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006003
190171
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6 EURO
DIE RÄTSEL DES
GEORGES DE LA TOUR
IM KERZENSCHEIN
DIE WIENER, NEWTON,
BOWIE UND KIPPENBERGER
IM EXIL
MÉRIDA, MEXIKO
UND DIE WELT
DES JAMES BROWN
IM PARADIES
MÄRZ 2016
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 9
NICOLE
EISENMAN
A x e l Ve r v o or dt
w w w. a x e l-v e r v o or dt .c om
p a r t ic ip a nt at T E FA F, s t a nd 4 24
He i n z M a c k , Unt it le d , 1959 -19 6 0 ,
o i l o n c a n v a s , 10 6 x 75 c m
AUFTAKT
„Auch das ist das
Spannende an
der Kunstgeschichte:
Der Weg in die
Obskurität ist keine
Einbahnstraße“
Als ich Mitte der Nullerjahre anfing
über Kunst zu schreiben, traute ich
dem Interesse des Publikums nicht.
Und dem meiner Chefs noch weniger.
Gerade erst hatte die Berichterstattung über zeitgenös-sische Kunst ihre
Nische verlassen und Sonntagszeitungen, Nachrichtenmagazine und sogar
Tagesthemen erreicht. Das größere
Publikum, so dachte ich, würde nur
dann am Ball bleiben, wenn es Preisrekorde oder Skandale zu vermelden
gäbe, Blitzkarrieren oder unerhörte Dividenden versprechendes
Sammlerglück.
Jonathan Meeses Hitlergrüße
gingen damals sehr gut wie auch
patriotische Analysen des Malereistandortes Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Leipziger
Schule. Dass man die Erfolge der
Becher-Schüler plötzlich mit denen
von Michael Schumacher in der
Formel 1 vergleichen konnte (Diese
weltmeisterliche Präzision! Das ganze Preisgeld!), machte es leicht,
Chefredakteure davon zu überzeugen,
Platz sogar für Fotokunst freizuräumen. Was gerade noch obskur schien,
wurde nun als identitätsstiftend empfunden – Gerhard Richter, Andreas
Gursky, Neo Rauch als die CEOs
einer ganz neuen Deutschland-AG.
Einen Banken-, einen Kunstmarkt-Crash und zehn, zwölf Jahre
später hat sich mein Misstrauen
nicht bestätigt. Es mag in der deutschen Kunstszene kein andauerndes
Sommermärchen-Gefühl mehr geben,
Berlin ist nun eben nicht mehr
Welt-Kunsthauptstadt der Herzen,
sondern musste den Titel, wie
wir auf Seite 71 lernen, inzwischen
an Los Angeles abgeben. Und
doch ist ein starkes mediales Grundrauschen geblieben, sind Museen
und Galerien nicht leerer, sondern
voller geworden.
„Dear Obscurity“ steht auf dem
Brief, den unser Cover-Modell in
den Händen hält. Die amerikanische
Malerin Nicole Eisenman hat das
Bild gemalt, und man fragt sich, ob
5
sie selbst es war, die dem gepanzerten
Echsenmann geschrieben, und
was sie ihm zu sagen hat.
In dieser Ausgabe nehmen wir
uns die Freiheit, uns Künstlern
zu widmen, von denen die meisten
Leser (und einige unserer Kollegen)
wenig bis nichts gehört haben
dürften. Der Weg in die Obskurität
muss ja aufs große Ganze gesehen
kein falscher sein. Wäre Georges
de La Tour nicht nach seinem Tod
1652 vergessen worden, wir würden
heute nicht mit demselben frischen
Blick auf die Werke des Barockmalers
schauen. Und – schlimmer noch –
die Rätsel, die sie aufgeben, wären
vielleicht längst gelöst.
Hätte James Brown nicht nach
seinen ersten großen Erfolgen an
der Seite von Basquiat und Haring
der offiziellen Kunstwelt weitestgehend den Rücken gekehrt, wir hätten
niemals in die wunderbare Welt
abtauchen können, die er in Mexiko
zwischen Studio und Regenwald,
Kleinstverlag und Teppichknüpferei
geschaffen hat.
Und Nicole Eisenman? Hätte sie
es nicht ertragen, als offen lesbische,
politische, figurativ arbeitende Malerin
zwei Jahrzehnte am Rande der
öffentlichen Wahrnehmung zu agieren,
sie hätte ihr Werk wohl nicht so
konsequent und kompromisslos entwickeln können. Ein Werk, das ab
Mai nun dank einer Retrospektive
im New Yorker New Museum auch
einem großen Publikum bekannt
werden wird. Auch das ist das Spannende an der Kunstgeschichte:
Der Weg in die Obskurität ist keine
Einbahnstraße.
CORNELIUS TITTEL
APÉRO
EIN KUNSTMAGAZIN
CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
13
ESSAY
Pornografisierung der
Künste
16
NEUES, ALTES, BLAUES
18
DICHTER DRAN
Jan Skudlarek
19
DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
Nr. 9 / März 2016
Nicole Eisenman
From Success to Obscurity, 2004,
Öl auf Leinwand, 130 × 102 cm
20 UM DIE ECKE
„Michel legte an Peter
O’Tooles letztem Abend
einen Walzer für ihn auf“
Tel Aviv
28
BLITZSCHLAG
Peter Saville
— INGRID WIENER ÜBER
DAS EXIL
NICOLE
EISENMAN
LANGE WAR DIE MUTIGE MALEREI
DER AMERIKANERIN EIN GEHEIMTIPP.
JETZT IST IHRE ZEIT DA
s. 30
ALEX DA CORTE
EXIL IN KREUZBERG
PERFEKT DESIGNTE PSYCHORÄUME
AUS PHILADELHPIA
BLAU DECKT NOCH EINMAL DEN STAMMTISCH IM EXIL,
DER MUTTER ALLER KÜNSTLERLOKALE
s. 42
s. 24
INHALT
6
Von oben im Uhrzeigersinn: NICOLE EISENMAN The Breakup, 2011, Öl und Mixed Media auf Tafel, 142 × 109 cm. ALEX DA CORTE A-Boxes (Detail), 2015.
Tischrunde im Berliner Restaurant Exil mit Michael Krebber, Michel Würthle, Martin Kippenberger, Cosima von Bonin, Reinhard Nohal und Helmut Middendorf
10
EMILIO VEDOVA
SALZBURG
MÄRZ – MAI 2016
ROPAC.NET
PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG
„Der Forschungsstand
nennt Geburtsdatum
und Sterbejahr.
Und doch kann man
ganz gut aushalten,
dass der Maler sein
Lebensgeheimnis mit
ins Grab genommen
hat. Seine Bilder sind
Geheimnis genug“
ENCORE
76 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
EIN KUNSTMAGAZIN
78 BLAU KALENDER
Unsere Termine im
März
82 DER AUGENBLICK
Judith Joy Ross
— HANS-JOACHIM MÜLLER
ÜBER GEORGES DE LA TOUR
WERTSACHEN
Was uns gefällt
s. 74
IT’S A
BROWN’S WORLD
DAS GANZ EIGENE UNIVERSUM
DES KÜNSTLERS JAMES BROWN
IN MÉRIDA, MEXIKO
s. 56
LOS ANGELES
MOMENTAUFNAHME EINER
STADT IM KUNSTRAUSCH
s. 71
GEORGES DE LA TOUR
SPURENSUCHE IM KERZENSCHEIN:
EIN BAROCKGENIE WIRD
DEM VERGESSEN ENTRISSEN
s. 64
INHALT
8
Von oben im Uhrzeigersinn: JAMES BROWN in seinem Studio in Mérida, Mexico, fotografiert von FRANÇOIS HALARD. Zwei Schweine aus Blei, spätes 20. Jh., am 2. März bei
Sotheby’s in London. Außenansicht Karma International, Los Angeles. GEORGES DE LA TOUR Die Wahrsagerin, Öl auf Leinwand, 102 × 123 cm
Nr. 9 / März 2016
77 BILDNACHWEISE
Sienna Miller
für
#jungbleiben
CONTRIBUTORS
GALERIE HENZE & KETTERER
Byung-Chul HAN
»Brücke«
Expressionismus
Heckel
Kirchner
Mueller
Nolde
Pechstein
Schmidt-Rottluff
Art KARLSRUHE
18.2. - 21.2.2016
Es muss sechs Jahre her sein, das
Büchlein Müdigkeitsgesellschaft war
gerade erschienen – da tauchte
Byung-Chul Hans Name plötzlich
im Kunstbetrieb auf. Seine Art, Themen wie Totalüberreizung und Digitalästhetik in Klartext zu verwandeln, gab all denen etwas an die Hand, denen Martin Heidegger
zu verstiegen war. Es sei denn, man hatte Hans Einführung über
ihn gelesen. Heute sind seine Vorlesungen an der Universität der
Künste Berlin ein legitimer Grund, Vernissagen abzusagen.
Die Errettung des Schönen lautet sein jüngster Titel: eine Reflexion
über das Glatte, und so auch über Jeff Koons. Für BLAU hat er
über die Pornografisierung der Künste nachgedacht. (Seite 13)
Swantje KARICH
Als Swantje Karich Nicole Eisenman in ihrem Atelier in Brooklyn
besucht, sitzen die beiden lange vor
einem unvollendeten Bild: eine Partyszene, in der Karich verschlüsselte
Anspielungen auf die deutsche
Moderne zu erkennen glaubt. Und
siehe da: Plötzlich spielt Eisenman mit offenen Karten, kramt
Blätter mit eindeutigen Vorstudien hervor. Hier ein Kopf à la
Beckmann, da eine Skizze, die Kandinsky paraphrasiert. Ein
Glücksfall für die Kunsthistorikerin Karich. Und ein Glück für
uns, dass die frühere Feuilletonredakteurin der FAZ heute stellvertretende Chefredakteurin von BLAU ist – und die Kunstberichterstattung der WELT-Gruppe leitet. (Seite 30)
Andrew BERARDINI
TEFAF Maastricht
11.3. - 20.3.2016
ART COLOGNE
14.4. - 17.04.2016
wichtrach/bern www.henze-ketterer.ch
riehen/basel www.henze-ketterer-triebold.ch
Der Autor lebt gemeinsam mit seiner Tochter in Los Angeles. Vor ein
paar Wochen begeisterte er uns mit
seinem Artikel über das neue
Museum von Milliardär und Philanthrop Eli Broad. Da wollten wir
mehr wissen über seine Stadt und
den ausgerufenen L. A. Hype. Wenn er gerade nicht für Artforum
oder ArtReview schreibt, organisiert er eine „metaphysische
Disco“ in der Holy-Shroud-Kirche in Turin und schreibt mit
Bruce Nauman Botschaften an den Himmel über Pasadena. Im
Jahr 2013 wurde der 34-Jährige mit dem Creative Capital | Andy
Warhol Foundation Arts Writers Grant ausgezeichnet. (Seite 71)
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Claudia Kühne, Max G. Okupski
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Autoren dieser Ausgabe
Andrew Berardini, Max Dax,
Byung-Chul Han, Hanno Hauenstein,
Ulf Poschardt, Marcus Woeller,
Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Yves Borgwardt, Frank Carino,
François Halard, Franziska Rieder,
Heji Shin, Anna Yam
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 9, März 2016
Verkaufspreis: 6,00 Euro
inkl. 7 % MwSt.
Abonnement und Heftbestellung
Jahresabonnement: 48,00 Euro
Abonnenten-Service BLAU
Postfach 10 03 31
20002 Hamburg
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[email protected]
Verlag
GESCHÄFTSFÜHRER
Jan Bayer, Petra Kalb
Sales
ANZEIGENLEITUNG
Eva Dahlke, (V. i. S. d. P. ),
[email protected]
HERSTELLUNG
Olaf Hopf
DIGITALE VORSTUFE
Image- und AdMediapool
DRUCK
Firmengruppe APPL, appl druck GmbH
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2
vom 01.01.2016. Copyright 2016,
Axel Springer Mediahouse GmbH
Galerie Max Hetzler Berlin | Paris
Jeff Elrod
Eröffnung: Samstag, 12. März, 18 – 20 Uhr
Bleibtreustraße 45
10623 Berlin
12. März – 16. April 2016
Albert Oehlen
Works on Paper
Eröffnung: Samstag, 12. März, 18 – 20 Uhr
Goethestraße 2/3
10623 Berlin
12. März – 16. April 2016
Darren Almond
Eröffnung: Samstag, 19. März, 18 – 20 Uhr
57, rue du Temple
75004 Paris
19. März – 16. April 2016
maxhetzler.com
GERHARD RICHTER
6. FEBRUAR — 29. MAI 2016
BIRKENAU
ESSAY
IN
YOUR
FACE
JEFF KOONS
Antiquity 3, 2009–2011
Die Pornografisierung
der Künste oder Vom
Zwang, ohne Verführung
zur Sache zu kommen.
Von Byung-Chul Han
A
uf die Frage, warum er sich vom
Theater endgültig verabschiedet
habe, antwortet Botho Strauß: „Auf
der Bühne habe ich ein Erotiker sein
wollen, heute jedoch dominieren am Theater – ästhetisch oder buchstäblich – die
Pornografen. Ich interessiere mich für
erotische Verknüpfungen und Wechselfälle,
aber heute wird nicht mehr verknüpft
und gewechselt.“
In einem Gespräch verweist auch
Thomas Ostermeier auf diesen Wandel
der Theaterästhetik. Die ästhetische
Grundvereinbarung der heutigen Regietheaterkunst sei „Rampe-vorne-Blick-insPublikum-und-brüllen“, ein facial also, ins
Publikum ejakulieren. Affekte werden
produziert und ins Publikum ergossen.
Diesem Porno- und Affekttheater fehlt der
fragende und antwortende Blick zum
Anderen. Es wird nicht mehr verknüpft
und gewechselt.
Für erotische Verknüpfungen und
Wechselfälle brauche ich den Anderen. Wir
erfahren heute die Welt immer mehr vom
Ego und immer weniger vom Anderen her.
Dem pornografischen Theater fehlt das
Dialogische. Es ist, so Strauß, ein „privatpsychopathisches Unternehmen“. Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen,
ja zum Zuhören und Antworten schwindet
heute auf allen Ebenen. Der Dialog ist
keine Inszenierung gegenseitiger Entblößungen. Weder Geständnisse noch Offenbarungen sind erotisch. Affekte sind im
Gegensatz zu Gefühlen nicht dialogisch
strukturiert. Ihnen fehlt die Dimension
des Anderen. Daher gibt es weder Mitemotion noch Mitaffekt. Gefühle sind grundsätzlich Mitgefühle.
Der Erotiker unterscheidet sich vom
Pornografen durch seine Indirektheit und
Umwegigkeit. Er liebt szenische Distanzen.
Er begnügt sich mit Andeutungen, statt
die Sache direkt zur Schau zu stellen. Der
erotische Schauspieler ist kein pornografischer Schausteller. Die Erotik ist allusiv und
nicht affektiv. Geradeheraus ist dagegen
der Zeitmodus des Pornografischen. Es
bezeichnet die Flugbahn des Ejakulats.
Verlangsamung und Ablenkung sind zeitliche
Modi des Erotischen. Das Deiktische, das
direkte Zeigen auf die Sache, ist pornografisch. Die Pornografie meidet Umwege.
APÉRO
13
Semiotisch ausgedrückt: Das Erotische
entspringt dem Überschuss von Signifikanten
(Zeichen), die zirkulieren, ohne sich im
Signifikat (Bedeutung) zu erschöpfen.
Dieser Überschuss macht Geheimnis und
Verführung aus. Das Geheimnis ist kein
verdecktes Signifikat. Ein Mehr, das sich
der Bedeutung entzieht, macht es aus.
Die Pornografisierung beschränkt sich
heute nicht aufs Theater. Die Bildwirkung
des Pornos weitet sich auf andere Bereiche
aus. Sie erfasst die Wahrnehmung selbst
und macht sie pornografisch. Wir ertragen
heute nicht mehr das Langsame, das
Lange, das Leise. Wir haben keine Geduld
mehr für eine lange und langsame Narration, die sich in endlosen Verknüpfungen
und Wechselfällen ergeht. Es herrscht
ein pornografischer Zwang, ohne Verführung und Erotik schnell zur Sache zu
kommen. Das Seduktive weicht dem Affektiven. Andeutungen werden vermieden
zugunsten direkter Ansteckungen.
Im digitalen Werkzeug zur Bearbeitung
von Tonspuren gibt es die Einstellung in
your face. Sie sorgt für einen unmittelbaren,
stärkeren Klangeindruck. Die Klänge
ergießen sich direkt ins Gesicht, wieder facial.
Das Gesicht wird gleichsam mit lauten
Klängen ertränkt.
Auch die neuerliche Inszenierung der
Aida durch Benedikt von Peter an der
Deutschen Oper Berlin zeugt von der Pornografisierung der Musik. Aida beginnt
eigentlich mit einem doppelten Pianissimo.
Die ersten Geigen spielen con sordino,
‚mit Dämpfer‘. Wenn die ebenfalls con sordino
spielenden zweiten Geigen sich hinzugesellen, wird aus dem zweifachen Pianissimo
ein dreifaches: ppp. Benedikt von Peters
Neuinszenierung der Aida erkläre, so die
Musikkritikerin Christine Lemke-Matwey,
das Leise, das Intime zum Problem. Hier
sei alles laut, brutal viel zu laut. Die
Pianissimi träten als Mezzoforti auf. Beim
Triumphmarsch im zweiten Akt platze
einem schier das Trommelfell. Ein anderer
Rezensent schreibt: „So laut, dass die
Löcher aus dem Käse fliegen.“ Die übersteuerten Töne ergießen sich ins Gesicht,
wieder facial.
In der Pornografie gibt es nichts
zu entziffern. Jeff Koons sagte einmal, der
Betrachter seiner Werke möge nur ein
simples „Wow“ ausstoßen. Angesichts seiner
Kunst sei kein Urteil, keine Hermeneutik,
keine Reflexion notwendig. Sie ist jeder
Tiefe, jeder Untiefe entleert und bietet sich
dem Konsum an. Angesichts von Koons’
glatten Skulpturen entstehe, so beschreibt
es Hans-Joachim Müller, ein „haptischer
Zwang“, sie zu betasten, sogar die Lust,
daran zu lutschen. „Wow“ würde auch eine
Pornodarstellerin ausstoßen angesichts des
entblößten überdimensionierten Phallus,
bevor sie zum Lutschen ansetzt.
eff Koons’ Kunst fehlt die Transzendenz, die Distanz gebietet. Allein
die konsumierbare Immanenz des
Glatten löst den haptischen Zwang aus. Sie
lädt den Betrachter zum touch ein. Der
Tastsinn ist am stärksten entmystifizierend,
im Gegensatz zum Gesichtssinn, der
der magischste unter den Sinnen ist. Der
Gesichtssinn wahrt Distanz, während
der Tastsinn sie abschafft. Ohne Distanz ist
keine Mystik, keine Verführung möglich.
Die Entmystifizierung macht alles genießund konsumierbar. Der Tastsinn zerstört
die Negativität des ganz Anderen. Er
säkularisiert das, was er berührt. Im Gegensatz zum Gesichtssinn ist er unfähig zum
Staunen. Daher ist auch der glatte Touchscreen ein Ort der Entmystifizierung und
des totalen Konsums. Er entblößt, entmystifiziert das Berührte. So gesehen ist er ein
pornografischer Apparat. Heute herrscht
überall die Distanzlosigkeit wie im Porno,
in dem endlos betastet und geleckt wird.
In der heutigen Filmästhetik wird das
Gesicht häufig im Close-up dargestellt. Der
Körper, die Körpersprache, ja die Sprache
wird zum Verschwinden gebracht. Pornografisch ist diese Entsprachlichung des
Körpers. Die im Close-up aufgenommenen,
fragmentarisierten Körperteile wirken
wie Geschlechtsteile. Die Großaufnahme
eines Gesichts wirkt genauso obszön
wie die pornografische Nahaufnahme eines
Geschlechtsteils.
Schön ist der Gegenstand in seiner
Hülle, in seiner Verhüllung, in seinem
Versteck. So fordert Walter Benjamin auch
von der Kunstkritik eine Hermeneutik
der Verhüllung. Die Kunstkritik hat nicht
die Hülle zu heben, vielmehr durch
deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst
zur wahren Anschauung des Schönen
J
zu gelangen. Die Schönheit teilt sich weder
unmittelbarer Einfühlung noch naiver
Beobachtung mit. Beide Vorgehensweisen
versuchen, die Hülle zu heben oder
durch die Hülle hindurchzuschauen. Zur
Anschauung des Schönen als Geheimnis
gelangt man nur durch die Erkenntnis der
Hülle als solcher. Man muss sich vor allem
der Hülle zuwenden, um das Verhüllte zu
erkennen. Die Hülle ist wesentlicher als der
verhüllte Gegenstand.
einen Augenblick ihrem einzigen Geliebten
enthüllt, der selbst im Verborgenen
bleibt. Die Lektüre wird zu einem erotischen Abenteuer.
Die erotische Lust am Text unterscheidet sich, so Roland Barthes, von der
„Lust des körperlichen Striptease“, die
einer fortschreitenden Enthüllung entspringt.
Pornografisch ist auch ein eingängiger
Roman, der auf eine endgültige Enthüllung,
auf eine finale Wahrheit zustrebt. Die
Verführung des Erotischen kommt ohne
Wahrheit aus. Sie arbeitet mit dem Schein.
Die Großaufnahme
Die Pornografie als hüllen- und
geheimnislose
Nacktheit ist die Gegenfigur
eines Gesichts
des Schönen. Ihr idealer Ort ist das Schauwirkt genauso obszön wie fenster, in dem, angestrahlt, nur ein einziges
Schmuckstück gezeigt wird. Sie geht volldie pornografische
kommen in der Zurschaustellung einer
Nahaufnahme eines
einzigen Sache auf, nämlich des Geschlechtes.
Es gibt kein zweites, unpassendes Motiv,
Geschlechtsteils
das halb verdecken, verzögern oder ablenken würde. Verdecken, Verzögern und
Goethes Dichtung sei, so Walter Benjamin,
Ablenken sind raumzeitliche Strategien des
dem „Innenraum im verschleierten
Schönen. Das Kalkül des Halbverdeckten
Lichte“ zugewandt, das „in bunten Scheiben erzeugt einen verführerischen Glanz. Das
sich bricht“. Die Hülle bewegte Goethe
Schöne zögert mit dem Erscheinen. Die
immer wieder, „wo er um Einsicht in die
Ablenkung schützt es vor direktem Kontakt.
Schönheit rang“. So zitiert Benjamin
Sie ist wesentlich für das Erotische. Die
Goethes Faust: „Halte fest, was dir von allem Pornografie ist ohne jede Ablenkung. Sie
übrig blieb. / Das Kleid, laß es nicht los.
geht direkt zur Sache. Die Ablenkung
Da zupfen schon / Dämonen an den Zipfeln, verwandelt die Pornografie in eine erotimöchten gern / Zur Unterwelt es reißen.
sche Fotografie. So schreibt Roland Barthes:
Halte fest! / Die Göttin ist’s nicht mehr, die „Eine Gegenprobe: Mapplethorpe läßt
du verlorst / Doch göttlich ist’s.“ Göttlich
seine Großaufnahmen von Genitalien vom
ist das Kleid. Die Verhüllung ist wesentlich Pornographischen ins Erotische übergefür die Schönheit. So lässt sich die Schönhen, indem er den Stoff der Unterhose aus
heit nicht entkleiden oder enthüllen. Die
nächster Nähe photographiert: das Photo
Unenthüllbarkeit ist ihr Wesen.
ist nicht mehr einförmig, da ich mich für
Die Verhüllung erotisiert auch den
die Struktur des Stoffes interessiere.“
Text. Gott verdunkle, so Augustinus, die
Anders als das pornografische lenkt
Heilige Schrift absichtlich mit Metaphern,
das erotische Bild den Blick eigens von der
mit dem „figürlichen Mantel“, um sie zu
Sache ab. Es macht die Nebensache zur
einem Objekt des Begehrens zu machen.
Sache oder ordnet diese jener unter. Auch
Das schöne Kleid aus Metaphern erotisiert das Schöne findet neben der Sache, im
die Schrift. Das Kleid ist also wesentlich
Nebensächlichen statt. Es gibt keine schöne
für das Schöne. Die Technik der Verhüllung Sache, keine schöne Wahrheit. „Zur Sache
macht die Hermeneutik zu einer Erotik.
selbst“ ist keine Devise der Kunst.
Sie maximiert die Lust am Text und macht
die Lektüre zu einem Liebesakt. Auch die
Thora bedient sich der Technik der Verhüllung. Sie wird wie eine Geliebte dargestellt,
die sich in einer verborgenen Kammer in
ihrem Palast verbirgt und ihr Antlitz nur für
APÉRO
14
Kazuo Shiraga, KINKO, Bunt wie Herbstblätter. 1991. Öl auf Leinwand. 97 × 130,5 cm. Unten links in
japanischer Schrift signiert. Rückseitig signiert, datiert und betitelt. Schätzpreis EUR 500.000–700.000
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APÉRO
NEUES, ALTES,
BLAUES
Das japanische Duo YODOGAWA TECHNIQUE errichtete
Black Porgy in Uno als Dauerinstallation aus Meeresmüll
für die Setouchi Triennale
ART-HOPPING
IM SETO-SEE
W
en man fragt, niemand war
da. Aber alle wollen hin.
Muss ein Traum sein, die
Landschaft um den Seto-Inlandsee,
der Japans Süden in bizarre Blöcke
teilt. Ein Binnenmeer voller Inseln, die
im Nebel, wenn er morgens über dem
Licht, Raum und Beton: Mehr braucht Robert Irwin nicht für seine Installation in der Chinati Foundation in Marfa
Wasser aufsteigt, wie Walfischbuckel
aussehen. Die Gegend wurde schon in
den 30er-Jahren zum Nationalpark
erklärt und blieb so vor zivilisatorischen
Eingriffen bewahrt, zugänglich nur
anchmal muss man für die größte Anläufen ist es nun soweit: Einen C-förmigen für Künstler und Architekten und ihre
internationale Gefolgschaft. Denn
Lebensaufgabe 87 Jahre alt werden. Betonbau ohne elektrische Beleuchtung
Robert Irwin, neben James Turrell soll allein das Sonnenlicht in Szene setzen. natürlich hat es nicht ausbleiben können,
dass die Gegend irgendwann als
zentrale Figur des Light and Space MoveIm Innern werden Wände mit transluzenter
ideale Bühne für den edlen Wettkampf
ment aus dem Kalifornien der 70er-Jahre,
Baumwolle eingezogen, sodass man sich
zwischen Kunst und Landschaft enthat seine Außenprojekte
verliert wie in einem flämideckt wurde. Die Anfänge reichen in die
bisher immer nur geplant:
schen Landschaftsgemälde.
frühen 90er-Jahre zurück, als der
etwa für ein Viadukt
Fünf Millionen Dollar
Verleger Tetsuhiko Fukutake begann,
in Los Angeles oder den
kostet das Projekt. Möglich,
in der Küstenstadt Naoshima AusstelFlughafen in Miami.
dass sich Irwin jetzt an
lungen zeitgenössischer Kunst zu
Trotz Zusage wurde keiner
solche Realitäten gewöhnen
veranstalten. Der Erfolg hat die Setouseiner raumgreifenden
muss: Das Hirshhorn
Wahrnehmungsverstärker
Museum in Washington und chi Triennale entstehen lassen, die
inzwischen auf zwölf Inseln Künstler und
aus Glas, Lampen und
das Instituto Inhotim in
Pflanzen je ausgeführt. Sein
Brasilien wollen nun Arbeiten vor allem Architekten site specific
projects realisieren lässt. Im März ist
Freund Donald Judd lud
für ihre Skulpturengärten.
es wieder so weit. Mit dem Ausflugsboot
ihn ein, eine Arbeit für Marfa,
Ob es dazu kommt? Irwin
von Kunstinsel zu Kunstinsel, wo
Texas – das Wüstenmekka
dürfte skeptisch bleiben.
