Leseprobe_Bildungschancen in der neuen Ganztagsschule

Einführende Bemerkungen
Sabine Knauer
Einführende Bemerkungen
Liebe Leserin, lieber Leser,
rund ein Jahr ist vergangen, seit wir uns Ihnen mit dem ersten Band der neuen Ganztagsschule vorstellen durften. Über die zahlreichen zustimmenden Reaktionen haben
wir uns sehr gefreut. Sie haben uns ermutigt, so rasch »nachzulegen« und einen zweiten Band herauszubringen.
Auf »Gute Lernbedingungen gestalten« folgt »Lernmöglichkeiten verwirklichen«.
Das ist nur folgerichtig: Wo ein Rahmen errichtet wurde, kann es nun an die Umsetzung der Ziele gehen.
Doch dieser zweite Band schreibt nicht nur den ersten fort, sondern reflektiert
auch neue Entwicklungen und Erkenntnisse. Während ich diese Worte schreibe, erreichen mich zwei bildungspolitische Nachrichten: Der Bericht des UN-Sonderberichterstatters über seine Inspektion des deutschen Bildungswesens im Jahr 2006 sowie die
ersten Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG), die im
Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und in Abstimmung mit
den Ländern vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung,
dem Institut für Schulentwicklungsforschung und dem Deutschen Jugendinstitut
durchgeführt wurden.
Lernmöglichkeiten verwirklichen sich in der Passung des Umfelds zu den jeweiligen spezifischen Voraussetzungen. Dies kann im Zusammenhang der Ganztagsschule
in verschiedenen Dimensionen stattfinden.
Da ist zunächst das Kind, der Jugendliche mit seinem je eigenen sozio-kulturellen
Hintergrund, seinen familialen, biografischen Erfahrungen und den jeweiligen Interessen, Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. So verschieden und widersprüchlich
die Einflussfaktoren auch sein mögen – der junge Mensch erlebt sie und sich selbst
ganzheitlich als »öko-sozio-psycho-somatische Einheit« (Begemann 1987).
Aufgaben- und Selbstverständnis einer jeden modernen Schule muss es sein, alle
Schülerinnen und Schüler bei ihren Erfahrungen und Kenntnissen abzuholen und
bestmöglich zu fördern. Dass es sich hierbei nicht nur um ein moralisches, pädagogisches Gebot handelt, sondern um ein einklagbares Recht, darauf hat der UNSonderberichterstatter eindrücklich hingewiesen. Deutschland hat sich durch die Unterzeichnung verschiedener internationaler Vereinbarungen auf die Würdigung, Einhaltung und Umsetzung von Bildung als Menschenrecht verpflichtet. Die Verfügbarkeit, das heißt das Vorhandensein »funktionsfähiger Bildungseinrichtungen und
-programme (...) in ausreichendem Maße« stellt freilich nur eine unabdingbare, indes
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nicht hinreichende Voraussetzung dar. Das Recht auf Bildung umfasst nach Artikel 13
des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen darüber hinaus die faktisch nicht diskriminierende, physische und
wirtschaftliche Zugänglichkeit zu Bildung, die Annehmbarkeit von Bildung, das heißt
sie sollte »relevant, kulturell angemessen und hochwertig« sein, sowie ihre Adaptierbarkeit, das heißt sie ist flexibel anzulegen, »damit sie den Erfordernissen sich verändernder Gesellschaften und Gemeinwesen angepasst werden und den von vielfältigen
sozialen und kulturellen Gegebenheiten geprägten Bedürfnissen (...) entsprechen
kann« (Deutsches Institut für Menschenrechte 2005, S. 263).
Der erste Teil des vorliegenden Bandes widmet sich daher den Bedürfnissen und
Rechten der Kinder und Jugendlichen. Er geht der Frage nach, inwiefern ganztägige
Schulen ihnen besser entsprechen können als die herkömmliche Halbtagsschule, untersucht aber auch, wo ganz besonderer Bedarf zur Neuausrichtung im Bildungswesen besteht und wie ihm in Ganztagsschulen entgegengekommen werden kann.
