eröffnen. Einen Raum, in dem er teilen will, was ihm an seiner Kultur wichtig ist. Was das sein könnte? James Brown muss nicht lange überlegen. „Etwas Magisches,“ sagt er. „Für den Anfang wären Zeichnungen von Brice Marden nicht schlecht.“ TEXT: CORNELIUS TITTEL REVUE 63 REVUE 64 ROT KOMMT GUT Er war ein Star zu Lebzeiten. Dann geriet sein Werk in Vergessenheit. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Barockmaler GEORGES DE LA TOUR wiederentdeckt worden. Und gibt bis heute Rätsel auf. Eine Annäherung von Hans-Joachim Müller BÜSSENDE MAGDALENA Öl auf Leinwand, 113 × 92,7 cm, National Gallery of Art, Washington FRAU MIT DEM FLOH Öl auf Leinwand, 120 × 90 cm, Musée Lorrain, Nancy A rmer Schlucker. Glückspilz, der im Siff gestrandet ist. Hiob. Den Namen kennt auch der Bibelferne. Soll ja alles göttliche Prüfung gewesen sein. Aber wie das Schicksal mit dem Glaubensfesten spielt, das war schon immer ohne Moral. Jetzt kauert der alte Mann in der dunklen Ecke, nackt, Zauselbart, Hände gefaltet, Mund offen, ganz unverschuldetes Elend. Und seine Frau steht vor ihm, leuchtet ihn mit der Kerze an, hat eine Perle im Ohr, beugt sich über ihn, sieht ihm in die blinden Augen, und ihr rotes Kleid glänzt so seidenweich, als hätte sie es mit dem Lippenstift gefärbt. Das hat nur einer so gemalt. Georges de La Tour. 400 Jahre ist es her. Vielleicht nicht ganz 400 Jahre. Man weiß es nicht so genau. Man weiß überhaupt nicht viel vom Maler, der ein Spezialist gewesen ist für alte Männer mit Bart und Frauen in roten Kleidern und Geschichten ohne REVUE 65 Moral, ein Spezialist für Menschen, die ganz innig miteinander zu tun haben und ganz viel sagen wollen und kein Wort herausbringen. So wie die Frau, die mit der linken Hand eine ratlose Geste macht und dem fremd gewordenen Gesicht näherkommt und es nur denkt und nicht sagt: Liebster, war es das wert? Was hat dein Gott aus dir gemacht, was hast du mit dir machen lassen? Das ist von großem Zauber, wie viel Sprache in den sprachlosen Bildern versteckt ist. Das berühmte FalschspielerBild ist ja nichts weniger als ein veritables Psychodrama. Vier junge Personen am Tisch, deren Kleidung verrät, dass sie von Stand sind. Und die gold- und silberglänzenden Münzhäufchen machen unmissverständlich klar, dass hier nicht Schnippschnapp zum Freizeitvergnügen geklopft wird. Es geht um hohe Einsätze und es wird mit allen Tricks gekämpft, unter denen der mit dem Ass, das einer im Gürtel auf dem Rücken versteckt hat, wohl zu den harmlosesten zählt. Was die Szene mit Spannung lädt, das ist dieses beredte Schweigen, die virtuose Blickeregie, die die drei Spieler und die Magd, die nicht nur Wein nachschenkt, sondern mit guten Kartenkenntnissen der Runde zu Diensten ist, in der kaum unterdrückten Erregung des Argwohns zeigt. Lauernd auf unmerkliche Zeichen und gezinkte Gesten. Jeder misstraut dem anderen – und völlig zu Recht. Es ist wie beim anderen Schelmenstück des Malers, bei der Wahrsagerin, wo zum Teil die gleichen spielerfahrenen Personen auftreten und man nicht viel Fantasie braucht, um die Gaunerei zu ermessen, die hinter der kostspieligen Glücksverheißung steckt. s sind in der Geschichte der Kunst nicht wenige Kartenspieler-Bilder überliefert. Caravaggio zum Beispiel hat nur ein paar Jahre vor Georges de La Tour ein berühmtes Falschspieler-Duo gemalt. Aber da ist alles klar, der Witz gleichsam verraten. Auch bei Georges de La Tour ist die Schwindelei offensichtlich. Nur weiß man nicht, wer was weiß. Und es wäre ein bisschen töricht, wollte man den Trickstern hinter ihre Masken schauen wollen. Man würde nur das hochexplosive Empfindungsgemisch entschärfen, das dieses Werk so einzigartig macht. Immer geht in den Köpfen etwas vor, was die Personen zu undurchschaubaren Individuen macht. Und man ahnt, wenn sie zusammen sind, was sie voneinander denken, voneinander halten. Aber es wird eben nicht ausgesprochen, nicht gezeigt. Selbst ein standardisiertes Ensemble wie Maria mit dem neugeborenen Jesuskind verwandelt der Maler in ein Kammerstück von berückender Intimität, übersetzt den frommen Text in eine wunderbare Alltagssprache. Alle heiligen Attribute fehlen. Maria ist Mutter, aber keine Gottesmutter, und was sie in den Armen hält, ist ein schlafendes Wickelkind, das so fest bandagiert ist, dass es gar keine Möglichkeiten hätte, seinen frühkindlichen Segen zu verteilen. Und die Frau, die mit der Kerze in der einen Hand und der anderen Hand als Lampenschirm das Kind anstrahlt, nimmt einfach am Glück teil und hat sonst nichts zu tun. Es ist, als hätte der Maler die weihnachtliche Bildfor- E mel geliehen, um sich gleich wieder von ihr zu befreien und etwas ganz anderes zu erzählen. Nur was? So ganz genau kann man es nie sagen. Irgendwie verfällt man rasch selber in jene Sprachlosigkeit, die auf diesen Bildern herrscht. Immer geht in den Köpfen etwas vor, was die Personen zu undurchschaubaren Individuen macht. Und man kann nur ahnen, was sie miteinander haben Das Werk, wie es sich heute darstellt, ist reine Rekonstruktion. Mühsam hat man in einem runden Jahrhundert eine Gruppe Bilder identifiziert, die mit einiger Sicherheit Georges de La Tour zugeschrieben werden können. Die Zahl der Kopisten und stilistischen Nachfolger ist fast unübersehbar, und bis heute streitet man sich mit guten Gründen darüber, ob diese oder jene typische Georges-de-La-Tour-Erfindung eigenhändig sein kann oder nicht. Als der Kunsthistoriker Hermann Voss 1915 den bis dahin völlig vergessenen Maler unter dem Namen „Georges du Mesnil de La Tour“ wiederentdeckte, hat er ihm nicht mehr als drei Gemälde aus Nantes und Rennes zuordnen können. 1934 war das neue alte Werk in der großen Pariser Ausstellung Les „Peintres de la Réalité“ mit einem Dutzend Bilder vertreten. Knapp 40 Jahre später bekam Georges de La Tour seine erste Soloausstellung in der Pariser Orangerie. Jetzt war der Katalog schon über 30 Nummern stark. Und in seinem 2003 erschienenen Werkkatalog zählt Jacques Thuillier 80 Bilder auf, rechnet aber Arbeiten hinzu, die nur in Kopien bekannt sind. Ob sie tatsächlich auf Georges de La Tour zurückgehen, ist nicht bewiesen. Man kennt das Geburtsjahr 1593, man weiß, dass der Maler 1652 gestorben ist. Es gibt Hinweise, dass er 1618 seinen Wohnsitz in Lunéville nahm, wo er Diana Le Nerf heiratete, die aus einer vermögenden Familie stammen soll. Aber man hat kaum Dokumente, hält sich an ein paar Überlieferungen, die den Maler aus Lothringen, das REVUE 66 damals nicht zu Frankreich, sondern zu Habsburg gehörte, als wenig gewinnende Persönlichkeit beschreiben: reich, geizig, ähnlich wie sein italienischer Kollege Caravaggio, mit dem ihn künstlerisch manches verbindet, in allerlei Raufhändel verstrickt. Es soll mal eine Anzeige gegeben haben, weil er in Herrenmanier DER FALSCHSPIELER MIT DEM KREUZ-ASS Öl auf Leinwand, 97,8 × 156,2 cm, Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas seine Hunde über die Felder gejagt habe. Aber auch das ist nicht gerade das, was die Historiker zu den unzweifelhaften Tatsachen rechnen. Jedenfalls muss der Sohn eines Bäckermeisters als peintre ordinaire du Roy am Hof Ludwig XIII., umschwärmt von adligen Bildbestellern, ein anständiges Vermögen verdient haben. Dass die Erinne- rung an ihn verblassen konnte, lag wohl nicht zuletzt am Schicksal seiner Heimat Lothringen, die in den Kriegen des 17. Jahrhunderts völlig zerstört wurde. Ein Star zu Lebzeiten war dieser Georges aus dem Kleinstädtchen Vic-surSeille wohl schon. Dass er am Hof seines lothringischen Landesherrn Karl IV. die REVUE 67 gleiche Gunst genoss wie beim aus regionaler Sicht feindlichen französischen König, zeigt nur seine Unabhängigkeit. Zumal Ludwig XIII., verstrickt in die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit seiner machtlustigen Mutter Maria de’ Medici und ihrem listigen Einflüsterer Richelieu, nicht gerade im Ruf stand, ein verschwenderischer Förderer der Künste zu sein. Wie eng die Beziehungen zu den Pariser Auftraggebern waren, ist schwer zu ermessen. Jedenfalls hat sich der König von Philippe de Champaigne, von Rubens und Frans Pourbus porträtieren lassen, nicht aber von Georges de La Tour. Vielleicht ja auch, weil der Lothringer Maler schlicht nicht zuständig war fürs hochherrschaftliche Fach. Er war kein Porträtist, hat keine repräsentativen Historienbilder gemalt, keine festlichen Spektakel, keinen Reiter mit Degen, keine Schlachtengemälde, keine befriedeten Landschaften. Nie findet bei Georges de La Tour etwas im Freien statt. Es gibt kein Fitzelchen Natur in diesem Werk. Alles, fast alles spielt drinnen. Und wenn der heilige Hieronymus zu Bußezwecken Hand an sich legt und seine Selbstbestrafung, weil er halt Eremit ist, schlechterdings nicht im Haus verrichten kann, dann ist das „Draußen“ zu grauschwarzer Nacht geworden, in der bis auf ein paar schemenhafte Steine kein gewach- HIOB UND SEINE FRAU Öl auf Leinwand, 145 × 99 cm, Musée Epinal senes Detail zu erkennen ist. Und dass einmal die Sonne aufgehen würde, es kommt nicht vor. Alles spielt in Kammern und Kellern. Und da es keine Fenster gibt und keine elektrische Beleuchtung, werden gern Kerzen angezündet. Weshalb der Maler seinen demütigen Marien und reuigen Magdalenen und andächtigen Christenmännern mit Vorliebe die rote Robe anlegt. Denn Rot kommt gut im Kerzenschein. Und wenn der Hieronymus zur Selbstgeißelung die Kleider ablegt, dann hat er zuvor seinen schönen breitkrempigen Hut aufgehängt, und der schöne breitkrempige Hut ist sehr rot. Das Rot ist in diesem Werk wie glimmendes Feuer. Von Bild zu Bild facht es der Maler neu an. Woher er das hat? Wo er das gelernt hat? Es ist nicht erwiesen, ob er jemals in Rom war. Wirklich belastbare Dokumente haben sich nicht erhalten. Eine Zeitlang hat man es sich gar nicht anders vorstellen können. Niemand wurde zu jener Zeit Hofmaler, wenn er nicht sein obligates Italiensemester vorweisen konnte. Venedig, Florenz, Rom – im Bündel war das so etwas wie eine Promotion. Und überhaupt: Woher sollte der Lothringer sein Faible für die flackernde Beleuchtungsmagie haben, wenn er solche Effekte nicht bei italienischen Meistern wie Guido Reni oder Carlo Saraceni gesehen hat, die um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert aus Caravaggios Hell-DunkelTheatralik populäre Barockformeln gemacht haben? Aber belegen lässt sich nichts. Heute neigt die Kunstwissenschaft eher zur Skepsis. Celui qui croyait à Rome, celui qui n’y croyait pas betitelt Jean-Pierre Cuzin seinen Katalogtext zur großen Ausstellung im Madrider Prado und spielt REVUE 68 All das kommt nicht vor im Werk: die praktische Nutzanwendung, die handliche Moritat, die erhabene Inszenierung, das Schäferspiel, das erotische Abenteuer damit auf eine Gedichtzeile von Louis Aragon an. Der eine glaubt an Rom, der andere nicht. Und mehr ist nicht zu sagen. Aber so viel lässt sich schon sagen, dass dieses Werk aufs bruchstückhafte Ganze gesehen doch weit vom Standard der italienischen, niederländischen oder spanischen Malerei seiner Zeit entfernt scheint. Schon wahr, dass der Lothringer in seinem zuweilen derben Ton, in der Vorliebe für blinde Drehorgelspieler, zerlumpte Straßenkapellen und Bauersleute wie dem Erbsenesser-Paar der Berliner Gemäldegalerie das bürgerliche Genre bedient, wie es in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in Mode kam. Und dass der große Velázquez Leute aus dem Prekariat geradeso bildwürdig auftreten ließ wie die Adelsgesellschaft, das wird sicherlich auch nicht ohne Eindruck auf den Maler im abgelegenen Lunéville geblieben sein. Und dass die Art, wie er mit Jakobus, Andreas, Philippus, Thomas, Judas Thaddäus die Apostel als markige, leicht vierschrötige Männer vom Land gibt, dem italienischen Barockideal entspricht, das ist ebenso offensichtlich – auch wenn er nie in Rom gewesen sein sollte. Und doch ist alles bei ihm ein bisschen anders. Inwendiger, abgründiger, so gar nicht getröstet durch gelehrte Unterhaltung. All das kommt nicht vor im Werk: die praktische Nutzanwendung, die handliche Moritat, die erhabene Inszenierung, das Schäferspiel, das erotische Abenteuer. Nicht einmal ein anständiges Drama. Jahrhundertelang stand der heilige Sebastian mit seinem schönen Leib am Marterbaum und ließ sich verklärt gefallen, wie sie die Pfeile auf ihn schießen. Bei Georges de La Tour haben die Freundinnen den Ohnmächtigen in ihr Haus gebracht und drehen ihm mit Hingabe die Geschosse aus dem Leib. Das ist eine ganz andere Geschichte, DAS NEUGEBORENE KIND Öl auf Leinwand, 76 × 91 cm, Paris, Musée du Louvre die nichts mehr mit der Heroenbotschaft der Heiligenlegende zu tun hat. Man hat mal behauptet, anhand von „Aktennotizen“ eine runde Biografie zusammenstellen zu können. Aber so viel Mut hat heute kaum einer mehr. Der wissenschaftliche Katalog zur Madrider Ausstellung, der den aktuellen Forschungsstand referiert, begnügt sich mit Geburtsdatum und Sterbejahr. Es scheint so, dass man sich mit Georges de La Tours zwei, drei Dutzend Bildern begnügen muss. Was einer Zeit, die die schillernde Künstlerperformance braucht, um an der Kunst Gefallen zu finden, befremdlich vorkommen mag. Und doch kann man ganz gut aushalten, dass der Maler sein Lebensgeheimnis ins Geschichtsgrab mitgenommen hat. Seine Bilder sind Geheimnis genug. Nicht auszudenken, die Frau im seidenweich rotglänzenden Kleid hätte die Kerze ausgepustet und ihrem schwer geprüften Ehemann ins Ohr geflüstert: Schluss jetzt mit der törichten Gottesfurcht. REVUE 69 Von morgen an gehen wir nur noch ins Museum und schauen zu, wie der dreiste Zocker sein Reserve-Ass versteckt hält und seine Mitspieler längst wissen, was er vorhat. Und der Alte hätte genickt und seinen zahnlosen Mund bewegt und gedacht: Wie gut, dass dieser Georges de La Tour das alles gemalt hat. DAS