Tobias Rehberger, Pipilotti Rist, Chiharu
der Minimal Art – zu
„Tief in ihrem Herzen“,
Shiota, Christian Boltanski und
entwerfen, doch dann starb
erklärte er einmal, „wünviele mehr ihr Bestes geben. MÜ
Judd 1994. Die Idee lebte
schen
sich
die
meisten
Leute
Sonnenflecken als scharfkantige
setouchi-artfest.jp/en
weiter. Nach mehreren
einen Henry Moore.“ GB
Skulptur: Donald Judd hätte
M
ALLES IST ERLEUCHTET
das gefallen
APÉRO
16
ALLES PSTE
Als im letzten Jahr die Satellitenbilder vom
Weltkulturerbe in Palmyra nur noch Trümmerwüsten zeigten, da wirkte der Vorschlag
seltsam tröstlich, man könne die Denkmäler anhand von 3-D-Scans wiederauferstehen lassen. Und man staunte auch, wie
weit die Technologie inzwischen gediehen
ist. Ein von Studenten der Nationalen
Kunstakademie Bulgariens gegründetes
Start-up hat sich nun auf den Weg gemacht,
historische Kunstwerke der griechischen
Antike als digitale 3-D-Dateien anzubieten:
Skulpturen, Büsten und andere
Relikte zum Herunterladen. Wer
sich den Weg zum 3-D-Drucker
sparen will, kann die Datei auch
gleich zum Druck freigeben.
Ein paar Klicks nur – und
knappe 285 Euro später – und
man ist im Besitz etwa einer exakten
Replika eines Kopfes der Göttin Hygieia.
Genauigkeit ist hier freilich eine Sache der
Auslegung: Der geneigte Käufer darf als
Druckmaterial zwischen Harz, Metall und
Plastik wählen, und auch verschiedene
Farben befinden sich im Repertoire. Ob
dies der zarte Anfang kleiner, bunter Heimmuseen ist, bleibt offen. Einen gewissen
Reiz kann man den 3-D-Kopien sicherlich
nicht absprechen. Das Erlebnis großer
Kunstwerke wird ein anderes werden, wenn
wir jedes kleinste Detail einer uns
vertrauten Skulptur nicht mehr nur
betrachten, sondern endlich auch
berühren können. Trotzdem kann man
nur hoffen, dass Palmyra nicht als
bunte Plastikstaffage wiederaufersteht. MW
threeding.com
U IER
E
N H
Die Badische Landesbibliothek
Karlsruhe ist jetzt Besitzerin eines
Handys aus dem Mittelalter. Im
16. Jahrhundert trugen die Menschen
keine Telefone bei sich, sondern
Bücher. Damit sie auch ja nicht
verloren gingen, gab es: Beutelbücher. Man hängte sie sich an den
Neuerdings
kann man sich
Antiquitäten
aus dem
3-D-Drucker
ziehen
Prima Palazzo
W
eil die Staatskasse kein Geld
ausgibt und bisher im ganzen
Land kein einziges öffentliches
Museum für Gegenwartskunst auf die
Beine gestellt hat, behilft man sich in
Italien mit privaten Stiftungen. Vor allem
in Mailand. Die größten sitzen abseits
vom Zentrum auf schick renovierten
Industriearealen. Die Fondazione Carriero
hat dagegen kürzlich mitten im historischen Zentrum eröffnet, keine zehn
Aus Alt wird Neu: die Fondazione Carriero im historischen
Zentrum von Mailand
Gehminuten vom Dom. Ihr Sitz ist die
Casa Parravicini, ein Palazzo aus dem
15. Jahrhundert, der früher Privatresidenz war und später eine Bank. In sieben Sälen auf
insgesamt 500 Quadratmetern will ihr 83-jähriger Gründer Giorgio Carriero, Kunstsammler
und Geschäftsmann mit familiären Wurzeln im Ölbusiness, keineswegs seine eigene
Privatsammlung präsentieren, sondern Gruppenausstellungen. Im Moment ist Francesco
Stocchi vom Museum Boijmans Van Beuningen aus Rotterdam kuratorisch im Einsatz.
Zum Auftakt zeigte er Gianni Colombo, Davide Balula und Giorgio Griffa. Vom 6. April
bis 9. Juli sind Lucio Fontana und Leoncillo Leonardi zu sehen. GB fondazionecarriero.org
APÉRO
17
Das Beutelbuch der Katharina Roeder ist jetzt in der
Badischen Landesbibliothek zu sehen
Gürtel. Weltweit sind nur noch 23
Exemplare bekannt. Im Jahr 1540
hat die Benediktinerin Katharina
Roeder im nordbadischen Kloster
Frauenalb ein solches Beutelbuch
im Miniaturformat für ihre Gebete
ausgemalt. Sie schmückte das Buch
mit Federzeichnungen und Randbordüren, ein Pergamentblatt zeigt
eine Mondsichelmadonna. Der Text
selbst ist noch unerforscht, erzählt
aber vom Klosterleben im späten
Mittelalter. Berühmt unter Kennern
ist auch das Beutelbuch der Margarethe von Münsterberg, Fürstin
von Anhalt, aus der Zeit um 1500.
Es wird in Dessau in der Anhaltischen Landesbücherei aufbewahrt.
Kleriker trugen die Beutelbücher
auch gern oben am Band – wie wir
unsere Handtaschen. SWKA
DICHTER DRAN
WIE EIN
SCHLAFEN DES TIER
Jan
SKUDLAREK
Wie wir uns entschwistern.
Dein Arm hängt vom Sofa wie ein schlafendes Tier.
Früher waren wir Codewörter,
Körper-Übersetzer. Hände als Zielsprachen;
Was für Energien werden frei,
wenn die Sprachkunst auf
die Bildkunst trifft? Für BLAU
hören Lyriker auf den Klang
der Kunst. Jan Skudlarek,
Jahrgang 1986, sieht auf Finger, die sich sinnlos vertiefen.
Finger, die sich sinnlos vertiefen.
Inspiriert von
Ich möchte Dich verlassen,
Cecily Brown
Und der Himmel so schiefergrau. Ringsum
narkotisiert sich die Landschaft.
Siehst Du nicht: Jeder Tag ist sein eigener Winter.
wie man einen Raum verlässt
CECILY BROWN
Merry Widdow, 1998, Öl auf Leinwand, 193 × 249 cm
APÉRO
18
O-TON
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
RUBENSARSCH AUS STAHL
Alles nur geklaut:
Thomas Demand kuratiert für die
Fondazione Prada
„Die Ausstellung L’image volée
kreist um das Stehlen von Bildern – mehr oder weniger kriminell. Wir zeigen den leeren Rahmen von Dr. Gachet aus dem
Städelmuseum – van Goghs
Bild wurde von den Nazis beschlagnahmt. Oder die Poster
von Lucian Freud, auf denen er
300.000 DM Belohnung bietet für den, der ihm sein geklautes Porträt von Francis Bacon
wiederbringt. Doch auch Künstler klauen Bilder: Cy Twombly
malte für seinen Lebensgefährten einen Picasso. Pierre Huyghe kaufte sich einen Modigliani
vom legendären Fälscher Elmyr de Hory. Eigentlich stiehlt
man schon, indem man ein Foto macht: Wenn Sophie Calle
als Zimmermädchen das Gepäck der Hotelgäste fotografiert, ist das illegal, aber auch
Kunst. Auch Oliver Laric bekommt Ärger, weil er im Museum Skulpturen per 3-D-Scanner
dupliziert. Und
wir zeigen DDRSpionageapparate. Mir geht es
um die kreativen
Möglichkeiten
der Wiederverwendung von Bildern – wir stehen
ja alle auf anderer
Leute Schultern.“
Laut und gemütlich: Das Käfer-Cabrio
Käfer-Cab war
beides, Brot- und Butter-Auto und
u
Stili
Stilikone
der
besseren
besse
Gesellschaft
Ge
VOLKSWAGEN 1303 CABRIOLET
K
ommen wir nun zu
etwas komplett Sympathischem. Wer genug
hat von einer Umwelt, die
mürrisch und desorientiert auf
einen reagiert, der sollte sich
einen VW Käfer kaufen. Keinen
Beetle, diese postmoderne
Historismuskiste. Das Kindchenschema jenes deutschen Urautos
mit dem eigentlich fatalen
Nazistammbaum wirkt entwaffnend. Seit 30 Jahren gibt es
den Käfer nicht mehr offiziell in
Deutschland zu kaufen und mit
jedem Jahr ohne ist die Verklärungskurve exponentiell nach
oben gestiegen. Die Rührungsklimax erzeugt das Käfer-Cabrio.
Selbst, wenn der Motor an der
Ampel versehentlich abgewürgt wird,
oder die Karre
mal wieder spinnt.
Auferstanden
aus den Ruinen des
Nachkriegsdeutschlands war das
Oben-ohne-Modell
des KdF-Wagens
ein erster Anflug
JOHN BALDESSARI
Ausstellungsplakat L’image
volée, 2016
des Hedonismus nach den Jahren
der Scham. Das Wirtschaftswunder sollte ein wenig Leichtigkeit zurückbringen in das Land
der Täter und Mitläufer. Das von
Karmann gebaute Cabrio wurde
1949 vorgestellt: im Geburtsjahr
der Bundesrepublik. Zehn Jahre
später ist in Heinz Erhardts
Klamauk Natürlich die Autofahrer
ein Käfer-Cabrio Dingsymbol
einer gesamtgesellschaftlichen
Wende zum Guten und Besseren.
Die Männer sind nicht mehr zäh
wie Leder und flink wie Windhunde, sondern drollige Kauze,
die nur einen schönen Sonntag
mit der Familie haben wollen.
Das Käfer-Cabrio war
beides: Brot- und Butter-Auto
und Stilikone der besseren
Gesellschaft. Im Zuge der Hippisierung Deutschlands wurde
das offene Käfer-Modell zum
Konsens von linken Studenten
und emanzipierten Ärztegattinnen. Spätestens Ende der
70er-Jahre haben die Popper das
Cabrio als Statussymbol entdeckt. Einer der prominentesten
Vertreter dieser Generation von
APÉRO
19
Käfer-Freunden war Guido
Westerwelle, der als neoliberaler
Charismatiker und Jurist im
Rheinland quasi selbstverständlich beim Käfer-Cabrio landete,
zumindest als er die damalige
Oppositionsführerin (und Koalitionspartnerin in spe) Angela
Merkel 2001 zu einer Spritztour
einlud. Es ist ein lautes, gemütliches Auto. Als Oldtimer versprüht es dank des vielen Chroms
(Leisten, Spiegel, Türgriffe,
Fensterrahmen, Scheinwerferringe) ähnlichen NostalgieCharme wie die Altstadt von
Rothenburg ob der Tauber.
Doch auch hippe, urbane Eliten
lieben den runden „Rubensarsch aus Stahl“. Die Nachteile
sind bekannt: miese Heizung,
indiskutable Scheinwerfer,
grotesker Benzinverbrauch. Aber,
hey, in Zeiten perfektoider
Neu(klein)wagen-Ödnis sind
Käfer-Cabrios Erinnerungen an
eine Zeit, als Dinge noch Identitäten jenseits des Funktionalen
hatten. Unbezahlbar eigentlich.
ULF POSCHARDT
UM D
DIE
IE
E ECKE
E
IBN-GABIROL
TEL AVIV
Jede Stadt hat ihre
Mikrokosmen, wir stellen
sie vor. In Tel Aviv
spazieren wir mit
Hanno Hauenstein über
die Ibn-Gabirol-Straße
im arrivierten
Nordteil der Stadt. Dort
spüren wir magischem
Essen, alternativen
Geheimspots und der
israelischen Urgeschichte
hinterher
M
ein Tel Aviv hat eine unsichtbare
Grenze, wie eine grüne Linie,
unmerklich, aber prägend. Sie
anzuerkennen hebt mich von Leuten meines
Alters und Geschmacks nicht gerade ab. Die
Grenze verläuft zwischen Jaffa, Florentin,
dem südlichen Zentrum und dem Norden.
Ich habe in Florentin gewohnt, dem Kreuzberg von Tel Aviv, in der Shenkin-Straße, die
Berlin-Mitte ähnelt, und am Carmel-Markt,
einer Gegend, die sich mit Berlin nicht gut
vergleichen lässt. Das Meer legt sich als feiner Salzfilm auf die Lippen, vom jemeniti-
schen Viertel riecht
ht es nach Saft
Saf
at
und Koriander, in Hinterhofküesten Kibbeh
chen werden die besten
b d warten KatK
der Welt gekocht, abends
zen, dass es Reste vom Markt spült, und im
Sommer zwängen sich Kakerlaken aus dem
Duschabfluss. All das ist mir lieber als der
Norden. Z’foni (Nordling) nennt man den
Typ Mensch, den man da vermutet, oder
sachi (Langweiler).
Die Ibn-Gabirol-Straße, die vom
Habima-Theater über den Rabin-Platz bis
ans nördliche Ende der Stadt führt, verbinAPÉRO
20
ddet mein
i T
i mit
i ddem dder N
d
Tell A
Aviv
Nordlinge und Langweiler. Es ist eine anachronistische Straße. Eine der letzten in Tel Aviv, wo
altes Handwerk und Familienbetriebe noch
einen Platz haben, vom Ledermacher bis
zum Steckdosenladen. Gleichzeitig wirkt der
Versuch mancher Läden hier, das Israelbild
der 50er-Jahre ins Heute zu retten, etwa
durch Gemälde Ben Gurions oder Golda
Meirs, mühsam konstruiert.
EIN STÜCK GESCHICHTE
NACH DER ERMORDUNG DES
EHEMALIGEN ISRAELISCHEN
PREMIERS 1995 WURDE ER
UMBENANNT: DER RABIN-PLATZ,
FRÜHER „PLATZ DER KÖNIGE“.
EIN ZACKENFÖRMIGES MAHNMAL
(LINKS) GEDENKT HIER AUCH
DER SHOAH. DER MODEIMBISS
MIZNON (RECHTS OBEN) BELEBT
DIE GEGEND SEIT MEHREREN
JAHREN NEU – MIT LAUTER
MUSIK UND FRISCHEN ZUTATEN
IN PITAS
Früher kam ich kaum hierher. Das
änderte sich im Juli 2011. Am RothschildBoulevard zogen Freunde in Zelte, um
gegen die Verteuerung des Lebens in Israel
zu protestieren. Einmal pro Woche Demos,
das war Standard. Die Routen führten fast
immer die Ibn-Gabirol-Straße hoch und
endeten am Rabin-Platz. Der Schweiß und
das Endorphin gingen eine symbiotische
Verbindung ein mit dem Licht und mit der
Lautstärke dieser Tage. Leute schrien sich
an, gestikulierten leichtathletisch in alle
Richtungen, wollten wissen, was es heißt,
links zu sein in diesem Land, oder zumindest
nicht rechts.
Wenn ich die Ibn-Gabirol-Straße heute
ablaufe, ist es die Erinnerung an das Selbstbewusstsein dieser Tage, die Vision, Dinge
schaffen zu können, die inzwischen längst als
naiver Unfug gelten, die in mir hochsteigt.
Zumindest die Straße hat sich verändert. Das
Miznon, ein Imbiss an der Ecke zur Dizengoff-Straße, öffnete zeitgleich mit den Protes-
ten vor knapp fünf Jahren. Der
Begründer, der Starkoch Eyal
Shani, unterstützte die Protestler mit kostenlosen Pitakreationen in der Zeltstadt. Die
Streetfood-Variante einer Pita
im Miznon kostet heute knapp
zehn Euro. Voll ist es immer.
Worin das Geheimnis dieses
Essens liegt, ist so leicht nicht
zu sagen. Eyal Shani, das heißt:
alles Augenmerk auf die Rohheit der Substanz. Aufs Einfache und Improvisierte. Shanis
Essen ist wie ein Spiegel israelischer Kultur, es schmeckt, als wollte er
sagen: Seht her, so einfach geht Küche, so
einfach ein Staat, so einfach das Leben.
Im Miznon kommt alles mit kräftigbraunem Backpapier unterlegt, im Hintergrund läuft viel zu laute Musik, an die zehn
Mitarbeiter tänzeln in einem übernatürlichen
System an der Küchentheke herum, tauschen Arbeitsschritte, kreischen Kundennamen Richtung Straße. Und es scheint tatAPÉRO
21
sächlich, als hätten sie Spaß bei alldem. Ab
und zu gibt’s einen Schnaps umsonst hinterher. Das Sortiment ist simpel: Pita, Meersalz,
Zitrone. Qualitätsfleisch, Tahini und brennender Salbei. Und natürlich der berüchtigte,
über mehrere Stunden konfierte und in Butter aufgebackene Eyal-Shani-Blumenkohl,
am Stück serviert. Es ist ein Erfolgsmodell.
Dem Laden auf der Ibn-Gabirol folgten
zwei weitere in Tel Aviv, einer in Paris und
einer in Wien.
Ein paar Blocks weiter oben, in einem
unscheinbaren Hinterhof hinter dem RabinPlatz liegt das Gabirol, eine außergewöhnliche Kultureinrichtung. In 35 Räumen arbeiten Künstler, Tänzer, Schriftsteller und Designer zwischen Studios, einer Probebühne
und Ausstellungsräumen. Ich soll Ronny
Carny treffen, finde aber den Eingang nicht.
Das Gebäude ist blockig, die Fassade mit
kunstvollen Graffitis überzogen. Eines zeigt
zwei Katzen, die eine fett und weiß, darunter
steht „Katze aus dem Norden“, die andere
ein struppig-schwarzes Etwas, „Katze aus
dem Süden“. So oder so ähnlich scheint das
Gabirol die schwarzen Katzen der White
City zu versammeln, Nachtgeschöpfe, Individualisten, die Südlingsboheme eben.
Ronny führt mich übers Telefon zur
richtigen Tür. Im ersten Stock strahlt kaltes
Neonlicht diesem sonnigen Januartag entgegen. Die Jalousien sind heruntergelassen, ihr
Studio hat mehr den Anschein eines Büros –
als eines Kunstraums. Neben dem Schreibtisch stapeln sich Klebfolie und buntes
Papier. Ronny ist ein gütiger Mensch. Ihr
Blick ist wie verzögert, forschend, sie lässt
einen kaum aus den Augen, bis zu der pein-
DIE GEHEIMNISSE DES
NORDENS
RONNY CARNY (LINKS OBEN)
ARBEITET IN DEN STUDIOS
DES GABIROL, EINEM
TEMPORÄREN KULTURKOMPLEX
IN EINEM HINTERHOF AN DER
IBN-GABIROL-STRASSE AN
IMMATERIELLER KUNST. UNTEN
GIBT ES GALERIERÄUME UND
EINEN SZENECLUB IM KELLER.
ZUSAMMEN MIT SEINEM
ZWILLINGSBRUDER ALON-LEE
FÜHRT ELLIE GREEN (RECHTS
OBEN) DAS ANTIQUARIAT
HA’ACHIM GREEN
lichen Millisekunde, wenn Schweigen und
Blicke sich überschneiden. Überhaupt
scheint das Gespräch unserer Gesichter auf
seltsame Weise anspruchsvoller als das unserer Stimmen. Bilder als Ausdrucksmittel interessierten sie nicht so sehr, sagt Ronny. Es
gehe ihr ums Abwesende, um Geister,
Unsichtbares. Berührungspunkte zwischen
der Kunstwelt und der Gegend hier sieht sie
nicht. „Die Straßen sind sauberer. Man ist
anonymer. Mich entspannt das.“ Nach ein,
zwei Gläsern Tee gibt sie mir eine ausgiebige
Führung durch den Komplex.
Das Gabirol ist temporär. Man weiß
nicht genau, ob das, was hier passiert, gerade
angefangen hat oder morgen schon wieder
vorbei ist. Ich folge Ronny in einen rot
beleuchteten Fahrstuhl nach unten und von
dort aus über einen Treppenaufgang ins Studio 1, den größten Raum. Die Decke ist ein
in Quadrate geteiltes Stahlgerüst, von dem
Putz- und Metallreste nach unten herabhänAPÉRO
22
gen. Durch die Mitte des Raums ziehen sich
bewegliche Holzleisten wie übergroße
Schuppen. Links ist ein kleines Büro, aus
dem Eyal Vexler tritt, ein Mann von hagerer
Gestalt und festem Stand, der mich freundlich umarmt. Eyal ist der Manager des Gabirol. Früher war das Gebäude die Hauptzentrale der Telefonfirma Bezeq, erklärt er. Nach
deren Auszug handelte er einen Deal zur
Zwischennutzung zwischen der Stadtverwaltung und einer Immobilienfirma aus. Heute
residieren hier fast umsonst knapp 100 Kulturschaffende. „Etwas wie das Gabirol gab es
in Tel Aviv so nie zuvor“, wirft Ronny ein.
Doch seit der Eröffnung im Sommer 2014
rechnet man jeden zweiten Monat mit der
Demolierung und Übernahme der Einrichtung. Nächste Woche sei er weg, sagt Eyal, er
ziehe mit seiner Freundin nach Berlin, raus
aus Israel, eine Bewegung, für die es im Hebräischen eine suggestive Vokabel gibt: yerida
(Abstieg). Seinen Job hier übernehme wer
anders. Er selbst sehe politisch keine Zukunft
mehr in diesem Land. Worte, wie man sie
öfter hört dieser Tage.
Einen Raum weiter ist es dunkel,
umrisshaft erkenne ich dicke Kabel und eine
Wand voller antiquarischer Schalter. Ronny
öffnet eine große Metalltür, dahinter ist nur
noch Außenmauer. Das eintretende Licht
zieht sich in Schlieren durch den Staub und
lässt den Raum als das erscheinen, was er mal
war: das Herzstück einer Telekommunikationsanlage, heute funktionslose Computermasse. Im Nebenzimmer ragen hautfarbene
Plastiken in Form von Fingern aus dem
Boden. Ich bitte Ronny, mir die Ausstellung
zu zeigen. Die Galerie befindet sich im Erdgeschoss, es sind abstrakte Videoarbeiten
der Künstlerin Goni Riskin zum Thema
Internet. Einer der Filme bricht als schemenhafte Andeutung durch ein Loch in der
Wand in den Nebenraum. Mein Kopf ist
derart von Eindrücken gesättigt, es fällt mir
schwer, Ronny gegenüber eine nennenswerte Kunsterfahrung zu artikulieren. Zwischen meinen Knien schleicht sich eine
schwarze Katze hindurch. Ich solle sie nicht
anfassen, sagt Ronny, man wisse nie so
genau. Im Tahat, dem derzeit angesagtesten
Club in Tel Aviv, findet noch ein Treffen der
Gabirol-Mitglieder statt. Es geht um die
Zukunft der Anlage.
icht weit von hier ist das Penso, ein
Traditionsimbiss, wo es morgens Burekas gibt und nachmittags Schnitzel.
Joshua kam als Kind aus der Türkei nach
Israel. Hier lernte er Miri kennen, sie kam aus
Marokko. Zusammen führen sie den Laden
seit über 30 Jahren. Die Ermordung Rabins
1995, für viele das sprichwörtliche Ende der
Hoffnung auf Frieden in Israel, fand einen
Steinwurf vom Penso entfernt statt. Ich
bestelle Burekas mit Ei und Spinat. Der
Laden mit der geschmacklosen Rose im
Logo scheint der Kurzweiligkeit des Gabirol
diametral entgegengesetzt, als wollte er
beweisen, dass manche Dinge eben doch
endlos so weitergehen.
N
Von den Plastikstühlen aus sehe ich auf
die große Tribüne, das Zentrum des RabinPlatzes. Bis auf ein paar Bänke und Palmen
am Rand ist der Platz eine einzige Freifläche,
wie gemacht für politische Großevents. Am
anderen Ende, ich nähere mich der unsichtbaren Grenze zu meinem Tel Aviv, liegt ein
wenig versteckt ein Antiquariat, das
„Ha’achim Green“ (Gebrüder Green) heißt.
Das Wortspiel mit dem deutschen Kanon ist
Absicht. Die 28-jährigen Zwillingsbrüder
Ellie und Alon-Lee Green eröffneten den
Laden vor knapp zwei Jahren. Die Auswahl ist
ein eklektischer Mix aus Literatur, Kinderbüchern und Wissenschaft. Ellie sitzt hinter dem
zugestellten Schreibtisch und macht Bestellungen für den Online-Shop. Per Handgeste
deutet er an, ich solle kurz warten. Im Hintergrund spielt Kendrick Lamar, wenig antiquarisch. Der Laden steht gerade voller Umzugskisten, ein miniaturhafter Treppenaufgang
führt in einen noch unscheinbareren Dachstuhl, wo sich noch mehr Kisten stapeln.
„Hier, guck mal“, meint Ellie und drückt mir
ein paar Karten in die Hand. Es sind Postkarten und Originalfotografien von Leuten wie
Haim Arlosoroff, Yosef Brenner und
Gershom Scholem, kleine Schätze, Vorboten
eines Israels vor Israel. Ellie und Alon-Lee
entdeckten all das bei einer Wohnungsräumung. Den Namen des toten Dichters, der
dort lebte, sagt Ellie ernst, dürfe ich nicht weitersagen, das müsse unter uns bleiben. „Willst
du noch was sehen?“, fragt er. Klar will ich
noch was sehen. Er holt ein dunkelblaues
Buch mit dickem Einband aus einer der Kisten, darauf ein feingeometrischer Goldschnitt
in Form von lauter kleinen Davidsternen. Das
Sefer ha-Jaschar wurde 1923 in Berlin gedruckt.