Der paradigmatische Wandel, der mit der umfangreichen Einrichtung von Ganztagsschulen einhergeht, besteht nicht ausschließlich in ganztägigen schulischen Angeboten. Es geht auch nicht nur um die Frage, ob es ein bisschen mehr Betreuung oder
Bildung sein darf. Nicht zufällig haben sich die Partner im Programm »Ideen für
mehr! Ganztägig lernen.« darauf verständigt, jeglichen Qualitätsanspruch an dem
Prinzip »Das Kind im Zentrum« zu messen. Auch hierbei handelt es sich wieder nicht
nur um einen moralischen Anspruch, sondern dieser Kernsatz stellt alle weiteren
schulischen Themenkreise in einen spezifischen Kontext und in ein spezifisches Verhältnis zueinander, er wirft neue Fragen auf und löst alte Widersprüche: Wenn es der
Schule wirklich darum geht, ihren Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Förderung angedeihen zu lassen, dann wird sie auch dafür sorgen, dass Lernen Spaß
macht. Sie wird für ausreichende Übungsmöglichkeiten sorgen, wird Helfersysteme
installieren und sich auf jede erdenkliche Weise um eine entwicklungsförderliche, anregende und gesunde Umgebung bemühen, in der Kränkungen, Stigmatisierungen
und Versagenserfahrungen keinen Raum haben. Damit wird zugleich eine Forderung
der KMK von 1994 eingelöst, nämlich die individuelle Förderung personorientiert zu
gestalten und nicht an spezielle Institutionen zu binden. Einer Mahnung des UNBildungsinspektors (2007, S. 20) wird ebenfalls entsprochen: »Nicht die Menschen
müssen sich dem Bildungssystem anpassen, sondern das Bildungssystem muss sich
den Menschen anpassen.« Das Investitionsprogramm des Bundes »Zukunft Bildung
und Betreuung« und sein pädagogisches Begleitprogramm »Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung sehen in der Ganztagsschule
die Chance auf eine Schulreform, die den Blick von den vermeintlichen institutionellen Zwängen weglenken und bewusst auf den gesellschaftlichen Bedarf und die individuellen Bedürfnisse hinlenken kann.
Unter dieser Perspektive eröffnen sich auch für die Schule selbst Lernfelder. Als
lernende Organisation befindet sich die Ganztagsschule mitten im systemischen
Wandel. Schnell wurde offensichtlich, dass es mit ein paar kosmetischen Korrekturen
am Bild der (halb- oder ganztägigen) Schule alter Prägung nicht getan ist. Hinsicht-
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lich der maßgeblichen Entwicklungsfaktoren von Ganztagsschulen betont die StEGPresseerklärung »Ganztagsschulen erweitern die Lernkultur«, »Konzeptarbeit und
Kooperation zahlen sich aus«, »Schulen und Vereine arbeiten zum wechselseitigen
Nutzen zusammen«. Dem Versuch der systematisierenden Beschreibung stellt sich
eine Wirklichkeit entgegen, die dazu zwingt, bislang gültige begriffliche Kategorisierungen zu verlassen, ohne sogleich neue anbieten zu können. Denn die vermeintliche
Trennschärfe verschiedener Aspekte ist selbst Teil und Ausdruck der zu überwindenden Problematik: Wo hört Schulentwicklung auf, fängt Unterrichtsentwicklung an?
Sind veränderte Lernmethoden nur Motivationsspritzen oder unverzichtbare Bestandteile demokratischer Lernkultur, das heißt eines gänzlich anderen Grundverständnisses von der pädagogischen Beziehung? Bringt aber eine solche andere pädagogische Beziehung, soll sie glaubwürdig und von Bestand sein, nicht zwangsläufig
partizipative Strukturen und veränderte zeitlich-räumliche Interpunktionen mit sich?
»Alles hängt mit allem zusammen« – dieser Satz, häufig nicht ohne Sarkasmus als
Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Pädagogik angeführt, soll hier offensiv verwendet werden und belegt im vorliegenden Kontext zweierlei: einmal seinen Wirklichkeitsgehalt und zum anderen die Überwindung eines Wissenschaftsbegriffs, der
zwangsläufig in ein diminutives Selbstverständnis der Pädagogik mündet (Braun
1992, S. 121). Nach Reich (2005, S. 97) tröstet sich die Wissenschaft, auch die pädagogische, über all die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten mit symbolischer Überformung bis hin zum Leugnen der Imagination und ihrer Energien. Und er fragt: »Aber
käme es nicht eher darauf an, diese Energien zu nutzen, statt ihnen stets vorrangig das
Wasser abzugraben?«
Ganztägige Schulen, die sich als Bildungszentren in ihrem Sozialraum verstehen,
fordern aber die kreativen Imaginationen heraus, um zu Erkenntnissen über Zusammenhänge, Ereignisse und Steuertechniken komplexer Organisationen und schließlich auch zu Handlungsfähigkeit zu gelangen. Der zweite Teil dieses Buches muss sich
also von der eingeturnten Systematik Schule – Unterricht – Didaktik – Methodik –
Fachlichkeit trennen bzw. vereint alle diese Aspekte in sich, ohne je den Anspruch auf
Vollständigkeit erheben zu wollen; im Gegenteil: Open Space als Unterrichtsmethode
(vgl. Bosenius in diesem Band) besitzt auch Gültigkeit für die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Ganztagsdiskurses.