MUSEO DEL PRADO, MADRID, ZEIGT BIS ZUM 12. JUNI DIE MIT 30 GEMÄLDEN BISLANG GRÖSSTE AUSSTELLUNG GEORGES DE LA TOURS Photography by Warren & Nick PERRIER-JOUËT, THE ALLURING CHAMPAGNE Since its foundation in 1811, the champagne house Perrier-Jouët has crafted elegant, f loral wines of rare finesse with a Chardonnay hallmark. The elegance of the cuvees echoes that of the Art Nouveau anemones adorning the Belle Epoque bottle and offers moments of pure delight and beauty. www.perrier-jouet.com PLEASE DRINK RESPONSIBLY ENCORE L. A. TRAUMFABRIK — WERTSACHEN — AU KT IO NE N — — GR AN D PRIX — BL AU K ALENDER DER AUGENBLICK TRAUMFABRIK Die Schweizer Galerie Hauser Wirth & Schimmel belegt einen ganzen Block für sich in einer ehemaligen Bank und Kornmühle Kunst ist das neue Hollywood. Milliardäre und internationale Großgalerien verändern das Bild der Künstlerstadt Los Angeles. Hält der neue Zufluchtsort, was er verspricht? F ür diese Jahreszeit brennt die Sonne ungewöhnlich heiß auf die Stadt. Im Halbschatten unter den schwingenden Palmen am kilometerlangen Wilshire Boulevard drängeln sich Highschool-Kids mit rosa Haaren und Angestellte von Hightech-Firmen vor Food Trucks um vegane Burritos und Kimchi-Gyros. Auf der anderen Straßenseite steht vor dem LACMA, dem Los Angeles County Museum of Art, der Wald von Straßenlaternen des Künstlers Chris Burden. Dahinter erhebt sich in blankem International Style der amerikanischen Klassischen Moderne ein 32-geschossiger Turm. Früher prangte das Logo des HollywoodMagazins Variety daran, aber seit einiger Zeit werden die obersten Etagen von den Büros eines High-End-Nachtclub-Imperiums okkupiert. Flankiert wird der Turm von zwei flachen Riegeln. Durch die schmalen Glasscheiben kann man verschwitzten Studiosportlern beim Spinning zuschauen. Im zweiten Bungalow ist gerade die Berliner Galerie Sprüth Magers eingezogen. Monika Sprüth und Philomene Magers betreiben nur eine der vielen Galerien, die in der sonnenverwöhnten und smogverpesteten Metropole am Pazifik gerade neue Räume eröffnen. Wer ihr Programm anschaut, entdeckt viele Künstler aus der Stadt, darunter Kenneth Anger, Ed Ruscha, Sterling Ruby, Lizzie Fitch/Ryan Trecartin, ENCORE 71 John Waters. Eröffnet wurde mit dem Lokalhelden John Baldessari. Momentan vergeht kein Tag ohne Nachricht über neu Zugezogene aus dem Kunstbetrieb. Die Botschaft ist: Los Angeles ist heiß und hip und günstig. „L. A. vibriert“, so titelte die New York Times und die Hochglanzmagazine schnatterten es nach. Das ist keine Übertreibung: Die Stadt verändert sich rasant, zieht immer mehr Künstler an und ihre Händler folgen. Thomas Demand und Ryan Trecartin kamen 2010, Oscar Tuazon, Sam Falls, Gabriel Kuri, Silke Otto-Knapp, Amalia Ulman, Jordan Wolfson zogen nach. Es sind so viele, dass selbst die Einheimischen mittlerweile verstanden haben, dass Sind Künstler die besseren Galeristen? Der Projektraum Chin’s Push wird von Lydia Glenn-Murray geführt einiges passiert. Letzten Monat stürmten sie die LA Art Book Fair und verstopfen die Straßen, wenn an einem beliebigen Samstagabend Vernissagen in den Galerien am La Cienega Boulevard im Culver City Arts District gefeiert werden. Und so verändert sich das Bild. Bislang blieben die Künstler im Hintergrund, arbeiteten in den Film-Locations und hielten die Kunstschulen am Laufen, darunter das berühmte CalArts mit seiner spröde-konzeptionellen Klientel. Sie alle suchten bislang nach einem Weg, um ohne Marktdruck zu überleben. Der Maler Lari Gigiotto del Vecchio und Stefania Palumbo von der Berliner Galerie Supportico Lopez, Paul Schimmel von Hauser Wirth & Schimmel, Marina Olsen und Karolina Dankow von Karma International Pittman nennt das „gutartige Verwahrlosung“. Doch es sind nicht die neuen Künstler, die das Bild von L. A. verändern. In den letzten 15 Jahren hat eine einschneidende Verschiebung stattgefunden. Alle paar Jahre lässt sich hier eine private Kunstinstitution nieder. Zuletzt an der Grand Avenue das 11.000 Quadratmeter große The Broad vom Milliardär Eli Broad. Die Guess-Jeans-Gründer Maurice und Paul Marciano haben sich eine ehemalige Freimaurerloge für ihr Privatmuseum mit rund 8.300 Quadratmetern ausgeguckt, nur eine kurze Fahrt entfernt von LACMA und Sprüth Magers. So entsteht auch ein wirtschaftliches Umfeld, von dem die Galerien profitieren. „Galerie“ ist in Los Angeles ein dehnbarer Begriff. Junge Kunsthändler wie François Ghebaly oder die Night Gallery haben ein gewaltiges Lagerhaus in Downtown renoviert. Freedman Fitzpatrick hat in Hollywood eröffnet, Jenny’s in Silver Lake, Michael Thibault in Mid City. Non-Profit-Ausstellungsräume wie Laxart, LAND, Fahrenheit, LAICA und Joan schossen, ehe man sich’s versah, aus dem Boden. Hinzu kommen immer öfter von Künstlern betriebene Galerien wie Embassy oder Farago. Max Farago hat 15 Jahre in New York als Fotograf gearbeitet und erfüllte sich in Los Angeles den Traum von einer eigenen Galerie. In Downtown vertritt er junge Künstler wie Ben Berlow, Aaron Bobrow oder Jason Brinkerhoff. Auch der Flirt der Zürcher Galerie Karma International mit der Stadt trägt seit einem Jahr Früchte – sie sitzt in einem versteckten Schatzkästlein in der dritten Etage des Golden Triangle Building in Beverly Hills. Die Berliner Galerie Supportico Lopez realisierte schon mehrere Ausstellungen hier, momentan eine Soloschau mit Steve Bishop im Projektraum 6817 an der Melrose Avenue. Und die Berliner Sammler Barbara und Axel Haubrok verbringen seit einigen Jahren den Winter in L. A. Sie entdecken gerade das Theater District und die Galerien an der Mission Street. Die New Yorker Galerie Michelle Maccharone hat dort ihre neue Adresse. Das neue Vorzeigemuseum des Milliardärs Eli Broad N atürlich haben da, wo früher keiner hinging, auch schon kunstaffine Modeläden und Concept Stores eröffnet. Das ist Teil der ungeheuren Energie, die sich in der Szene entwickelt: hektisch, körperlich spürbar und unübersehbar cool. Dass die französischen Messebetreiber FIAC und Paris Photo gerade ihren geplanten L. A.Ableger abgesagt haben, will man hier gern auf die Europakrise schieben – und nicht unbedingt darauf, dass L. A. keine traditionelle Sammlerschaft hat wie Paris, Brüssel oder New York. In Los Angeles setzt man auf die Kunstkäufer aus Hollywood, was zwar nicht unbedingt intellektuelle Tiefenbohrung und langfristige Liebe zur Kunst bedeutet, aber vielleicht ja eine zukunftsweisende Künstlergemeinde am Leben hält. Doch zwei Eröffnungen bedeuten für die Galerieszene eine wirklich Zäsur. Es sind Sprüth Magers und die Schweizer Großgalerie Hauser & Wirth, die am 13. März ihre neueste Filiale eröffnet, nach mehreren Standorten in Zürich, New York und London sowie zuletzt im idyllischen Somerset in Südengland. Mit dem gigantischen 9.300-Quadratmeter-Anwesen entsteht ein Bau, der nach allem aussieht, nur nicht nach Galerie. Neuer Galeriepartner ist