Im Einband steht rechts neben dem hebräischen Titel in deutscher Frakturschrift: Das
Heldenbuch. Sagen, Berichte und Erzählungen aus
der israelischen Urzeit. „Blätter mal um“, sagt
Ellie. Innen die hebräische Signatur Shai
Agnons, des Mystikers und Nobelpreisträgers, der in Israel einen ähnlichen Status hat
wie Goethe in Deutschland. „Nicht weitersagen, ja?“ Ein paar Geheimnisse scheint der
Norden doch noch bereitzuhalten.
Galer ie
Heike Cur tze
und Petra Seiser
Seiler stätte 15/16
1010 Wien
Wir freuen uns
über die 4 0 jähr ige
Zusammenarbeit
mit Günter Br us
DER AUTOR IST HERAUSGEBER DES
DEUTSCH-HEBRÄISCHEN MAGAZINS AVIV.
FOTOS: ANNA YAM
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
APÉRO
23
Diverse Ausstellungskataloge
des Künstlers auf Anfrage
043 1 512 93 75,
offi[email protected]
PORTRÄT
„BEI KUNST DENKE ICH
NIE ANS VERSTEHEN“
FÜR DEVIL TOWN (2015) VERWANDELTE DA CORTE DIE MAILÄNDER GALERIE GIÒ MARCONI IN EIN SINNBILD SEINER FAMILIE,
DIE GROSSEN THEMEN AMERIKAS INKLUSIVE
Alex Da Corte baut
präzis durchdesignte
Psychoräume, in
denen Kirche, Kino
und Ketchupflaschen
zum Gesamtkunstwerk verschmelzen
A
ls Kind hatte Alex Da Corte eine
Zwangsstörung. Irgendetwas befahl
ihm, Zimmer und Möbel mit Händen
und Füßen abzumessen und so jeden Raum
im Elternhaus zu kontrollieren. Das war in
den Achtzigern, am Stadtrand von Philadelphia. So eine Krankheit geht nicht einfach
weg. Doch sie kann andere Wege nehmen.
Zum Beispiel in die Kunst.
Wer sich heute durch die grellfarbigpsychedelischen Räume von Alex Da Corte
bewegt, spürt, dass hier jemand nichts dem
Zufall überlässt – jemand von immenser
Verführungsgewalt. Es sind Räume, die in
ihrem unheimlichen Perfektionismus ein
Feuerwerk an Erinnerungen auslösen: an
Discos und Disneyland, Science-Fiction
APÉRO
24
und Supermarktregale, David-Lynch-Settings
und Mike-Kelley-Albträume, Oma-Tapeten
und moderne Kunst. Die großen Themen
Amerikas – Familie, Konsum, Religion und
Eigenheim – verschmelzen zu bühnenhaften
Bildwelten, in denen Shampooflaschen
und Memphis-Design gleichermaßen für die
Gestaltung eines besseren Lebens zuständig
sind. Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte
ein Psychopath einen mit bunten Bonbons
in sein Pandämonium gelockt.
„Ich stamme aus einer sehr religiösen
Familie. Meine Mutter war Comiczeichnerin, aber sie zeigte mir auch Bilder von
Michelangelo und Giotto, die voller Allegorien waren. Zu Hause haben wir Opern
gehört. In dieser harten Gegend mit Tosca
WAS MAN SIEHT, IST GAR NICHT DA: FÜR SEINE INSTALLATION TAUT EYE TAU AUF DER BIENNALE
VON LYON 2015 TAUCHTE DA CORTE GELBE DINGE IN IHRE KOMPLEMENTÄRFARBE
Rechts unten: CHELSEA HOTEL NO. 2 (2010), DAS VIDEO WURDE ZU DA CORTES SCHLÜSSELWERK
aufzuwachsen, der großen Erzählung von
Triumph und Tragödie, ist ein ziemlicher
Mix von High und Low. Das spiegelt sich in
meiner Arbeit.“ Da Corte, Jahrgang 1980,
spricht druckreif mit dunkel schnurrender
Stimme, so höflich und frei heraus, dass
seine schlaksig street-smarte Erscheinung
fast ein bisschen irritiert. Bis heute lebt er in
Philadelphia. Sein Studio im rauen Nordos-
ten der Stadt hat mit knapp 600 Quadratmetern die Dimensionen einer Turnhalle,
was in New York kaum möglich wäre.
„Philadelphia inspiriert mich. Auf den
Straßen, hinter den Fenstern und in Supermärkten finde ich alles, was ich brauche.
Eine Kunstszene ist mir nicht wichtig.“
Gerade bereitet er seine erste museale
Einzelausstellung vor. Das MASS MoCA in
Massachusetts wird
Arbeiten der letzten zehn
Jahre zeigen: einer
Zeit, in der er trotz seiner
schrillen Ästhetik lange
Geheimtipp der Kuratoren
war, vor allem am ICA
Philadelphia, das ihn eine
Zeit lang fast jedes Jahr
ausstellte. Weil er eigentlich bei Disney arbeiten
wollte, hatte Da Corte
Animationsfilm und
Zeichnung studiert. Aber
Papier interessierte ihn
nicht. Stattdessen begann
er, in Garagen und
Off-Spaces Räume zu
bauen. „Das kam daher,
dass ich so gern in Diners
APÉRO
25
ging“, sagt Da Corte und lacht. „Ich sah
sie wie Filmsets: die Kellnerinnen, die
Ketchupflaschen und das falsche Holz überall. Mein erstes Kunstwerk war ein Restaurant mit Plastikpflanzen und aufgesprühtem
Marmor. Ich wollte eine Atmosphäre
kreieren, aber ohne Menschen. So ähnlich
wie bei Mike Kelley oder Gregor Schneider.“
2008 klopfte die Whitney Biennale
an, Da Cortes erster Atelierbesuch. Obwohl
er mitmachen durfte, hatte er das Gefühl,
seine Arbeit nicht richtig erklären zu
können – was heute, wo er so geschmeidig
Informationen abfeuert, kaum mehr
vorstellbar ist. Er bewarb sich in Yale und
studierte bei Jessica Stockholder Skulptur,
auch wenn er den Begriff nicht mochte.
„Skulptur, das hieß für mich Richard Serra
und Donald Judd. Aber Metall sagt mir
nichts, es ist machohaft und langweilig. Ich
liebe Plastik. Eine alte Zahnbürste auf
der Straße finde ich viel interessanter.“
2010 entsteht das Video Chelsea Hotel
No 2. Es wird so etwas wie Da Cortes
Schlüsselwerk. In einer langsamen Abfolge
quasireligiöser Rituale fasst es alles zusammen, worum es in seiner Arbeit geht: Hände,
die unreife Kirschen sorgsam mit Nagellack überziehen, Toastbrotscheiben zärtlich
aufeinanderstapeln und Neonfarbe in
Sodawasser träufeln. Leonard Cohen brummt
dazu „I need you, I don’t need you“. Es
ist eine hyperästhetische, libidinöse Inszenierung von Objekten der Begierde, in
denen der Mensch nach Verortung und Sinngebung sucht. Doch Da Corte verwandelt
solche Reminiszenzen an Pop-Art und
EDELPUFF ODER OMA-SALON? DIE HEXE HIESS DIE AUSSTELLUNG BEI
LUXEMBOURG & DAYAN 2015 IN NEW YORK. DA CORTE SCHMUGGELTE DORT
WERKE ANDERER KÜNSTLER EIN – DARUNTER EINES VON BJARNE MELGAARD,
DAS DIE AUFGESEXTEN COUCHTISCHE VON ALLEN JONES ZITIERT
Unten: WAS WIR SEHEN, BLICKT UNS AN: MIT IHREN VERWINKELTEN ZIMMERN
UND ZITATEN WAR DIE HEXE FAST SO ETWAS WIE EIN SPIEGELLABYRINTH
APÉRO
26
Surrealismus nicht einfach in aalglatte
Postinternet-Ästhetik. Er schafft eine
Stimmung, die den Dingen ihre Nostalgie
entlockt, ihr spirituelles Potenzial und
zugleich ihre totale Verfügbarkeit, die im
Digitalzeitalter selbstverständlich geworden ist. Wie auch in seinen Rauminstallationen zeigt sich hier die lustvolle Affirmation,
Konsument und zugleich Schöpfer zu sein –
in voller Akzeptanz der dunklen, zerstörerischen Seite dahinter. „Ich versuche, von
dieser Welt nicht überfordert zu werden“,
sagt Da Corte und meint das nicht kokett.
„Das geht nur, indem ich mir die Dinge
vertraut mache, sie lieben lerne, um mich
nicht fremd zu fühlen.“
Tatsächlich sind Da Cortes poppigpräzise Bildwelten voller Emotion, seine
Anspielungen auf Kirche, Kunst, Kino und
Konsum erstaunlich ironiefrei. Letztes
Jahr schmuggelte er die Werke seiner Helden
Mike Kelley, Robert Gober und Bjarne
Melgaard in seine eigene Ausstellung in dem
verwinkelten New Yorker Townhouse der
Galerie Luxembourg & Dayan – mit
flackernden Elektrokerzen, Plüschteppichen
und Spiegelwänden schien es, als hätte
jemand das Familienalbum seiner Großmutter in einen Edelpuff oder Concept Store
transformiert. Dabei entstand eine neue
Form von Appropriation Art, der Kunst der
Aneignung: eine, die nicht kunstimmanent
oder gesellschaftskritisch sein will, sondern
eher der Erklärung der eigenen Psyche
dient. „Ich bin kein zynisch-kalter Kritiker
wie Richard Prince, der unseren Umgang
mit Bildern reflektiert. Aber ich bin auch
nicht sentimental. Ich analysiere, welche
Formen Gefühle annehmen können. What
you see is what you get – aber man bekommt
eben immer auch das, was man nicht sieht.“
Obwohl Da Cortes Arbeit so präzise
durchdesignt ist, dass man von Gesamtkunstwerk sprechen muss, geht es genau darum:
zu zeigen, was man nicht sieht. So funktionierte auch die Installation Devil Town
bei Giò Marconi in Mailand. Den Besucher
begrüßte eine ausgestopfte Eule, in der
eine Kamera versteckt war – eine Einladung,
zum Voyeur eines Familienporträts zu
werden. Die Rollen von Vater, Mutter und
Schwestern übernahmen blau und rot
beleuchtete Zimmer (denn Farbe, so Da
Corte, kommuniziere Gefühle besser als
alles andere), darin Stoffhase, Plastikbaum
und Gartenzaun, das suburbane Symbol
für die Abwehr des Bösen schlechthin, um
es zugleich drinnen einzuschließen, in den
eigenen vier Wänden. Staunend stand man
in dieser geometrisch durchkomponierten
Geisterbahn, begriff nichts, war aber
vollkommen gebannt. „Ich denke bei Kunst
nie ans Verstehen. Alles ist verständlich,
auch wenn es einem fremd ist“, sagt
Da Corte und klingt so entspannt wie nur
jemand, der intuitiv genau weiß, was er
will. „Ich glaube fest daran, dass ein Raketenwissenschaftler und ein Cartoonzeichner
im selben Flieger sitzen können. Sie haben
nur verschiedene Arten, ihre Sicht auf die
Dinge auszudrücken.“ Und auch sie stehen
am Ende nur vor einer einzigen großen
Frage: Tragik oder Triumph?
TEXT: GESINE BORCHERDT
DAS MASS MOCA IN MASSACHUSETTS ZEIGT AB
26. MÄRZ ALEX DA CORTES ERSTE MUSEUMSAUSSTELLUNG FREE ROSES
LEAVING LAS VEGAS: DEN RIESENPOMMES HAT DA CORTE VOM DACH EINER
MCDONALD’S-FILIALE. IM BLAUEN LICHT WIRKT ER WIE DAS SCI-FI-MÖBELSTÜCK EINES
FUTURISTISCHEN WOHNZIMMERS
BLITZSCHLAG
„ICH WAR WIE
VERSTEINERT“
Es ist ein Augenblick der
Gewissheit: Dieses Kunstwerk
trifft mich im Kern.
Peter Saville über seine erste
s muss im Jahr 1975 gewesen Marilyn im
sein. Ich war 20 Jahre alt
und studierte am Polytechni- Manchester
kum von Manchester Grafikder 70er-Jahre
design. Das Einzige, was ich
E
damals an zeitgenössischer Kunst
kannte, war Pop-Art. Ich
kannte sie aus dem Sunday Times
Magazine, das seit Ende der
60er-Jahre herauskam. Fast jeder
Teenager war dadurch mit Andy
Warhols Factory vertraut. Aber
Manchester war damals nicht
gerade der Ort für zeitgenössische Kunst – England generell
nicht. Mit mir studierte mein
bester Freund Malcolm Garrett,
der später die Cover vieler
berühmter Bands gestaltete. Wir
beide interessierten uns für den
Look der Dinge. Und Pop-Art
war so etwas wie ein Einstieg
in die Kunst. Eines Tages sagte
Malcolm zu mir: Da ist eine
Marilyn in der Whitworth Art
Gallery. Das war damals ein
Textilmuseum und gehörte zur
Universität. Es musste also
ein Witz sein. Eine Marilyn in
Manchester, das war geradezu
unmöglich. Aber Malcolm
insistierte, und so ging ich selber
hin. Und da war sie – gleich
fünf Mal! Sie hingen alle in einer
Reihe. Ich war wie versteinert.
Es war wie die letzte Szene des
Films Unheimliche Begegnung der
dritten Art von Steven Spielberg,
da wo die Ufos landen und die
Leute von der Erde einsteigen,
um zu einem fernen Planeten
aufzubrechen. Wie gesagt, ich
kannte dieses ganze Universum
des New York der 60er-Jahre,
die Factory und Velvet Underground – und plötzlich manifestierte sich all das in diesen
Marilyns! Das war wie eine Lücke
im Raum-Zeit-Kontinuum. Sie
sahen aus wie heilige Madonnen.
Später begriff ich, dass Andy
ja mit dem Anblick orthodoxer
Ikonen aufgewachsen war. So
wurde sein Weg zur Pop-Art zu
meinem eigenen Weg. Und der
erste Schritt war tiefschürfend.
Ich glaube, das lag auch daran,
dass es so unerwartet geschah.
Wissen Sie, wenn ich in den
Louvre gehe, um mir die Mona
Lisa anzusehen, kenne ich sie
Mit den Plattencovern für Joy Division und New Order wurde er weltberühmt:
PETER SAVILLE, Art Director at Large
schon, bevor ich überhaupt
da bin. Vor Ort sind dann
hunderte Menschen – das ist
wie eine Antiklimax, eine
Art Nicht-Event. Wenn solche
Dinge aber unerwartet passieren, haben sie eine viel größere
Wirkung. Man könnte sagen,
dass deshalb ein entschieden
Warhol’scher Geist
in den Dingen steckt,
die ich mache.
Zum Beispiel das
Cover der Platte
Technique von New
Order mit der
Putte – das ist total
Warhol. Überhaupt
entspricht mir
die Vorstellung von
einem kohärenten
Universum, in dem
Kunst und Leben
eins sind. Und das ist
die Vorstellung von
Pop-Art.
APÉRO
28
ANDY WARHOL
Marilyn, 1967
Der Krater des Vesuvs mit dem Ausbruch von 1828 (Detail), 1828 © Privatbesitz
19. 3. – 17. 7. 2016
Alte Nationalgalerie
WWW.AUGUSTKOPISCHINBERLIN.DE
WWW.SMB.MUSEUM
Alte Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin
Museumsinsel Berlin
Bodestraße 1–3, 10178 Berlin
Die Ausstellung wird ermöglicht durch
den Verein der Freunde der Nationalgalerie
und unterstützt durch die Volkswagen Aktiengesellschaft.
REVUE
30
NICOLE
EISENMAN
LONG DISTANCE, 2015, ÖL AUF LEINWAND,
165 × 208 CM
OB SCHLACHTENBILDER ODER EIN
BEZIEHUNGSENDE PER
SMS: NICOLE EISENMAN
IST DIE MALERIN DES
MODERNEN LEBENS.
KOLLEGEN VEREHREN SIE
SCHON LANGE, DOCH
ERST JETZT‚ 20 JAHRE
NACH IHREM DEBÜT AUF
DER WHITNEY-BIENNALE,
BEKOMMT SIE DIE ANERKENNUNG, DIE SIE VERDIENT.
VON SWANTJE KARICH
HAMLET, 2007, ÖL AUF LEINWAND, 208 × 165 CM
M
it einem großen Knall betritt Nicole Eisenman 1995 die
Museumsbühne. Als das Whitney Museum, das Sprungbrett für junge amerikanische Künstler, sie einlädt, an
seiner Biennale teilzunehmen, sprengt sie zum Dank das Museum
in die Luft. Im Erdgeschoss malt sie auf eine viele Meter lange
Wand ihren Angriff auf den musealen Stillstand als gigantisches
Historienbild. Das Museumsgebäude liegt in Trümmern, aus
Bergen zerborstener Leinwände werden Verletzte geborgen. Ein
junger Mann hockt auf dem Boden, den Kopf in die Hände
gestützt, und wird getröstet. Verzweifelt versucht ein anderer,
jemanden wiederzubeleben, und eine panische Fernsehjournalistin
reißt den Kopf von links nach rechts auf der Suche nach der
nächsten Story. Eine Szene, die uns heute angesichts ungezählter
Kriege und Selbstmordattentate unheimlich vertraut vorkommt.
Doch in der Mitte, auf einem Baugerüst, klein und in gleißendem,
endlosen Weiß, sitzt die Künstlerin selbst – als unbesiegbare
Freiheitsfigur. Man sieht sie von hinten, wie sie den Pinsel hebt,
seelenruhig, als würde all das nur ihrer Fantasie entspringen.
Ihre eigene Leinwand ist nach diesem Bang leer gefegt. Sie hat sich
allem entledigt, muss auf niemanden mehr Rücksicht nehmen,
hat sich befreit von allen Erwartungen. Das Bild erinnert an
Delacroix’ berühmtes Gemälde Die Freiheit führt das Volk, an Bracques
mutigen Kubismus und natürlich auch an Bilder des Sozialistischen
Realismus. Es markiert den Anfang eines wilden Ritts zwischen
Punk, Dilettantismus und Alten Meistern. Drei Dinge, die eigentlich
so gar nicht zusammenpassen.
Im Whitney Museum verschwindet ihr Angriff auf die Institution bald hinter einer falschen Wand. Sie aber wirbelt mit ihrem
comicartigen Strich im New Yorker Underground und lässt viel
Tintenblut fließen, gehört zu den bad girls um Sue Williams, Zoe
Leonard, Helen Chadwick und Nicola Tyson. Seit ihrem Abschluss
an der Rhode Island School of Design in Providence lebt sie
sich auf der Lower East Side und in Chinatown aus – bindet alles
in ihre Bilder ein, was sie medial umtreibt: Horrorfilme, Volkskunst, Kitsch, Pornografie, Michelangelo oder Max Beckmann,
lesbische Subkultur.
Ich treffe die feministische Richard Prince, wie die Kuratorin
Beatrix Ruf sie nannte, in ihrem Atelier in Brooklyn. Der Schock
nach den Anschlägen von Paris sitzt allen noch in den Knochen. In
Europa spricht man offen über die eigenen Fluchtgedanken.
Draußen in den New Yorker Straßen herrscht Alarmstufe Orange.
Hier drinnen aber hocken wir wie in Platons Höhle.
Nicole Eisenman, kurze schwarze Haare, durchtrainierter
Körper, wirkt gelassen, von der Unruhe in ihren Bildern ist nichts
zu spüren. Ihre dunkle Stimme fühlt sich an wie eine lange Umarmung. Vor mir sitzt eine Künstlerin, die den boys’ club der Kunstszene
aufmischte und trotzdem weniger Beachtung fand als manche
ihrer Zeitgenossen. Also machte sie ihr eigenes Ding, 2005 gründete
sie mit der Künstlerin A. L. Steiner „Ridykeulous“, ein Künstlerkollektiv, das Queer Art und feministische Ideen, Ausstellungen
und Publikationen fördert. Eisenman gilt in Künstlerinnenkreisen
als Heldin. Sie war immer ein artists’ artist. Jetzt aber steht sie an
einer Schwelle: Ihre Galerien werden Wartelisten für ihre Bilder
anlegen müssen. Was ist anders? Was ist geschehen? Nach Jahr-
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32
EXPLODING WHITNEY, 1995, LATEXFARBE UND TINTE, 422 × 914 CM
zehnten der intellektuellen Konzeptkunst und den gesättigten
90er-Jahren sind wir jetzt bereit für ihre Kunst, bereit, angesichts
von Syrienkrieg und Flüchtlingskatastrophe den Erzählungen
ihrer figurativen Malerei zu folgen. Die Künstler pilgern zu ihren
Ausstellungen, weil sie schon früh erkannt haben: Nicole Eisenman
ist eine gute Malerin und eine noch bessere Zeichnerin. Sie ist nicht
nur ein bad girl, nicht nur eine Zeitgenossin Martin Kippenbergers,
mit dem sie oft verglichen wurde, sondern auch ein pictor doctus,
eine höchst gebildete, raffinierte Künstlerin.
Man spürt, wie sie genießt, dass sich die Zeiten geändert haben,
Malerinnen sich langsam durchsetzen wie Amy Sillman oder
Charline von Heyl. Und jetzt wartet auf sie eine umfangreiche
Überblicksschau im New Yorker New Museum, die im Mai
eröffnet. In Deutschland hat sich eine Frau für sie eingesetzt und
Treue bewiesen, die Galeristin Barbara Weiss. 2005 ließ sie sich
von ihren Zeichnungen berühren. Ihr Mann, der Kurator Kasper
König, trug Eisenmans Werk bis nach Sankt Petersburg und
zeigte ausgerechnet in Russland Sloppy Bar Room Kiss von 2011:
Zwei androgyne Frauen oder Männer, vielleicht auch eine Frau
und ein Mann, sind versunken in ihren Kuss, ihre Köpfe auf dem
Kneipentisch verschmolzen. Die kritischen Blicke von der Bar
bemerken sie nicht – endlose Küsse, die wohl jeder kennt. Homosexuelle aber verbinden mit diesem Bild noch etwas: das unendliche Glücksgefühl, sich ungefährdet in einem öffentlichen Raum zu
bewegen und ihn als Schutzraum zu empfinden. Nicole Eisenman
findet ein intensives Bild für diese Fragilität: Im nächsten Augenblick
werden sie sie vielleicht verjagen. Wenn man weiß, dass Schwule
sogar in einer Stadt wie Berlin immer häufiger bedroht werden, fühlt
man den kalten Schauer auf dem Rücken.
ohin könne man sich heute denn überhaupt noch flüchten, wenn alles zu schlimm wird?, frage ich die Malerin.
„Ich habe viele Fluchtversuche hinter mir“, sagt sie.
„Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bin ich aufs Land
abgehauen und doch zurückgekehrt. Jetzt treffen wir uns regelmäßig mit anderen Frauen auf Fire Island außerhalb von New York.“
Sie zeigt auf ein Gemälde in der Ecke: Darauf ist eine idyllische
Szene zu sehen, eine Figur spielt Gitarre, gekleidet in ein wunderschön türkisfarbenes Kleid, das nach heißem Sommer aussieht,
daneben hockt eine junge Frau und lauscht den Klängen. Flucht
als Rettung?
W
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THE WHITNEY BUY ANY OL’ PAINTING SALE, 1995, MIXED MEDIA, GRÖSSE VARIABEL
Rechte Seite: NICOLE EISENMAN FOTOGRAFIERT VON HEJI SHIN
REVUE
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THE TRIUMPH OF POVERTY, 2009, ÖL AUF
LEINWAND, 165 × 208 CM
Nicole Eisenman berabeitet ihre eigene Psyche in einem Bild
für alle. Auf dem Gemälde The Session von 2008 zeigt sie sich mit
nackten, dreckigen Füßen, einem Kopf gebläht wie ein Luftballon,
auf einer Couch beim Psychologen liegend. „Das ist mein Vater,
erzählt sie, er ist Psychologe.“ Auf ihrem Geschlecht steht eine
Pappschachtel mit Taschentüchern – phallisch und vaginal zugleich.
„Das Bild hält fest, wie ich mit ihm über meine Sexualität spreche.“
Er fällt nicht aus seiner Rolle des Psychologen – mit seinem Block
und Stift. Den sorgenden Beschützer sucht man hier vergeblich.
Weil ich weiß, wie sehr sie sich in ihren Bildern auf Künstler
der kurzen Blütezeit der Weimarer Republik bezieht, Max Beckmann oder George Grosz, und die inneren Ängste und äußeren
Einflüsse aufeinanderprallen lässt, zeige ich ihr Lotte Lasersteins
vor ein paar Jahren in Deutschland wiederentdecktes großformatiges Gemälde Abend über Potsdam. Laserstein war Jüdin und wie
Menschen sind sich nahe und bleiben
doch allein. Und im Hintergrund
lauert die Katastrophe.
Nicole Eisenman lesbisch. Sie floh rechtzeitig aus Nazideutschland
und überlebte. 1930 schuf sie das visionäre Bild eines Abendmahls auf einer Terrasse mit Blick über Potsdam, wo wenig später
die Katastrophe losbrach: Eine Gruppe junger Menschen sitzt
zusammen. Alle starren vor sich hin, schauen melancholisch über
die Stadt. Das Festmahl ist vorbei. Fast geleert die Gläser und
Flaschen. Nicole Eisenman versteht sofort, warum ich ihr das Bild
zeige: eine private Szene, so politisch wie ihre eigenen Bilder.
Menschen sind sich dort nahe und bleiben doch allein. Und im
Hintergrund lauert die Katastrophe.
THE DRAWING CLASS, 2011, ÖL UND KOHLE AUF LEINWAND, 165 × 208 CM
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38
Bei Laserstein erinnert sie sich an ihr eigenes Gemälde Sunday
Night Dinner, auf dem sie uns in ihr ganz privates Reich lässt,
das Haus der Künstlerin und ihrer Freundin. Das Bild zeigt einen
Tisch, um den sich Abendgäste versammeln. Es gibt Spaghetti.
Eine Frau ist nackt. Ein Mann vorne sieht aus, als käme er direkt
aus einem Spätwerk von van Gogh, seine Haare und sein Bart
zerfließen in gelben Linien, eine Figur dahinter erinnert im klaren
Profil an Frauen von Vuillard. Die Gäste schweigen. Wie bei
Lotte Laserstein versinken die Freunde in ihrer eigenen Welt, in
ihren privaten Gedanken. Die Nähe zu Manets Frühstück im
Grünen ist offensichtlich – übertragen in unsere Zeit. Man denkt an
Baudelaires These zum Painter of Modern Life, der forderte, die
gesellschaftlichen Konventionen offenzulegen.
ie Künstlerin als Malerin des modernen Lebens im 21. Jahrhundert? Malerei ist ihr das natürliche Ausdrucksmittel.
