Terrorismusbekämpfung mit unerlaubten Mitteln?

ÖGfE Policy Brief 41’2015
Terrorismusbekämpfung mit unerlaubten Mitteln?
Warum bemüht Frankreich das Szenario der „Beistandsklausel“ und nicht das der „Solidaritätsklausel“?
Von Waldemar Hummer
Wien, 25. November 2015
ISSN 2305-2635
Handlungsempfehlungen
1.Zwischen der militärischen Beistandsklausel und der Solidaritätsklausel der EU
ist für den Fall massiver Terrorangriffe genauer zu differenzieren.
2.Ebenso ist präziser zu regeln, ab wann das Ausmaß terroristischer Aktivitäten
zweifelsfrei einem „bewaffneten Angriff“ entspricht, der erst das Recht auf
(kollektive) Selbstverteidigung auslöst.
3.Zuletzt sollte die EU für Konflikte von Mitgliedstaaten mit nicht-staatlichen
Einheiten ein einheitliches Vorgehen festlegen.
Zusammenfassung
Mit der (erstmaligen) Anrufung der Beistandsklausel
des Art. 42 Abs. 7 EUV durch Frankreich zur Bekämpfung der Terrormilizen des Islamischen Staates
wurde eine Fülle neuartiger sowohl völkerrechtlicher
als auch europarechtlicher Rechtsfragen aufgeworfen, von denen vor allem die der Abgrenzung der Beistandsklausel von der Solidaritätsklausel des Art. 222
Abs. 1 AEUV besondere Beachtung verdient. Da von
dieser Unterscheidung eine Reihe weiterer Anwen-
dungsprobleme abhängt, wurde im gegenständlichen
Beitrag erstmals auf diese komplexen Fragestellungen
vertieft eingegangen und deren völkerrechtliche, europarechtliche und neutralitätsrechtliche Voraussetzungen und Konsequenzen dargestellt. Die Ergebnisse
der Untersuchung zeigen vor allem den unmittelbaren
Handlungsbedarf der näheren Determinierung der Art
und Intensität des Kampfes gegen den Terror, insbesondere im Recht der EU, auf.
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ÖGfE Policy Brief 41’2015
Terrorismusbekämpfung mit unerlaubten Mitteln?
Warum bemüht Frankreich das Szenario der „Beistandsklausel“ und nicht das der „Solidaritätsklausel“?
Nach den Terroranschlägen des Islamischen
Staates (IS) in Paris am 13. November 2015, die
mehr als 130 Todesopfer gefordert hatten, erklärte Staatspräsident François Hollande anlässlich
einer Sitzung beider Kammern des Französischen
Parlaments im Schloss Versailles: „Frankreich ist
im Krieg“ und „wir müssen erbarmungslos sein“.1
Gleichzeitig ordnete er den Ausnahmezustand an
und erließ ein Demonstrationsverbot. Am 16. November 2015 rief, zum ersten Mal in der Geschichte
der EU, ein Mitgliedstaat den Bündnisfall aus und
aktivierte die militärische „Beistandsklausel“ im
Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU.2 Der französische
Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian erklärte
diesbezüglich auf einem Treffen der Verteidigungsminister der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel, dass
Frankreich auf bilateraler Ebene und „im Rahmen
ihrer Möglichkeiten“ Unterstützung der EU-Staaten
im Kampf gegen die Terrormiliz IS wünsche, die
ihm umgehend durch die Hohe Vertreterin der
EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica
Mogherini, zugesichert und durch einstimmigen
Beschluss des Rates und der im Rat vereinigten
Mitgliedstaaten vom 20. November 20153 bestätigt wurde. Nicht zuletzt verabschiedete auch der
Sicherheitsrat der VN am selben Tag eine einschlä-
gige Resolution,4 in der er sich ua auch auf die
Vorkommnisse in Paris bezog.
Im Zuge der Kommentierung dieser Vorfälle kam
es zu einer Reihe fehlerhafter bzw zumindest missverständlicher Verwendungen etablierter (Rechts)
Begriffe, die das Verständnis dieser komplexen
Situation eher erschweren, denn erhellen. Wenn
von einem „Krieg gegen die Terrormilizen des IS“5
oder davon gesprochen wird, dass die EU durch
die Anrufung des Bündnisfalls nunmehr zu einem
„Verteidigungsbündnis“ geworden ist,6 wird zu
undifferenziert argumentiert, um die gegenwärtige Bedrohungslage korrekt wiederzugeben und
allgemein verständlich zu machen. Es soll daher
nachstehend versucht werden, vor allem auf der
begrifflich-konzeptiven Ebene, die einschlägigen
völkerrechtlichen und europarechtlichen Rechtsgrundlagen darzustellen, um damit Missverständnisse soweit als möglich auszuräumen.
