Petra Nagenkögel Kulturbrief aus V ní / Südböhmen Wie viele Orte in unseren Weltgegenden mag es geben, an denen keine Veränderung greift. Die einem selbst über Jahre hinweg unverändert erscheinen, so als wäre die Wahrnehmung des Ortes eingefroren gewesen, mehr noch als wäre der Ort selbst an einem bestimmten Moment zu seinem Stillstand gekommen, bis in kleinste Details hinein eingerastet in einem Zustand, der sich selbst überdauert hat. Als wären Zeit und Raum und Geografie übereingekommen, still zu stehen, als hätte überall sonst ein Zeitvergehen stattgefunden, aber nicht hier, wenigstens nicht im Äußeren, nicht im Sichtbaren oder Messbaren, allenfalls vielleicht in den Köpfen und Herzen der Menschen, die den Ort bewohnen, nur wie sollen sich Köpfe und Herzen denn einsehen lassen. ní, ein winziges Straßendorf nahe Cesky Krumlov, der touristischen Metropole der Gegend, ist wie zum Durchfahren gemacht, hier bleibt man nicht stehen, jedenfalls nicht freiwillig. Dabei ist es ein wunderbar elender, ein liebenswert düsterer, ein unsäglich weltabweisender Ort, mit einer Papierfabrik und geziegelten Fabrikschloten, aus denen weißer Rauch kommt, der mitgenommen wird vom Wind und abzieht, anderswohin. Mit Fabriksgebäuden in Plattenbauweise und langgezogenen, fünfstöckigen Wohnblöcken, an den Längsseiten von Mülltonnen gesäumt. Mit einem nicht mehr bewohnten, verfallenden Haus aus der Jahrhundertwende, einem kleinen Lebensmittelladen, der sich "Flop" nennt, einem aufgelassenen Restaurant, das "U Dagmary" (Zu Dagmar) hieß, und einer ebenso aufgelassenen Disco, von der nur noch der bleiche Schriftzug auf der Hausmauer über zugemauerten Fenstern geblieben ist. Ich möchte mir V ní als Postkartenmotiv vorstellen, als Standbild einer Tristesse, die ein Auslangen gefunden hat mit sich selbst und die sich ganz unverstellt zeigt. Denn mit Fassaden hält man sich hier nicht auf, dieser Ort hat es nicht nötig, auf billigen Schein zu setzen oder Wirklichkeiten zu inszenieren. Zwei Hunde, die sich auf der Hauptstraße treffen und von allen Seiten beriechen, dann jeweils alleine weiterziehen, als wären wenigstens sie eingeübt in die Codes der Moderne, in die Vereinzelung, die flüchtige Begegnung. Menschen sind auf der Straße nicht zu sehen, es ist früher Nachmittag, vielleicht hält man Siesta oder hat Schichtdienst in der Fabrik. Immerhin beruhigend - oder sollte es beunruhigend sein - , was der Blick auf überquellende Mülleimer nahelegt: dass auch in V ní gegessen und getrunken wird, und damit wohl auch geboren und gestorben. Ein großer roter Plastiksack mit gelber Penny-Aufschrift auf einer grauen Mülltonne ergibt einen Farbfleck, an den ich mich halten mag für einen Moment. Ansonsten liegt eine farb- und zeitlose Gegenwärtigkeit über diesem Ort, oder vielmehr eine gegenwärtige und ihrer selbst nicht gewärtige Zeitlosigkeit. Und so wenig man sich einen Anfang vorstellen kann zu diesem Ort, so wenig ist er zu Ende zu denken. Vielleicht also sind es Orte wie dieser, die überdauern werden. Vielleicht haben sie es schon längst getan. Und vielleicht muss man sich die Menschen, die in V ní zu Hause sind, so wie Sisyphos als glückliche Menschen vorstellen. Es hat also nur bedingt etwas Tröstliches, wenn ich in eský Krumlov fünf Kilometer weiter feststellen darf, dass Geschäfte sich aufgelöst haben, Häuserfronten abbröckeln, andere wiederum saniert worden sind. Dass die kleinen düsteren Lebensmittelläden, die es gottlob immer noch gibt, nunmehr chinesischen Besitzern gehören, dass die tschechischen Arbeiter ihre Mittagspausen im neuen Chinarestaurant verbringen, das fraglos am billigsten ist und in dem die Portionen am größten sind, dass zwar Touristen in unfassbarer Zahl nach wie vor sich im Zentrum tummeln, um sich einer nach dem anderen auf den Brücken über die Moldau fotografieren zu lassen oder mittels selfie selbst abzulichten, dass sie aber kaum mehr aus Österreich, Deutschland oder Italien, sondern beinahe ausschließlich aus China und Japan kommen. Dass also in einem kleinen Städtchen wie eský Krumlov sich weltweite Entwicklungen so unhinterfragt wie unhintergehbar abbilden und es mir scheinen will, dass ní, dieses wunderbare, elende, düstere und endlos liebenswerte V ní einer der letzten Orte, vielleicht überhaupt der letzte Ort sein wird, der sich jeder Zukunft und damit einem unweigerlich mit Zukunft verbundenen Ende entgegenstellt. (Aber was könnte bestürzender sein als die Vorstellung von Dauer.)
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