Sie arbeitet in Echtzeit, indem sie ihre Erfahrung in die
Bilder laufen lässt – sie ist ein Kind ihrer Zeit, ihrer Biografie,
ihres Wissens, ihres Körpers, ihrer Liebe, ihrer Wut, ihres Hasses
und ihrer Stadt New York, der Lower East Side und Brooklyn.
Abhängig ist sie nur von Farbe und Leinwand und ihrem freien
Geist. Kein Apparat, keine neueste Technik, keine unnötigen
Übertragungen.
Drastisch und unmittelbar reagiert sie so im Jahr 2009 auf die
politische Lage in den Vereinigten Staaten mit dem Gemälde
The Triumph of Poverty, entstanden kurz nach der Wahl von Barack
Obama, der doch eigentlich Optimismus verbreiten wollte, dann
aber Rezession verwaltete. „Es war eine komische, dumpfe Zeit“,
sagt sie. Das Gemälde zeigt einen Trauerzug mit 17 Menschengestalten, die alle in eine Richtung streben, aber de facto stehen. In der
Mitte, in einem alten Auto, sitzt eine Frau mit großer, blutiger
Nase, ihr Körper zusammengenäht aus vielen Flicken, rosawundgerieben. Die Literaturwissenschaftlerin Terry Castle bringt die
Frauenfigur in Beziehung zu einem Gemälde des Alten Meisters
Domenico Ghirlandaio, Alter Mann mit Enkel von 1490. Ein
kleiner Junge mit Engelslocken schaut dort gebannt hinauf zum
Großvater, dessen Nase übersät ist mit dicken Warzen, eines der
menschlichsten Bilder des gesamten Quattrocento.
Nicole Eisenmans Bilder tun weh. Auf dem Gemälde Tea Party
von 2011 zeigt sie ein Quartett dunkler Gestalten in einem
Keller. Auch sie reden nicht miteinander, wie (fast) alle ihre Figuren.
Rechnen sie mit der Apokalypse? Oder mit ihrem großen Auftritt?
Einer bastelt an einer Bombe. Einem alten Mann mit richtungslosem
Blick hängt der Arm herab, in der Hand baumelt ein tropfender
Teebeutel. Ein humorvolles Gruppenporträt des bemitleidenswerten Grauens.
Und jetzt, im Jahr 2016? Sie ist 50 Jahre alt und hat zwei Kinder.
Und eine große Trennung hinter sich. Ihre Tochter George
lernen wir auf einem gleichnamigen Gemälde kennen, auf dem
Nicole Eisenman mit ihr Flugzeug spielt. Jetzt aber zeigt sie auf
ihr neuestes Gemälde. Es ist noch nicht fertig, soll aber im Mai in
ihrer ersten Schau bei Anton Kern in New York gezeigt werden.
Es wirkt wie ein überdimensionales psychedelisches Kifferbild.
Eine Wohnung. Ein abendliches Zusammentreffen. Alle hängen
rum, trinken, rauchen, hören Musik. Im Hintergrund taucht eine
D
GUY RACER, 2011, ÖL UND COLLAGE AUF LEINWAND, 193 × 152 CM
Terrasse auf, die Skyline von New York im Mondlicht. Auf einem
gelben Sofa sitzt eine Frau, die mit ihren klaren Linien und der
polierten Haut Erinnerungen weckt an Christian Schads Sonja von
1929. Die geheimnisvolle Schönheit ist versunken in ein Plattencover: Another Green World von Brian Eno aus dem Jahr 1975. Sein
Song I’ll Come Running (To Tie Your Shoes) klingt im Ohr: „I’ll find
a place somewhere in the corner. I’m gonna waste the rest of my
days.“ Ein Frauenpaar dreht sich spiralförmig ineinander, Hand
in der Hose, der Juan-Gris-Kopf zurückgeworfen, Rauchringe
flattern hoch. Eine giftgrüne Hand, feingliedrig, geisterhaft, hält
einen Körper fest umklammert. Am Boden liegt ein Cover der
Pantherfrau Grace Jones. Zwei sehr weiße Männer liegen sich in
den Armen, ihre Köpfe ruhen auf der Schulter des anderen –
ihre verbundenen Hände erinnern an Philip Guston, bei dem man
Linien auch nicht immer trennen kann. Ein Mann nimmt einen
langen Zug aus einem schweren Bierglas. Ein anderer Mann löst
sich auf in weißer Farbe, gehalten von wenigen grauen Strichen.
Woher kommen sie alle? Wohin fliehen sie in Gedanken?
Ich bitte Nicole Eisenman, mir zu erzählen, wie die kunsthistorischen Zitate in ihre Bilder finden. In der Gegenwartskunst
dominiert in den letzten Jahren ein Gefühl der Langeweile, weil
man permanent Déjà-vu-Gefühlen ausgesetzt ist. Die junge
Kunst sieht aus wie ein Abklatsch der alten. Nicole Eisenman aber
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39
zitiert die Künstler als Stilmittel, sie verschleiert nicht. Sie steht zu
ihren Quellen wie ein guter Wissenschaftler, der selbstbewusst
genug ist, um zu wissen, dass seine Werke weiter reichen werden als
die der Vorgänger. Die Künstlerin zeigt mir Vorzeichnungen für das
noch titellose Gemälde. Auf den Köpfen finden sich Nummerierungen und Bezeichnungen, „Blue Rider page 96“, „Beckmann 36“,
auch Kandinsky gehört ein Verweis. Sie zieht Kataloge aus ihrem
prall gefüllten Regal, in dem viele Bücher vom begnadeten Zeichner Saul Steinberg stehen. „Mit ihm fing in meiner Jugend alles
an.“ August Mackes Tegernseer Bauernjunge erscheint auf Seite 96
im Buch über den Blauen Reiter. In ihrem Bild allerdings ist er
verschwunden, er hat sich weggedreht. Über seinen Rücken laufen
die Lichter der Discokugel.
Kommuniziert wird im Werk von Nicole Eisenman nur mit
technischen Geräten. Zum Beispiel auf ihrer Skypeszene Long
Distance, die zum Trocknen noch im Atelier steht. Dort auf dem
Bildschirm liegt eine Frau gemütlich auf dem Sofa, davor fläzt sich
jemand, vielleicht die Künstlerin selbst. In dieser wunderbar
schlichten Szene beschreibt Nicole Eisenman die Veränderungen
durch die Digitalisierung. Auf einem anderen Gemälde starrt
ein Gesicht auf ein Handy, beide Hände umklammern das Smartphone. Der Titel: Breakup.
SLOPPY BAR ROOM KISS, 2011, ÖL AUF LEINWAND, 99 × 122 CM
Rechts: SEANCE, 2011, ÖL AUF LEINWAND, 152 × 183 CM
Die Sprachlosigkeit ihrer Abendgesellschaften aus den vergangenen Jahren wandelt sich. Ihre Bilder wirken nun ruhiger,
souveräner, weniger wütend, weniger eindeutig. Man kann es nicht
mehr entscheiden, Frau oder Mann. Aber es bleibt die Unruhe,
die man in ihrem ganzen Werk spürt. Frauen, die Frauen lieben,
müssen irgendwann einmal entscheiden, ob sie sich von der
geltenden Normalität absetzen. Sie müssen Mut beweisen, egal wie
tolerant das Umfeld auch sein mag. Und sie wissen, dass für ihr
Glück immer eine Restabhängigkeit bleibt von der Toleranz dieser
Gesellschaft. Diese Unruhe wird aus den Bildern von Nicole
Eisenman niemals verschwinden.
DAS NEW MUSEUM IN NEW YORK ZEIGT VOM 4. MAI BIS ZUM 26. JUNI
AL-UGH-ORIES VON NICOLE EISENMAN. AB 19. MAI SIND IHRE NEUEN
ARBEITEN IN DER GALERIE ANTON KERN IN NEW YORK ZU SEHEN
K REUZBERGER
NACHTE
TROTZ KNÖDELWEITWURF: NIRGENDWO WAR DIE
FRONTSTADT BERLIN MEHR WELTSTADT ALS IM EXIL,
DER MUTTER ALLER KÜNSTLERRESTAURANTS.
Eine Gesprächsmontage von Max Dax
I
n den Siebzigern und Achtzigern, als in Berlin noch die Mauer
stand, gab es in Kreuzberg ein Restaurant, das wie das
Paradies auf Erden war: das Exil, geführt von dem österreichischen Schriftsteller, Musiker und Kybernetiker Oswald Wiener
und Michel Würthle, dem heutigen Besitzer der Paris Bar in Berlin.
Hier trafen sich ab 1972 die Künstler und die Stars, die Querdenker und Outcasts, um in ebenso verrauchten wie versoffenen
Nächten die Zukunft der Kunst und den Sinn des Lebens zu
diskutieren. David Bowie und Bianca Jagger, Joseph Beuys, Dieter
Roth und die Neuen Wilden waren Stammgäste, sie alle genossen
die deftige wienerische Küche von Ingrid Wiener und ihrer
Stieftochter Sarah Wiener. Seine Blütezeit erlebte das Exil in den
Jahren 1972–1979 – in dieser Zeit war das Restaurant eine einsame
Oase in der kulinarischen Wüste Westberlins. Wie alle Paradiese
wurde auch das Exil verloren, als Ingrid und Oswald Wiener 1985
nach Kanada auswanderten. Zwar existierte das Restaurant
noch bis 1997, aber der alte Charme war dahin. Geblieben sind
vor allem Erinnerungen an wilde Nächte.
Insel ist, einfach unsere eigene Insel. Eine Insel in der Insel. Als die
Entscheidung einmal gefallen war, haben wir vor allem Wert darauf
gelegt, dass es schön wird. Der erste Eindruck musste bereits stimmen. Ich habe schöne Laternen angefertigt, die installierten wir draußen an der Weinlaube. Wer an der Kottbusser Brücke am Kanal
abends ums Eck gebogen ist, hat schon von Weitem das warme Licht
gesehen. Das war einladend und so sollte es auch sein.
Michel Würthle: In jeder Großstadt gibt es eine eigene Gesellschaft
der Künstler, Outcasts und Denker, die zueinander finden will, und
das Exil wurde ihr Treffpunkt.
Günter Brus: Das Exil war ein für das kreative Denken sehr wichti-
ger Ort. Viele Pläne und auch Zusammenarbeiten sind hier entstanden. Es war kein normales Restaurant. Zumindest am Anfang, in den
ersten Jahren nicht. Am Anfang war es wirklich ein Treffpunkt, wo
man die Gewissheit hatte, dass man mit irgendjemandem sofort ins
Gespräch kommen würde – sei es, dass man sich kannte oder dass
man jemanden neu kennenlernte.
Michel Würthle: Bei einem Spaziergang im Frühling 1972 entlang
des Landwehrkanals in Berlin-Kreuzberg fiel mir am Paul-Lincke- Oswald Wiener: Gemeinsam mit anderen Exilösterreichern
Ufer ein Lokal ins Auge, das einen kleinen Gastgarten hatte, der schmiedeten wir enorme Pläne: Eine total autochthone Gemeinde
unter einer üppigen Laube aus Weinreben im Schatten lag.
sollte geschaffen werden. Damit meine ich einen eigenen Verlag,
eine eigene Bücherei, eigene Schneider, alles. Zum Glück ist es dazu
Ingrid Wiener: Es war wie verwunschen. Alles war zugewachsen. nicht gekommen.
Selbst wenn die Sonne grell schien, war es dunkel und herrlich grün
Michel Würthle: Wir waren einfach begeistert vom Blick auf den
im Garten.
Kanal. Dies ist die schönste Ecke der Stadt. Hier sieht Berlin ein
Michel Würthle: Also durchschritt ich das Tor, ging durch den grü- wenig aus wie Paris oder Amsterdam. Und gelegentlich fährt ein
nen Schatten und betrat den Laden. Es war ein Ort für Schwerst- Dampfer vorbei und tutet beim Anlegen.
alkoholiker, eine dunkle Höhle. Vielleicht fünf oder sechs Gäste
WEDER POLITESSEN, ORDNUNGSAMT
saßen im Schankraum vormittags beim Bier, und ich sagte zum Wirt:
NOCH STEUER
„Mir gefällt das sehr gut hier!“ Und der Wirt antwortete: „Find ick jut,
dass Ihnen das jut jefällt.“ Wir kamen sofort ins Gespräch, und ich
bekam heraus, dass der Wirt genug hatte von der Gastronomie, auf- Sarah Wiener: Im Übrigen ist es schöner, quasi im eigenen Wohnhören wollte: „Wir sind zu alt, und Sie sehn ja: Nüscht los hier, wa!“ zimmer mit Leuten zu essen, zu rauchen und zu trinken, als allein
zu Hause. In Wien hatte Oswald bereits eine Zeit lang in seiner
Ingrid Wiener: Oswald, Michel und ich hatten zuvor in der Bayeri- Privatwohnung ein Café betrieben. Das hat er dann in Westberlin
schen Straße in Charlottenburg das Matala betrieben. Der Michel ist mit dem Exil weitergeführt, nur jetzt eben öffentlich. Er richtete es
nach Griechenland gefahren und hat das ganze Geld, das er verdient sich ein, wie er es haben wollte, und wenn die Gäste deppert wurhatte, verspielt. Er ist dann wieder nach Berlin gekommen, mit der den, dann konnte er sie rausschmeißen. Ansonsten gerierte er sich
Griechin Katerina Dukas, seiner großen Liebe. Er meinte dann: wie ein König, der es ein paar Randgestalten erlaubte, neben und mit
„Ingrid, wir müssen doch was machen, das Matala war doch so toll.“ ihm zu wirken.
Michel Würthle: Oswald wollte sich zunächst nicht direkt beteiligen, Oswald Wiener: In Wien haben wir in unserer Wohnung in der
bot uns aber seine Hilfe an. Na ja, und dann war er ziemlich bald Judengasse einmal ein Café geführt, allerdings ein kostenloses, für
doch voll dabei.
unsere Bekannten. Jeder, der uns kannte, konnte zu uns kommen,
24 Stunden am Tag. Unter und über uns war das Lager eines KaufOswald Wiener: Ich hatte mir nach dem Matala vorgenommen, wie- manns. Es war faktisch sturmfrei.
der zu schreiben, mich wieder meinen Studien in Kybernetik zu widmen. Ich habe gegen diese Versuche, ein neues Lokal zu machen, Ingrid Wiener: Das Wien dieser Zeit habe ich in einer ganz schlechprotestiert. Ich wollte nicht noch einmal Wirt spielen. Aber nachdem ten Erinnerung. Ständig ist man angeeckt. Es war egal, was man
Ingrid und Michel mir das Lokal gezeigt hatten, kam mir diese Idee: gemacht hat, man war immer irgendwie fremd. Wir konnten nicht
Wir machen hier in dieser merkwürdigen Frontstadt, die wie eine mehr atmen in Wien.
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Günter Brus: Man kam in den 60er-Jahren wegen jeder Kleinigkeit
DIE MACHER
ins Gefängnis. Ich saß mehrmals. Wegen meiner Kunstaktionen, aber
auch wenn man in der Nacht um zwei Uhr im Wiener Zentrum bei
Rot über die verwaiste Straße gegangen ist. Bei der kleinsten Regelverletzung wurde man bereits von einem Polizisten mit dem Gummiknüppel bearbeitet. Ich habe mich immer gewehrt und dann saß
ich anschließend drei Tage oder zwei Wochen im Gefängnis.
OSWALD WIENER Mit seinem Buch die verbesserung von mitteleuropa, roman prägte Oswald Wiener 1968 die literarische
Avantgarde Österreichs. Im selben Jahr musste der Schriftsteller,
Musiker und Kybernetiker aus seiner Heimat fliehen und landete in
Westberlin, wo er 1972 gemeinsam mit seiner Frau Ingrid das
Restaurant Exil gründete.
Oswald Wiener: Günter Brus hat zig Briefe bekommen, in denen
INGRID WIENER Die Künstlerin Ingrid Wiener folgte ihrem Mann
ins Exil nach Westberlin, wo sie bald ihr gastronomisches Talent
entdeckte. Das Exil erfüllte sie mit Leben, indem sie die böhmischwienerische Küche in Berlin als kulinarisches Novum einführte.
ihm anonym gedroht wurde: „Du Schwein, wir bringen dich um!“
Sarah Wiener: 1968 wurde Oswald vor ein Geschworenengericht
gezogen unter der falschen Anklage, er habe beim Hörsaal-1Happening „Kunst und Revolution“ in der Wiener Universität dazu
aufgerufen, „in den Stephansdom zu scheißen“. Sein Foto landete in
der Fahndungskartei für Sexualstraftäter. Die Bürgerrechte wurden
ihm daraufhin zwar nicht entzogen, aber es wurde bald ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt.
Ingrid Wiener: Sie hätten ihn jederzeit verhaften können. Oswald war
in Westdeutschland auf Lesereise mit seinem eben erschienenen Buch
die verbesserung von mitteleuropa, roman. Wir rieten ihm, nicht nach Österreich zurückzukehren. So kamen wir überhaupt erst nach Westberlin.
Wolfgang Müller: Die österreichischen Künstler, allen voran die
Wiener Aktionisten, waren ständig in großer Bedrängnis, und Westberlin bot ihnen Freiraum vor Schikane und Verfolgung. In Westberlin konnten sie in Freiheit neu anfangen.
Michel Würthle: Der Name „Exil“ stammte von mir und stand für
„Charlottenburger Exil“. Oswald hat mir den Kitsch durchgehen
lassen. Vor allem aber waren Flaubert und Balzac schuld daran, dass
wir überhaupt eine Vorstellung vom Restaurant hatten, wie es zu sein
hatte. Sie haben die Vorstellungskraft geliefert. Und wir haben aus
dieser Imagination das Exil gebaut.
Stephan Landwehr: Es war das schönste Restaurant, das ich in mei-
nem ganzen Leben gesehen habe. Das war so ein positiver Ort. Man
musste zwar immer aufpassen wie der Luchs, dass Oswald einen dort
nicht zum Frühstück gefressen hat, aber ansonsten …
Günter Brus: Das ist eben noch die alte Schule von einem gut
geführten Restaurant. Man hat auf die Einrichtung großen Wert
gelegt, aber nicht jeden Kratzer gleich zugekleistert, sodass man ein
gutes Gefühl hatte in diesem leicht abgenutzten Ambiente.
UNA WIENER Sie ist eines von drei Kindern von Oswald Wiener
und der bildenden Künstlerin Lore Heuermann. Im Exil heuerte sie
als Hilfsköchin an und fiel erst einmal angesichts „der Vulkanhitze
in der kleinen Küche“ in Ohnmacht.
SARAH WIENER Bekannt geworden ist die jüngere Tochter von
Oswald Wiener und Lore Heuermann als Fernsehköchin, Franchise-Unternehmerin und Stargastronomin. Wie ihre Schwester
Una begann sie ihre Karriere in der kleinen Küche des Exil.
GÜNTER BRUS Wie Oswald Wiener musste der Aktionskünstler
1970 vor der österreichischen Justiz fliehen, um einer Haftstrafe zu
entgehen. In Westberlin war er bald Stammgast im Exil, für das er
ein riesiges Deckengemälde malte. Die neue Nationalgalerie Berlin
zeigt ab 12. März eine Brus-Retrospektive im Martin-Gropius-Bau.
MICHEL WÜRTHLE Der heutige Betreiber des Künstlerrestaurants
Paris Bar in Berlin-Charlottenburg gründete das Exil 1972 mit
Ingrid und Oswald Wiener. Seine Erinnerungen an die gemeinsam
erlebte Zeit hielt Würthle in ausdrucksstarken Zeichnungen fest.
BRUNO BRUNNET Bevor Bruno Brunnet die Berliner Galerie
Contemporary Fine Arts (CFA) gründete, war er in den 80er-Jahren Kellner im Exil.
WOLFGANG MÜLLER Der Musiker (Die tödliche Doris), Chronist
(Subkultur Westberlin 1979–1989, Philo Fine Arts) und Künstler zählt
zu den größten Experten des Werks von Dieter Roth.
STEPHAN LANDWEHR Der Rahmenbauer war Stammgast im Exil
während der 80er-Jahre. Als er ein Jahrzehnt nach dessen
Ende das Grill Royal an der Spree eröffnete, wollte er mit seinem
Restaurant den freien Geist des Exil weiterführen.
Michel Würthle: Wir haben das Exil im Winter 1972 aufgemacht.
Und zu dieser Jahreszeit lag ganz Kreuzberg, das ja zu drei Himmelsrichtungen umgeben war von der Mauer, in einem Smog aus Kälte,
Nebel und Braunkohlepartikeln aus der DDR. Und so roch das auch.
Uns hat diese abweisende Dunkelheit aber gefallen.
Sarah Wiener: In Westberlin herrschte Anarchie und Freigeist. Das
war in dieser Zeit so, weil die Politik froh war, dass ein paar Leute,
AUFMACHERSEITE, LINKS:
Helmut Newton, Fotoshooting Knödel essen im Exil, 1977
MITTE: Exil mit Deckengemälde von Günter Brus
RECHTS OBEN: Exilstammtisch mit Rainer Fetting, Claudia Skoda,
Herbert Weinand, Berthold Schepers und Elvira Bach
MITTE: Harald Szeemann (r.) und der Galerist Ala
UNTEN: Kasper König (l.) und Galerist Paul Kasmin (M.)
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IM UHRZEIGERSINN VON LINKS
OBEN: Thomas Voburka.
Julia Hacker und Rainer Fetting.
Günter Brus, Oswald Wiener
und Dieter Roth. Elvira und Karl Horst
Hödicke. Bianca Capitanio.
Oswald Wiener vor dem Exil.
Unbekannt, Maria Gilissen-Broodthaers,
Hermann Stober. Ingrid Wiener in
der Küche. Speisekarte, von Günter Brus
gestaltet
Zwei Klassiker gucken weg:
Markus Oehlen, Albert Oehlen,
Martin Kippenberger,
Hubert Kiecol, Günther Förg (von
links) bei der Eröffnung der
Ausstellung Wahrheit ist Arbeit,
Museum Folkwang in Essen, 1985
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v
IM
UHRZEIGERSINN VON LINKS
OBEN: Ingrid Wieners Mutter,
Ingrid und Oswald Wiener. Blick
auf das Exil im Grünen. Michel
Würthle (l. u.) mit Gästen.
Handgezeichnete Speisekarte.
Peter Raue, Marlene und Dieter
Hauert. Markus Lüpertz, Karl
Horst Hödicke, Helmut Middendorf, Stephan Landwehr
Die Zeichnungen auf S. 49 sind
von Michel Würthle aus dem
Buch Aufzeichnungen eines
REVUE bewaffneten Schankprinzen.
Im Exil 1972–1979
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und seien es auch nur Verrückte und Künstler, nach Berlin zogen. Una Wiener: Viele Gäste dachten, dem Herrn auf dem Kunstwerk
Da gab es keine Politessen und auch kein Ordnungsamt, noch nicht sei schlecht.
einmal die Steuer. Das war eine Zwischenzeit, eine geografische
Günter Brus: Der Mann greift sich ans Herz. Ich wollte eine SpanLücke, die übersehen worden war.
nung zwischen dem Schmerzensmann da oben und den darunter
Una Wiener: Das Bargeld hat Michel immer im Schuber einer dinierenden Gästen.
Chopin-Schallplattenbox versteckt. Jeder wurde nach der Schicht
Oswald Wiener: Auch für Dieter Roth war das Exil Wohn- und Speistets in bar auf die Hand bezahlt und in die Nacht entlassen.
sezimmer zugleich. Er war eigentlich immer da. Ich fragte ihn, ob er
Ingrid Wiener: Es gab keine Sperrstunde in Berlin. Und bis um fünf nicht den hinteren Raum bebildern wolle. Er tapezierte den Raum
Uhr ging es im Exil meistens. Dann waren wir natürlich auch betrun- dann mit der Biertapete.
ken. In einem der Sommer, es war schon heller Morgen, hat sich
Michel vor dem Lokal nackt ausgezogen und hat gerufen: „Die Una Wiener: Die Biertapete hat nur ein sich wiederholendes Motiv:
Sonne! Die Sonne!“ Um die Zeit sind die Leute zur Arbeit gegangen. einen Blumentopf, aus dem eine Biertulpe herauswächst.
Sie haben ihn angeschaut und gelacht!
Wolfgang Müller: Die waren in der typischen Dieter-Roth-Art
Una Wiener: Gelegentlich drangen Stammgäste, aber auch Leute gestaltet und wie ein serielles Muster über den ganzen Raum vervon der Besatzung im Suff nachts in die Küche ein und stahlen teilt. Sie zeigten ein Bierglas von Sonnenaufgang bis Sonnenunetwa die Semmelknödel, die wir für den nächsten Tag vorbereitet tergang.
hatten. Die warfen sie dann aus Spaß in den Landwehrkanal und
nannten es „Entenwerfen“. Wir aus der Küche waren am nächsten Oswald Wiener: Die Tapete umschloss den Raum 360 Grad: Der
erste Druck war ganz hell, man hat kaum Farben gesehen, dann ging
Tag stets stinksauer.
man an der Tapete entlang, und es wurde fast schwarz – je weiter
EIN MAFIACN MIT
man ging, desto dunkler wurden die Farben. Jedes Blatt war ein UniSTRIKTER KOMMANDOSTRUKTUR
kat. Leider gibt es keine guten Fotos davon. Wir hatten nicht die Zeit,
an die Nachwelt zu denken.
Sarah Wiener: Das Exil fügte sich in Kreuzberg in die soziale Struktur ein. Es stand für Laisser-faire, unheimlich gutes Essen und tolle Wolfgang Müller: Das Beste aber war, dass Roth das Unmittelbarste
Getränke. Möglich war das nur in dieser Zeit, in diesem Kosmos, mit wahrgenommen hatte, nämlich das, was auf dem Tisch steht: das
diesen Menschen – in dieser Gegend, die das Gegenteil von schick Glas Bier. Das absolut Naheliegende ist stets das am schwierigsten
war. Wer ins Exil ging, der wollte da hin. Es war eine lange Taxifahrt zu Erkennende. Viele Gäste haben die Biertapete bei ihrem ersten
Besuch im Exil gar nicht wahrgenommen.
von Zehlendorf nach Kreuzberg.
Wolfgang Müller: Das Exil war in diesem Sinne eine Künstlerkneipe,
in der die absolute Avantgarde ihrer Zeit verkehrt hat, aber eben
völlig unprätentiös – also ohne so eine demonstrative Geste des
Künstlerischen. Die Künstler wussten auf alle Fälle bald, dass es
dieses freigeistige Lokal mit dem guten Essen und einer ausgewählten Schnapsauswahl gab.
Günter Brus: Man konnte während der im schummrigen Licht
geführten Tischgespräche aber auch alles um sich herum vergessen.
Una Wiener: Und im Winter war es angenehm warm! Der alte Kano-
nenofen wurde immer ziemlich heiß. Ständig haben sich irgendwelche Gäste an ihm verbrannt.