„Im Zuge der Kommentierung dieser
Vorfälle kam es zu einer Reihe fehlerhafter
bzw zumindest missverständlicher Verwendungen etablierter (Rechts)Begriffe, die das
Verständnis dieser komplexen Situation eher
erschweren, denn erhellen.“
1) Präsident Hollande. „Frankreich ist im Krieg“, SPIEGELON-
4) SC-Res. 2249 (2015); vgl. dazu Security Council „Unequi-
LINE, 17. 11. 2015.
vocally“ Condems ISIL Terrorists Attacks, Unanimously Adopting Text that Determines Extremist Group Poses „Unpreceden-
2) Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV: „Im Falle eines bewaffneten
ted“ Threat, UN-Press Release, SC/12132, 20 November 2015.
Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden
die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehenden
5) Vgl. Neumann, P. Keine Beweise, dass der Krieg gegen
Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta
den Terror funktioniert, Die Presse, 18. 11. 2015, S. 27; Lévy,
der Vereinten Nationen (…).“
B.-H. Krieg, eine Gebrauchsanweisung, Die Presse, 16. 11.
2015, S. 22 f.
3) Schlussfolgerungen des Rates der EU und der im Rat ver-
2
einigten Mitgliedstaaten zur Terrorismusbekämpfung, vom 20.
6) EU-Partner sichern Frankreich militärischen Beistand zu,
November 2015 (Rat-Dok. 14406/15; Press Release 848/15).
Wiener Zeitung vom 18. 11. 2015, S. 1.
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Von Formen des Staatsterrorismus abgesehen,
werden terroristische Handlungen in der Regel von
(Gruppen von) Privatpersonen begangen, sodass
schon aus diesem Grunde das Völkerrecht (samt
seinem Neutralitätsrecht) a priori nicht zur Anwendung kommt, da sich dieses ja nur auf die Beziehungen zwischen Staaten erstreckt. Aus diesem
Grunde ist es von vorrangiger Bedeutung, festzustellen, ob es sich bei der Terrororganisation IS
bereits um einen Staat iSd Völkerrechts handelt,
oder ob sich dieser lediglich als solcher bezeichnet, ohne allerdings die Staatskriterien zu erfüllen.
Würde es sich beim IS tatsächlich schon um einen
Staat handeln, dann könnte gegen ihn ohne Zweifel
Krieg geführt werden, und zwar unter Einhaltung
der Regeln des humanitären Kriegsrechts. Bei kriegerischen Kampfhandlungen verdrängen aber die
Regeln des humanitären Kriegsrechts den Menschenrechtsschutz des Friedensvölkerrechts weitgehend, ebenso wie auch die Verhältnismäßigkeit
beim Waffengebrauch und die (absolute) Vermeidung ziviler Kollateralschäden.
„Vordergründig scheint Frankreich von der
Einstufung des IS als Staat ausgegangen zu
sein, als es die Beistandsklausel des Art. 42
Abs. 7 Abs. 1 EUV anrief.“
Vordergründig scheint Frankreich von der Einstufung des IS als Staat ausgegangen zu sein, als
es die Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 Abs. 1
EUV anrief. Dieser Artikel ist analog zu Art. 51 der
Satzung der Vereinten Nationen (SVN) als System
„kollektiver Selbstverteidigung“ ausgestaltet, kann
aber nur im Falle eines „bewaffneten Angriffs auf
das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates“ durch
einen Drittstaat aktiviert werden. Frankreich stützt
sich bei seiner Anrufung offensichtlich implizit auf
die Reaktion der NATO-Mitgliedstaaten, die den
terroristischen Anschlag „9/11“ vom 11. September
2001 in New York durch Aktivisten der Al-Quaida
als „bewaffneten Angriff“ auf die USA bewertet7
und damit den sogenannten „Bündnisfall“ des Art.
5 NATO-Vertrag bestätigt haben, der danach auch
erstmals aktiviert wurde. Frankreich rief in der gegenständlichen Krise aber nicht den ihm nach dem
Präjudiz von „9/11“ ebenfalls zur Verfügung gestandenen NATO-Bündnisfall8 aus, sondern berief sich
explizit auf die EU-Beistandsklausel.
