Gi es se re i-V er la g GRAFIKEN: IEHK, RWTH AACHEN TECHNOLOGIE & TRENDS Einfluss der Temperatur auf die Bruchflächenausbildung von Kerbschlagbiegeproben aus Experiment und Simulation. Die Farbcodierung kennzeichnet die vorliegende plastische Vergleichsdehnung. Die Zähigkeitscharakterisierung im Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuch Über die Ursachen von unterschiedlichen Übergangstemperaturen VON SEBASTIAN MÜNSTERMANN, JUNHE LIAN UND BENEDIKT DÖBEREINER, AACHEN © G usseisenlegierungen finden aufgrund ihrer gezielt einstellbaren mechanischen Eigenschaften und ihrer guten Verfügbarkeit vielfältige Einsatzgebiete. Die Anforderungsprofile bezüglich der mechanischen Eigenschaften der Werkstoffe stellen immer größere Herausforderungen dar – beispielsweise durch Tieftemperatureinsatz oder optimierte Streckgrenzenausnutzung – und führen dazu, dass die Nachweisverfahren zur Vermeidung von Sprödbruch auch einen immer größeren Stellenwert in der Bauteilauslegung einnehmen. 30 GIESSEREI 102 05/2015 Die Zähigkeitseigenschaften von Gusseisenlegierungen unterliegen einer ausgeprägten Temperaturabhängigkeit, die auf die Konkurrenz der beiden mikroskopischen Bruchmechanismen Gleit- und Spaltbruch zurückzuführen ist [1-2]. Die Zähigkeitseigenschaften werden deshalb anhand von Übergangstemperaturen charakterisiert, die in der Regel auf der Basis von Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuchen ermittelt werden. Es zeigt sich allerdings bei vielen modernen Gusseisenlegierungen immer wieder eine große Diskrepanz zwischen den Übergangstemperaturen, die in den beiden genannten Versuchstechniken ermittelt werden. Dies wird auch für den im Rahmen der hier beschriebenen Untersuchungen verwendeten Werkstoff GJS-400-18U-LT anhand von Bild 1 deutlich. Dabei kann sogar ein vergleichsweise großer Temperaturbereich identifiziert werden, in dem laut Bruchmechanikversuch noch Hochlagenverhalten*, aber laut Kerbschlagbiegeversuch bereits unerwünschtes Tieflagenverhalten vorliegt. Wenn dieser Temperaturbereich den niedrigsten Einsatztemperaturen des auszulegenden Bauteils entspricht, ist der Berechnungsingenieur mit unterschiedlichen Aussagen hinsichtlich des Werkstoffwiderstandes konfrontiert und kann den Sprödbruch des Bauteils nicht zuverlässig ausschließen. In diesem Beitrag wird deshalb ein schädigungsmechanischer Modellierungsansatz vorgestellt, mit dem sowohl Kerbschlagbiege- als auch Bruchmechanikversuche simuliert werden können. Das Schädigungsmodell hat einen phänome- *Hochlage – Bereich hoher Zähigkeitswerte, anzutreffen bei höheren Temperaturen, zurückzuführen auf Gleitbruchvorgänge, Tieflage – Bereich niedriger Zähigkeitswerte, anzutreffen bei tieferen Temperaturen, zurückzuführen auf Spaltbruchvorgänge. Zur Bewertung der Zähigkeit von Gusseisenlegierungen werden in der Regel Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuche herangezogen. Die stark voneinander abweichenden Ergebnisse dieser beiden Versuchstechniken, insbesondere im Übergangsbereich zwischen Hoch- und Tieflage, führen bei vielen Konstrukteuren und Berechnungsingenieuren allerdings zu Unsicherheiten hinsichtlich der Bauteilsicherheit. Im vorliegenden Beitrag werden deshalb mit Hilfe von schädigungsmechanischen Untersuchungen die wesentlichen Gründe für die unterschiedlichen Aussagen der beiden Versuchsarten identifiziert. Die Spannung in einem