Oswald Wiener: Eine wichtige Klarstellung: Wir waren keine Gour- Sarah Wiener: Es war zudem so was von verräuchert! Viele haben
mets. Wir haben nicht über die Küche philosophiert, sondern wir Zigarre geraucht, darunter mein Vater. Ich mochte diesen Geruch.
wollten gut essen.
Ich habe selbst öfters eine geraucht. Und viel Bier ist dort getrunken worden.
Stephan Landwehr: Oswalds Geist und Ingrids Küche haben den
Raum beseelt. Es reicht halt nicht, sich ein wenig Kunst an die Wände Oswald Wiener: Das Bier ist in Strömen geflossen. Die Gäste waren
zu hängen. Die komplette Decke des Gastraums war mit einem rie- ja auch großzügig. Nicht dass wir sie abgezockt hätten. Wir haben ja
keine Rechnungen gemacht und wir haben auch nicht aufgeschriesigen Gemälde von Günter Brus bemalt.
ben, was die Gäste konsumiert haben. Wenn ein Gast „Zahlen!“
Michel Würthle: Das hat er, auf der Leiter stehend wie der Michel- gerufen hat, dann ist Michel hingegangen und hat es eingeschätzt.
angelo, direkt auf die Decke gemalt. Bis er es fertiggestellt hatte, vergin- Der hat immer Fantasiesummen genannt. Aber es hat nie einen
gen vielleicht zwei Monate. Jeden Abend haben die Gäste also ein biss- Anstoß gegeben. Er hat es immer ungefähr so hingekriegt. Ob da
chen mehr vom Bild zu sehen bekommen. Das Beste war, dass er das einer ein Bier mehr oder weniger getrunken hatte – das hat sich ausMotiv aus einer AOK-Zeitschrift über Herzinfarkte genommen hatte. geglichen im Laufe der Zeit.
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Günter Brus: Es hat sich herumgesprochen, dass es dort besonders
interessant ist. Von der Musik her, vom Essen, von der Bedienung.
Oswald Wiener stand wie ein Mafiaboss, der sein Dorf nie verlässt,
immer selbst an der Theke.
Oswald Wiener: Wir wollten keine Heimat. Wir wollten einen Clan,
einen Mafiaclan. Mit Vätern und Söhnen und mit einer strikten Kommandostruktur.
Una Wiener: Im Exil gab es jeden Abend Trink- und Musikpädago-
gik. Es wurde den Gästen beigebracht, was gut ist. Oswald drehte die
Musik jeden Abend von beruhigend zu aufputschend. Er spielte Billie Holiday und Bessie Smith, aber auch Charlie Parker und Chet
Baker, Tito Puente und Rembetiko-Musik. Roberto Murolo und Peppino di Capri waren Michel Würthles Lieblingssänger. Man hat im
Exil als Gast seinen musikalischen Horizont erweitert.
Sarah Wiener: Oswald war das Zentrum, er war die Hauptfigur.
Aber er hatte auch spannende Freunde. Er war wie ein Planet, um
den die anderen wie Satelliten kreisten. Bestimmte Leute fühlten sich
von ihm angezogen oder auch abgestoßen. Manche kamen einmal
und nie wieder, andere kamen plötzlich täglich.
Oswald Wiener: Ich habe mich mit Härte durchgesetzt, wo es mir
nötig schien, und habe nicht viel Rücksicht genommen auf die
Gefühle von anderen. Das war halt so. Ich war damals nicht gut
zu genießen und hatte ein ziemlich ausgeprägtes Aspergersyndrom. Da habe ich manchem ins Gesicht geschissen, der mir
eigentlich wohlwollte. Mit einigen von damals habe ich es mir bis
heute verdorben.
Sarah Wiener: Damit zog er natürlich auch eine Menge Irrer an.
Und nicht wenige zitterten vor seinem Scharfsinn und seiner rhetorischen Angriffslust. Aber das gute Essen und die Seele, das kam von
Ingrid. Sie hat das alles zum Leben gebracht und ohne sie hätte er
das alles nicht machen können.
Ingrid Wiener: Wir haben das schon sehr familiär aufgebaut. Die
Kellner und die Küchenleute waren alle keine Bediensteten, sondern
es waren Freunde. Genau wie Oswald, der eigentlich kein Wirt ist,
war ich keine Köchin. Ich habe dann aber schnell gelernt, wie man
Gulasch macht und auch Schweinsbraten. Überhaupt fiel mir das
Kochen auf Anhieb nicht schwer.
Oswald Wiener: Das war ja die nächste völlig unerwartete Sache:
dass sich herausstellte, dass die Ingrid nie gekocht hatte, und plötzlich ist es wunderbar, was sie macht.
Ingrid Wiener: Ich habe mich von Anfang an in der Küche wohlge-
fühlt. Ich wollte gar nicht da draußen sein, wo die alle gesoffen haben.
Also habe ich meine Mutter gefragt, was meine verstorbene Großmutter, die so gut hat kochen können, an Rezepten hinterlassen habe.
Sie sagte: Großmutter hätte immer das Kronen Zeitung-Kochbuch
gehabt. Das hat sie mir dann auch gegeben, und ich muss ehrlich
sagen, dass ich da heute noch reinschaue, weil es ein Kochbuch ist,
das so normal ist. Da stehen sehr viele Sachen drin, die man einfach
nachkochen kann. So habe ich mir das Kochen selbst beigebracht –
und ich merkte sofort, dass mir das Kochen auch für größere Gesellschaften leicht von der Hand ging.
Michel Würthle: Die ersten Wochen gab es noch kein Essen à la
carte. Da wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Da waren wir
froh, wenn wir einen Rinderbraten für zwanzig Gäste in gleichbleibender Qualität haben servieren können. Erst mit der Zeit hat Ingrid
die Speisekarte erweitert und ausgebaut.
Sarah Wiener: Kaiserschmarrn, Palatschinken, Grießnockerl-
suppe – das waren echte Sehnsüchte, die vom Exil erst geweckt
und dann befriedigt wurden. Für die Westberliner war diese Küche
eine Offenbarung. Die hatten ein solches Essen noch nie im Gaumen geschmeckt.
Günter Brus: Ich wurde von Michel gefragt, die Vorderseite der Spei-
sekarte zu zeichnen. Kurios war, dass sie mehr oder minder auf Altwienerisch gehalten war. Oft gab es Missverständnisse: „Herr Wiener, was ist denn der ‚Palatschinken‘ für ein Schinken?“
Michel Würthle: Nicht alle Gäste haben auch gegessen. Die haben
Ingrid Wiener: Wir konnten ja gar nicht so wahnsinnig viel nur gesoffen, geraucht und geredet. Die haben teilweise die Tische
kochen, weil wir gar nicht den Platz gehabt haben. Dann war halt
dies oder jenes aus. Das war sehr häufig der Fall. Manchmal
haben wir dann doch noch was nachgekocht, wenn Freunde wie
Ira Wool noch gekommen sind. Die kamen oft spät, nach ihren
Lectures. Dann haben wir denen halt noch was gemacht. Und
wenn ich es recht bedenke, ist der kleine Christopher Wool auch
mit seinen Eltern im Exil gewesen. Ira hat uns irgendwann
erzählt, das Exil mit seinen Künstlergästen und den Arbeiten von
Brus und Roth sei Christophers erste Berührung mit der Kunst
gewesen.
als Stühle genutzt. Und wer nicht auf den Tischen saß, stand. Ich
habe sie zum Essen zwingen müssen. So wurde ich zum Pusher.
Wollten sie nicht essen, bekamen sie eine Rindsuppe von der Ingrid.
Da konnte kaum einer widerstehen.
Sarah Wiener: Auf dem Herd stand immer ein Riesentopf mit kräftiger Suppe, darin der Tafelspitz. Wenn jemand einen geordert hatte,
ging man mit der Fleischgabel rein in den Topf, holte den Tafelspitz
raus, knallte ihn auf ein Brett, schnitt etwas davon ab, und dann kam
er wieder rein in den Topf. Das ist die Küche des Machbaren. Diese
Haltung hat viel mit den eigenen Wurzeln zu tun, mit kulturhistoriUna Wiener: Vor allem war das Exil antimodisch. Wir haben uns nie schen Aspekten: Wie ist etwas an dem Ort entstanden, an dem du
einem Trend gebeugt, sondern immer versucht, unsere Gäste für bist? Da bin ich mir absolut treu. In einem Leben, das ohnehin schon
unsere Küche und unsere Getränke zu begeistern.
wild ist, muss ich nicht jeden Tag die Küche neu erfinden. So wird
das vertraute Essen zum Anker.
Stephan Landwehr: Alle Tische waren immer schön mit weißem
FINANZIERT MIT DEM VERKAUF
Tischtuch eingedeckt, alles blitzsauber. Messer, Gabel, Serviette aus
EINER BEUYS-SKULPTUR
Stoff. Das war schon richtig schick. Wenn die aufgemacht haben, um
18 Uhr, dann sah das picobello aus – es war eine andere Welt. Und
diese hatte nichts mehr mit der Welt da draußen zu tun. Man konnte Una Wiener: Die österreichische Küche des Exil hatte ein paar
wirkliche Kaliber im Programm. Gerade die Innereien waren
alles vergessen.
bemerkenswert. Wo konnte man in Berlin Innereien essen außer
Michel Würthle: Die weiße Tischdecke war für viele ein Affront. im Exil?
Dafür wurden wir von den Autonomen und von bestimmten Gästen
gehasst. „Tränke der Reaktion“ und „Faschisten“ haben sie uns Ingrid Wiener: Vor Kutteln oder Nieren oder Hirn hat es damals
geschimpft. Deshalb haben wir sie zum Teufel geschickt! Man muss jedem gegraust. Genau das habe ich dann aber gemacht: Stierhoes von der ästhetischen Seite sehen: Wir hatten ein von der Farbstim- den in Aspik. Viele Leute sind dann durch das Exil darauf gekommung her dunkelbraunes Lokal übernommen. Wenn wir da keine men, dass man das essen kann. Das war dann für die AbenteuerDecken gehabt hätten, wären gar keine Lichtpunkte und Kontraste essen.
mehr im Lokal gewesen.
Michel Würthle: Man muss dazu sagen, dass dem Oswald oder mir
Oswald Wiener: Es ist aber in den ersten zwei Monaten nur wenig mitnichten alles immer super geschmeckt hat, was aus der Küche
Publikum gekommen – und das, obwohl wir im Matala unser Stamm- kam. Oswald war da in seinem Urteil extrem hart. Ich war, was die
publikum gehabt hatten. Kreuzberg war offenbar zu weit von Char- Kritik am Essen anbetraf, wesentlich konzilianter. Aber Oswald
lottenburg entfernt. Man musste entweder mit der U-Bahn zum ließ seinen Rostbraten schon mal mit der Bemerkung „Das ist
Kottbusser Tor fahren und dann zu Fuß weiter oder eben mit dem unessbar“ in die Küche zurückbringen. Wenn das passierte, konnte
Taxi kommen.
man sich auf etwas gefasst machen. Dann kam Ingrid aus der
Küche zum Tresen und fragte den Ossi: „Hast du wirklich gesagt,
Una Wiener: Aber die Gäste begannen zu kommen. Viele nur wegen der Rostbraten ist ‚unessbar‘? Was ist daran unessbar?“ Und wenn
des Essens. Es gab dezidierte Lieblingsspeisen: Marillenknödel, er dann die Schraube weiterdrehte und sagte: „Darüber werde ich
Tafelspitz, Innereien.
doch nicht diskutieren!“, dann durfte man sich ducken, denn dann
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flogen Teller auch im Gastraum. Andererseits wusste man natürlich Una Wiener: Der Ludwig Attersee war anfangs als Stipendiat des
nie, was der Kellner im Wortlaut gesagt hat, als das Fleisch in die DAAD in Westberlin und kam immer ins Exil, denn er hat mit meiKüche zurückging.
nem Vater irre viel zusammengearbeitet. Ich erinnere mich an einen
wunderschönen Abend, als Attersee für Joseph Beuys gesungen hat,
Sarah Wiener: Die kleine, völlig überhitzte Neonlicht-Küche war der oft bei uns gegessen hat.
durch eine Holzschwingtür mit dem Restaurant verbunden. Immer
wieder bin ich während des Kochens an die Tür gegangen, um den Oswald Wiener: Beuys und ich haben uns kennengelernt, weil ihm
Kellner zu rufen, damit er etwas abholt. Und in diesen Momenten mein Buch so gut gefallen hat. Ich verdanke ihm sehr viel, dabei
habe ich dann in dieses gedämpfte, jazzbeschallte, zigarrenver- waren wir nie eng befreundet.
rauchte, lachende, im Vergleich zur Küche atmosphärisch ganz
andere Exil geschaut. Was ich sah, war die freie Welt. Dabei waren es Michel Würthle: Man darf den Eindruck nicht unterschätzen, den
gefühlt immer die gleichen Gäste, die irgendwann spätabends ange- die verbesserung von mitteleuropa, roman bei den Leuten hinterlassen hat.
schwemmt wurden und weinselig, sich gegenseitig die Füße knetend, Das hatte zwar kaum einer gelesen, aber alle hatten einen Mordsrespekt vor dessen Autor.
dort saßen und philosophierten, während sie futterten und soffen.
Una Wiener: Das eigentliche Publikum des Exil kam nach dem The- Ingrid Wiener: Das Exil hat uns Joseph Beuys mit seiner Skulptur
ater oder nach der Vernissage – also erst gegen 22 Uhr ging es los, finanziert, das dürfen wir nicht vergessen!
wenn andere Küchen bereits geschlossen hatten. Und wer so spät
erst von der Arbeit kam, der war bereits gut geladen – geladen im Oswald Wiener: Stimmt, Beuys hat uns eine Skulptur geschenkt,
Sinne von Adrenalin. Wenn der Fassbinder mit seiner Entourage damit wir sie verkaufen.
kam, dann nicht zum Abhängen. Die blieben dann stundenlang.
Ingrid Wiener: Ehrlich gesagt: Wir haben die Skulptur nie richtig
Sarah Wiener: Da mein Vater und Ingrid aber tiefstapelten und nie- gesehen, weil Beuys sie gleich für uns verkauft hat.
mals angaben, sind mir die ganzen berühmten Leute, die bei uns ein
und aus gingen, gar nicht groß aufgefallen. Ich spürte es höchstens Oswald Wiener: Das hat uns damals um die 20.000 Mark eingeam Rande, wenn Quincy Jones oder David Bowie im Laden waren. bracht – viel Geld, das wir tatsächlich dringend benötigten und das
uns half, das Exil so einzurichten, wie wir es für richtig hielten.
Günter Brus: Am Anfang waren gar nicht so viele berühmte Menschen im Exil, das war eher untergrundmäßig. Aber dann ist Peter Michel Würthle: Zu uns kamen auch die Großbürger-Anarchos, die
Falk gekommen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit Richard es in Grunewald und Zehlendorf abends nicht mehr aushielten.
Huelsenbeck an einem Tisch gesessen bin. Der alte Mann hat drauf- Wobei anzumerken ist, dass Oswald die österreichischen Kommulosgewettert gegen einen Dadakollegen. Max Frisch war auch oft dort. nisten, von denen sich gelegentlich auch mal einer blicken ließ, nicht
ausstehen konnte. Österreichische Kommunisten waren strenge, staSarah Wiener: Der Kreis weitete sich mit der Zeit beständig aus. linistische Trottel, während die Kommunisten in Westberlin immerManche streiften das Exil nur elliptisch, aber jeder, der in Deutsch- hin bereits chineserische Kommunisten waren, genauer gesagt:
land einen Namen hatte und auch internationale Stars landeten bald schwäbische chineserische Kommunisten. Schon angenehmer zu
alle bei uns – es gab ja sonst nix.
ertragen waren die italienischen Anarcho-Dandys aus Mailand, Rom
und Neapel, deren sprezzatura mir imponierte.
Oswald Wiener: Das Exil entwickelte sich explosionsartig.
Sarah Wiener: Der einzige Gast, der mich damals wirklich beeinUna Wiener: Im Exil war es bald teilweise so extrem wahnsinnig voll, druckt hat, war Christo – damals kannte den kaum jemand. Ich verdass man sich nicht mehr wirklich hat bewegen können. Die Kellner packte ihm sein Dessert. Er war darüber sehr gerührt.
kamen nicht mehr durch, die Gäste auch nicht. Und wenn die Leute
zu tanzen angefangen haben, hat man mitgetanzt. Oder man hat sich Michel Würthle: Von Hausbesetzern bis zu Hollywoodstars kamen
bei wildfremden Leuten auf den Schoß gesetzt – oder auf irgendei- sie alle, und natürlich auch Anwälte, Diplomaten und Zahnärzte.
Mein Job war es, zu erkennen, wem man wie viel Geld aus den Ripnen just frei gewordenen Sessel.
pen leiern konnte. Und einigen kam ich bei der Abrechnung entgeSarah Wiener: Im Exil war es wirklich immer sehr lustig. Und gen, weil ich wusste, dass sie als Künstler schwer zu kämpfen hatten.
manchmal auch traurig, weil einer gestorben war. Es gab ein Klavier,
Una Wiener: Martin Kippenberger, der im Exil Stammgast war, leiund es wurde in die Tasten gegriffen.
tete eine Zeit lang das SO36 in der Oranienstraße. Der hat die ganzen
Günter Brus: Da haben dann Christian Ludwig Attersee und Dieter englischen Punkbands immer vor ihren Auftritten ins Exil geschickt.
Roth und Gerhard Rühm ganze Abende bis zum frühen Morgen Also saßen da Siouxsie Sioux and the Banshees an einem Tisch und
durchgeklimpert.
die Einstürzenden Neubauten an einem anderen.
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IM UHRZEIGERSINN VON LINKS OBEN:
Michel Würthle, Michael Krebber und Martin
Kippenberger. Oswald Wiener. Exil-Küchencrew.
Bianca Jagger und Heiner Bastian. Hommage
an Ingrid und Oswald Wiener von Michel
Würthle, 2015. Karl Horst Hödicke (l.), Helmut
Middendorf (2. v. l.). Zeichnung von Michel
Würthle aus dem Buch Aufzeichnungen
eines bewaffneten Schankprinzen. Im Exil
1972–1979. Kellner Amadeus
IM UHRZEIGERSINN VON
LINKS OBEN:
Tischrunde mit Michael Krebber,
Michel Würthle, Martin Kippenberger, Cosima von Bonin,
Reinhald Nohal und Helmut
Middendorf.
Vor dem EXIL: Michel Würthle
und Jenny Capitain.
Ed Kienholz. Bianca Capitanio
und Rainer Fetting.
Michel Würthle hinterm Tresen.
Bruno Brunnet und
Antonia Lerch. Mario Merz (l.),
Christos Joachimides
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Oswald Wiener: Der Kippenberger war mir sympathisch. Er hat eine Eine wohlige Lähmung. Nach einem solchen Wein will man nicht
gefaltete Zeitschrift gemacht, die hieß sehr gut|very good. Das hat mir mehr heruntersteigen. Also trinkt man nach einem Burgunder,
gefallen. Er hat Ingrid eingeladen, im SO36 zu singen. Und sie ist wenn man sich keine zweite Flasche leisten kann, einen Schnaps.
dort dann auch aufgetreten.
Und zwar aus einem großen Schwenker, in dem sich der Cognacduft sammelt. Der ist dann wie ein Gong. Man wacht dann kurz
Ingrid Wiener: Mit einem Lama. Das Lama wollte aber absolut nicht wieder auf.
auf die Bühne. Dann stand es halt unten im Publikum.
Bruno Brunnet: Wenn große Leute in der Stadt sind, dann muss
Michel Würthle: Heutzutage ist der ein VIP, dessen Ponem lange man ihnen auch einen Respekt entgegenbringen, damit sie das
genug im TV zu sehen ist. In den Siebzigern waren Berühmthei- Gefühl haben, dass sie etwas Besonderes sind, sich dementsprechend
ten manchmal noch Leute, zu denen man aufgeblickt hat, weil auch öffnen und anschließend ihren Teil dazu beitragen, dass der
man von denen was hat lernen können. Ich spreche von seltsamen Abend im Exil zu etwas Besonderem wird.
und sehr interessanten Figuren wie Richard Hamilton, Dennis
Hopper, Julian Schnabel oder Francesco Clemente, die bei uns ein- Michel Würthle: Was tut man, wenn ein berühmter Hollywoodstar den Laden betritt? Man begrüßt ihn mit Namen. Das
und ausgingen.
mögen sie alle. Ich grüßte also mit „Good evening, Mr. Duck“.
Bruno Brunnet: Und wo Berühmte verkehren, finden sich auch Ver- Oder, wenn man sich schon etwas besser kannte und wusste, da
ehrer. Das war aber okay, denn die Berühmten brauchen auch ein kommt einer zum wiederholten Mal: „Good evening, Donald, how
Publikum. Sie genießen es, wenn sie merken, dass eine Energie von do you do?“
ihnen ausgeht, die die Leute elektrisiert.
Ingrid Wiener: Peter O’Toole war während eines Filmdrehs in Berlin
Una Wiener: Helmut Newton, der oft bei uns gegessen hat, fotogra- vierzehn Tage lang jeden Abend bei uns. Am letzten Abend hat
fierte im Exil mal vor dem Tresen zwei von seinen nackerten Frauen. Michel dann Wiener Walzer aufgelegt und Peter O’Toole hat mich
Das Bild ist heute weltberühmt.
gefragt, ob wir nicht gemeinsam tanzen wollten. Also sind wir rausgegangen, in den Vorgarten, und haben Walzer getanzt. Und dann
Michel Würthle: Im Exil konnten sich Stars entspannen. David haben wir uns geküsst und das war so romantisch! Er hat mich dann
Bowie war oft da mit Iggy Pop und hat sich seinen Tisch stets unter gefragt, ob ich nicht mit ihm nach Venedig fahren wolle. Und ich
dem Namen „Mrs. Jones“ reservieren lassen.
habe gesagt: „Ich muss leider arbeiten.“
Una Wiener: Die waren immer da, wenn Bowie im Hansa Studio Bruno Brunnet: Es gab gelegentlich Momente großer Oper: Ich
aufgenommen hat. Ein Kellner hat von ihm einmal 700 D-Mark erinnere mich noch daran, als Raging Bull auf der Berlinale Premiere
Trinkgeld bekommen auf eine Rechnung von 300 D-Mark.
hatte. Das war am selben Abend, an dem Die Orestie von Aischylos
an der Schaubühne aufgeführt wurde. Da saß die ganze Schaubühne
Bruno Brunnet: Er hat viel geraucht und Bier getrunken und war schon im Lokal und dann kamen Harvey Keitel, Robert de Niro und
rappeldürr. Ich glaube, der war auch eine schwere Koksnase. Oft kam Martin Scorsese rein. Da gab es einen Riesenapplaus und irgendjeer auch mit Coco Schwab, seiner Privatsekretärin – die hatte er bis zu mand ist auch auf die Knie gegangen. Für fünf Minuten gab es das
seinem Tod. Der hat sich einfach gefreut, die Schönheit der Situation ganz große Schauspieler-Hallo, aber dann sind auch wieder alle an
genießen zu können, ohne jemals belästigt zu werden. Zu mir war er ihre Tische zurückgekehrt.
immer total freundlich, und er hat auch hin und wieder mal mit Otto
Schily und Oswald Carambol gespielt – im Exil gab es ja auch einen Stephan Landwehr: Zur Berlinale war das Exil immer bumsvoll. Die
ganzen amerikanischen Schauspieler sind dort hingegangen, alle. Jack
Caramboltisch.
Nicholson war immer da: „The best place in the whole world. I love
Oswald Wiener: David Bowie war ein Superstar, als er zu uns kam. Exil!“ Und dann hat er gesoffen.
Der hat aber immer sehr bescheiden gegessen und nie über die
Stränge geschlagen. Wir mussten allerdings stets darauf gefasst sein, Una Wiener: An den erinnere ich mich gut. Nie wurde er behelligt.
Außer an diesem einen Abend, als Salomé an der Bar stand und
dass er mehrere wirklich gute Burgunder bestellte.
unentwegt „Jack! Jack! Jack!“ rief, mit ganz hoher Stimme. Und
Michel Würthle: Unsere Weinkarte hatten wir nach literarischen Nicholson brachte ihn zum Schweigen mit den Worten: „Who’s
Vorbildern zusammengestellt. Auch wenn wir die Weine selbst that fucking seagull?“ Aber auch er wusste zu schätzen, dass er für
noch gar nie getrunken hatten – wir kannten sie zumindest aus der gewöhnlich problemlos im Exil abhängen konnte, weil die Gäste
Literatur. Von Marcel Proust und Flaubert. Ab und zu haben wir eh nur mit sich selbst beschäftigt waren und sich Abend für Abend
einen der teuren Weine selbst getrunken. Ein guter Grand oder in ebenso endlosen wie ziellosen Diskussionen verrannten. Ich
Premier Cru aus Burgund sorgt für einen ganz seltsamen Rausch. habe nie jemanden ein Autogramm geben sehen.
Man spürt seinen Körper nur noch ab kurz oberhalb der Knie.
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aussagen können, aber mit dem Fall der Mauer habe ich von Anfang
an fest gerechnet. Der Mensch baut nicht für die Ewigkeit.
1978 WAREN PLÖTZLICH
ALLE REICH
Sarah Wiener: Im Exil haben sich die Neuen Wilden formiert.
Bruno Brunnet: Die haben alle fußläufig in der Nähe gewohnt. Die
konnten sich einfach den Helm vollkippen und dann nach Hause
wanken. Die hatten alle anfangs gar kein Geld, sind aber trotzdem
immer ins Exil gegangen. Zum Beispiel der Rainer Fetting. Der hat
immer getrunken, aber nie etwas gegessen. Weil die Kohle einfach
nicht da war.
Michel Würthle: Und 1978 waren die plötzlich alle reich. Salomé,
Fetting und Middendorf waren wie ausgewechselt: Da wurde dann
von einem Tag auf den anderen nicht mehr Bier getrunken, sondern
flaschenweise Champagner bestellt.
Bruno Brunnet: Fetting sagt an einem Sonntagabend zu mir: „Du,
Bruno, ich hätte gern eine Flasche Dom Pérignon.“ „Klar“, sage ich,
„warum nicht gleich zwei?“ Da sagt er: „Warum eigentlich nicht.“
Ich: „Du weißt, Deckel sind kein Problem, aber einen Dom Pérignon, das kriege ich nicht durch, da werde ich gefragt, ob ich noch
ganz dicht bin.“ Da greift er in die Hosentasche und holt einen riesigen Knödel Hundertmarkscheine raus. „Wow“, sage ich. Und dann
haben wir die Flaschen aufgemacht. Dann ging eine ziemlich wilde
Party los – über mehrere Jahre.