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Recht auf (kollektive)
Selbstverteidigung gegen
Terroranschläge?
Die Tatbestandsvoraussetzungen der EUBeistandsklausel sind großteils ident mit jenen
des NATO-Bündnisfalls, da auch hier die Voraussetzungen des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts vorliegen müssen, wie dies auch im
darin zitierten Art. 51 UN-Charta vorgesehen ist.
Ob die Anschläge von Paris aber tatsächlich eine
völkerrechtlich gültige Selbstverteidigungssituation
gegen einen „bewaffneten Angriff“ - klassischerweise durch einen dritten Staat - ausgelöst haben,
ist mehr als fraglich.9 Nach herrschender Meinung
handelt es sich beim IS nämlich noch um keinen
„Staat“ im völkerrechtlichen Sinn. Ganz abgesehen
von seiner fehlenden Anerkennung durch die Staatengemeinschaft - die im gegenständlichen Fall
bestrittener Staatselemente ausnahmsweise konstitutiv wäre - und der mangelnden internationalen
Verkehrsfähigkeit, verfügt der IS weder über ein
gesichertes Staatsgebiet, noch über ein dauerhaft
verbundenes Staatsvolk. Damit handelt es sich bei
der gegenständlichen Auseinandersetzung aber
um einen asymmetrischen, nicht-internationalen
7) ISd Administration des amerikanischen Präsidenten Bush
als „War on Terrorism“; vgl. dazu die beiden Resolutionen des
SR der VN: SC-Res. 1368 (2001) und Res. 1373 (2001).
8) Art. 42 Abs. 7 UAbs. 2 EUV lässt neben der Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV die (alternative) Anrufung
des Art. 5 NATO-Vertrags durchaus bestehen.
9) Vgl. Schwarz, A. Die Terroranschläge in Frankreich – ein
Fall für das Recht auf Selbstverteidigung?, http://www.juwiss.
de/83-2015
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Konflikt,10 der an sich nicht nach den Regeln des
völkerrechtlichen Kriegsrechts auszutragen ist.
Bei solchen „hybriden“ Konflikten ist nach wie
vor die herkömmliche Dichotomie der Verteidigung
gegen Angriffe von außen (Krieg), den die nationalen Streitkräfte mit Waffengewalt abwehren können,
und des Schutzes der verfassungsmäßigen Ordnung im Inneren durch Kräfte der (leicht bewaffneten) Polizei zu beachten. Selbst wenn das Militär
zur Abwehr innerstaatlicher Gewalt einschreiten
sollte, gelten die Regeln des Polizei(befugnis)
Rechts und nicht die des Kriegsrechts. Sollten
künftig Soldaten des Bundesheeres, wie dies
auch nach der Österreichischen Sicherheitsdoktrin (2013)11 vorgesehen ist, kritische Infrastrukturen gegen Anschläge schützen, ist das daher ein
sicherheitspolitischer Assistenz- und keinesfalls ein
kriegerischer Einsatz.12 Diese Unterscheidung spiegelt sich auch in der Errichtung von zwei getrennten Unterausschüssen des Nationalrates gem. Art.
52a Abs. 1 B-VG13 wider: der sog Innenausschuss
überprüft die staats- und sicherheitspolizeilichen
Maßnahmen, wohingegen der sog Landesverteidigungsausschuss die Maßnahmen zur Sicherung
der militärischen Landesverteidigung überprüft.14
10) ISd gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen zum
Schutz der Kriegsopfer (1949).
11) BKA (Hrsg), Österreichische Sicherheitsstrategie. Sicherheit in einer neuen Dekade – Sicherheit gestalten, Wien, Juli
2013.
12) Vgl. Müller, B. Den Rechtsstaat gegen Terror rüsten, Die
Terrorismusbekämpfung im Recht
der EU
Selbst wenn man aber der Ansicht sein sollte, dass es sich beim IS bereits um einen Staat
handelt, gegen den man mit kriegerischen Mitteln
vorgehen könne, sodass die Anrufung der EU-Beistandsklausel durch Frankreich gerechtfertigt sei,
bleibt noch immer die grundlegende Problematik
bestehen, dass nämlich die Gründungsverträge
der EU - neben dem System „kollektiver Selbstverteidigung“ gegenüber militärischen Aggressionen
bzw Interventionen durch dritte Staaten auf der
Basis der Beistandsklausel - durchaus das davon
abgegrenzte Phänomen terroristischer Anschläge15
kennen und dementsprechend auch eigenständig
regeln, und zwar sowohl primär- als auch sekundärrechtlich. Damit stellt sich aber sofort die Frage,
ob diese Bestimmungen in Fällen von Terroranschlägen nicht als leges speciales der Anrufung
der Beistandsklausel vorgehen.