Wenn sich die Grenzen im Innern der Schule verwischen, wie könnten sie nach
außen hin fest und unverrückbar bleiben? Kinder lernen, Organisationen lernen – das
kann nichts anderes bedeuten, als dass im gesellschaftlichen Umfeld (der »Mesoebene« nach Kleber 1987, S. 133) noch viele andere Personen und Systeme die Chance
erhalten, Lernmöglichkeiten zu verwirklichen.
Ganztagsschule kann im besten Sinne zu einem Ort des Lernens werden, an dem
sich Interessen treffen, Kräfte bündeln. Gesellschaftliche Gruppen, die traditionell
einander kaum zur Kenntnis nehmen und begegnen, werden in der Ganztagsschule
zu Partnern: Kommunalvertreter, Ehrenamtliche, Künstler, verschiedene Bildungseinrichtungen ... Gleichzeitig machen alle Beteiligten die Entdeckung, dass sich in der
Ganztagsschule ihre berufliche Rolle mit der privaten Elternrolle in Einklang bringen
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lässt. Der dritte Teil des Bandes zeigt Ansätze kooperativer Modelle auf und weist auf
bedenkenswerte Punkte hin.
Schule, die bis vor nicht allzu langer Zeit von aktuellen Entwicklungen weitgehend
abgekoppelt schien und in Gefahr war, den Anschluss zu verlieren, hat als Ganztagsschule die Chance, die Rolle eines Kristallisationspunktes im regionalen und sozialen
Umfeld einzunehmen.
»Think global, act local«, dieser alte Spruch der sozialen Basisbewegungen gewinnt
mit der Ganztagsschule neue Aktualität. Zwar stellen Entfernungen und Grenzen
kaum noch physische Hürden dar. Doch nur, wenn wir auch unsere mentalen Begrenztheiten überwinden, kann ein gegenseitiges Voneinander-Lernen stattfinden. Offenheit und Aufgeschlossenheit sind Voraussetzung für Vertrauen. Der Ausblick des
Buches zeigt, wie wir von anderen Ländern und gemeinsam in und für Europa lernen
können – ohne freilich unsere regionale Identität und Verortung zu leugnen.
Literatur
Begemann, Ernst (1987): Von definierten Verhältnissen zu biografischer Erfahrung. In: Eberwein,
Hans (Hrsg.): Fremdverstehen sozialer Randgruppen. Ethnografische Feldforschung in der Sonder- und Sozialpädagogik. Grundfragen, Methoden, Anwendungsbeispiele. Berlin, S. 23–56.
Braun, Walter (1992): Pädagogik – eine Wissenschaft?! Aufstieg, Verfall, Neubegründung. Weinheim.
Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2005): Die »General Comments« zu den VN Menschenrechtsverträgen. Baden-Baden.
Kleber, Eduard W. (1987): Erfassen von Lernumwelten als geschachtelte Handlungssysteme – ein
Beitrag zur ökologischen Erziehungswissenschaft. In: Eberwein, Hans (Hrsg.): Fremdverstehen
sozialer Randgruppen. Ethnographische Feldforschung in der Sonder- und Sozialpädagogik.
Grundfragen, Methoden, Anwendungsbeispiele. Berlin, S. 127–141.
KMK (1994): Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik
Deutschland. Bonn.
Reich, Kersten (5. Aufl. 2005): Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Weinheim.
Vereinte Nationen, Generalversammlung (Hrsg.) (2007): Umsetzung der UN-Resolution 60/251
»Rat für Menschenrechte« vom 15. März 2006. Bericht des Sonderberichterstatters für das Recht
auf Bildung, Vernor Muñoz. Addendum: Deutschlandbesuch (13.–21. Februar 2006). Arbeitsübersetzung. Genf.