Stephan Landwehr: Der immense Erfolg der Neuen Wilden hat das
Exil auf ein anderes Level gebracht – einfach, weil die den Laden mit
viel Geld zu ihrem Hauptquartier machten.
Bruno Brunnet: Es wurde einfach anders. Es gab auf einmal mehr
internationale Kunsthändler, die vorbeikamen, genauso wie Kuratoren und Museumsleute. Das Trinkverhalten hat sich verändert. Es
ging nicht mehr um 22 Uhr mit ein paar Bierchen los, sondern zwei
Stunden früher mit Champagner, und dazu wurde opulent gegessen.
Das ging alles sehr schnell und es war auf einmal Geld da. Das
verändert ein Restaurant und es bringt zwangsläufig andere Leute
mit sich.
Michel Würthle: Ingrid und Oswald sind dann
1985 weiter nach Kanada gezogen. Ich habe das
Exil eine Zeit lang weitergeführt und nach mir
kamen noch andere Pächter.
Günter Brus: Die ganze Prominenz hat sich auch auf die Preisgestaltung des Restaurants ausgewirkt. Es ist eine logische Folge: Dann
ist man verführt, die Preise anzuheben, denn sie haben Geld. Das
Exil wurde zu einem Reiseführerlokal. Ich bin dann aus Berlin weggezogen. Davor war es aber wirklich in einem gewissen Sinne bis
zuletzt ein Untergrundlokal.
Sarah Wiener: Nachdem mein Vater das Exil weggegeben hat, hatte
das Restaurant noch eine solche Energie und einen solchen Ruf, dass
die Leute noch jahrelang dorthin gepilgert sind und es haben hochleben lassen.
Una Wiener: Es gab in den Achtzigern noch mehrere Pächterwech-
sel, aber keiner hat es vermocht, an den alten Geist wirklich anzuknüpfen. Die letzte Pächterin hat sich unmöglich benommen, nachdem sie das Exil schließlich heruntergewirtschaftet hatte. Im Moment
ihres Scheiterns hat sie die Biertapete vom Roth und das Deckengemälde vom Brus abreißen und verhökern wollen. Nicht nur befanden
sich diese Werke gar nicht in ihrem Besitz – viel schlimmer: Sie zerstörte die Werke.
Oswald Wiener: Die haben gar nicht gewusst, was sie da zerstörten.
Die haben nur geahnt, dass sie Geld damit machen konnten.
Günter Brus: Ich bin dann später, als es umgebaut worden war, noch
einmal dort gewesen und habe es kaum wiedererkannt. Der Laden
hieß auch nicht mehr Exil. Und die Weinlaube im Vorgarten gab es
auch nicht mehr.
Oswald Wiener: Das war eine uralte Pflanze. Die ist jetzt weg, ver-
nichtet worden. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, wie man das
Herz haben konnte, das zu tun.
r und Chor. Von links
Foto für das Cover der Exil-Schallplatte Ingrid Wiene
r Többen, Thomas
Werne
r,
Wiene
d
Oswal
Nohal,
d
Reinal
d:
nach rechts stehen
Ingrid Wiener,
Fuchs,
Wolf
et,
Hornemann. Sitzend: Tom Re, Bruno Brunn
ehr
Landw
n
Stepha
Helmut Middendorf,
Günter Brus: Das ist der Lauf der Dinge. Es ist,
wie wenn Künstler irgendwelche Stadtteile besetzen und dann von den Gutbürgerlichen irgendwann überrumpelt und verdrängt werden, sodass
sie wieder ein neues Gebiet aufsuchen müssen.
Oswald Wiener: Wir haben schon gespürt, dass
die Zeitenwende bevorsteht, Anfang der 80erJahre. Ich habe den genauen Zeitpunkt nicht vorREVUE
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Direkt von der Altstadtstraße betritt man diesen ersten Raum – und blickt auf ein Gemälde von Michael Heizer
MÉRIDA MAGIC
Was ist die Kunstwelt, wenn man sein eigenes Universum baut?
Ein Haus- und Studiobesuch bei James Brown. Fotos: François Halard
Im Schlafzimmer: Porträts von Alexandra Brown (links mittig) und James (rechts unten), von dem die zwei Gemälde in der Reihe dazwischen stammen
Man muss sich James Brown als glücklichen Mann vorstellen. „Ich war
immer davon besessen, mein eigene Welt zu kreieren“, sagt er an diesem
warmen Dezembermorgen in Mérida, Mexiko, am Steuer seines Pick-ups.
Gerade waren wir noch in seinem Atelier, einem ehemaligen Lager des
örtlichen Elektronik-Großhandels, fünf Minuten später parkt er schon
vor einer abgeblätterten Altstadtmauer, in der sich eine schmale, von verrostetem Gitter nur notdürftig geschützte Tür befindet.
Die eigene Welt versus die echte dort draußen, die für Künstler,
so hart es manchmal sein mag, eben immer auch „die Kunstwelt“
bedeutet – James Brown kennt sich aus mit Rallyes und Kursstürzen an
der Aufmerksamkeitsbörse. Als er 1983 gemeinsam mit Jean-Michel
Basquiat und Keith Haring in New York bei Tony Shafrazi debütiert,
trifft er mit seinen Gemälden exakt den Zeitgeist. Großgaleristen wie
Leo Castelli, Pace und Bruno Bischofberger stehen Schlange, um ihn
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Vom Entree gelangt man in die Bibliothek, die an ein kleines Büro angrenzt. Hut und Umhängetasche verraten: Der Hausherr kann nicht fern sein
zu zeigen. Browns von Volks- und Stammeskulturen beeinflusstes
Werk wirkt im Kontext von Graffitis und Neoexpressionismus plötzlich ultramodern. Doch so rasant die 80er-Jahre für den in Los Angeles geborenen Künstler verlaufen, so ruhig wird es um ihn in den
90ern, in denen es ihn schließlich an einen Ort verschlägt, der nicht
weiter von der offiziellen Kunstwelt hätte entfernt sein können:
Oaxaca, Mexiko.
„1995 besuchte ich mit meiner Frau Alexandra und den Kindern
meinen Bruder, der dort mit lokalen Teppichknüpfern arbeitete“, erinnert er sich. „Ich weiß es noch genau: Vier Tage nachdem wir zurück in
New York waren, um ein Uhr morgens, kam uns gleichzeitig diese Eingebung: Was, wenn wir alle Zelte abbrechen und auch dort leben?“
Wenig später beziehen James, Alexandra und ihre drei Kinder eine
Finca. „Es gab dort nichts. Im Umkreis von 500 Kilometern gab es nicht
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Im Bad ließ sich Brown vom Pariser Musée Nissim de Camondo inspirieren, über dem Bett hängt ein Beauvais-Gobelin aus dem 17. Jahrhundert mit Rubens-Motiv
mal eine englischsprachige Zeitung zu kaufen.“ – James Brown, der
Weltenerfinder, beginnt alles selbst zu machen. Er lernt einen lokalen
Tischler kennen, der nach seinen Entwürfen die einfachen Möbel für die
Finca entwirft. Auch die Teppiche für sein Haus lässt er nach seinen
Zeichnungen auf traditionellen Holzrahmen in einem Bergdorf knüpfen. So wie er von nun an Künstlerbücher in Kleinstauflagen per Hand
beim örtlichen Drucker setzen lässt, dessen Holz- und Bleialphabete
noch aus dem 18. Jahrhundert stammen. Carpe Diem Press heißt der
ultimativ entschleunigte Kleinstverlag, der knapp zwanzig Jahre nach
seiner Gründung zuletzt ein Fotobuch seiner Freundin Joan Jonas veröffentlichte. Auflage: 20.
Nach neun Jahren in Oaxaca verschlägt ihn ein Zufall nach Mérida,
die Hauptstadt Yucatáns. Der Interior-Fotograf Tim Street-Porter ist in
der Stadt, um ein Hotel zu fotografieren. Im Gespräch mit den Besitzern
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Vom offenen Wohnzimmer fällt der Blick in die Küche …
Mónica Hernández und Aníbal González erwähnt er, vor kurzem James
Brown besucht zu haben. Die Besitzer outen sich als Fans und bitten
ihn, den Künstler in ihr Hotel einzuladen. „Sie hatten sich in den Kopf
gesetzt, uns als Nachbarn zu gewinnen. Als wir ankamen, zeigten sie uns
gleich die schönsten Immobilien.“
2005 kaufen sie ein Kolonialhaus in der Altstadt, die nach Havanna
und Mexiko City die größte erhaltene in Lateinamerika ist. Öffnet man
die unscheinbare Tür, steht man direkt in einem prächtigen, fünf Meter
hohen, blaugestrichenen Raum, in dem James und Alexandra ein
Gemälde von Michael Heizer über ein normannisches Holz-Daybed
gehängt haben. Rechts davon stehen zwei metallene Himmelbetten aus
napoleonischer Zeit, wie sie die Offiziere auf ihren Kriegszügen in ihren
Zelten hatten. „Cy Twombly hat irgendwann eine ganze Wagenladung
von diesen Betten aufgetrieben. Und uns netterweise zwei abgegeben.“
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… und in den ersten Innenhof, auf den der Kindertrakt folgt
Hinter dem Eingangsraum und dem angrenzenden Büro öffnen sich eine
Bibliothek und ein Schlafzimmer hin zu einem in den ersten von zwei
Innenhöfen übergehenden Open-Air-Wohnzimmer. Die einfachen
Holzmöbel sind noch die, die er in Oaxaca anfertigen ließ, kombiniert
mit auf Reisen erstandenen Stoffen, religiöser Volkskunst, barocken
Tapisserien, Zeichnungen von Jack Pierson und einem Vesuv-Siebdruck
von Andy Warhol, den er einst von seinem italienischen Galeristen Lucio
Amelio geschenkt bekam. „Es war ein organischer, wie von selbst ablaufender Prozess, dieses Haus einzurichten. Du findest Sachen, mit denen
du leben willst. Und die Sachen, die du nicht findest, machst du selbst.“
Auch den hinter dem ersten Innenhof anschließenden Trakt für
seine inzwischen im Ausland studierenden Kinder hat er selbst entworfen, so wie den Swimmingpool im zweiten Hof und ein Gästehaus.
Besuch kommt jetzt öfters, anders als in der Abgeschiedenheit der Berge
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Im Atelier hängt Browns Gemälde Mysteries of my Other House. Auch die Keramiken und der Teppich sind – anders als die zum Maismahlen benutzten Steine – von ihm
Oaxacas. Spätestens seit immer mehr Amerikaner in Mérida Häuser kaufen, ist in den Wintermonaten eine kleine kreative Szene entstanden. Der
amerikanisch-kubanische Installationskünstler Jorge Pardo hat sein
Hauptstudio von Los Angeles nach Mérida verlegt, die Gründer der
Boutique-Hotel- und Parfümkette Coqui Coqui eröffneten kürzlich in
einem Stadtpalast ihre Fundación de Artistas mit Goya-Radierungen
und einer Schau von James Brown.
„Es sieht so aus, als würde mich die Kunstwelt wieder einholen“, sagt
er. „Bis jetzt hatte Mérida vor allem den Ruf, sicher zu sein. Wir können
hier problemlos unsere Tür auflassen.“ Als kürzlich die Lokalnachrichten
darüber berichteten, dass zwei gefürchtete Drogenbosse aus dem Norden
ihre Mütter in Mérida einquartiert hatten, sei niemand überrascht gewesen:
„Ich hätte es an ihrer Stelle genauso gemacht.“ Doch so sehr er das Leben
in Mérida genießt, so sehr ist er bereits in neue Abenteuer verstrickt. 500 REVUE
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James Brown im Eingang seines Studios. Die Korallen und Schwämme hat er auf einer Reise entlang der Baja California gesammelt. Davor eine Bronzeskulptur von 1992
Hektar Regenwald hat er gekauft. Und restauriert dort mit Alexandra eine
alte Siedlung, die aufgegeben wurde, als die Rodungsteams der internationalen Holzwirtschaft zu nahe rückten. Unterstützt werden sie von ihrem
Freund Silvano – der noch seine Kindheit dort verbrachte – sowie anderen
ehemaligen Bewohnern. „Sie hatten damals alles, was sie brauchten. Wasser,
Essen und Magie. Jetzt, wo wir gemeinsam die Wege wieder freilegen, die
Brunnen und Unterkünfte restaurieren, lernen wir so viel von ihnen.“
James Brown wird sich revanchieren. Inmitten seines Weilers möchte er
einen kleinen Schauraum für seine Maya-Nachbarn eröffnen. Einen Raum,
in dem er teilen will, was ihm an seiner Kultur wichtig ist. Was das sein
könnte? James Brown muss nicht lange überlegen. „Etwas Magisches,“ sagt
er. „Für den Anfang wären Zeichnungen von Brice Marden nicht schlecht.“
TEXT: CORNELIUS TITTEL
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ROT
KOMMT
GUT
Er war ein Star zu
Lebzeiten. Dann
geriet sein Werk in
Vergessenheit.
Erst zu Beginn des
20. Jahrhunderts
ist der Barockmaler
GEORGES
DE LA TOUR
wiederentdeckt
worden. Und
gibt bis heute
Rätsel auf. Eine
Annäherung
von Hans-Joachim
Müller
BÜSSENDE MAGDALENA
Öl auf Leinwand, 113 × 92,7 cm,
National Gallery of Art, Washington
FRAU MIT DEM FLOH Öl auf Leinwand, 120 × 90 cm,
Musée Lorrain, Nancy
A
rmer Schlucker. Glückspilz, der im
Siff gestrandet ist. Hiob. Den Namen
kennt auch der Bibelferne. Soll ja
alles göttliche Prüfung gewesen sein. Aber
wie das Schicksal mit dem Glaubensfesten
spielt, das war schon immer ohne Moral.
Jetzt kauert der alte Mann in der dunklen
Ecke, nackt, Zauselbart, Hände gefaltet,
Mund offen, ganz unverschuldetes Elend.
Und seine Frau steht vor ihm, leuchtet
ihn mit der Kerze an, hat eine Perle im Ohr,
beugt sich über ihn, sieht ihm in die
blinden Augen, und ihr rotes Kleid glänzt
so seidenweich, als hätte sie es mit dem
Lippenstift gefärbt.
Das hat nur einer so gemalt. Georges
de La Tour. 400 Jahre ist es her. Vielleicht
nicht ganz 400 Jahre. Man weiß es nicht so
genau. Man weiß überhaupt nicht viel
vom Maler, der ein Spezialist gewesen ist
für alte Männer mit Bart und Frauen in
roten Kleidern und Geschichten ohne
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Moral, ein Spezialist für Menschen, die
ganz innig miteinander zu tun haben und
ganz viel sagen wollen und kein Wort
herausbringen. So wie die Frau, die mit der
linken Hand eine ratlose Geste macht und
dem fremd gewordenen Gesicht näherkommt und es nur denkt und nicht sagt:
Liebster, war es das wert? Was hat dein
Gott aus dir gemacht, was hast du mit dir
machen lassen?
Das ist von großem Zauber, wie
viel Sprache in den sprachlosen Bildern
versteckt ist. Das berühmte FalschspielerBild ist ja nichts weniger als ein veritables
Psychodrama. Vier junge Personen am
Tisch, deren Kleidung verrät, dass sie von
Stand sind. Und die gold- und silberglänzenden Münzhäufchen machen unmissverständlich klar, dass hier nicht Schnippschnapp zum Freizeitvergnügen geklopft
wird. Es geht um hohe Einsätze und es
wird mit allen Tricks gekämpft, unter denen
der mit dem Ass, das einer im Gürtel auf
dem Rücken versteckt hat, wohl zu den
harmlosesten zählt.
Was die Szene mit Spannung lädt, das
ist dieses beredte Schweigen, die virtuose
Blickeregie, die die drei Spieler und die Magd,
die nicht nur Wein nachschenkt, sondern
mit guten Kartenkenntnissen der Runde zu
Diensten ist, in der kaum unterdrückten
Erregung des Argwohns zeigt. Lauernd auf
unmerkliche Zeichen und gezinkte Gesten.
Jeder misstraut dem anderen – und völlig zu
Recht. Es ist wie beim anderen Schelmenstück des Malers, bei der Wahrsagerin, wo zum
Teil die gleichen spielerfahrenen Personen
auftreten und man nicht viel Fantasie braucht,
um die Gaunerei zu ermessen, die hinter
der kostspieligen Glücksverheißung steckt.
s sind in der Geschichte der Kunst nicht
wenige Kartenspieler-Bilder überliefert. Caravaggio zum Beispiel hat nur
ein paar Jahre vor Georges de La Tour
ein berühmtes Falschspieler-Duo gemalt.
Aber da ist alles klar, der Witz gleichsam
verraten. Auch bei Georges de La Tour ist
die Schwindelei offensichtlich. Nur weiß
man nicht, wer was weiß. Und es wäre ein
bisschen töricht, wollte man den Trickstern hinter ihre Masken schauen wollen. Man
würde nur das hochexplosive Empfindungsgemisch entschärfen, das dieses Werk
so einzigartig macht.
Immer geht in den Köpfen etwas vor,
was die Personen zu undurchschaubaren
Individuen macht. Und man ahnt, wenn
sie zusammen sind, was sie voneinander
denken, voneinander halten. Aber es wird
eben nicht ausgesprochen, nicht gezeigt.
Selbst ein standardisiertes Ensemble wie
Maria mit dem neugeborenen Jesuskind
verwandelt der Maler in ein Kammerstück
von berückender Intimität, übersetzt den
frommen Text in eine wunderbare Alltagssprache. Alle heiligen Attribute fehlen. Maria
ist Mutter, aber keine Gottesmutter, und
was sie in den Armen hält, ist ein schlafendes
Wickelkind, das so fest bandagiert ist,
dass es gar keine Möglichkeiten hätte, seinen
frühkindlichen Segen zu verteilen. Und die
Frau, die mit der Kerze in der einen Hand
und der anderen Hand als Lampenschirm
das Kind anstrahlt, nimmt einfach am Glück
teil und hat sonst nichts zu tun. Es ist, als
hätte der Maler die weihnachtliche Bildfor-
E
mel geliehen, um sich gleich wieder von ihr
zu befreien und etwas ganz anderes zu
erzählen. Nur was? So ganz genau kann man
es nie sagen. Irgendwie verfällt man rasch
selber in jene Sprachlosigkeit, die auf diesen
Bildern herrscht.
Immer geht in den Köpfen
etwas vor, was die Personen
zu undurchschaubaren
Individuen macht. Und man
kann nur ahnen, was sie
miteinander haben
Das Werk, wie es sich heute darstellt, ist
reine Rekonstruktion. Mühsam hat man in
einem runden Jahrhundert eine Gruppe
Bilder identifiziert, die mit einiger Sicherheit
Georges de La Tour zugeschrieben werden
können. Die Zahl der Kopisten und stilistischen Nachfolger ist fast unübersehbar,
und bis heute streitet man sich mit guten
Gründen darüber, ob diese oder jene typische
Georges-de-La-Tour-Erfindung eigenhändig sein kann oder nicht. Als der Kunsthistoriker Hermann Voss 1915 den bis dahin
völlig vergessenen Maler unter dem Namen
„Georges du Mesnil de La Tour“ wiederentdeckte, hat er ihm nicht mehr als drei
Gemälde aus Nantes und Rennes zuordnen
können. 1934 war das neue alte Werk in
der großen Pariser Ausstellung Les „Peintres
de la Réalité“ mit einem Dutzend Bilder
vertreten. Knapp 40 Jahre später bekam
Georges de La Tour seine erste Soloausstellung in der Pariser Orangerie. Jetzt war
der Katalog schon über 30 Nummern stark.
Und in seinem 2003 erschienenen Werkkatalog zählt Jacques Thuillier 80 Bilder
auf, rechnet aber Arbeiten hinzu, die nur in
Kopien bekannt sind. Ob sie tatsächlich
auf Georges de La Tour zurückgehen, ist
nicht bewiesen.
Man kennt das Geburtsjahr 1593, man
weiß, dass der Maler 1652 gestorben ist.
Es gibt Hinweise, dass er 1618 seinen Wohnsitz in Lunéville nahm, wo er Diana Le
Nerf heiratete, die aus einer vermögenden
Familie stammen soll. Aber man hat kaum
Dokumente, hält sich an ein paar Überlieferungen, die den Maler aus Lothringen, das
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damals nicht zu Frankreich, sondern zu
Habsburg gehörte, als wenig gewinnende
Persönlichkeit beschreiben: reich,
geizig, ähnlich wie sein italienischer Kollege
Caravaggio, mit dem ihn künstlerisch
manches verbindet, in allerlei Raufhändel
verstrickt. Es soll mal eine Anzeige
gegeben haben, weil er in Herrenmanier
DER FALSCHSPIELER MIT DEM KREUZ-ASS Öl auf Leinwand, 97,8 × 156,2 cm, Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas
seine Hunde über die Felder gejagt habe.
Aber auch das ist nicht gerade das, was die
Historiker zu den unzweifelhaften Tatsachen rechnen. Jedenfalls muss der Sohn eines
Bäckermeisters als peintre ordinaire du Roy
am Hof Ludwig XIII., umschwärmt von
adligen Bildbestellern, ein anständiges
Vermögen verdient haben. Dass die Erinne-
rung an ihn verblassen konnte, lag wohl nicht
zuletzt am Schicksal seiner Heimat Lothringen, die in den Kriegen des 17. Jahrhunderts völlig zerstört wurde.
Ein Star zu Lebzeiten war dieser
Georges aus dem Kleinstädtchen Vic-surSeille wohl schon. Dass er am Hof seines
lothringischen Landesherrn Karl IV. die
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gleiche Gunst genoss wie beim aus regionaler Sicht feindlichen französischen König,
zeigt nur seine Unabhängigkeit. Zumal
Ludwig XIII., verstrickt in die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit seiner
machtlustigen Mutter Maria de’ Medici und
ihrem listigen Einflüsterer Richelieu, nicht
gerade im Ruf stand, ein verschwenderischer
Förderer der Künste zu sein. Wie eng die
Beziehungen zu den Pariser Auftraggebern
waren, ist schwer zu ermessen. Jedenfalls
hat sich der König von Philippe de Champaigne, von Rubens und Frans Pourbus
porträtieren lassen, nicht aber von Georges
de La Tour. Vielleicht ja auch, weil der
Lothringer Maler schlicht nicht zuständig
war fürs hochherrschaftliche Fach.
Er war kein Porträtist, hat keine repräsentativen Historienbilder gemalt, keine
festlichen Spektakel, keinen Reiter mit
Degen, keine Schlachtengemälde, keine
befriedeten Landschaften. Nie findet
bei Georges de La Tour etwas im Freien
statt. Es gibt kein Fitzelchen Natur in
diesem Werk. Alles, fast alles spielt drinnen.
Und wenn der heilige Hieronymus zu
Bußezwecken Hand an sich legt und seine
Selbstbestrafung, weil er halt Eremit ist,
schlechterdings nicht im Haus verrichten
kann, dann ist das „Draußen“ zu grauschwarzer Nacht geworden, in der bis auf
ein paar schemenhafte Steine kein gewach-
HIOB UND SEINE FRAU Öl auf Leinwand,
145 × 99 cm, Musée Epinal
senes Detail zu erkennen ist. Und dass
einmal die Sonne aufgehen würde, es
kommt nicht vor.
Alles spielt in Kammern und Kellern.
Und da es keine Fenster gibt und keine
elektrische Beleuchtung, werden gern Kerzen angezündet. Weshalb der Maler
seinen demütigen Marien und reuigen Magdalenen und andächtigen Christenmännern mit Vorliebe die rote Robe anlegt.
Denn Rot kommt gut im Kerzenschein.
Und wenn der Hieronymus zur Selbstgeißelung die Kleider ablegt, dann hat er
zuvor seinen schönen breitkrempigen Hut
aufgehängt, und der schöne breitkrempige Hut ist sehr rot. Das Rot ist in diesem
Werk wie glimmendes Feuer. Von Bild zu
Bild facht es der Maler neu an.
Woher er das hat? Wo er das gelernt
hat? Es ist nicht erwiesen, ob er jemals in
Rom war. Wirklich belastbare Dokumente
haben sich nicht erhalten. Eine Zeitlang hat
man es sich gar nicht anders vorstellen
können. Niemand wurde zu jener Zeit
Hofmaler, wenn er nicht
sein obligates Italiensemester vorweisen konnte.
Venedig, Florenz, Rom –
im Bündel war das so etwas
wie eine Promotion. Und
überhaupt: Woher sollte
der Lothringer sein Faible
für die flackernde Beleuchtungsmagie haben, wenn er
solche Effekte nicht bei
italienischen Meistern wie
Guido Reni oder Carlo
Saraceni gesehen hat, die
um die Wende vom 16.
zum 17. Jahrhundert aus
Caravaggios Hell-DunkelTheatralik populäre
Barockformeln gemacht
haben?
Aber belegen lässt sich
nichts. Heute neigt die
Kunstwissenschaft eher
zur Skepsis.
Celui qui croyait à Rome,
celui qui n’y croyait pas
betitelt Jean-Pierre Cuzin
seinen Katalogtext zur
großen Ausstellung im
Madrider Prado und spielt
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All das kommt nicht vor im
Werk: die praktische
Nutzanwendung, die handliche
Moritat, die erhabene
Inszenierung, das Schäferspiel,
das erotische Abenteuer
damit auf eine Gedichtzeile von Louis
Aragon an. Der eine glaubt an Rom, der
andere nicht. Und mehr ist nicht zu sagen.
Aber so viel lässt sich schon sagen,
dass dieses Werk aufs bruchstückhafte
Ganze gesehen doch weit vom Standard
der italienischen, niederländischen oder
spanischen Malerei seiner Zeit entfernt
scheint. Schon wahr, dass der Lothringer
in seinem zuweilen derben Ton, in
der Vorliebe für blinde Drehorgelspieler,
zerlumpte Straßenkapellen und Bauersleute wie dem Erbsenesser-Paar der Berliner
Gemäldegalerie das bürgerliche Genre
bedient, wie es in der niederländischen
Malerei des 17. Jahrhunderts in Mode
kam. Und dass der große Velázquez Leute
aus dem Prekariat geradeso bildwürdig
auftreten ließ wie die Adelsgesellschaft, das
wird sicherlich auch nicht ohne Eindruck
auf den Maler im abgelegenen Lunéville
geblieben sein. Und dass die Art, wie er
mit Jakobus, Andreas, Philippus, Thomas,
Judas Thaddäus die Apostel als markige,
leicht vierschrötige Männer vom Land gibt,
dem italienischen Barockideal entspricht,
das ist ebenso offensichtlich – auch wenn
er nie in Rom gewesen sein sollte.
Und doch ist alles bei ihm ein bisschen
anders. Inwendiger, abgründiger, so gar
nicht getröstet durch gelehrte Unterhaltung.