„Selbst wenn man aber der Ansicht sein
sollte, dass es sich beim IS bereits um einen
Staat handelt, bleibt noch immer die grundlegende Problematik bestehen, dass die Gründungsverträge der EU durchaus das davon
abgegrenzte Phänomen terroristischer Anschläge kennen und dementsprechend auch
eigenständig regeln.“
Die Bekämpfung terroristischer Aktivitäten ist in
den Gründungsverträgen der EU schwerpunktmäßig an drei Stellen geregelt. Zum einen sieht Art. 43
Abs. 1 EUV die Durchführung eigener „PetersbergMissionen“ zur Bekämpfung von terroristischen
Aktivitäten vor, zum anderen ermöglicht die Solidaritätsklausel des Art. 222 Abs. 1 und 2 AEUV die
gemeinsame Abwehr terroristischer Bedrohungen
durch die EU.
Presse vom 16. 11. 2015, S. 20.
13) Eingefügt durch BGBl 1991/565.
15) Siehe dazu die Definition eines „Terroranschlags“ durch
4
14) Vgl. Holley, G. Das Recht der internationalen Terrorismus-
den Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates 13. Juni 2002
bekämpfung (2010), S. 1 f.
zur Terrorismusbekämpfung; ABl. 2002, L 164, S. 3.
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Der Vollständigkeit halber müssen in diesem Zusammenhang auch noch die „restriktiven Maßnahmen“ gegen natürliche oder juristische Personen,
sowie Gruppierungen oder nicht-staatliche Einheiten gem. Art. 215 Abs. 2 AEUV erwähnt werden,
die auch gegen Terroristen und deren Gruppierungen erlassen werden können.16
Des Weiteren bestehen eine Reihe einschlägiger sekundärrechtlicher Bestimmungen, vor allem
technisch-operativer Natur, wie zB über die Anwendung der Solidaritätsklausel17, die Erklärung
der Mitglieder des Europäischen Rates vom 12.
Februar 2015 zur Terrorismusbekämpfung18 sowie
die Passagen zur Terrorismusbekämpfung in der
„Europäischen Sicherheitsagenda“.19 Auch wurde
schon früher die Position eines eigenen „EU-Koordinators für die Terrorismusbekämpfung“, die ge-
genwärtig von Gilles de Kerchove20 eingenommen
wird, eingeführt und zum 1. Januar 2016 wird bei
EUROPOL das „Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung“ (ECTC) seine Arbeit aufnehmen.
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Dazu kommt noch die Bestimmung des Art. 75
Abs. 1 AEUV, aufgrund derer zur Verhütung und
Bekämpfung des Terrorismus eigene Verordnungen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen erlassen werden können, wozu das Einfrieren
von Geldern, finanziellen Vermögenswerten oder
wirtschaftlichen Erträgen gehören kann, deren Eigentümer oder Besitzer natürliche oder juristische
Personen, Gruppierungen oder nichtstaatliche
Einheiten sind.
Der Unterschied zwischen den vorerwähnten
beiden ersten Szenarien der Beistandsklausel und
der Solidaritätsklausel liegt darin, dass „Petersberg-Missionen“ nur außerhalb der EU, das heißt
in Drittstaaten, durchgeführt werden können21,
wohingegen die Solidaritätsklausel dann zum Einsatz kommt, wenn sich ein Terroranschlag in einem
Mitgliedstaat selbst ereignet hat, wie zB gegenwärtig in Frankreich. Ein weiterer wichtiger Unterschied
zwischen beiden Bestimmungen liegt darin, dass
die „Petersberg-Missionen“ Bestandteil der GSVP22
sind, während die Solidaritätsklausel in den Bereich
des „Auswärtigen Handelns der EU“23 fällt und damit an sich keine sicherheits- und verteidigungspolitischen Elemente aufweist.
Die Solidaritätsklausel des Art. 222 AEUV lautet
dementsprechend:
1) „Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln
gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein
Mitgliedstaat von einem Terroranschlag (…) betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung
stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den
Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel,
um
16) Vgl. Hummer, W. Art. 215 AEUV, in: Vedder/Heintschel v.