Materialpunkt wird mit Hilfe eines (3 × 3)-Spannungstensors σ charakterisiert. Er kann mit Hilfe einer Achsentransformation in den Hauptspannungsraum „gedreht“ werden, sodass nur noch die drei Hauptspannungen σ1, σ2 und σ3 auftreten, wohingegen alle Schubspannungen verschwinden. Ferner lässt sich der Spannungstensor in hydrostatische und deviatorische Anteile zerlegen: s = s + pI(1) 1 p = - –– tr (s) 3 (2) ∙ ∙ 1 0 0 I = 0 1 0 0 0 1 © s ist der deviatorische Spannungstensor (kurz: Spannungsdeviator). Aus dem Spannungstensor und dem Spannungsdeviator lassen sich drei Invarianten I1, J2 und J3 ableiten, welche nachfolgend zur Bewertung des lokalen Spannungszustandes herangezogen werden: I1 = tr(s)(3) J2 = –12 s: s(4) J3 = det (s)(5) Aus diesen Invarianten lassen sich mit der Spannungsmehrachsigkeit η und dem Lodewinkel θ zwei Größen ableiten, welche den im betrachteten Materialpunkt Übergangskurve Experimente a b 120 Kmat in MPa • m1/2 Kerbschlagarbeit in J 32 24 16 8 0 -200 -100 0 100 90 60 30 0 -200 200 Übergangskurve Experimente Temperatur in °C -100 0 100 200 Temperatur in °C Bild 1: Übergangskurven aus Kerbschlagbiege- (a) und Bruchmechanikversuch (b) für den Werkstoff GJS-400-18U-LT (Kmat – materialspezifischer kritischer Spannungsintensitätsfaktor). Ausgleichskurve Experimente 2,5 Verhältnis von Festigkeit zu Referenzfestigkeit Hybrides Schädigungsmodell zur Zähigkeitsmodellierung mit: KURZFASSUNG: Gi es se re i-V er la g nologischen Charakter und berücksichtigt die Einflüsse von Temperatur und Dehnrate auf die Verfestigung des Werkstoffs. Zudem beschreibt sein Schädigungsevolutionsgesetz die Konkurrenz zwischen den beiden Bruchmechanismen Spalt- und Gleitbruch. Das Modell wird erfolgreich für die Simulation von Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuchen an einem Werkstoff der Sorte GJS-400-18U-LT eingesetzt. Da die Simulationsergebnisse in allen betrachteten Fällen sehr gut mit den experimentellen Werten übereinstimmen, wird geschlussfolgert, dass sich die Ursache für die stark voneinander abweichenden Übergangstemperaturen in Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuchen bereits aus den eingesetzten Materialparametern ableiten lässt. Diese Ableitung wird nachfolgend vorgenommen. 2,1 1,7 1,3 0,9 0,5 -200 -125 -50 25 100 Temperatur in °C Bild 2: Einfluss der Temperatur auf die Festigkeit des Werkstoffs GJS-400-18U-LT. vorliegenden Spannungszustand eindeutig charakterisieren: net sich aus dem zuvor vorgestellten Lodewinkel anhand folgender Gleichung: I1 h = - –– (6) !§ 3J2 u = 1- –– p I 3!§ 3 J3 u = - –– arccos ––––– ––– 3 2 J 32 1 2 2 (7) Zur besseren Handhabung wird der Lodewinkel in normierter Darstellung verwendet. Der normierte Lodewinkel oder auch Lodewinkelparameter kann Werte zwischen -1 und 1 annehmen und errech- 6u (8) Um bewerten zu können, ob die Spannung in einem Materialpunkt ausreicht, um plastische Verformungen hervorzurufen, wird aus dem (3 × 3)-Spannungstensor σ eine skalare Größe σe abgeleitet, die mit der im einachsigen Zugversuch ermittelten Fließspannung σyld des Werkstoffs verglichen wird. Dies lässt sich mit Hilfe GIESSEREI 102 05/2015 31 TECHNOLOGIE & TRENDS eines Fließpotenzials ϕ ausdrücken: f = se - syld ≤ 0 (9) Solange die Vergleichsspannung im Materialpunkt kleiner ist als die Fließspannung des Werkstoffs, ist das Fließpotenzial negativ und die Verformungen sind