Paul Schimmel, der ehemalige Chefkurator des Museum of Contemporary Art, Los Angeles. Als Standort wurde der Arts District gewählt, die industriell geprägte Nachbarschaft in Downtown, für die sich lange nur Hausbesetzer-Punks interessierten. Heute säumen Millionen-DollarLofts und schicke Restaurants die Straßen. Die neuen, riesigen Räume von Hauser Wirth & Schimmel bilden einen ausufernden Komplex, der sich über einen ganzen Block hinzieht. Teile davon sind eine ehemalige Kornmühle und eine Bank. Was hier stattfinden wird, macht Kunstausstellungen allerdings fast zum Nebenschauplatz. Wie schon in Somerset, wo die Werke in riesigen Räumen zwischen Slow-Food-Restaurant und Parklandschaft auf einem alten Gehöft inszeniert werden, entsteht nun eine Art museales Allround-Kulturzentrum mit Wohlfühlfaktor – samt Bibliothek, Forschungseinrichtung, Ausbildungslabor, Nutzgarten und Restaurant. Auch das Galerieprogramm verortet sich in L. A.: Paul McCarthy, Mark Bradford, Thomas Houseago, Richard Jackson, Rachel Khedoori und Diana Thater sind dabei, außerdem betreut die Galerie die Nachlässe der L. A.-Ikonen Jason Rhoades und Mike Kelley – sie und McCarthy bezeichnete ein New Yorker Kritiker einmal als „Clusterfuck“Künstler, die in ihren flashigen, brachial-bildhaften Installationen der Albtraumfabrik Amerika auf den Leib rücken. Die erste Ausstellung bei Hauser Wirth & Schimmel, kuratiert vom neuen Gesellschafter selbst, wird allerdings so gar nicht narrativ-maskulin werden. Revolution in the Making: Abstract Sculpture by Women, 1947–2016 vereint eine Riege historischer Positionen von Louise Bourgeois, Eva Hesse, Magdalena Abakanowicz oder Lee Bontecou mit Arbeiten jüngerer Künstlerinnen wie Karla Black und Lara Schnitger. Wie lange wird sich dieser Mythos L. A. halten? Das Wachstum und die Investitionen lassen die Mieten und Kaufpreise für Häuser und Wohnungen steigen. Sie haben sich seit der Finanzkrise von 2008 schon verdoppelt, in einigen Lagen sogar verdreifacht. Noch hält das niemanden ab, hierherzuziehen. Doch könnte es sein, dass diese zerfaserte, staugeplagte Stadt gerade eine neue Traumfabrik hervorbringt? Ein wenig wirkt es, als würden jetzt, wo Hollywood seinen Charme verliert, mit der Kunst Luftschlösser gebaut. Eine Stadt, die sich vor allem als Künstlerlabor versteht, funktioniert nicht unbedingt als Marktplatz, das sehen wir an Berlin. Dass die Galerien über die ganze Stadt verstreut liegen, wird hier inzwischen als Störfaktor wahrgenommen – das Kunstpublikum kennt sich aus, braucht keine Entdeckungstour mehr. „Meine Füße haben seit der Landung nicht eine Sekunde den Boden berührt“, sagt der leidende Woody Allen in Annie Hall bei seinem Besuch in Los Angeles. Vielleicht ist es das Geheimnis von L. A.: immer ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Warum auch nicht – was ist schon Kunst, wenn sie auf dem Boden der Tatsachen steht. TEXT: ANDREW BERARDINI ENCORE 73 Wie lange wird sich dieser Mythos halten? Das Wachstum und die Investitionen lassen die Mieten steigen OBEN: Kunst zum Anfassen von Sergei Tcherepnin bei Karma International UNTEN: Die neue Galerie Sprüth Magers gegenüber vom LACMA WERT SACHEN IK — L. A. TR AU M FA BR — A U K TI O N EN N — WERTSACHE K AL EN DER — GRAND PRIX — BL AU K DER AUGEN BLIC Was uns gefällt: Highlights und Abseitiges aus dem Angebot des Kunsthandels FISCHWUNDER Duchess of Devonshire 2. März bei Sotheby’s in London Eine Rarität aus dem Frühwerk Caspar David Friedrichs. Der Maler hatte sein Kunststudium in Kopenhagen beendet und sich in Dresden niedergelassen. Dort Norman Parkinson fotografierte 1952 brachte er von Wandedie jüngste der legendären Mitfordrungen eine Fülle von Schwestern mit ihren weißen WindhunNatur- und Landschaftsden für die Vogue. Vor eineinhalb skizzen mit. Aus dieser Jahren ist Deborah, Duchess of Zeit stammt auch Devonshire, gestorben. Jetzt dürfen wir die Baumstudie vom 18. ein bisschen Voyeur spielen und in ihrer April 1803. Noch ist Wunderkammer von Chatsworth House der Baum ein Baum und stöbern. Sotheby’s versteigert in kein EinsamkeitszeiZeichnungen Alter London ihren Nachlass, darin chen. Und es wird noch ein paar Meister befindet sich auch eine Jahre dauern, bis die typischen 22. März bei signierte Gemälde entstehen. Vorerst Koller in Zürich Ausgabe von gehört der kahle Baum, vielleicht Evelyn Waughs Brideshead eine Esche, zum Vorrat an BildgegenstänRevisited. Das goldene den, aus dem sich Friedrich immer wieder Tintenfass in Form eines bedienen wird. Wenn man an die frisch Hummers ist in seiner Extra- restaurierte Abtei im Eichwald denkt, dann vaganz kaum zu übertreffen sieht man, dass der Maler schon Übung (Taxe 300 bis 500 Pfund). SWKA hat, was kahle Bäume angeht. MÜ WIR PAZIFISTEN Now and Ten 16. März bei Christie’s in Dubai SEIN ERSTER BAUM Es ist ein wahres Monstrum mit seinen elf Metern! Auf diese Länge trauen sich nur wenige Künstler, Andy Warhol mit Big Retrospective Painting oder Chris Martin mit Long Lake von 2000. Doch nach Picassos Guernica hat man nicht mehr ein Gemälde solcher Wucht gesehen: Christie’s versteigert jetzt das Triptychon Sarajevo von Omar El-Nagdi, einem ägyptischen Maler, der sich 1992 mit der Belagerung von Sarajevo auseinandersetzte (Taxe 400.000 bis 600.000 Dollar). El-Nagdi thematisiert auf dem Bild die Ermordung der Bosnier im traditionell-christlichen Format eines Triptychons. Der Horror des Krieges – 1937 schuf Pablo Picasso die Ikone, El-Nagdi lässt sie aufleben. SWKA ENCORE 74 HANS SCHÄUFELIN Christus am Ölberg, ca. 1506 EINE AUSWAHL der BLAU REDAKTION AUKTIONEN 2. MÄRZ SOTHEBY’S IN LONDON Nachlass der letzten Mitford-Schwester Deborah, Duchess of Devonshire 2. MÄRZ BONHAMS IN LONDON Europäische und britische Kunst aus dem 19. Jahrhundert 3. MÄRZ SOTHEBY’S IN NEW YORK Contemporary Curated 3. MÄRZ DOROTHEUM IN WIEN „Happy Kids“-Charity-Auktion 4. MÄRZ CHRISTIE’S IN NEW YORK First Open – Nachkriegs- und Gegenwartskunst 12. MÄRZ DR. FISCHER IN HEILBRONN Europäisches Glas und Studioglas 14.–16. MÄRZ BONHAMS IN NEW YORK Asiatische Kunst 15.–18. MÄRZ CHRISTIE’S IN NEW YORK Asiatische Kunst 15.