All das kommt nicht vor im Werk: die
praktische Nutzanwendung, die handliche
Moritat, die erhabene Inszenierung, das
Schäferspiel, das erotische Abenteuer. Nicht
einmal ein anständiges Drama. Jahrhundertelang stand der heilige Sebastian mit
seinem schönen Leib am Marterbaum
und ließ sich verklärt gefallen, wie sie die
Pfeile auf ihn schießen. Bei Georges de
La Tour haben die Freundinnen den Ohnmächtigen in ihr Haus gebracht und drehen
ihm mit Hingabe die Geschosse aus dem
Leib. Das ist eine ganz andere Geschichte,
DAS NEUGEBORENE KIND Öl auf Leinwand, 76 × 91 cm, Paris, Musée du Louvre
die nichts mehr mit der Heroenbotschaft
der Heiligenlegende zu tun hat.
Man hat mal behauptet, anhand von
„Aktennotizen“ eine runde Biografie
zusammenstellen zu können. Aber so viel
Mut hat heute kaum einer mehr. Der wissenschaftliche Katalog zur Madrider Ausstellung, der den aktuellen Forschungsstand
referiert, begnügt sich mit Geburtsdatum
und Sterbejahr. Es scheint so, dass man sich
mit Georges de La Tours zwei, drei Dutzend Bildern begnügen muss. Was einer Zeit,
die die schillernde Künstlerperformance
braucht, um an der Kunst Gefallen zu
finden, befremdlich vorkommen mag. Und
doch kann man ganz gut aushalten,
dass der Maler sein Lebensgeheimnis ins
Geschichtsgrab mitgenommen hat. Seine
Bilder sind Geheimnis genug.
Nicht auszudenken, die Frau im
seidenweich rotglänzenden Kleid hätte
die Kerze ausgepustet und ihrem schwer
geprüften Ehemann ins Ohr geflüstert:
Schluss jetzt mit der törichten Gottesfurcht.
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Von morgen an gehen wir nur noch ins
Museum und schauen zu, wie der dreiste
Zocker sein Reserve-Ass versteckt hält
und seine Mitspieler längst wissen, was er
vorhat. Und der Alte hätte genickt und
seinen zahnlosen Mund bewegt und gedacht:
Wie gut, dass dieser Georges de La Tour
das alles gemalt hat.
DAS MUSEO DEL PRADO, MADRID, ZEIGT BIS ZUM
12. JUNI DIE MIT 30 GEMÄLDEN BISLANG
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L. A. TRAUMFABRIK —
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DER AUGENBLICK
TRAUMFABRIK
Die Schweizer Galerie Hauser Wirth & Schimmel belegt einen ganzen Block für sich in einer ehemaligen Bank und Kornmühle
Kunst ist das neue Hollywood. Milliardäre und internationale
Großgalerien verändern das Bild der Künstlerstadt Los Angeles.
Hält der neue Zufluchtsort, was er verspricht?
F
ür diese Jahreszeit brennt die Sonne
ungewöhnlich heiß auf die Stadt. Im
Halbschatten unter den schwingenden
Palmen am kilometerlangen Wilshire Boulevard drängeln sich Highschool-Kids mit rosa
Haaren und Angestellte von Hightech-Firmen vor Food Trucks um vegane Burritos
und Kimchi-Gyros. Auf der anderen Straßenseite steht vor dem LACMA, dem Los
Angeles County Museum of Art, der Wald
von Straßenlaternen des Künstlers Chris
Burden. Dahinter erhebt sich in blankem
International Style der amerikanischen Klassischen Moderne ein 32-geschossiger Turm.
Früher prangte das Logo des HollywoodMagazins Variety daran, aber seit einiger Zeit
werden die obersten Etagen von den Büros
eines High-End-Nachtclub-Imperiums
okkupiert. Flankiert wird der Turm von
zwei flachen Riegeln. Durch die schmalen
Glasscheiben kann man verschwitzten Studiosportlern beim Spinning zuschauen. Im
zweiten Bungalow ist gerade die Berliner
Galerie Sprüth Magers eingezogen.
Monika Sprüth und Philomene Magers
betreiben nur eine der vielen Galerien, die
in der sonnenverwöhnten und smogverpesteten Metropole am Pazifik gerade neue
Räume eröffnen. Wer ihr Programm
anschaut, entdeckt viele Künstler aus der
Stadt, darunter Kenneth Anger, Ed Ruscha,
Sterling Ruby, Lizzie Fitch/Ryan Trecartin,
ENCORE
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John Waters. Eröffnet wurde mit dem Lokalhelden John Baldessari.
Momentan vergeht kein Tag ohne
Nachricht über neu Zugezogene aus dem
Kunstbetrieb. Die Botschaft ist: Los Angeles
ist heiß und hip und günstig. „L. A. vibriert“,
so titelte die New York Times und die Hochglanzmagazine schnatterten es nach. Das ist
keine Übertreibung: Die Stadt verändert sich
rasant, zieht immer mehr Künstler an und
ihre Händler folgen. Thomas Demand und
Ryan Trecartin kamen 2010, Oscar Tuazon,
Sam Falls, Gabriel Kuri, Silke Otto-Knapp,
Amalia Ulman, Jordan Wolfson zogen nach.
Es sind so viele, dass selbst die Einheimischen mittlerweile verstanden haben, dass
Sind Künstler die besseren Galeristen?
Der Projektraum Chin’s Push wird von
Lydia Glenn-Murray geführt
einiges passiert. Letzten Monat
stürmten sie die LA Art Book
Fair und verstopfen die Straßen,
wenn an einem beliebigen
Samstagabend Vernissagen in
den Galerien am La Cienega
Boulevard im Culver City Arts
District gefeiert werden.
Und so verändert sich das
Bild. Bislang blieben die Künstler im Hintergrund, arbeiteten
in den Film-Locations und hielten die Kunstschulen am Laufen, darunter das berühmte CalArts mit seiner spröde-konzeptionellen Klientel. Sie alle
suchten bislang nach einem Weg, um ohne
Marktdruck zu überleben. Der Maler Lari
Gigiotto del Vecchio und Stefania Palumbo von der Berliner Galerie Supportico Lopez, Paul Schimmel von
Hauser Wirth & Schimmel, Marina Olsen und Karolina Dankow von Karma International
Pittman nennt das „gutartige Verwahrlosung“.
Doch es sind nicht die neuen Künstler, die
das Bild von L. A. verändern. In den letzten
15 Jahren hat eine einschneidende Verschiebung stattgefunden. Alle paar Jahre lässt sich
hier eine private Kunstinstitution nieder.
Zuletzt an der Grand Avenue das 11.000
Quadratmeter große The Broad vom Milliardär Eli Broad. Die Guess-Jeans-Gründer
Maurice und Paul Marciano haben sich eine
ehemalige Freimaurerloge für ihr Privatmuseum mit rund 8.300 Quadratmetern ausgeguckt, nur eine kurze Fahrt entfernt von
LACMA und Sprüth Magers. So entsteht
auch ein wirtschaftliches Umfeld, von dem
die Galerien profitieren.
„Galerie“ ist in Los Angeles ein dehnbarer Begriff. Junge Kunsthändler
wie François Ghebaly oder die
Night Gallery haben ein gewaltiges
Lagerhaus in Downtown renoviert.
Freedman Fitzpatrick hat in Hollywood eröffnet, Jenny’s in Silver
Lake, Michael Thibault in Mid City.
Non-Profit-Ausstellungsräume wie
Laxart, LAND, Fahrenheit, LAICA
und Joan schossen, ehe man sich’s
versah, aus dem Boden. Hinzu
kommen immer öfter von Künstlern betriebene Galerien wie
Embassy oder Farago.
Max Farago hat 15 Jahre in
New York als Fotograf gearbeitet
und erfüllte sich in Los Angeles
den Traum von einer eigenen Galerie. In Downtown vertritt er junge
Künstler wie Ben Berlow, Aaron
Bobrow oder Jason Brinkerhoff.
Auch der Flirt der Zürcher Galerie
Karma International mit der Stadt trägt seit
einem Jahr Früchte – sie sitzt in einem versteckten Schatzkästlein in der dritten Etage
des Golden Triangle Building in Beverly
Hills. Die Berliner Galerie Supportico Lopez
realisierte schon mehrere Ausstellungen
hier, momentan eine Soloschau mit Steve
Bishop im Projektraum 6817 an der Melrose
Avenue. Und die Berliner Sammler Barbara
und Axel Haubrok verbringen seit einigen
Jahren den Winter in L. A. Sie entdecken
gerade das Theater District und die Galerien
an der Mission Street. Die New Yorker
Galerie Michelle Maccharone hat dort ihre
neue Adresse.
Das neue Vorzeigemuseum des
Milliardärs Eli Broad
N
atürlich haben da, wo früher keiner
hinging, auch schon kunstaffine
Modeläden und Concept Stores eröffnet. Das ist Teil der ungeheuren Energie, die
sich in der Szene entwickelt: hektisch, körperlich spürbar und unübersehbar cool. Dass
die französischen Messebetreiber FIAC und
Paris Photo gerade ihren geplanten L. A.Ableger abgesagt haben, will man hier gern
auf die Europakrise schieben – und nicht
unbedingt darauf, dass L. A. keine traditionelle Sammlerschaft hat wie Paris, Brüssel
oder New York. In Los Angeles setzt man
auf die Kunstkäufer aus Hollywood, was
zwar nicht unbedingt intellektuelle Tiefenbohrung und langfristige Liebe zur Kunst
bedeutet, aber vielleicht ja eine zukunftsweisende Künstlergemeinde am Leben hält.
Doch zwei Eröffnungen bedeuten für
die Galerieszene eine wirklich Zäsur. Es sind
Sprüth Magers und die Schweizer Großgalerie Hauser & Wirth, die am 13. März ihre neueste Filiale eröffnet, nach mehreren Standorten in Zürich, New York und London sowie
zuletzt im idyllischen Somerset in Südengland. Mit dem gigantischen 9.300-Quadratmeter-Anwesen entsteht ein Bau, der nach
allem aussieht, nur nicht nach Galerie. Neuer
Galeriepartner ist Paul Schimmel, der ehemalige Chefkurator des Museum of Contemporary Art, Los Angeles. Als Standort wurde
der Arts District gewählt, die industriell
geprägte Nachbarschaft in Downtown, für
die sich lange nur Hausbesetzer-Punks interessierten. Heute säumen Millionen-DollarLofts und schicke Restaurants die Straßen.
Die neuen, riesigen Räume von Hauser
Wirth & Schimmel bilden einen ausufernden
Komplex, der sich über einen ganzen Block
hinzieht. Teile davon sind eine ehemalige
Kornmühle und eine Bank. Was hier stattfinden wird, macht Kunstausstellungen allerdings fast zum Nebenschauplatz. Wie schon
in Somerset, wo die Werke in riesigen Räumen zwischen Slow-Food-Restaurant und
Parklandschaft auf einem alten Gehöft inszeniert werden, entsteht nun eine Art museales
Allround-Kulturzentrum mit Wohlfühlfaktor – samt Bibliothek, Forschungseinrichtung, Ausbildungslabor, Nutzgarten und Restaurant. Auch das Galerieprogramm verortet
sich in L. A.: Paul McCarthy, Mark Bradford,
Thomas Houseago, Richard Jackson, Rachel
Khedoori und Diana Thater sind dabei,
außerdem betreut die Galerie die Nachlässe
der L. A.-Ikonen Jason Rhoades und Mike
Kelley – sie und McCarthy bezeichnete ein
New Yorker Kritiker einmal als „Clusterfuck“Künstler, die in ihren flashigen, brachial-bildhaften Installationen der Albtraumfabrik
Amerika auf den Leib rücken. Die erste Ausstellung bei Hauser Wirth & Schimmel, kuratiert vom neuen Gesellschafter selbst, wird
allerdings so gar nicht narrativ-maskulin werden. Revolution in the Making: Abstract Sculpture
by Women, 1947–2016 vereint eine Riege historischer Positionen von Louise Bourgeois,
Eva Hesse, Magdalena Abakanowicz oder
Lee Bontecou mit Arbeiten jüngerer Künstlerinnen wie Karla Black und Lara Schnitger.
Wie lange wird sich dieser Mythos L. A.
halten? Das Wachstum und die Investitionen
lassen die Mieten und Kaufpreise für Häuser
und Wohnungen steigen. Sie haben sich seit
der Finanzkrise von 2008 schon verdoppelt,
in einigen Lagen sogar verdreifacht. Noch
hält das niemanden ab, hierherzuziehen.
Doch könnte es sein, dass diese zerfaserte,
staugeplagte Stadt gerade eine neue Traumfabrik hervorbringt? Ein wenig wirkt es, als
würden jetzt, wo Hollywood seinen Charme
verliert, mit der Kunst Luftschlösser gebaut.
Eine Stadt, die sich vor allem
als Künstlerlabor versteht,
funktioniert nicht unbedingt
als Marktplatz, das sehen wir
an Berlin. Dass die Galerien
über die ganze Stadt verstreut
liegen, wird hier inzwischen
als Störfaktor wahrgenommen – das Kunstpublikum
kennt sich aus, braucht keine
Entdeckungstour mehr.
„Meine Füße haben seit der
Landung nicht eine Sekunde
den Boden berührt“, sagt der
leidende Woody Allen in Annie
Hall bei seinem Besuch in Los
Angeles. Vielleicht ist es das
Geheimnis von L. A.: immer
ein paar Zentimeter über dem
Boden schweben. Warum
auch nicht – was ist schon
Kunst, wenn sie auf dem
Boden der Tatsachen steht.
TEXT: ANDREW BERARDINI
ENCORE
73
Wie lange wird sich dieser
Mythos halten? Das
Wachstum und die
Investitionen lassen die
Mieten steigen
OBEN: Kunst zum Anfassen von
Sergei Tcherepnin bei Karma International
UNTEN: Die neue Galerie
Sprüth Magers gegenüber vom LACMA
WERT
SACHEN
IK —
L. A. TR AU M FA BR
—
A U K TI O N EN
N
—
WERTSACHE
K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL AU
K
DER AUGEN BLIC
Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem Angebot
des Kunsthandels
FISCHWUNDER
Duchess of Devonshire
2. März bei Sotheby’s
in London
Eine Rarität aus dem
Frühwerk Caspar David
Friedrichs. Der Maler
hatte sein Kunststudium
in Kopenhagen beendet
und sich in Dresden
niedergelassen. Dort
Norman Parkinson fotografierte 1952
brachte er von Wandedie jüngste der legendären Mitfordrungen eine Fülle von
Schwestern mit ihren weißen WindhunNatur- und Landschaftsden für die Vogue. Vor eineinhalb
skizzen mit. Aus dieser
Jahren ist Deborah, Duchess of
Zeit stammt auch
Devonshire, gestorben. Jetzt dürfen wir
die Baumstudie vom 18.
ein bisschen Voyeur spielen und in ihrer
April 1803. Noch ist
Wunderkammer von Chatsworth House
der Baum ein Baum und
stöbern. Sotheby’s versteigert in
kein EinsamkeitszeiZeichnungen Alter
London ihren Nachlass, darin
chen.
Und
es wird noch ein paar
Meister
befindet sich auch eine
Jahre
dauern,
bis die typischen
22. März bei
signierte
Gemälde
entstehen.
Vorerst
Koller in Zürich
Ausgabe von
gehört der kahle Baum, vielleicht
Evelyn Waughs Brideshead eine Esche, zum Vorrat an BildgegenstänRevisited. Das goldene
den, aus dem sich Friedrich immer wieder
Tintenfass in Form eines
bedienen wird. Wenn man an die frisch
Hummers ist in seiner Extra- restaurierte Abtei im Eichwald denkt, dann
vaganz kaum zu übertreffen
sieht man, dass der Maler schon Übung
(Taxe 300 bis 500 Pfund). SWKA hat, was kahle Bäume angeht. MÜ
WIR PAZIFISTEN
Now and Ten
16. März
bei Christie’s
in Dubai
SEIN
ERSTER
BAUM
Es ist ein wahres Monstrum mit seinen elf Metern! Auf diese Länge
trauen sich nur wenige Künstler, Andy Warhol mit Big Retrospective Painting
oder Chris Martin mit Long Lake von 2000. Doch nach Picassos Guernica
hat man nicht mehr ein Gemälde solcher Wucht gesehen: Christie’s versteigert jetzt das Triptychon Sarajevo von Omar El-Nagdi,
einem ägyptischen Maler, der sich 1992 mit der Belagerung von Sarajevo auseinandersetzte (Taxe 400.000 bis 600.000 Dollar).
El-Nagdi thematisiert auf dem Bild die Ermordung der Bosnier im traditionell-christlichen Format eines Triptychons. Der Horror
des Krieges – 1937 schuf Pablo Picasso die Ikone, El-Nagdi lässt sie aufleben. SWKA
ENCORE
74
HANS SCHÄUFELIN Christus am Ölberg, ca. 1506
EINE AUSWAHL der BLAU
REDAKTION
AUKTIONEN
2. MÄRZ
SOTHEBY’S IN LONDON
Nachlass der letzten Mitford-Schwester Deborah, Duchess of Devonshire
2. MÄRZ
BONHAMS IN LONDON
Europäische und britische Kunst aus dem 19. Jahrhundert
3. MÄRZ
SOTHEBY’S IN NEW YORK Contemporary Curated
3. MÄRZ
DOROTHEUM IN WIEN „Happy Kids“-Charity-Auktion
4. MÄRZ
CHRISTIE’S IN NEW YORK
First Open – Nachkriegs- und Gegenwartskunst
12. MÄRZ
DR. FISCHER IN HEILBRONN
Europäisches Glas und Studioglas
14.–16. MÄRZ BONHAMS IN NEW YORK Asiatische Kunst
15.–18. MÄRZ CHRISTIE’S IN NEW YORK Asiatische Kunst
15.–17. MÄRZ SOTHEBY’S IN NEW YORK Asiatische Kunst
15. MÄRZ
SOTHEBY’S IN LONDON Contemporary Curated
16. MÄRZ
BONHAMS IN LONDON Kunst aus Südafrika
16. MÄRZ
DOROTHEUM IN WIEN Moderne und Gegenwartskunst
16. MÄRZ
Passionsfund
Christof Metzger, Chefkurator an der Wiener Albertina, ist Renaissance-Experte. Schon 2002 schrieb er, dass zwei Tafeln von Hans
Schäufelin, die seit 1821 in der Berliner Gemäldegalerie aufbewahrt
werden, ursprünglich zu einem Triptychon gehört haben müssen.
Auf den bis dato verschollenen Innenseiten des Flügelaltars
vermutete Metzger vier Passionsgeschichten. Jetzt sind zwei Tafeln
aufgetaucht. Er hat recht behalten.
CHRISTIE’S IN DUBAI
„Now and Ten“ – Moderne und Gegenwartskunst
16. MÄRZ
LEMPERTZ IN KÖLN Gemälde des 15. bis 19. Jahrhunderts
17. MÄRZ
KOLLER IN ZÜRICH Silber und Porzellan
18./19. MÄRZ VENATOR & HANSTEIN IN KÖLN
Antiquarische Bücher, alte und moderne Grafik
19. MÄRZ
21. MÄRZ
KOLLER IN ZÜRICH Bücher, Autografen und Fotografie
DOROTHEUM IN WIEN
Jugendstil und angewandte Kunst des 20. Jahrhunderts
22. MÄRZ
KOLLER IN ZÜRICH
Alte Grafik, Altmeisterzeichnungen und -gemälde, Gemälde des 19. Jahrhunderts
23. MÄRZ
30. MÄRZ
NEUMEISTER IN MÜNCHEN Alte Kunst
DOROTHEUM IN WIEN
Meisterzeichnungen und Druckgrafik bis 1900
31. MÄRZ
DOROTHEUM IN WIEN
Historische wissenschaftliche Instrumente, Modelle und Globen
Die Münchner Händler Arnoldi-Livie zeigen auf der European Fine
Art Fair in Maastricht zwei Tafeln und in Paris wurden zwei weitere
entdeckt. Was ist zu sehen?
— Tatsächlich ist es die Passionsgeschichte. Jetzt fehlt nur noch die
Kreuzigung in der Mitte, um die herum die Szenen komponiert
waren. Die fantastischen Unterzeichnungen zeigen, dass es sich um
Originale des Dürer-Schülers handelt. Wenn man sich jahrelang
mit ein und demselben Künstler beschäftigt hat, dann erkennt man
seine Handschrift. Jetzt freuen wir uns also über Christus am Ölberg
und eine Kreuzabnahme und Beweinung Christi bei Arnoldi-Livie und
eine Geißelung, die vor zwei Jahren, und eine Dornenkrönung, die im
vergangenen Dezember bei zwei Pariser Händlern aufgetaucht sind.
Es fehlt jetzt also nur noch die Mitteltafel?
— Ja, die Kreuzigung. Wichtig ist jetzt, dass die Tafeln an einem
Ort, einem Museum wieder zusammenfinden.
INTERVIEW: MARCUS WOELLER
THE EUROPEAN FINE ART FAIR FINDET VOM 11. BIS ZUM 20. MÄRZ IM
CONGRESS CENTRE VON MAASTRICHT STATT
ENCORE
75
IK —
L. A. TR AU M FA BR
—
A U K TI O N EN —
N
WERTSACHE
AU K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL
K
DER AUGEN BLIC
GRAND PRIX
ANGST
Wie geht es in
Paris nach den
Anschlägen
uf den ersten Blick wirkt die Abbildung wie ein Schwarz-Weiß-Foto. Doch an diesem
Kugelloch in der Glasscheibe hat Robert Longo die vergangenen Monate mit seinem
weiter? In den
Kohlestift gearbeitet. Die riesengroße Zeichnung wird im April in seiner Ausstellung
in der Galerie Ropac in Paris zu sehen sein. Der Einschuss, Symbol des Terrors, bekommt in
Galerien Paris eine ganz konkrete Wirkung: Er löst Angst aus. Paris wird zurzeit bestimmt von konkreter
Angst vor neuen Anschlägen, aber auch von einer diffusen Angst, ausgelöst durch den Druck der
beginnt eine Politik: Lars von Triers Antichrist wurde nicht für eine Veröffentlichung auf DVD zugelassen. Die
Dokumentation Salafisten wurde für Zuschauer unter 18 Jahren verboten, aus Angst, es wäre eine
neue Zeit Provokation des Islam. Kultur und freie Meinungsäußerung sind in Gefahr – das ist nicht zu hoch
ROBERT LONGO,
DETAIL OF BULLET
HOLE IN WINDOW,
JANUARY 7, 2015
A
gegriffen. In dieser kulturfeindlichen Atmosphäre kämpfen auch die Galerien, suchen nach neuen
Profilen. Und doch spürt man auch Erleichterung, wenn man sich in Paris umhört. Langsam
kommt das kulturelle Leben in den Museen wieder in Gang. Und mit ihm wachen die Künstler aus
der Schockstarre auf, beginnen, das Geschehene zu verarbeiten. „Von einem Tag auf den anderen
waren die Anschläge nicht mehr Thema bei den Abendveranstaltungen“, sagt der Galerist Kamel
Mennour, geboren in Algerien, im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich gekommen: „Ich glaube an die Kraft von Kunst, neue Hoffnung zu geben.“ Zurzeit bereitet er die Eröffnung seiner nächsten Galeriedependance vor – seine dritte in Paris. „Ich bin ein Parisien, will nirgends anders sein.“ Er war gerade mit seinem Sohn im Fußballstadion. Das erste Mal nach den
Anschlägen. Auch damals war er mit ihm dort, als draußen die Bombe hochging. Der Berliner
Galerist Max Hetzler mit Dependance in Paris sagt: „Die Zeit der schmerzhaften Aufarbeitung
beginnt ja erst jetzt, den Parisern wird immer bewusster, was da eigentlich geschehen ist. Aber sie
machen weiter. Es war ja auch ein Anschlag auf die Gegenwartskunst.“ In vielen Gesprächen
verstärkt sich der Eindruck, dass der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die Kunst gefragt ist, Diskussionen wieder anzuregen. „Eine plakative Reaktion wie nach dem 11. September 2001 ist natürlich nicht wünschenswert, als viele Künstler begannen, brennende Türme zu malen. Es ist ja schon
eine Ansage, wenn wir einfach professionell weitermachen.“ Nachrichten, dass die Paris Photo nach
der dritten Ausgabe ihre Messe in Los Angeles aufgibt, lassen jedoch nicht darauf schließen, dass
es einfach so weitergehen wird. Die Messe hatte den Großteil ihrer Einnahmen verloren. Die Verarbeitung beginnt. Jetzt werden die Künstler Antworten geben, Paris neue Bilder schenken nach
den Anschlägen. Robert Longo hat den Anfang gemacht.
SWANTJE KARICH
ENCORE
76
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Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
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BILDNACHWEISE
Nr. 9 / März 2016
Titel: Courtesy the artist, Anton Kern Gallery, New York. Susanne Vielmetter Los Angeles Projects. Barbara Weiss, Berlin and
the Hall Foundation. Editorial: S. 5: Foto: Yves Borgwardt für
BLAU. Inhalt: S. 6 M. o.: Courtesy of the artist and Susanne
Vielmetter, Los Angeles Projects. Foto: Robert Wiedemeyer. S. 6
l. u.: Foto: Helmut Middendorf. S. 6 r. u.: Courtesy Giò Marconi.
Foto: Andrea Rosetti. S. 8 M. o.: Foto: Francois Halard für BLAU.
S. 8 l. u.: New York, lent by the Metropolitain Museum of Art,
Rogers Fund 1960 (60.30). S. 8 r. o.: Courtesy Sotheby’s. S. 8
r. u.: Courtesy Karma International. Contributors: S. 10 M.: Foto:
Franziska Rieder für BLAU. S. 10 u.: Foto: Chelsea Lauren/Wireimage / gettyimages. Essay: S. 13: © Jeff Koons. Apéro: S. 16
l. o.: Alex Marks / NYT / Redux/ laif. S. 16 l. u.: Courtesy of the
Chinati Foundation. Foto: Jessica Lutz. S. 16 r.: Courtesy Setouchie Triennale. Foto: Osamu Nakamura. S. 17 l. o.: Fotos: threeding.com. S. 17 l. u.: Foto: Agostino Osio. S. 17 r.: Foto: Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek. Dichter Dran: S. 18: Courtesy
Sotheby’s. O-Ton: S. 19 o.: Foto: Brigitte Lacombe. S. 18 u.:
© John Baldessari, 2016. Schnellste Skulpturen: S. 19 r. o.: Foto
und © Volkswagen AG. Um die Ecke Tel Aviv: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 21 bis 23: Fotos: Anna Yam für BLAU.