elastisch. Erreicht hingegen die Vergleichsspannung den Wert der Fließspannung, dann gilt ϕ = 0 und der Materialpunkt beginnt, sich plastisch zu verformen. se =ÎWWWWWWWW –-2 [(s1–s2)2 –(s2–s3)2 –(s3–s1)2 ]. (10) 1 nung und in diesem Fall auch die Vergleichsspannung an den beiden benannten Stellen gleich groß ist, dann ist die Hauptspannung σ1 in der Bruchmechanikprobe deutlich größer als in der Kerbschlagbiegeprobe. >Da die für das Tieflagenverhalten charakteristischen Spaltbruchvorgänge dadurch ausgelöst werden, dass die aufgebrachte Zugspannung (in anderen Worten: die erste Hauptspannung σ1) die Spaltbruchspannung σc des Werkstoffs überschreitet, ist unter den benannten quasistatischen Randbedingungen die Spaltbruchauslösung eher in der Bruchmechanik- als in der Kerbschlagbiegeprobe zu erwarten. Diese theoretische Herleitung widerspricht allerdings den einleitend vorgestellten Beobachtungen aus der Praxis! >Der Widerspruch wird dadurch aufgelöst, dass die Prüfung der Kerbschlagbiegeprobe nicht unter quasistatischen, sondern unter adiabatischen Randbedingungen erfolgt. Der hohe positive Einfluss der Dehnrate auf die Festigkeit des Werkstoffs im Vergleich zum nicht so stark ausgeprägten Temperatureinfluss sorgt offensichtlich dafür, dass bei gleicher plastischer Gi es se re i-V er la g Zur Bestimmung der Vergleichsspannung σe aus dem Spannungstensor σ wird für metallische Werkstoffe häufig der „von Mises“-Ansatz herangezogen: Aus der zuletzt genannten Definition ergibt sich bereits ein interessanter Zusammenhang. Es kann geschlussfolgert werden, dass in zwei Materialpunkten, die bei gleicher Vergleichsspannung und gleichem Lodewinkel, aber bei unterschiedlicher Spannungsmehrachsigkeit belastet werden, die Hauptspannung σ1 in dem Materialpunkt größer ist, der einer höheren Spannungsmehrachsigkeit ausgesetzt ist. Genau dieser zunächst etwas konstruiert wirkende Fall tritt aber im Vergleich der hochbeanspruchten Zonen von Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikproben auf: >Beide werden zumindest nahe am ebenen Dehnungszustand, also bei einem annähernd identischen normierten Lodewinkel beansprucht. >Aufgrund des scharfen Ermüdungsanrisses liegt jedoch die Spannungsmehrachsigkeit in Bruchmechanikproben vor der Spitze des Ermüdungsrisses bei Werten von η > 2, wohingegen in den nur V-förmig gekerbten Kerbschlagbiegeproben die Spannungsmehrachsigkeit unterhalb des Kerbgrundes bei ungefähr η = 1 liegt. >Werden nun beide Proben unter quasi statischen Randbedingungen so belastet, dass die plastische Vergleichsdeh- Wird nicht auf alle drei Hauptspannungen, sondern nur auf die erste Hauptspannung σ1 sowie auf die beiden Spannungszustandsparameter Spannungsmehrachsigkeit η und Lodewinkel θ zurückgegriffen, dann lautet eine alternative Bestimmungs möglichkeit für die „von Mises“-Vergleichs spannung σe: (11) © s1 se = –––––– –– h+ 32 cosu 32 [email protected] GIESSEREI 102 05/2015 f = se - (1-D)syld («, «, T) mit: 1,12 1,09 1,06 1,03 1 0 100 200 300 400 Gi es se re i-V er la g Die vorgestellten Überlegungen haben dazu geführt, dass die Einflüsse von Temperatur und Dehnrate auf die Festigkeit des Werkstoffs im Schädigungsmodell berücksichtigt wurden. Dazu wurde der in [3, 4] entwickelte Ansatz verwendet. Ferner wird auch der Einfluss der Schädigung auf die Festigkeit erfasst. Hierzu wird eine skalare Schädigungsvariable D