–17. MÄRZ SOTHEBY’S IN NEW YORK Asiatische Kunst 15. MÄRZ SOTHEBY’S IN LONDON Contemporary Curated 16. MÄRZ BONHAMS IN LONDON Kunst aus Südafrika 16. MÄRZ DOROTHEUM IN WIEN Moderne und Gegenwartskunst 16. MÄRZ Passionsfund Christof Metzger, Chefkurator an der Wiener Albertina, ist Renaissance-Experte. Schon 2002 schrieb er, dass zwei Tafeln von Hans Schäufelin, die seit 1821 in der Berliner Gemäldegalerie aufbewahrt werden, ursprünglich zu einem Triptychon gehört haben müssen. Auf den bis dato verschollenen Innenseiten des Flügelaltars vermutete Metzger vier Passionsgeschichten. Jetzt sind zwei Tafeln aufgetaucht. Er hat recht behalten. CHRISTIE’S IN DUBAI „Now and Ten“ – Moderne und Gegenwartskunst 16. MÄRZ LEMPERTZ IN KÖLN Gemälde des 15. bis 19. Jahrhunderts 17. MÄRZ KOLLER IN ZÜRICH Silber und Porzellan 18./19. MÄRZ VENATOR & HANSTEIN IN KÖLN Antiquarische Bücher, alte und moderne Grafik 19. MÄRZ 21. MÄRZ KOLLER IN ZÜRICH Bücher, Autografen und Fotografie DOROTHEUM IN WIEN Jugendstil und angewandte Kunst des 20. Jahrhunderts 22. MÄRZ KOLLER IN ZÜRICH Alte Grafik, Altmeisterzeichnungen und -gemälde, Gemälde des 19. Jahrhunderts 23. MÄRZ 30. MÄRZ NEUMEISTER IN MÜNCHEN Alte Kunst DOROTHEUM IN WIEN Meisterzeichnungen und Druckgrafik bis 1900 31. MÄRZ DOROTHEUM IN WIEN Historische wissenschaftliche Instrumente, Modelle und Globen Die Münchner Händler Arnoldi-Livie zeigen auf der European Fine Art Fair in Maastricht zwei Tafeln und in Paris wurden zwei weitere entdeckt. Was ist zu sehen? — Tatsächlich ist es die Passionsgeschichte. Jetzt fehlt nur noch die Kreuzigung in der Mitte, um die herum die Szenen komponiert waren. Die fantastischen Unterzeichnungen zeigen, dass es sich um Originale des Dürer-Schülers handelt. Wenn man sich jahrelang mit ein und demselben Künstler beschäftigt hat, dann erkennt man seine Handschrift. Jetzt freuen wir uns also über Christus am Ölberg und eine Kreuzabnahme und Beweinung Christi bei Arnoldi-Livie und eine Geißelung, die vor zwei Jahren, und eine Dornenkrönung, die im vergangenen Dezember bei zwei Pariser Händlern aufgetaucht sind. Es fehlt jetzt also nur noch die Mitteltafel? — Ja, die Kreuzigung. Wichtig ist jetzt, dass die Tafeln an einem Ort, einem Museum wieder zusammenfinden. INTERVIEW: MARCUS WOELLER THE EUROPEAN FINE ART FAIR FINDET VOM 11. BIS ZUM 20. MÄRZ IM CONGRESS CENTRE VON MAASTRICHT STATT ENCORE 75 IK — L. A. TR AU M FA BR — A U K TI O N EN — N WERTSACHE AU K AL EN DER — GRAND PRIX — BL K DER AUGEN BLIC GRAND PRIX ANGST Wie geht es in Paris nach den Anschlägen uf den ersten Blick wirkt die Abbildung wie ein Schwarz-Weiß-Foto. Doch an diesem Kugelloch in der Glasscheibe hat Robert Longo die vergangenen Monate mit seinem weiter? In den Kohlestift gearbeitet. Die riesengroße Zeichnung wird im April in seiner Ausstellung in der Galerie Ropac in Paris zu sehen sein. Der Einschuss, Symbol des Terrors, bekommt in Galerien Paris eine ganz konkrete Wirkung: Er löst Angst aus. Paris wird zurzeit bestimmt von konkreter Angst vor neuen Anschlägen, aber auch von einer diffusen Angst, ausgelöst durch den Druck der beginnt eine Politik: Lars von Triers Antichrist wurde nicht für eine Veröffentlichung auf DVD zugelassen. Die Dokumentation Salafisten wurde für Zuschauer unter 18 Jahren verboten, aus Angst, es wäre eine neue Zeit Provokation des Islam. Kultur und freie Meinungsäußerung sind in Gefahr – das ist nicht zu hoch ROBERT LONGO, DETAIL OF BULLET HOLE IN WINDOW, JANUARY 7, 2015 A gegriffen. In dieser kulturfeindlichen Atmosphäre kämpfen auch die Galerien, suchen nach neuen Profilen. Und doch spürt man auch Erleichterung, wenn man sich in Paris umhört. Langsam kommt das kulturelle Leben in den Museen wieder in Gang. Und mit ihm wachen die Künstler aus der Schockstarre auf, beginnen, das Geschehene zu verarbeiten. „Von einem Tag auf den anderen waren die Anschläge nicht mehr Thema bei den Abendveranstaltungen“, sagt der Galerist Kamel Mennour, geboren in Algerien, im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich gekommen: „Ich glaube an die Kraft von Kunst, neue Hoffnung zu geben.“ Zurzeit bereitet er die Eröffnung seiner nächsten Galeriedependance vor – seine dritte in Paris. „Ich bin ein Parisien, will nirgends anders sein.“ Er war gerade mit seinem Sohn im Fußballstadion. Das erste Mal nach den Anschlägen. Auch damals war er mit ihm dort, als draußen die Bombe hochging. Der Berliner Galerist Max Hetzler mit Dependance in Paris sagt: „Die Zeit der schmerzhaften Aufarbeitung beginnt ja erst jetzt, den Parisern wird immer bewusster, was da eigentlich geschehen ist. Aber sie machen weiter. Es war ja auch ein Anschlag auf die Gegenwartskunst.“ In vielen Gesprächen verstärkt sich der Eindruck, dass der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die Kunst gefragt ist, Diskussionen wieder anzuregen. „Eine plakative Reaktion wie nach dem 11. September 2001 ist natürlich nicht wünschenswert, als viele Künstler begannen, brennende Türme zu malen. Es ist ja schon eine Ansage, wenn wir einfach professionell weitermachen.“ Nachrichten, dass die Paris Photo nach der dritten Ausgabe ihre Messe in Los Angeles aufgibt, lassen jedoch nicht darauf schließen, dass es einfach so weitergehen wird. Die Messe hatte den Großteil ihrer Einnahmen verloren. Die Verarbeitung beginnt. Jetzt werden die Künstler Antworten geben, Paris neue Bilder schenken nach den Anschlägen. Robert Longo hat den Anfang gemacht. SWANTJE KARICH ENCORE 76 BUNDESKUNSTHALLE ISA GENZKEN Modelle für Außenprojekte bis 17. April 2016 in Bonn Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland www.bundeskunsthalle.de Isa Genzken, Projekt für ,Rose’ (Ausschnitt), 1993, realisiertes Außenprojekt, Baden-Baden, Park der Villa Schriever Modell, 2015, Maßstab 1:50, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Köln © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 BLAU IM ABO Verpassen Sie keine Ausgabe mit unserem BLAUJahresabo. Für nur 48 Euro erhalten Sie druckfrisch frei Haus neun Ausgaben BLAU zum Preis von acht. www.blau-magazin.de/abo [email protected] BILDNACHWEISE Nr. 9 / März 2016 Titel: Courtesy the artist, Anton Kern Gallery, New York. Susanne Vielmetter Los Angeles Projects. Barbara Weiss, Berlin and the Hall Foundation. Editorial: S. 5: Foto: Yves Borgwardt für BLAU. Inhalt: S. 6 M. o.: Courtesy of the artist and Susanne Vielmetter, Los Angeles Projects. Foto: Robert Wiedemeyer. S. 6 l. u.: Foto: Helmut Middendorf. S. 6 r. u.: Courtesy Giò Marconi. Foto: Andrea Rosetti. S. 8 M. o.: Foto: Francois Halard für BLAU. S. 8 l. u.: New York, lent by the Metropolitain Museum of Art, Rogers Fund 1960 (60.30). S. 8 r. o.: Courtesy Sotheby’s. S. 8 r. u.: Courtesy Karma International. Contributors: S. 10 M.: Foto: Franziska Rieder für BLAU. S. 10 u.: Foto: Chelsea Lauren/Wireimage / gettyimages. Essay: S. 13: © Jeff Koons. Apéro: S. 16 l. o.: Alex Marks / NYT / Redux/ laif. S. 16 l. u.: Courtesy of the Chinati Foundation. Foto: Jessica Lutz. S. 16 r.: Courtesy Setouchie Triennale. Foto: Osamu Nakamura. S. 17 l. o.: Fotos: threeding.com. S. 17 l. u.: Foto: Agostino Osio. S. 17 r.: Foto: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek. Dichter Dran: S. 18: Courtesy Sotheby’s. O-Ton: S. 19 o.: Foto: Brigitte Lacombe. S. 18 u.: © John Baldessari, 2016. Schnellste Skulpturen: S. 19 r. o.: Foto und © Volkswagen AG. Um die Ecke Tel Aviv: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 21 bis 23: Fotos: Anna Yam für BLAU. Alex Da Corte: S. 24: Courtesy Alex Da Corte, Giò Marconi, Mailand. S. 25 o., r. u.: Courtesy Alex Da Corte, David Risley Gallery, Kopenhagen und Giò Marconi, Mailand. S. 25 