20) Ernannt am 19. September 2007 durch den früheren Ho-
Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Handkommentar
hen Vertreter für die GASP, Javier Solana. De Kerchove löst in
(2012), S. 802 ff.
dieser Funktion den 2004 ernannten Koordinator, Gijs de Vries,
ab (S256/07).
17) Beschluss 2014/415/GASP des Rates vom 24. Juni 2014
über die Vorkehrungen für die Anwendung der Solidaritätsklau-
21) Mit allen „Petersberg-Maßnahmen“ kann gem. Art. 43
sel durch die Union, ABl. 2014, L 192, S. 53 ff. idF ABl. 2014, L
Abs. 1 „zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden,
221, S. 26.
unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei
der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“.
18) Informelle Tagung der Staats- und Regierungschefs vom
12. 2. 2015, Dok. 56/15.
22) Art. 42 bis 46 EUV.
19) COM(2015) 185 final, vom 28. 4. 2015.
23) Art. 205 bis 222 AEUV.
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a) terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden;
b) die demokratischen Institutionen und die
Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu
schützen;
c) im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe
innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen
(…).
2) Ist ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag
(…) betroffen, so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe
Unterstützung. Zu diesem Zweck sprechen die
Mitgliedstaaten sich im Rat ab“.
Gem. Absatz 1 ist daher die Union (samt ihren
Mitgliedstaaten) der hauptsächliche Akteur, während gem. Absatz 2 die Mitgliedstaaten selbst die
solidarischen Unterstützungshandlungen untereinander leisten.
Mit dieser ihrer Ausgestaltung entspricht die
Solidaritätsklausel exakt den Vorgaben für ein
effizientes Vorgehen Frankreichs gegen die Attentäter des IS, sodass es bemerkenswert ist, dass
sich Frankreich bei der von ihm erbetenen solidarischen Kollektivaktion gegen den IS nicht auf diese
adäquate und rechtssystematisch korrekte Rechtsgrundlage berufen, sondern vielmehr die militärische Beistandsklausel des Art. 42 Absatz 7 EUV
bemüht hat.24
Neutralitätsrechtliche Konsequenzen
An sich wird, wie vorstehend bereits erwähnt,
die Neutralität nur in einem zwischenstaatlichen
Krieg aktiviert, sodass terroristische Akte, die
ja grundsätzlich von Privatpersonen begangen
werden, die Neutralität (Österreichs) an sich nicht
auslösen. Da sich Frankreich allerdings auf die
Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV berufen hat, kann sich ein Neutraler, und damit auch
Österreich, auf die in ihr selbst verankerte sog.
„irische Klausel“25 berufen, die eine veritable Neutralitätsschutzklausel darstellt. Das setzt allerdings
die Qualifikation der Terrorakte als „bewaffneten
Angriff“ voraus, was umstritten ist. Im Gegensatz
dazu kennt die Solidaritätsklausel des Art. 222
Abs. 1 AEUV keine solche Ausnahme, allerdings
weist eine zu ihrer Interpretation dienende (unverbindliche) Erklärung26 darauf hin, dass es den
Mitgliedstaaten freisteht, die am besten geeigneten Mittel zur Erfüllung ihrer Verpflichtung zur
Solidarität gegenüber einem anderen Mitgliedstaat
zu wählen. Ganz allgemein bestehen gemäß der
seitens Österreichs regierungsamtlich vertretenen
„Solidaritätstheorie“27 aber auch hierbei keine neutralitätsrechtlichen Probleme. Im Gegensatz dazu,
berief sich Finnland kürzlich auf seinen neutralen
Status und verneinte die Leistung „direkter militärischer Hilfe“. 28
25) Art. 42 Abs. 7 Abs. 1 Satz 2 EUV.
26) Erklärung Nr. 37 zu Artikel 222 AEUV in der Schlussakte
der Regierungskonferenz 2007; ABl. 2012, C 326, S. 351.
27) Vgl. Hummer, W. Neutralität versus „Beistands“- und „Solidaritätsklausel“ im Vertrag über eine Verfassung für Europa,
in: Hummer, W. Staatsvertrag und immerwährende Neutralität
Österreichs. Eine juristische Analyse (2007), S. 298 ff.