eingeführt, die den Grad der Schädigung des Materialpunktes beschreibt (0 ≤ D ≤ 1). Demnach lautet das erweiterte Fließpotenzial: Ausgleichskurve Experimente 1,15 Verhältnis von Festigkeit zu Referenzfestigkeit Vergleichsdehnung eine höhere Vergleichsspannung in der Kerbschlagbiegeprobe vorliegt. Dieser Einfluss übertrifft dann sogar den Einfluss der größeren Spannungsmehrachsigkeit in der Bruchmechanikprobe, sodass es eher in der Kerbschlagbiege- als in der Bruchmechanikprobe zur Spaltbruch auslösung kommt. 1 p Dehnrate in 1/s Bild 3: Einfluss der Dehnrate auf die Festigkeit des Werkstoffs GJS-400-18U-LT. p s (« )ref eferenzfließkurve, ermittelt im R einachsigen, quasistatischen, isothermen Zugversuch bei Raumtemperatur (12) 2 3 p syld= [s(«p)ref ·(c « ·ln« +c-« )+c-« ·« ] · (13) © · [c 1T · exp (c 2T · T)+c 3T ] Für die Schädigungsvariable wird ein Evolutionsgesetz verwendet, welches die Konkurrenzsituation der beiden Bruchmechanismen Gleit- und Spaltbruch berücksichtigt. Dabei wird zunächst eine duktile Schädigungsvariable Dductile auf der Ba- sis eines dehnungsbasierten Kriteriums bestimmt. Im Fließpotenzial wird dieser Wert allerdings nur verwendet, sofern nicht auch ein spannungsbasiertes Spaltbruchkriterium erfüllt wird. Ist dies hingegen der Fall, wird der Materialpunkt als vollständig geschädigt betrachtet (D = 1), sodass eine Auswertung des Fließpotenzials dazu führt, dass keine Spannungsübertragung durch den Materialpunkt mehr möglich ist. KBO_Puxit_MH.indd 1 5216_KBO.indd 1 03.05.2007 13:39:02 Uhr 26.10.11 08:52 KBO_Messehinweis.indd 1 10.03.15 09:13 GIESSEREI 102 05/2015 33 TECHNOLOGIE & TRENDS Ausrundung der Rissspitzen kommt, weil ab diesem Moment Gleitbruchvorgänge zu erwarten sind [8]. Vereinfachend wird angenommen, dass diese größte zulässige plastische Dehnung der zuvor vorgestellten duktilen Schädigungsinitiierungsdehnung entspricht. Dementsprechend lautet das gekoppelte Schädigungsevolutionsgesetz: Verhältnis von Festigkeit zu Referenzfestigkeit 1,20 1,14 1,08 1,02 GJS-400-18U-LT S960Q TiAl6V4 0,96 0,90 100 200 300 400 5 D= 1; Dductile; cmi «<« (h,u) cmi i cmi i « (h,u)≤«<«(h,u)l s1< sc « (h,u)≤«<«(h,u)l s1< sc i « (h,u)≤« Gi es se re i-V er la g 0 Dductile; Dductile; Dehnrate in 1/s (16) Bild 4: Dehnratensensitivität der Werkstoffe GJS-400-18U-LT, TiAl6V4 und S960Q. Bestimmung der Modellparameter für den Werkstoff GJS-400-18U-LT Zur Berechnung der duktilen Schädigungsvariablen wird angenommen, dass zunächst eine vom Spannungszustand abhängige Schädigungsinitiierungsdehnung aufgebracht werden muss. Die Definition dieser Initiierungsdehnungen geht auf die in [5-7] beschriebenen Arbeiten zurück. Die Abhängigkeit der Grenzdehnungen vom Spannungszustand lautet: i 1 2 3 4 2 3 4 « = [ci e -c i h -ci e -c i h ] u + ci e -c i h (14) 5 i 0; «<« (h,u) Re « i f Dductile= G #«i d«; « (h,u)≤«≤« (h,u) f f « (h,u)<« Dcrit (h,u); (15) Hinsichtlich der Überprüfung einer Spaltbruchauslösung wird angenommen, dass es zunächst zur Ausbildung von mikroplastischen Verformungen des Materialpunkts kommen muss, damit mikroskopisch kleine Anrisse entstehen können, die sich unter der Wirkung ausreichend großer Zugspannungen instabil ausbreiten. Andererseits dürfen die Deformationen nicht so groß werden, dass es zur Die Untersuchungen wurden für einen duktilen Gusseisenwerkstoff der Sorte GJS-400-18U-LT durchgeführt. Im ersten