l. u.: Foto: Matthew Leifheit. S. 26: Courtesy Alex Da Corte, Luxembourg & Dayan, New York. S. 27: Courtesy Alex Da Corte, David Risley Gallery, Kopenhagen und Giò Marconi, Mailand. Blitzschlag: S. 28 o.: Foto: Antony Crook / RSA Photography. S. 28 u.: Foto: Hamburger Kunsthalle. © www.bridgemanartcom. © 2016, The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Artists Right Society (ARS) New York. Nicole Eisenman: S. 30/31: Courtesy of the artist and Anton Kern Gallery, New York. S. 32, S. 34: Courtesy Barbara Weiss, Berlin. S. 33: Courtesy Contemporary Art Museum St. Louis. S. 35: Foto: Heji Shin für BLAU. S. 36/37: Courtesy the artist, Anton Kern Gallery, New York. Susanne Vielmetter, Los Angeles Projects and Galerie Barbara Weiss, Berlin. S. 38: Courtesy of the artist and Susanne Vielmetter Los Angeles Projects. Foto: Robert Wiedemeyer. S. 39: Courtesy Anton Kern Gallery, New York. S. 40, S. 40/41: Courtesy of the artist and Susanne Vielmetter Los Angeles Projects. Foto: Robert Wiedemeyer. Kreuzberger Nächte: S. 42 l.: Foto: Helmut Newton. © The Helmut Newton Estate / Maconochie Photography. S. 42/43: Foto: Günter Brus. S. 43 r. o.: Foto: Archiv Una Wiener. S. 43 r. M.: Foto: Benjamin Katz. S. 43 r. u.: Foto: Benjamin Katz. S. 49: Zeichnungen von Michel Würthle aus dem Buch „Aufzeichnungen eines bewaffneten Schankprinzen. Im Exil 1972–1979”. Bruno Brunnet Fine Arts Berlin. S. 46: Im Uhrzeigersinn von oben links: Thomas Voburka: Foto: Helmut Middendorf. Julia Hacker und Rainer Fetting: Foto: Helmut Middendorf. Günter Brus, Oswald Wiener und Dieter Roth: Foto: Archiv Ingrid Wiener. Elvira und Karl Horst Hödicke: Foto: Archiv Hödicke. Bianca Capitanio: Foto: Rainer Fetting. Oswald Wiener: Foto: Renate von Mangoldt. Maria Glissen Broodthaers: Foto: Helmut Midddendorf. Ingrid Wiener: Foto: Archiv Ingrid Wiener. S. 47 im Uhrzeigersinn von l. o.: Ingrid und Oswald Wiener: Foto: Archiv Ingrid Wiener. Michel Würthle mit Gästen: Foto: Archiv Una Wiener. Speisekarte: Archiv Ingrid Wiener. Peter Raue: Foto: Benjamin Katz. Markus Lüpertz, K. H. Hödicke, Helmut Middendorf, Stephan Landwehr: Foto: Helmut Middendorf. S. 49: Zeichnungen von Michel Würthle aus dem Buch „Aufzeichnungen eines bewaffneten Schankprinzen. Im Exil 1972–1979”. S. 52 im Uhrzeigersinn von l. o.: Michel Würthle, Michael Krebber, Martin Kippenberger: Foto: Helmut Middendorf. Oswald Wiener: Foto: Renate von Mangoldt. Küchencrew und Bianca Jagger und Heiner Bastian: Foto: Archiv Una Wiener. Hommage und Zeichnung: Michel Würthle. K. H. Hödicke und Helmut Middendorf: Foto: Helmut Middendorf. S. 53 im Uhrzeigersinn von l. o.: Tischrunde: Foto: Helmut Middendorf. Michel Würthle und Jenny Capitain: Foto: Helmut Newton. © The Helmut Newton Estate / Maconochie Photography. Ed Kienholz: Foto: Benjamin Katz. Bianca Capitanio und Rainer Fetting: Foto: Rainer Fetting. Michel Würthle am Tresen. Foto: Benjamin Katz. Bruno Brunnet und Antonia Lerch: Foto: Rainer Fetting. Mario Merz und Christos Joachimides: Foto: Benjamin Katz. S. 55: Foto: Archiv Ingrid Wiener. James Brown / Merida: S. 56 bis 63: François Halard für BLAU. Georges de La Tour: S. 64: Los Angeles County Museum of Art, Gift of the Ahmanson Foundation, Los Angeles. S. 65: Collection Palais des Ducs de Lorraine, Musée Lorrain, Nancy. S. 66/67: Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas. S. 68: Musée Départemental d’ Art Ancien et Contemporain, Epinal. S. 69: Musée des Beaux-Arts de Rennes, Rennes. Kunstszene Los Angeles: S. 71: Courtesy Hauser & Wirth. Foto: Daniel Han. S. 72 o.: Foto: Frank Carino für BLAU. S. 72 M. M.: Courtesy Hauser & Wirth. Foto: Daniel Trese. S. 72 M. r.: Courtesy Karma International. S. 72 u., S. 73: Foto: Frank Carino für BLAU. Wertsachen: 74 l.: © Sotheby’s. S. 74 r.: Courtesy Koller. S. 74 u.: Courtesy Christie’s. S. 75: Courtesy ArnoldiLivie. Kolumne: S. 76: Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, Paris/Salzburg. Kalender: S. 78 l.: © KHM Museumsverband. S. 78 M.: Foto: Laurent Philippe. S. 78 r.: Courtesy Metro Pictures, New York. S. 79 l. o.: Paul Strand Archive. Aperture Foundation. S. 79 l. u.: Courtesy of Paul Strand Archive. Aperture Foundation. Foto: Martine Franck, Magnum Photos. S. 79 M.: Staatsgalerie Stuttgart. S. 79 r. o.: © Vitra Design Museum. Nachlass Alexander Girard. S. 80 l. o.: Courtesy Sammlung Stefan Thull. Foto: Egbert Haneke. S. 80 l. u.: Courtesy David Zwirner, New York. © Raymond Pettibon. S. 80 M.: © Andrew Wyeth. Museo ThyssenBornemisza, Madrid. S. 80 r. © Lynn Hershman Leeson. S. 90 l. o.: © Bow 100. S. 90 l. M.: © Paisley Park. S. 90 l. u.: © Island Records. S. 90 M. o.: © und Foto: Galerie Joseph Fach, Frankfurt am Main. S. 90 r.: Courtesy the artist and Simon Preston Gallery, New York. Der Augenblick: S. 36/37: © Judith Joy Ross, Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln. VG Bild-Kunst , Bonn 2016 Giorgio de Chirico, Robert Irwin, Robert Longo, Andrew Wyeth JOOS VAN CRAESBEECK Bettlermädchen, vor 1659 BLAU K ALENDER IK — L. A. TR AU M FA BR — A U K TI O N EN N — WERTSACHE K AL EN DER — GRAND PRIX — BL AU K DER AUGEN BLIC Unsere TERMINE im März Digital Archives Kunstverein Hannover 12.03. – 29.05.2016 FESTKULTUR KUNSTHISTORISCHES MUSEUM WIEN 08.03.-11.09.16 Vollmond, 2006 PINA BAUSCH Bundeskunsthalle Bonn 04.03. – 24.07.2016 o ld Du katen), Leop Smolensk ,1 61 1( D et a i l) km 0 von Prun Klippe (1 I., 1694 ig e ng MW Eine Legende, das Tanztheater der Pina Bausch. Es illustriert ein paar der schönsten Seiten im Geschichtsbuch der späten Bundesrepublik. Damals in den 70er- und 80er-Jahren ist lb m o n df ö Ha r man nach Wuppertal gefahren und hat fasziniert das Aufblühen dieser neuen Kunstgattung erlebt, bei der aus Körper und Raum, Bewegung und Bild nie gesehene Gesamtkunstwerke entstanden. Keuschheitslegende (1979), Nelken (1982), Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört (1984), Palermo, Palermo (1989) – es waren unvergessliche Abende. Mit dem Tod der Prinzipalin im Jahr 2009 ist die Pionierphase des Wuppertaler Tanztheaters Geschichte geworden. Wieder lebendig wird es auch in der Ausstellung nicht, die die Bundeskunsthalle der großen Choreografin widmet. Und doch kann man noch einmal den Zauber spüren, der von der einzigartigen Mischung aus Tanz, Artistik und fantasievoller Bühnenbildkunst ausgegangen ist. Im Zentrum eine Rekonstruktion der „Lichtburg“ – so hieß der Probenraum, ein altes Wuppertaler Kino, in dem Pina Bausch zusammen mit ihrer Truppe die meisten ihrer Stücke erarbeitet hat. Mit Performances, Tanz-Workshops, Filmen und Diskussionen soll er noch einmal zum „Erfahrungsraum“ werden. MÜ m Man muss sich die Frühe Neuzeit als Fest vorstellen. Als dauernden Reigen aus Theater, Musik und Banketten – jeder kleinste Anlass wurde zur Feier erhöht. Hinter den hoch entwickelten Festkulturen dieser Zeit steckte freilich keine Langeweile, sondern