Wenn der Staat stiften geht – oder: Von der Qualität einer neuen Beziehung
Heike Kahl
Wenn der Staat stiften geht – oder:
Von der Qualität einer neuen Beziehung
Überraschungen des Anfangs
Als das große Investitionsprogramm zum Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen auf
den Weg gebracht wurde, erzielten Bund und Länder eine Einigung darüber, dieses
Programm fachlich zu ergänzen und somit die investiven Maßnahmen eng mit einer
Diskussion um die pädagogische Qualität von Ganztagsschulen zu verbinden. Aus
diesem Anspruch entstand das Programm »Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« Erstaunlich und überraschend durfte man damals die Entscheidung finden, eine Stiftung mit der Moderation dieser länderübergreifenden Aufgabe zu betrauen; erstaunlich deshalb, weil eine solche Konstellation für alle beteiligten Seiten – für den Bund,
für die Länder und für die Stiftung selbst – neu war und daher absehbar, dass die
künftige, gemeinsame Arbeit von kontinuierlichen Aushandlungsprozessen begleitet
sein würde. Diesem Diskurs konnte man – je nach der jeweiligen Erwartungshaltung
– als belebendes oder behinderndes Element entgegensehen.
Für Überraschung sorgte die Entscheidung freilich auch deshalb, weil es zuvor
keineswegs zum deutschen Alltag gehört hatte, einen zivilgesellschaftlichen Akteur in
die Gestaltung von Entwicklungsprozessen einzubeziehen, die traditionell zum staatlichen Aufgabenverständnis zählten.
Vielleicht war die Zeit reif für eine solche Entscheidung, die substanziell viel mehr
umfasst als die formale Übertragung von Verantwortung: Die Diskussion um die Föderalismusreform war in vollem Gange. Die Länder hatten deutlich gemacht, dass sie
nur einen Partner akzeptieren würden, dem es möglich wäre, in einem Konglomerat
unterschiedlicher Interessen eigenständig zu handeln, der ein hohes fachliches Knowhow einbrächte, parteipolitisch frei und unabhängig agieren und – das war von Anfang an eine wichtige Bedingung auch des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – mit den Wirkungen des Programms rasch einen sichtbaren Mehrwert in den
Ländern erzeugen könnte.
Der Mut aller Akteure, die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung mit diesem Vertrauensvorschuss auszustatten, war die größte Überraschung: darauf zu setzen, dass
aus den Kompetenzen, die die Stiftung mitbringt, aus ihren vernetzten Beziehungen
in die Länder hinein und der Entschlossenheit der Länder, Ganztagsschulen als wichtiges Zentrum von Schulentwicklung zu verstehen, sich eine breite Wirkung mit großer Ausstrahlungskraft würde entfalten können. Die DKJS hat sich mit Elan und aller
ihr zu Gebote stehenden Kraft dieser Aufgabe gestellt und der Erfolg des Programms
»Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« rechtfertigt die damaligen Entscheidungen.
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Die vorläufigen Ergebnisse haben sich herumgesprochen: weithin anerkannte Serviceagenturen in 14 Bundesländern mit wachsendem Budget, die sich mit zunehmendem Interesse zu thematischen Netzwerken unterschiedlicher inhaltlicher Prägungen
zusammenschließen, ein jährlicher Bildungskongress, der sich zu einem der größten
in Deutschland entwickelt hat, Werkstätten, die die Serviceagenturen konkret in ihrer
inhaltlichen Arbeit unterstützen, ein viel beachteter Wettbewerb, nachgefragte Publikationen in einer eigenen Heftreihe sowie Dokumentationen konkreter Ganztagsschularbeit auf dem Portal www.ganztaegig-lernen.de: Die Summe dieser Elemente
entspricht einem bedarfsorientierten Unterstützungssystem für Ganztagsschulen in
Deutschland. Nicht zuletzt durch die Einbindung weiterer zivilgesellschaftlicher Akteure – zum Beispiel der Jacobs Stiftung mit der Werkstatt »Schule wird Lebenswelt«
und der Price Waterhouse Coopers Stiftung mit dem Themenatelier »Kulturelle Bildung« – wird das Programm nachdrücklich bereichert und inhaltlich konturiert.
Auch die Fachbücher, deren zweiter Band innerhalb nur eines Jahres mit dieser Publikation vorliegt, markieren den Qualitätsanspruch der DKJS und ihrer Partner.
Lösungen entstehen beim Gehen – man muss sie nur wahrnehmen …
Das Programm ist jetzt drei Jahre alt. Fast genauso lange wird es noch weitergeführt.
Danach sollen neue Formen und Instrumente zur Förderung der Ganztagsschulentwicklung gefunden werden, über die die Stiftung schon jetzt mit den Ländern berät.