Schritt der Parameterbestimmung wurden die Einflussgrößen auf die Fließspannung des Werkstoffs untersucht. Hierbei handelt es sich um die plastische Dehnung, die Dehnrate und die Temperatur. Der Dehnungseinfluss wird mit Hilfe der Referenzfließkurve erfasst. Deshalb wurde ein quasistatischer Zugversuch bei Raumtemperatur durchgeführt, um die Referenzfließkurve zu bestimmen. Dabei wurden der E-Modul zu 140 GPa, die Dehngrenze zu 240 MPa, die Zugfestigkeit zu 365 MPa, die Gleichmaßdehnung zu 17,8 % und die Bruchdehnung zu 23,6 % bestimmt. Anschließend wurden quasi statische, isotherme Zugversuche im Temperaturbereich von -196 °C bis 10 °C durchgeführt. Bild 2 zeigt die in diesen Versuchen ermittelte Temperaturabhängigkeit der auf die im Referenzversuch bei Raumtemperatur normierten © Solange die lokale plastische Vergleichsdehnung kleiner ist als die Schädigungsinitiierungsdehnung, gilt D = 0. Für weiter gesteigerte Dehnungen gilt dann ein linearer Zusammenhang zwischen der duktilen Schädigungsvariablen Dductile und der plastischen Vergleichsdehnung, wobei die Steigung dieser Geraden von der materialspezifischen Energiedissipation Gf zwischen Schädigungsinitiierung und vollständiger Schädigung des Materialpunktes gesteuert wird. Um die Interaktion zwischen benachbarten, duktil geschädigten Materialpunkten im Modell zu erfassen, wird zudem eine vom Spannungszustand abhängige kritische Schädigung Dcrit formuliert. Dementsprechend lautet das Evolutionsgesetz für die duktile Schädigung: Bild 5: Geometrie der Proben zur Bestimmung der Parameter des Evolutionsgesetzes für duktile Schädigung. 34 GIESSEREI 102 05/2015 Gi es se re i-V er la g Festigkeiten. Anschließend wurden Hochgeschwindigkeitszugversuche durchgeführt, um den Dehnrateneinfluss auf die Werkstofffestigkeit zu untersuchen. An den ermittelten adiabatischen Kurven wurde danach mit Hilfe von begleitenden numerischen Simulationsrechnungen eine Temperaturkompensation durchgeführt, um isotherme Fließkurven für hohe Dehnraten zu konstruieren. In Analogie zur Beschreibung der Temperatureffekte zeigt Bild 3 die anhand dieser Daten ermittelte Dehnratenabhängigkeit der auf die Referenzwerte normierten Festigkeitseigenschaften. Die in Bild 3 und Bild 4 gezeigten Ausgleichskurven geben eine funktionale Beschreibung der beobachteten Abhängigkeiten und basieren auf einer Anpassung der in der Fließspannungsdefinition mit „c“ und doppelt indiziert bezeichneten Parameter. Da sich aufgrund der Vorüberlegungen abzeichnete, dass den Dehnrateneinflüssen zur Benennung der Ursachen für die deutlich unterschiedlichen Übergangstemperaturen aus Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuch eine besondere Bedeutung beizumessen ist, zeigt Bild 4 auch die für andere Werkstoffe auf gleiche Weise bestimmte Dehnratenabhängigkeit der Festigkeiten. Es wird deutlich, dass Bild 6: Duktiler Schädigungsinitiierungslokus des Werkstoffs GJS-400-18U-LT. Dehnratensensitivität ermittelt. Im zweiten Schritt der Parameterbestimmung wurde das Evolutionsgesetz für die duktile Schädigung kalibriert. Zu diesem Zweck wurden quasistatische, isotherme Versuche an gekerbten Rundzugproben und an einseitig gekerbten Biegeproben © die Dehnrateneinflüsse beim untersuchten Werkstoff deutlich ausgeprägter sind als beispielsweise bei einem unlegierten vergüteten Baustahl mit einer Festigkeit von mehr als 1000 MPa. Für eine