24) Vgl. Schiffbauer, B. Der Terror von Paris, das Völkerrecht
6
und der europäische Beistandsfall, http://www.juwiss.de/84-
28) Bonavida, I. – Laczynski, M. Warum Frankreich die EU um
2015/
Beistand bittet, Die Presse, 18. 11. 2015, S. 4 f.
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Der Terrorismus scheint zu einem Massenphänomen zu werden. Weltweit stieg die Zahl der Terroropfer 2014 sprunghaft an. Nach Angaben des
in London ansässigen Instituts für Wirtschaft und
Frieden kamen im vergangenen Jahr über 32.650
Personen (!) durch Terroranschläge ums Leben,
was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr
um 80% entspricht. Das ist der stärkste Anstieg
an Terroropfern, der jemals gemessen wurde.29
Hauptverantwortlich dafür sind die beiden Terrororganisationen Boko Haram und der IS. Von den
Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ mit 12 Toten und
jenen in Paris mit über 130 Opfern abgesehen,
kamen heuer in Europa weitere 144 Personen bei
Terroranschlägen ums Leben. Die wirtschaftlichen
Kosten des Terrors beliefen sich alleine im Jahr
2014 auf über 53 Mrd. US-$.
„Frankreich hat in diesem Zusammenhang
ganz bewusst aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen auf die (militärisch)
stärkere Solidarverpflichtung in der EU iSd
Beistandsklausel abgestellt.“
Frankreich hat in diesem Zusammenhang ganz
bewusst aus außen- und sicherheitspolitischen
Gründen auf die (militärisch) stärkere Solidarverpflichtung in der EU iSd Beistandsklausel abgestellt. Mit ein Grund dafür ist wohl der Umstand,
dass die Solidaritätsklausel gerade keine militärische Zusammenarbeit im Ausland ermöglichen
würde und auch gemäß ihrer systematischen
Stellung im Bereich des „Auswärtigen Handelns
der EU“ nicht auf nach außen gerichtete Verteidigungsmaßnahmen im Rahmen der GSVP anwendbar wäre. Es ist in diesem Zusammenhang aber
mehr als fraglich, ob zB die Ersetzung eines Teils
der 8.000 französischen Soldaten, die gegenwärtig
in internationalen Einsätzen tätig sind, durch Angehörige mitgliedstaatlicher Heere noch unter den
Begriff „kollektive Selbstverteidigung“ fallen. Im Übrigen lässt die Beistandsklausel Frankreich wesentlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten, während die
Solidaritätsklausel der Hohen Vertreterin eine zentrale Rolle bei der Koordinierung und Gestaltung
der einzelnen Maßnahmen zugewiesen hätte. Der
Rückgriff auf die Beistandsklausel zeigt aber ganz
grundlegend, dass die vorstehend erwähnte strikte
Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit,
die die Verträge durch diese beiden Klauseln nicht
ohne Grund vornehmen, durch die Anschläge von
Paris relativiert wird.30 Wenngleich die Vorgangsweise Frankreichs auch politisch nachvollziehbar
ist, sollte sie aber auf jeden Fall rechtsdogmatisch
hinterfragt werden, damit daraus keine Fehlschlüsse abgeleitet werden können.
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Schlussbetrachtungen
Vor allem aber sollte diese eher „unorthodoxe“
Wahl der Rechtsgrundlage der europäischen Öffentlichkeit entsprechend erklärt werden, damit es
auch in den Medien nicht zur Verwechslung beider
Klauseln kommt31, die sowohl inhaltlich als auch
rechtssystematisch genau auseinandergehalten
werden sollten.
30) Vgl. Weyand, P. Der Europäische Beistandsfall als Katalysator für eine Militarisierung der Europäischen Außenpolitik?,
VerfBlog 2015/11/18, S. 1 f.
29) Zahl der Todesopfer steigt weltweit massiv an, Die Welt,
31) Bonavida/Laczynski (Fn. 28), S. 5: „Dadurch, dass die EU-
17. 11. 2015.
Solidaritätsklausel zum ersten Mal angewandt wird (…)“.
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Über den Autor
Univ.-Prof. DDDr. Waldemar Hummer ist emeritierter Professor für Europarecht und
Völkerrecht am gleichnamigen Institut der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.
Kontakt: [email protected]
Über die ÖGfE
Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhängiger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische
Integration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und
deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die
Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von
europapolitischen Informationen.
ISSN 2305-2635
Impressum
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck
kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE
oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet,
überein.
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Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt
Verantwortlich: Christoph Breinschmid, M.A.
Zitation
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