politisches Kalkül. Anders ist die kräftezehrende Feierwut der großen Residenzen kaum zu erklären. Es fehlte vor dem Aufkommen der Moderne an verbindlicher gesellschaftlicher Ordnung, und so wurden die Feste mit ihren peinlich genauen zeremoniellen Festlegungen zur eindrücklichen Demonstration der Machtverhältnisse. Das Kunsthistorische Museum in Wien nähert sich nun vor allem über die aufwendigen Kulissen und zur Erob aille eru ed Requisiten diesem flüchtigen Kraftakt an. In den digitalen Datenmengen unserer Welt steckt durchaus Poesie: Seit 2013 verdoppeln sie sich alle zwei Jahre. Wer Kopfrechnen kann und sich mit dem All auskennt, weiß, dass es im Jahr 2020 genauso viele Bits gibt wie im Universum Sterne. Entsprechend werden die Serverfarmen immer größer. Wissen wird so schnell gezüchtet wie sonst nur Gen- ENCORE 78 TREVOR PAGLEN KEYHOLE 12-3 (IMPROVED CRYSTAL) Optical Reconnaissance Satellite Near Scorpio (USA 129), 2007 mais. Doch was macht die Verfügbarkeit solcher Daten mit uns? Wissen ist Macht, das wissen wir seit dem englischen Philosophen Francis Bacon. Heute denkt man dabei vor allem an das Geschäft mit Informationen und Totaltransparenz. Längst ist die vernetzte Welt ein Thema, das auch die Kunst beschäftigt: Hannover vereint nun u.a. Trevor Paglen, Arno Auer und Superflux. gb el an nt P e nt a l En r i ch m e ron m vi En t, ller L ove H ea r MARTINE FRANCK Paul Strand, 1974 hat ihn die engagierte Teilnahme an der Welt auch nicht, als sein Themenspektrum breiter wurde. Obschon er mehr und mehr mit Natur- und Landschaftsreportagen bekannt wurde, blieb er der politisch engagierte, kritische Begleiter seiner Zeit, der auf seinen Reisen durch Amerika, Mexiko und Europa die versteckten Zeichen der Lebenswidersprüche sammelte und sie in seine aus behutsamen Kontrasten entwickelte Ästhetik übersetzte. Mit über 200 Fotoarbeiten und Filmen zeigt das Victoria and Albert Museum das Werk in seiner ganzen eindrücklichen Breite. mü Mi Was das Werk des New Yorker Fotografen und Filmemachers Paul Strand vielleicht am deutlichsten kennzeichnet, ist der unbestechliche Blick auf die Opfer der industriell entfesselten Zivilisation. Mit einer Chronik des Arbeiterelends hat er in den späten Zehnerjahren begonnen. Und losgelassen er m PAUL STRAND VICTORIA AND ALBERT MUSEUM, LONDON 19.03. – 03.07.2016 rH 18.03. – 03.07.2016 an STAATSGALERIE STUTTGART 7, 1971 301 Alexander Girard fü Wall Street, 1915 GIORGIO DE CHIRICO # ALEXANDER GIRARD VITRA MUSEUM, WEIL AM RHEIN 12.03.2016 – 29.01.2017 Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik, 1916 Dass die Moderne eigentlich eine fröhliche Angelegenheit war, sieht man ihr nicht immer an. All die rechten Winkel voller Chrom, Glas und Es war damals, wie wenn einer ins Labor der Moderne Leder wirken ja manchmal wie die Formel strenger Herren, die ihren Schülern den Freigeist als eingebrochen wäre und Erziehungsprogramm verordnen wollten. Erst als dort eine gehörige Verwüsin den 50er-Jahren die organisch geschwungetung angerichtet hätte. nen Farbkörper von Charles und Ray Eames oder Gerade noch hatten die kubistischen und abstrakten George Nelson aus den USA anrollten, lockerte sich dieses Prinzip. Ihr enger Freund war AlexanExperimente das zeitgenössische Bild klug und seine der Girard, geboren 1907 in New York City. Was viele nicht wissen: Ohne ihn ist das Textildesign Sinnlichkeit transparent dieser Zeit nicht denkbar. Girard war von Pop-Art, machen wollen. Da kommt aber vor allem von Folk-Art inspiriert, die er selbst dieser Giorgio de Chirico, sagt „Pittura metafisica“ und im großen Umfang sammelte. Und so gestaltete er mit seinen bunten, geometrisch-naiven Mustern kassiert all die Fortschrittsaus Blumen und Figuren ganze Häuser und mythen. Alles ist opak bei Restaurants, die danach ihm, verstellt, aufkläaussahen wie eine rungsresistent. Und Mischung aus Mandala, wie die Dinge zusamKinderzimmer und mengehören, das LSD-Trip – etwa das erklärt keine Logik. Restaurant La Fonda Nun bietet eine große Del Sol in New York Ausstellung der oder das Miller House in Stuttgarter StaatsgaColumbus, Indiana. lerie zusammen mit Sogar eine Fluggesellde Chirico auch die schaft kam in den ganze malerische Genuss seiner GlücksVerwandtschaft auf geometrie: Für Braniff und zeigt, wie die International entwarf er „Pittura metafisica“ 1965 jedes Detail. Nun bis zu Dalí, Magritte gibt es die erste Retround Max Ernst ALEXANDER GIRARD FÜR spektive. GB weiterwirkte. MÜ HERMAN MILLER, Girls, Environmental Enrichment Panel # 3001, 1971 ENCORE 79 01.03. – 19.06.2016 RAYMOND PETTIBON Sammlung Falckenberg, Hamburg 28.02. – 11.09.2016 Bild und Text, sie scheinen nicht immer zusammenzupassen. Aber es sind absichtsvolle Dissonanzen, die Raymond Pettibon wählt, Verschiebungen, die seine Erzähl-Gegenstände dem Diskurs entziehen. In den 70er-Jahren hatte er sich mit Plattencovern und Comics einen Namen gemacht. Dann tauchten seine Zeichnungen mehr und mehr im Kunstkontext auf. Wohl könnte man zu jedem einzelnen Blatt eine üppige Bedeutungsgeschichte erzählen. Aber in der Summe verschmelzen diese Zeichnungen zu einem Gemisch aus Reflexen und Reflexionen. Das Werk ist wie ein Bewusstseinsstrom, der sich von HippieBewegung, Drogenszene, Terrorismus, Rassenund Gender-Problematik bis zum Irakkrieg an lauter Barrieren aufstaut, um sie dann wie Treibgut mitzunehmen. Selten zuvor ist Pettibon so umfangreich zu sehen gewesen wie in der Ausstellung Homo Americanus, die Ulrich Loock kuratiert hat. mü No Title (homo americanus), 2015 Oben: Plattencover Black Flag „Slip it in“, 1984 Lynn Hershman Leeson Lehmbruck Museum, Duisburg 27.02. – 05.06.2016 LYNN HERSHMAN LEESON Roberta Constrcution Chart # 1, 1975 ANDREW UND JAMIE WYETH MUSEUM THYSSEN, MADRID Die amerikanische Malerei des 20. Jahrhunderts ist abstrakt. Könnte man meinen. Denn viele der gegenständlichen Maler sind außerhalb der Vereinigten Staaten unentdeckt geblieben. Das spanische Museo Thyssen-Bornemisza allerdings kann sich einer der größten Sammlungen amerikanischer Malerei des RealisThema. Im Zenmus rühmen. Dort zeigt das Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? trum steht die Dieser inzwischen kalifornische Medienkunstfast totzitierte Pionierin Lynn Buchtitel eines jungen deutschen Hershman Leeson Philosophen steht (geb. 1941), die für ihre frühen beispielhaft für fragmentierten die Frage nach unserer Identität – Mensch-Maschinen, Selbstverund die ist im wandlungen und Digitalzeitalter interaktiven offenbar ziemlich ANDREW WYETH durcheinanderge- ComputeranimatiMy young friend, 1970 onen seit andertraten. Im Lehmhalb Jahren Denver Art Museum nun eine bruck Museum endlich gebühwidmet sich nun große Ausstellung zu Andrew Wyeth und seinem Sohn (und eine Gruppenaus- rend gefeiert wird. Kombiniert stellung diesem Schüler) Jamie. Wyeth senior mit Arbeiten hat eine der Inkunabeln des von