Titanlegierung wurde allerdings in der jüngeren Vergangenheit auch eine noch größere GIESSEREI 102 05/2015 35 TECHNOLOGIE & TRENDS Gi es se re i-V er la g initiierungslokus erfasst werden. Er weist eine untypische Krümmung über die Achse des normierten Lodewinkels auf, denn für alle bisher nach gleichem Verfahren untersuchten Stähle und Titanlegierungen ergeben sich die minimalen (und eben nicht wie beim hier betrachteten Werkstoff GJS-400-18U-LT die maximalen) kritischen Dehnungen für einen normierten Lodewinkel von null. Neben dem bereits angesprochenen Dehnrateneinfluss ergibt sich hieraus eine zweite Ursache für die ausgesprochen starke Diskrepanz der Übergangstemperaturen aus Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuch. Nach der Ermittlung des duktilen Schädigungsinitiierungslokus erfolgte noch die Anpassung der weiteren Parameter des duktilen Schädigungsinitiierungslokus in einem iterativen Verfahren, welches darauf abzielt, eine optimale Übereinstimmung zwischen experimentellen KraftVerformungs-Kurven und den in numerischen Simulationen ermittelten Kurven zu erzielen. Das Ergebnis dieser Anpassung ist in den Bildern 7 und 8 zu erkennen. Offensichtlich ist es gelungen, sowohl für die Kerbzugversuche (Bild 7) als auch für die Biegeversuche (Bild 8) für den gesamten Verformungsbereich eine zuverlässige Beschreibung des Werkstoffverhaltens aus einem einzigen Satz an Materialparametern heraus zu erzielen. Im dritten Schritt der Parameterbestimmung erfolgte die Kalibrierung der Materialparameter für das Spaltbruchkriterium. Vereinfachend wurde angenommen, dass es unmittelbar mit dem Beginn der plastischen Verformung zur Entstehung der Mikrorisse kommt, welche sich bei ausreichend hoher Zugspannung instabil ausbreiten. Diese kritische Zugspannung wurde ermittelt, indem Biegeproben bei sehr tiefen Temperaturen belastet wurden und die am Rissursprung wirkende Zugspannung σ1 mit Hilfe einer numerischen Spannungsanalyse bestimmt wurde. Bild 7: Kraft-Verlängerungs-Kurven aus Zugversuchen an gekerbten Rundzugproben; Ergebnisse aus Experiment und Simulation. © Bild 8: Kraft-Kerbaufweitungs-Kurven aus Biegeversuchen an einseitig gekerbten Proben; Ergebnisse aus Experiment und Simulation. bei Raumtemperatur durchgeführt. Die verwendeten Probengeometrien zeigt Bild 5. Während der Versuche wurde kontinuierlich der elektrische Widerstand der Proben bestimmt. Die Vergrößerung des elektrischen Widerstandes während des Versuchs kann sowohl auf geometrische Effekte wie Probenverlängerung oder -einschnürung als auch auf Schädigungseffekte zurückgeführt werden. Die erstgenannten Einflussgrößen können aber mit Hilfe von elektro-mechanischen Modellen erfasst werden, sodass es gelingt, denjenigen Belastungszustand zu separieren, 36 GIESSEREI 102 05/2015 in dem die duktile Schädigung im ingenieurwissenschaftlichen Sinn zu einer Werkstoffentfestigung führt. Mit Hilfe von begleitenden Finite-Elemente-Simulationen wurden anschließend für die wie beschrieben identifizierten kritischen Belastungen die am Schädigungsinitiierungsort wirkenden lokalen plastischen Vergleichsdehnungen sowie die Parameter zur Beschreibung des Spannungszustandes (Spannungsmehrachsigkeit und normierter Lodewinkel) ermittelt. Mit dieser Vorgehensweise konnte schließlich der in Bild 6 dargestellte duktile Schädigungs- Anwendung des Modells auf Bruchmechanik- und