Alex Da Corte: S. 24: Courtesy Alex Da Corte, Giò Marconi,
Mailand. S. 25 o., r. u.: Courtesy Alex Da Corte, David Risley
Gallery, Kopenhagen und Giò Marconi, Mailand. S. 25 l. u.: Foto:
Matthew Leifheit. S. 26: Courtesy Alex Da Corte, Luxembourg &
Dayan, New York. S. 27: Courtesy Alex Da Corte, David Risley
Gallery, Kopenhagen und Giò Marconi, Mailand. Blitzschlag:
S. 28 o.: Foto: Antony Crook / RSA Photography. S. 28 u.: Foto:
Hamburger Kunsthalle. © www.bridgemanartcom. © 2016, The
Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Artists Right
Society (ARS) New York. Nicole Eisenman: S. 30/31: Courtesy
of the artist and Anton Kern Gallery, New York. S. 32, S. 34:
Courtesy Barbara Weiss, Berlin. S. 33: Courtesy Contemporary
Art Museum St. Louis. S. 35: Foto: Heji Shin für BLAU. S. 36/37:
Courtesy the artist, Anton Kern Gallery, New York. Susanne
Vielmetter, Los Angeles Projects and Galerie Barbara Weiss,
Berlin. S. 38: Courtesy of the artist and Susanne Vielmetter Los
Angeles Projects. Foto: Robert Wiedemeyer. S. 39: Courtesy
Anton Kern Gallery, New York. S. 40, S. 40/41: Courtesy of the
artist and Susanne Vielmetter Los Angeles Projects. Foto: Robert Wiedemeyer. Kreuzberger Nächte: S. 42 l.: Foto: Helmut
Newton. © The Helmut Newton Estate / Maconochie Photography. S. 42/43: Foto: Günter Brus. S. 43 r. o.: Foto: Archiv Una
Wiener. S. 43 r. M.: Foto: Benjamin Katz. S. 43 r. u.: Foto: Benjamin Katz. S. 49: Zeichnungen von Michel Würthle aus dem Buch
„Aufzeichnungen eines bewaffneten Schankprinzen. Im Exil
1972–1979”. Bruno Brunnet Fine Arts Berlin. S. 46: Im Uhrzeigersinn von oben links: Thomas Voburka: Foto: Helmut Middendorf. Julia Hacker und Rainer Fetting: Foto: Helmut Middendorf. Günter Brus, Oswald Wiener und Dieter Roth: Foto:
Archiv Ingrid Wiener. Elvira und Karl Horst Hödicke: Foto: Archiv Hödicke. Bianca Capitanio: Foto: Rainer Fetting. Oswald
Wiener: Foto: Renate von Mangoldt. Maria Glissen Broodthaers: Foto: Helmut Midddendorf. Ingrid Wiener: Foto: Archiv Ingrid Wiener. S. 47 im Uhrzeigersinn von l. o.: Ingrid und Oswald
Wiener: Foto: Archiv Ingrid Wiener. Michel Würthle mit Gästen:
Foto: Archiv Una Wiener. Speisekarte: Archiv Ingrid Wiener.
Peter Raue: Foto: Benjamin Katz. Markus Lüpertz, K. H. Hödicke,
Helmut Middendorf, Stephan Landwehr: Foto: Helmut Middendorf. S. 49: Zeichnungen von Michel Würthle aus dem Buch
„Aufzeichnungen eines bewaffneten Schankprinzen. Im Exil
1972–1979”. S. 52 im Uhrzeigersinn von l. o.: Michel Würthle, Michael Krebber, Martin Kippenberger: Foto: Helmut Middendorf.
Oswald Wiener: Foto: Renate von Mangoldt. Küchencrew und
Bianca Jagger und Heiner Bastian: Foto: Archiv Una Wiener.
Hommage und Zeichnung: Michel Würthle. K. H. Hödicke und
Helmut Middendorf: Foto: Helmut Middendorf. S. 53 im Uhrzeigersinn von l. o.: Tischrunde: Foto: Helmut Middendorf. Michel
Würthle und Jenny Capitain: Foto: Helmut Newton. © The Helmut Newton Estate / Maconochie Photography. Ed Kienholz:
Foto: Benjamin Katz. Bianca Capitanio und Rainer Fetting:
Foto: Rainer Fetting. Michel Würthle am Tresen. Foto: Benjamin
Katz. Bruno Brunnet und Antonia Lerch: Foto: Rainer Fetting.
Mario Merz und Christos Joachimides: Foto: Benjamin Katz.
S. 55: Foto: Archiv Ingrid Wiener. James Brown / Merida: S. 56
bis 63: François Halard für BLAU. Georges de La Tour: S. 64:
Los Angeles County Museum of Art, Gift of the Ahmanson
Foundation, Los Angeles. S. 65: Collection Palais des Ducs de
Lorraine, Musée Lorrain, Nancy. S. 66/67: Kimbell Art Museum,
Fort Worth, Texas. S. 68: Musée Départemental d’ Art Ancien et
Contemporain, Epinal. S. 69: Musée des Beaux-Arts de Rennes,
Rennes. Kunstszene Los Angeles: S. 71: Courtesy Hauser &
Wirth. Foto: Daniel Han. S. 72 o.: Foto: Frank Carino für BLAU.
S. 72 M. M.: Courtesy Hauser & Wirth. Foto: Daniel Trese. S. 72
M. r.: Courtesy Karma International. S. 72 u., S. 73: Foto: Frank
Carino für BLAU. Wertsachen: 74 l.: © Sotheby’s. S. 74 r.: Courtesy Koller. S. 74 u.: Courtesy Christie’s. S. 75: Courtesy ArnoldiLivie. Kolumne: S. 76: Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac,
Paris/Salzburg. Kalender: S. 78 l.: © KHM Museumsverband.
S. 78 M.: Foto: Laurent Philippe. S. 78 r.: Courtesy Metro Pictures,
New York. S. 79 l. o.: Paul Strand Archive. Aperture Foundation.
S. 79 l. u.: Courtesy of Paul Strand Archive. Aperture Foundation. Foto: Martine Franck, Magnum Photos. S. 79 M.: Staatsgalerie Stuttgart. S. 79 r. o.: © Vitra Design Museum. Nachlass Alexander Girard. S. 80 l. o.: Courtesy Sammlung Stefan Thull. Foto:
Egbert Haneke. S. 80 l. u.: Courtesy David Zwirner, New York. ©
Raymond Pettibon. S. 80 M.: © Andrew Wyeth. Museo ThyssenBornemisza, Madrid. S. 80 r. © Lynn Hershman Leeson. S. 90
l. o.: © Bow 100. S. 90 l. M.: © Paisley Park. S. 90 l. u.: © Island
Records. S. 90 M. o.: © und Foto: Galerie Joseph Fach, Frankfurt am Main. S. 90 r.: Courtesy the artist and Simon Preston
Gallery, New York. Der Augenblick: S. 36/37: © Judith Joy Ross,
Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln.
VG Bild-Kunst , Bonn 2016
Giorgio de Chirico, Robert Irwin,
Robert Longo, Andrew Wyeth
JOOS VAN CRAESBEECK
Bettlermädchen, vor 1659
BLAU
K ALENDER
IK —
L. A. TR AU M FA BR
—
A U K TI O N EN
N
—
WERTSACHE
K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL AU
K
DER AUGEN BLIC
Unsere TERMINE im März
Digital
Archives
Kunstverein
Hannover
12.03. – 29.05.2016
FESTKULTUR
KUNSTHISTORISCHES
MUSEUM WIEN
08.03.-11.09.16
Vollmond, 2006
PINA BAUSCH
Bundeskunsthalle Bonn
04.03. – 24.07.2016
o ld
Du
katen), Leop
Smolensk
,1
61
1(
D et a i l)
km
0
von
Prun
Klippe (1
I., 1694
ig e
ng
MW
Eine Legende, das Tanztheater der Pina Bausch. Es illustriert
ein paar der schönsten Seiten im Geschichtsbuch der späten
Bundesrepublik. Damals in den 70er- und 80er-Jahren ist
lb m o n df ö
Ha
r
man nach Wuppertal gefahren und hat fasziniert das
Aufblühen dieser neuen Kunstgattung erlebt, bei der
aus Körper und Raum, Bewegung und Bild nie
gesehene Gesamtkunstwerke entstanden. Keuschheitslegende (1979), Nelken (1982), Auf dem Gebirge hat man
ein Geschrei gehört (1984), Palermo, Palermo (1989) – es waren
unvergessliche Abende. Mit dem Tod der Prinzipalin im Jahr
2009 ist die Pionierphase des Wuppertaler Tanztheaters Geschichte
geworden. Wieder lebendig wird es auch in der Ausstellung
nicht, die die Bundeskunsthalle der großen Choreografin widmet.
Und doch kann man noch einmal den Zauber spüren, der von
der einzigartigen Mischung aus Tanz, Artistik und fantasievoller
Bühnenbildkunst ausgegangen ist. Im Zentrum eine Rekonstruktion der „Lichtburg“ – so hieß der Probenraum, ein altes Wuppertaler Kino, in dem Pina Bausch zusammen mit ihrer Truppe die
meisten ihrer Stücke erarbeitet hat. Mit Performances, Tanz-Workshops, Filmen und Diskussionen soll er noch einmal zum „Erfahrungsraum“ werden. MÜ
m
Man muss sich die Frühe
Neuzeit als Fest vorstellen.
Als dauernden Reigen aus
Theater, Musik und
Banketten – jeder
kleinste Anlass wurde
zur Feier erhöht.
Hinter den hoch entwickelten Festkulturen dieser
Zeit steckte freilich keine
Langeweile, sondern politisches Kalkül. Anders ist die
kräftezehrende Feierwut der
großen Residenzen kaum zu
erklären. Es fehlte vor dem
Aufkommen der Moderne
an verbindlicher gesellschaftlicher Ordnung,
und so wurden die Feste
mit ihren peinlich genauen zeremoniellen Festlegungen zur eindrücklichen
Demonstration der Machtverhältnisse. Das Kunsthistorische Museum in Wien
nähert sich nun vor allem
über die aufwendigen
Kulissen und
zur Erob
aille
eru
ed
Requisiten
diesem
flüchtigen
Kraftakt an.
In den digitalen Datenmengen
unserer Welt steckt durchaus
Poesie: Seit 2013 verdoppeln
sie sich alle zwei Jahre. Wer
Kopfrechnen kann und sich
mit dem All auskennt, weiß,
dass es im Jahr 2020 genauso
viele Bits gibt wie im Universum Sterne. Entsprechend werden die Serverfarmen immer
größer. Wissen wird so schnell
gezüchtet wie sonst nur Gen-
ENCORE
78
TREVOR PAGLEN
KEYHOLE 12-3 (IMPROVED CRYSTAL)
Optical Reconnaissance
Satellite Near Scorpio (USA 129), 2007
mais. Doch was macht die
Verfügbarkeit solcher Daten mit
uns? Wissen ist Macht, das
wissen wir seit dem englischen
Philosophen Francis Bacon.
Heute denkt man dabei vor
allem an das Geschäft mit
Informationen und Totaltransparenz. Längst ist die vernetzte
Welt ein Thema, das auch die
Kunst beschäftigt: Hannover
vereint nun u.a. Trevor Paglen,
Arno Auer und Superflux. gb
el
an
nt P
e nt a l En r i ch m e
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vi
En
t,
ller
L
ove
H
ea
r
MARTINE FRANCK
Paul Strand, 1974
hat ihn die engagierte Teilnahme
an der Welt auch
nicht, als sein
Themenspektrum
breiter wurde.
Obschon er mehr
und mehr mit
Natur- und Landschaftsreportagen
bekannt wurde,
blieb er der politisch engagierte,
kritische Begleiter
seiner Zeit, der
auf seinen Reisen
durch Amerika,
Mexiko und Europa
die versteckten
Zeichen der Lebenswidersprüche
sammelte und sie
in seine aus behutsamen Kontrasten
entwickelte
Ästhetik übersetzte. Mit über
200 Fotoarbeiten
und Filmen zeigt
das Victoria and
Albert Museum das
Werk in seiner
ganzen eindrücklichen Breite. mü
Mi
Was das Werk des
New Yorker Fotografen und Filmemachers Paul
Strand vielleicht
am deutlichsten
kennzeichnet, ist
der unbestechliche
Blick auf die Opfer
der industriell
entfesselten Zivilisation. Mit einer
Chronik des
Arbeiterelends hat
er in den späten
Zehnerjahren
begonnen. Und
losgelassen
er m
PAUL STRAND
VICTORIA AND
ALBERT MUSEUM,
LONDON
19.03. – 03.07.2016
rH
18.03. – 03.07.2016
an
STAATSGALERIE
STUTTGART
7, 1971
301
Alexander Girard fü
Wall Street, 1915
GIORGIO
DE CHIRICO
#
ALEXANDER GIRARD
VITRA MUSEUM, WEIL AM RHEIN
12.03.2016 – 29.01.2017
Metaphysisches Interieur mit
großer Fabrik, 1916
Dass die Moderne eigentlich eine fröhliche
Angelegenheit war, sieht man ihr nicht immer an.
All die rechten Winkel voller Chrom, Glas und
Es war damals, wie wenn
einer ins Labor der Moderne Leder wirken ja manchmal wie die Formel strenger Herren, die ihren Schülern den Freigeist als
eingebrochen wäre und
Erziehungsprogramm verordnen wollten. Erst als
dort eine gehörige Verwüsin den 50er-Jahren die organisch geschwungetung angerichtet hätte.
nen Farbkörper von Charles und Ray Eames oder
Gerade noch hatten die
kubistischen und abstrakten George Nelson aus den USA anrollten, lockerte
sich dieses Prinzip. Ihr enger Freund war AlexanExperimente das zeitgenössische Bild klug und seine der Girard, geboren 1907 in New York City. Was
viele nicht wissen: Ohne ihn ist das Textildesign
Sinnlichkeit transparent
dieser Zeit nicht denkbar. Girard war von Pop-Art,
machen wollen. Da kommt
aber vor allem von Folk-Art inspiriert, die er selbst
dieser Giorgio de Chirico,
sagt „Pittura metafisica“ und im großen Umfang sammelte. Und so gestaltete
er mit seinen bunten, geometrisch-naiven Mustern
kassiert all die Fortschrittsaus Blumen und Figuren ganze Häuser und
mythen. Alles ist opak bei
Restaurants, die danach
ihm, verstellt, aufkläaussahen wie eine
rungsresistent. Und
Mischung aus Mandala,
wie die Dinge zusamKinderzimmer und
mengehören, das
LSD-Trip – etwa das
erklärt keine Logik.
Restaurant La Fonda
Nun bietet eine große
Del Sol in New York
Ausstellung der
oder das Miller House in
Stuttgarter StaatsgaColumbus, Indiana.
lerie zusammen mit
Sogar eine Fluggesellde Chirico auch die
schaft kam in den
ganze malerische
Genuss seiner GlücksVerwandtschaft auf
geometrie: Für Braniff
und zeigt, wie die
International entwarf er
„Pittura metafisica“
1965 jedes Detail. Nun
bis zu Dalí, Magritte
gibt es die erste Retround Max Ernst
ALEXANDER
GIRARD
FÜR
spektive. GB
weiterwirkte. MÜ
HERMAN MILLER, Girls, Environmental
Enrichment Panel # 3001, 1971
ENCORE
79
01.03. – 19.06.2016
RAYMOND
PETTIBON
Sammlung Falckenberg, Hamburg
28.02. – 11.09.2016
Bild und Text, sie scheinen nicht immer zusammenzupassen. Aber es sind absichtsvolle Dissonanzen, die Raymond Pettibon wählt, Verschiebungen, die seine Erzähl-Gegenstände dem Diskurs
entziehen. In den 70er-Jahren hatte er sich mit
Plattencovern und Comics einen Namen gemacht. Dann tauchten seine Zeichnungen mehr
und mehr im Kunstkontext auf. Wohl könnte
man zu jedem einzelnen Blatt eine üppige Bedeutungsgeschichte erzählen. Aber in der Summe
verschmelzen diese Zeichnungen zu einem
Gemisch aus Reflexen und Reflexionen. Das Werk
ist wie ein Bewusstseinsstrom, der sich von HippieBewegung, Drogenszene, Terrorismus, Rassenund Gender-Problematik bis zum Irakkrieg an lauter
Barrieren aufstaut, um sie dann wie Treibgut
mitzunehmen. Selten
zuvor ist Pettibon
so umfangreich zu
sehen gewesen wie
in der Ausstellung
Homo Americanus,
die Ulrich Loock
kuratiert hat. mü
No Title
(homo americanus), 2015
Oben: Plattencover Black
Flag „Slip it in“, 1984
Lynn Hershman
Leeson
Lehmbruck Museum, Duisburg
27.02. – 05.06.2016
LYNN HERSHMAN LEESON
Roberta Constrcution Chart # 1, 1975
ANDREW UND
JAMIE WYETH
MUSEUM
THYSSEN,
MADRID
Die amerikanische Malerei
des 20. Jahrhunderts ist
abstrakt. Könnte man meinen.
Denn viele der gegenständlichen Maler sind außerhalb der
Vereinigten Staaten unentdeckt geblieben. Das spanische
Museo Thyssen-Bornemisza
allerdings kann sich einer der
größten Sammlungen amerikanischer Malerei des RealisThema. Im Zenmus rühmen. Dort zeigt das
Wer bin ich, und
wenn ja, wie viele? trum steht die
Dieser inzwischen kalifornische
Medienkunstfast totzitierte
Pionierin Lynn
Buchtitel eines
jungen deutschen Hershman Leeson
Philosophen steht (geb. 1941), die
für ihre frühen
beispielhaft für
fragmentierten
die Frage nach
unserer Identität – Mensch-Maschinen, Selbstverund die ist im
wandlungen und
Digitalzeitalter
interaktiven
offenbar
ziemlich
ANDREW WYETH
durcheinanderge- ComputeranimatiMy young friend, 1970
onen seit andertraten. Im Lehmhalb Jahren
Denver Art Museum nun eine bruck Museum
endlich gebühwidmet sich nun
große Ausstellung zu Andrew
Wyeth und seinem Sohn (und eine Gruppenaus- rend gefeiert
wird. Kombiniert
stellung diesem
Schüler) Jamie. Wyeth senior
mit Arbeiten
hat eine der Inkunabeln des
von Sophie Calle,
amerikanischen Regionalismus
Cindy Sherman,
gemalt: Christina’s World.
Laurie Simmons
Wyeths verstörend detailund Paul Thek
lierter, effektvoll kinemageht man hier
tografischer Stil ist bis
der Frage nach,
heute umstritten. Der
welche Faktoren
Kunsthistoriker Robert
uns eigentlich zu
Rosenblum nannte Andrew
dem machen, was
Wyeth einmal den unter- und
wir sind. Und,
überschätztesten Künstler –
natürlich, wie
gleichzeitig. Anlässlich seiner
viele. gb
ersten Retrospektive in Europa
wird es höchste Zeit für eine
LYNN HERSHMAN
Revision. WOE
LEESON Reach, 1986
ENCORE
80
TO
I
& O O
I
DS
ECO
R
L
TAV NYL F T GRAF E R
IK —
L. A. TR AU M FA BR
—
A U K TI O N EN
N
—
WERTSACHE
K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL AU
K
DER AUGEN BLIC
August
Kopisch
Alte Nationalgalerie, Berlin
AMIE
SIEGEL
VILLA STUCK,
München
12.03. –
05.06.2016
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98
2
BR
Heute ist der ChandigarhChair ein sehr teurer KlassiAN
1
ker aus den 50er-Jahren.
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DU
19.03.
–
17.07.2016
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Doch als Amie Siegel ihn vor
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a v i d B o w i e , a u s Fa
ein paar Jahren in einem
Auktionskatalog entdeckte,
wunderte sie sich: Gerade
hatte sie das Teakholzmöbel
noch auf den Fotos eines
27.02 – 16.05.2016
Freundes gesehen, der Le
Corbusiers indische IdealDas Comeback des Vinyls ist nur zu
stadt besucht hatte. Dort
begrüßen. Selbst wenn man keinen
fungierte es als Bürostuhl –
Plattenspieler besitzt. Denn die 31,5 mal
ab den Achtzigern endete es
31,5 Zentimeter des Pappschubers, in
freilich immer öfter als
denen die traditionellen 12-Zoll-TonträSperrmüll und Feuerholz.
ger stecken, eignen sich ideal zur PräsenDer Krater des Vesuvs mit dem Ausbruch von 1828, 1828
Siegel ging der Sache nach.
tation von Fotokunst. Das zeigt nun das
Fotomuseum in Winterthur. Unter den
Als die Berliner Nationalgalerie vor fünf Jahren ihr 150. Sie drehte einen Film, der
500 ausgestellten Schallplatten sind einige Jubiläum feierte, hatte man im Depot gerade
in die Geschichte eingegangen. Bestenfalls einen ungeheuren Fund gemacht: ein
sogar in die Musik- wie in die Kunstgehöchst dramatisches Gemälde, das sein
schichte gleichzeitig, denn das Artwork
Schöpfer August Kopisch als Sumpflanddes Covers und der Sound auf A- und
schaft am Tyrrhenischen Meer beschrieb, „in
B-Seite können eine geradezu kongeniale welches die Sonnenscheibe so eben versinken
Mischung eingehen. Als Spontan-DJ
will“. Seine farbigen Werbeworte richtete
möchte man nacheinander Kraftwerks
Kopisch an den Bankier Joachim Heinrich
Kraftwerk von 1970,
Wilhelm Wagener. Dessen
Grace Jones’ Island
Sammlung wurde Grundstock
Life von 1985 und
der Nationalgalerie, doch
Provenance, 2013
Les Reines ProchaiKopisch geriet in Vergessennes’ Jawohl, sie
heit. Nun entdeckt das Haus ihn wieder: den Werdegang eines
kann’s. Sie hat’s
Exemplars minutiös rückverKopisch (1799 bis 1853) war nicht nur
geschafft von 1990
folgt. Dieser und sechs
halluzinierender Spätromantiker an der
auflegen und sich
Staffelei, sondern eine Art genius universalis. andere ihrer ruhigen, oft
dabei in die Kunst
architektonisch inspirierten
Er übersetzte Dantes Göttliche Komödie,
von Bernd und Hilla
Filme sind nun in der ersten
dichtete Die Heinzelmännchen, gehörte
Becher, Jean-Paul
musealen Einzelausstellung
zur Unsinnsgesellschaft um Franz
Goude und Pipilotti
Schubert, beriet das königlich-preußische der amerikanischen KünstleRist vertiefen. Wer
rin (geb. 1974) zu sehen –
Hofmarschallamt, wurde Held eines
wollte sich da noch
darunter Aufnahmen von
neapolitanischen Volkstheaters – und
mit so etwas gänzDDR- und Nazibauten sowie
weil er so ein guter Schwimmer war,
lich Unsinnlichem
ein neuer Film, der die
entdeckte er ganz nebenbei die Blaue
wie Streams
modernistische Villa Savoye
Grotte in Capri und trägt damit
oder mp3-Dateien
bei Paris in Poissy ins Visier
eine gewisse Mitverantwortung für die
abgeben? woe
nimmt. GB
Italienliebe der Deutschen. WOE
Fotomuseum
Winterthur
JEAN-BAPTISTE MONDINO
Prince, Lovesexy, 1988
JEAN-PAUL GOUDE
Grace Jones, Island Life, 1985
ENCORE
81
DER AUGENBLICK
sorgsam gekämmt ist): wie von
einem Mädchen geliehen.
Der als Bühne gestufte
Filzfußboden, der Fleck darauf,
die kunstlederbezogenen
Stühle – ein amerikanisches
Klassenzimmer eben. Die
Welt des Glamours ist das nicht.
Die Schlichtheit des Ortes
jedoch wird mit voller bildlicher
Brillanz transportiert: weil
Judith Joy Ross mit einer
Architekturkamera fotografiert.
as sei allen gesagt, die
Würde man das Original 1:1
glauben, die USA hätten wiedergeben, nähme es fast die
keine Kultur: Jede
gesamte Seite dieses Magazins
bessere Highschool betreibt
ein. Schwere, aber präzise
eine marching band und eine
gefeilte Technik gehörte lange
stage band, und wer da mitma- zur amerikanischen Tradition.
chen will, muss SechzehntelKaum vorstellbar heute,
noten im Takt spielen können. wo Klein & Schnell den Markt
Hier haben wir John Lonczynski beherrschen.
in Mr. Joseph Rosato’s Band
Die Fotografin Ross wird
Class, Hazleton Area High School. bewundert für die Sorgfalt
So heißt das Bild. Dass die
ihres sozialen Protokolls, für ihr
Fotografin es ernst meint,
exzeptionelles „natürliches“
wird der junge Bassist bereits
Licht. Ein Kunstmarktstar ist sie
mitbekommen haben. Sie
nie geworden, aber Klassikerin
scheint die ganze Schule zu
des Porträts sehr wohl. Gerade
fotografieren, auf den Fluren,
deutsche Museumsleute haben
in der Bibliothek; sogar
sie früh unterstützt.
Lehrer, aber nicht so, wie SchulDie Schulen von Hazleton –
fotografen das tun würden.
eine Bergbaustadt mit dem
Sie will ja auch nichts verkaufen. typischen Schicksal – hat sie
Er nun, John, weiß der Situanicht zufällig als Thema einer
tion durchaus etwas abzugeArbeit gewählt, die drei Jahre
winnen. Er präsentiert und
in Anspruch nahm. „Judy“
verbirgt sich zugleich. Er stellt wurde dort, im Binnenland
sich als Musiker dar, verweiPennsylvanias, vor 70 Jahren
gert sich aber als Modell. Seine geboren.
Matte ist keineswegs typisch
ULF ERDMANN ZIEGLER
für die Mode der Zeit (wir
schreiben das Jahr 1994), aber
sie gehört zum Outfit der
ewigen Rock ’n’ Roller. Death
Metal ist gerade durch,
während der nachgewachsene
Bruder mit mehr Gefühl,
Grunge, junge Hörer zu Hause
abholt, jedenfalls die melancholischen. Ungewöhnlich nur,
wie samten und unschuldig
ihm das Haar ins Gesicht fällt
(oder noch wahrscheinlicher
NACHGEWACHSENER
BRUDER
Eine Fotografie und ihre Herkunft
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JUDITH JOY ROSS
John Lonczynski in Mr. Joseph Rosato’s Band Class, Hazleton Area High School,
1994, Hazleton, Pennsylvania
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DIE NÄCHSTE AUSGAB AM
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VON BL AU ER SCHEIN
26. MÄ RZ 2016 IN
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DER WELT UND DA NACHL
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Auktionswoche 19. – 21. April
Alte Meister
Gemälde des 19. Jahrhunderts
Antiquitäten, Juwelen
Palais Dorotheum, Wien, Tel. +43-1-515 60-570
Pieter Brueghel II, Die Vogelfalle (Ausschnitt), Öl auf Holz,
45,5 x 58,3 cm, € 700.000 – 900.000, Auktion 19. April