Sophie Calle, amerikanischen Regionalismus Cindy Sherman, gemalt: Christina’s World. Laurie Simmons Wyeths verstörend detailund Paul Thek lierter, effektvoll kinemageht man hier tografischer Stil ist bis der Frage nach, heute umstritten. Der welche Faktoren Kunsthistoriker Robert uns eigentlich zu Rosenblum nannte Andrew dem machen, was Wyeth einmal den unter- und wir sind. Und, überschätztesten Künstler – natürlich, wie gleichzeitig. Anlässlich seiner viele. gb ersten Retrospektive in Europa wird es höchste Zeit für eine LYNN HERSHMAN Revision. WOE LEESON Reach, 1986 ENCORE 80 TO I & O O I DS ECO R L TAV NYL F T GRAF E R IK — L. A. TR AU M FA BR — A U K TI O N EN N — WERTSACHE K AL EN DER — GRAND PRIX — BL AU K DER AUGEN BLIC August Kopisch Alte Nationalgalerie, Berlin AMIE SIEGEL VILLA STUCK, München 12.03. – 05.06.2016 I 98 2 BR Heute ist der ChandigarhChair ein sehr teurer KlassiAN 1 ker aus den 50er-Jahren. s, DU 19.03. – 17.07.2016 i on FF h Doch als Amie Siegel ihn vor s YD a v i d B o w i e , a u s Fa ein paar Jahren in einem Auktionskatalog entdeckte, wunderte sie sich: Gerade hatte sie das Teakholzmöbel noch auf den Fotos eines 27.02 – 16.05.2016 Freundes gesehen, der Le Corbusiers indische IdealDas Comeback des Vinyls ist nur zu stadt besucht hatte. Dort begrüßen. Selbst wenn man keinen fungierte es als Bürostuhl – Plattenspieler besitzt. Denn die 31,5 mal ab den Achtzigern endete es 31,5 Zentimeter des Pappschubers, in freilich immer öfter als denen die traditionellen 12-Zoll-TonträSperrmüll und Feuerholz. ger stecken, eignen sich ideal zur PräsenDer Krater des Vesuvs mit dem Ausbruch von 1828, 1828 Siegel ging der Sache nach. tation von Fotokunst. Das zeigt nun das Fotomuseum in Winterthur. Unter den Als die Berliner Nationalgalerie vor fünf Jahren ihr 150. Sie drehte einen Film, der 500 ausgestellten Schallplatten sind einige Jubiläum feierte, hatte man im Depot gerade in die Geschichte eingegangen. Bestenfalls einen ungeheuren Fund gemacht: ein sogar in die Musik- wie in die Kunstgehöchst dramatisches Gemälde, das sein schichte gleichzeitig, denn das Artwork Schöpfer August Kopisch als Sumpflanddes Covers und der Sound auf A- und schaft am Tyrrhenischen Meer beschrieb, „in B-Seite können eine geradezu kongeniale welches die Sonnenscheibe so eben versinken Mischung eingehen. Als Spontan-DJ will“. Seine farbigen Werbeworte richtete möchte man nacheinander Kraftwerks Kopisch an den Bankier Joachim Heinrich Kraftwerk von 1970, Wilhelm Wagener. Dessen Grace Jones’ Island Sammlung wurde Grundstock Life von 1985 und der Nationalgalerie, doch Provenance, 2013 Les Reines ProchaiKopisch geriet in Vergessennes’ Jawohl, sie heit. Nun entdeckt das Haus ihn wieder: den Werdegang eines kann’s. Sie hat’s Exemplars minutiös rückverKopisch (1799 bis 1853) war nicht nur geschafft von 1990 folgt. Dieser und sechs halluzinierender Spätromantiker an der auflegen und sich Staffelei, sondern eine Art genius universalis. andere ihrer ruhigen, oft dabei in die Kunst architektonisch inspirierten Er übersetzte Dantes Göttliche Komödie, von Bernd und Hilla Filme sind nun in der ersten dichtete Die Heinzelmännchen, gehörte Becher, Jean-Paul musealen Einzelausstellung zur Unsinnsgesellschaft um Franz Goude und Pipilotti Schubert, beriet das königlich-preußische der amerikanischen KünstleRist vertiefen. Wer rin (geb. 1974) zu sehen – Hofmarschallamt, wurde Held eines wollte sich da noch darunter Aufnahmen von neapolitanischen Volkstheaters – und mit so etwas gänzDDR- und Nazibauten sowie weil er so ein guter Schwimmer war, lich Unsinnlichem ein neuer Film, der die entdeckte er ganz nebenbei die Blaue wie Streams modernistische Villa Savoye Grotte in Capri und trägt damit oder mp3-Dateien bei Paris in Poissy ins Visier eine gewisse Mitverantwortung für die abgeben? woe nimmt. GB Italienliebe der Deutschen. WOE Fotomuseum Winterthur JEAN-BAPTISTE MONDINO Prince, Lovesexy, 1988 JEAN-PAUL GOUDE Grace Jones, Island Life, 1985 ENCORE 81 DER AUGENBLICK sorgsam gekämmt ist): wie von einem Mädchen geliehen. Der als Bühne gestufte Filzfußboden, der Fleck darauf, die kunstlederbezogenen Stühle – ein amerikanisches Klassenzimmer eben. Die Welt des Glamours ist das nicht. Die Schlichtheit des Ortes jedoch wird mit voller bildlicher Brillanz transportiert: weil Judith Joy Ross mit einer Architekturkamera fotografiert. as sei allen gesagt, die Würde man das Original 1:1 glauben, die USA hätten wiedergeben, nähme es fast die keine Kultur: Jede gesamte Seite dieses Magazins bessere Highschool betreibt ein. Schwere, aber präzise eine marching band und eine gefeilte Technik gehörte lange stage band, und wer da mitma- zur amerikanischen Tradition. chen will, muss SechzehntelKaum vorstellbar heute, noten im Takt spielen können. wo Klein & Schnell den Markt Hier haben wir John Lonczynski beherrschen. in Mr. Joseph Rosato’s Band Die Fotografin Ross wird Class, Hazleton Area High School. bewundert für die Sorgfalt So heißt das Bild. Dass die ihres sozialen Protokolls, für ihr Fotografin es ernst meint, exzeptionelles „natürliches“ wird der junge Bassist bereits Licht. Ein Kunstmarktstar ist sie mitbekommen haben. Sie nie geworden, aber Klassikerin scheint die ganze Schule zu des Porträts sehr wohl. Gerade fotografieren, auf den Fluren, deutsche Museumsleute haben in der Bibliothek; sogar sie früh unterstützt. Lehrer, aber nicht so, wie SchulDie Schulen von Hazleton – fotografen das tun würden. eine Bergbaustadt mit dem Sie will ja auch nichts verkaufen. typischen Schicksal – hat sie Er nun, John, weiß der Situanicht zufällig als Thema einer tion durchaus etwas abzugeArbeit gewählt, die drei Jahre winnen. Er präsentiert und in Anspruch nahm. „Judy“ verbirgt sich zugleich. Er stellt wurde dort, im Binnenland sich als Musiker dar, verweiPennsylvanias, vor 70 Jahren gert sich aber als Modell. Seine geboren. Matte ist keineswegs typisch ULF ERDMANN ZIEGLER für die Mode der Zeit (wir schreiben das Jahr 1994), aber sie gehört zum Outfit der ewigen Rock ’n’ Roller. Death Metal ist gerade durch, während der nachgewachsene Bruder mit mehr Gefühl, Grunge, junge Hörer zu Hause abholt, jedenfalls die melancholischen. Ungewöhnlich nur, wie samten und unschuldig ihm das Haar ins Gesicht fällt (oder noch wahrscheinlicher NACHGEWACHSENER BRUDER Eine Fotografie und ihre Herkunft D JUDITH JOY ROSS John Lonczynski in Mr. Joseph Rosato’s Band Class, Hazleton Area High School, 1994, Hazleton, Pennsylvania E DIE NÄCHSTE AUSGAB AM T VON BL AU ER SCHEIN 26. MÄ RZ 2016 IN IM DER WELT UND DA NACHL DE TENHAN ENCORE 82 Auktionswoche 19. – 21. April Alte Meister Gemälde des 19. Jahrhunderts Antiquitäten, Juwelen Palais Dorotheum, Wien, Tel. +43-1-515 60-570 Pieter Brueghel II, Die Vogelfalle (Ausschnitt), Öl auf Holz, 45,5 x 58,3 cm, € 700.000 – 900.000, Auktion 19. April
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