Kerbschlagbiegeversuche Unter Verwendung des wie beschrieben kalibrierten Modells wurden einige der Bruchmechanik- und Kerbschlagbiegeversuche simuliert, welche zur Bestimmung der in Bild 1 dargestellten Übergangskurven durchgeführt wurden. Die Simulationen der Kerbschlagbiegeversuche erfolgten für die Temperaturen 50 °C, 20 °C, 0 °C, -20 °C, -40 °C und -140 °C, weil diese Temperaturen den Bereichen der Hochlage, des Übergangsgebietes und der Tieflage zuzuordnen sind. Die Simulatio- b 120 Kmat in MPa • m1/2 32 Übergangskurve Experimente Simulationen 24 16 8 0 -200 -100 0 100 90 60 30 0 -200 200 Temperatur in °C Übergangskurve Experimente Simulationen -100 0 100 200 Temperatur in °C Gi es se re i-V er la g Schlussfolgerungen a Kerbschlagarbeit in J nen der Bruchmechanikversuche erfolgten für -140 °C, -80 °C, -60 °C, -40 °C und 20 °C. Wie Bild 9 zeigt, konnten die Übergangskurven mit guter Genauigkeit von den Simulationsergebnissen beschrieben werden. Dies belegt die grundsätzliche Anwendbarkeit des Modells zur Zähigkeitscharakterisierung. Darüber hinaus ergibt sich hieraus, dass sich die Ursachen für die Diskrepanz der Übergangstemperaturen bereits aus den eingesetzten Materialparametern ableiten lassen müssen. Bild 9: Übergangskurven aus Kerbschlagbiege- (a) und Bruchmechanikversuch (b) für den Werkstoff GJS-400-18U-LT; Ergebnisse aus Experiment und Simulation. zu einer schnellen Evolution der duktilen Schädigung, sodass die benachbarten Elemente schnell hoch belastet werden. Dieser Zusammenhang betrifft zunächst sowohl die Bruchmechanik- als auch die Kerbschlagbiegeversuche, er wird allerdings durch die benannten Dehnrateneffekte im Kerbschlagbiegeversuch verstärkt. Dr.-Ing. Sebastian Münstermann, M.Sc. Junhe Lian und M.Sc. Benedikt Döbereiner, RWTH Aachen, Institut für Eisenhüttenkunde Literatur: [1] American Society for Metals: Metals Handbook. 9th edition, Vol. 1: Properties and Selection: Iron and Steels, Metals Park, Ohio, USA, 1978. [2] Journal of Metals 37 (1985), [Nr. 1], S. 74-76. [3] Journal of Materials Processing Technology 214 (2014), S. 599-611. [4] Fatigue and Fracture of Engineering Materials and Structures 36 (2013), [Nr. 8], S. 779-794. [5] Engineering Fracture Mechanics 21 (1985), S. 31-48. [6] International Journal of Plasticity 24 (2008), S. 1071-1096. [7] International Journal of Damage Mechanics 22 (2013), S. 188-218. [8] Metallurgical Transactions A 14A (1983), S. 2277-2287. © Ein wesentlicher Grund für die stark voneinander abweichenden Übergangstemperaturen aus Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuch ist die ausgeprägte Dehnratensensitivität des untersuchten duktilen Gusseisenwerkstoffs. Die unerwartete Abhängigkeit der plastischen Vergleichsdehnung bei duktiler Schädigungsinitiierung vom normierten Lodewinkel wirkt sich ebenfalls auf die Übergangstemperaturen aus. Dies liegt daran, dass das Gleitbruchkriterium nicht bei vergleichsweise niedrigen Dehnungen aktiviert wird, sodass infolge der Verfestigung des Werkstoffs das spannungsbasierte Spaltbruchkriterium greifen kann. Bei der Anpassung des Parametersatzes für die Evolution der duktilen Schädigung ergab sich ein auffallend niedriger Wert für die charakteristische Energiedissipation zwischen Schädigungsbeginn und vollständiger Schädigung. Dies führt GIESSEREI 102 05/2015 37
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