Für die »Optimierung des Modells«, nämlich für zukünftige Kooperationen zwischen
staatlichen Organen und Zivilgesellschaft, scheint es angeraten, einen Augenblick innezuhalten und zurückzuschauen, die miteinander gesammelten Erfahrungen zu reflektieren, Voraussetzungen und Herausforderungen einer solchen Kooperation zu
benennen.
Der Ruf nach Stärkung der Zivilgesellschaft und die Reflexion der damit verbundenen Optionen und Implikationen fällt in eine Zeit rasanten Wandels und dramatischer Umbrüche, die sowohl jeden Einzelnen als auch staatliche Strukturen wie Wirtschaftsunternehmen treffen. Gleichzeitig scheint die Diskussion um Kooperationen
verschiedener Akteure oftmals verkürzt geführt und durch einen defizitären Fokus
auf mangelnde Ressourcen beschränkt zu werden. Das freilich ist fatal, weil damit die
Rolle der Bürgergesellschaft als Motor und zentraler demokratischer »Rohstoff« zur
Gestaltung unserer Gesellschaft selbst beschnitten wird. Aus diesem Grunde ist es unter gesellschaftspolitischen Aspekten nicht genügend zu würdigen, dass die Bundesregierung derzeit ein Gesetz zur Reform des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts
mit dem Kern einer erweiterten Abzugsfähigkeit von Spenden auf den Weg bringt.
Denn unter diesem Perspektivwechsel wird erstmals nicht danach gefragt, was dem
Staat bei der Unterstützung von Stiftungen verloren geht, sondern was er gewinnt,
wenn er in sie und in die Kooperation mit ihnen investiert – ein wichtiger Schritt vom
gewährenden hin zum ermöglichenden Staat. Bereichert wird das Gemeinwesen
durch die Mitwirkung von Stiftungen beispielsweise, weil viele Menschen miteinander
Wenn der Staat stiften geht – oder: Von der Qualität einer neuen Beziehung
Verantwortung übernehmen, weil neue und zusätzliche Denkräume eröffnet werden
und eingespielte Rollenmuster von »Entscheidern« und »Ausführenden« hinterfragt
werden können: Damit werden die Möglichkeiten unseres Handelns vermehrt und
Flexibilität und Innovationskraft verstärkt.
Es wäre konsequent und wünschenswert, diesem Beginn eine breite Diskussion
um Voraussetzungen und Bedingungen für Kooperationen zwischen Staat und Zivilgesellschaft folgen zu lassen. Das Programm »Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« ist
auch hierfür ein gutes Lehrstück, weil viel Neues erprobt wird und auf dem Wege der
Annäherungen Lernerfahrungen gesammelt, verglichen und gegebenenfalls objektiviert werden können. Zwei Themenfelder erscheinen dabei strukturell von entscheidender Bedeutung: (1) die Frage danach, welche Wissens- und Entscheidungsbasis
auf beiden Seiten erforderlich ist, um über Kooperationen oder das Auslagern von
staatlichen Aufgaben sachgerecht verhandeln und beschließen zu können, und (2) die
Frage nach den rechtlichen Grundlagen für eine Kooperation.
Hier können die Herausforderungen lediglich benannt werden: gewissermaßen als
Platzhalter für eine breite Diskussion auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung fühlt sich als Partnerin vieler Stiftungen, Unternehmen und öffentlicher Verantwortungsträger mit dafür zuständig, diese Diskussion anzustoßen und zu führen.
1.
Welche Wissens- und Entscheidungsbasis ist auf beiden Seiten
erforderlich?
Es ist nicht verwunderlich, dass diese Frage im Alltag aller Akteure bisher kaum eine
Rolle spielt, zu frisch sind noch die ersten Erfahrungen. Aber da die Kooperationen
sich mehren und die Zukunft wohl eher in der systematischen Erweiterung einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft liegt als in ihrer zufälligen Ausbreitung, lohnt sich zu fragen, was die Zusammenarbeit eigentlich für jeden einzelnen
Partner bedeutet. Was verliert, was gewinnt er? Worin liegen die eigenen Risiken, wo
die des Anderen? Wo gibt es einen Zugewinn für alle? Unter welchen Umständen wird
man um seine Identität und Authentizität fürchten, wann wird man Vertrauen entwickeln?
Besonders relevant wird diese Frage für Stiftungen und gemeinnützige Organisationen, wenn sie finanzielle Mittel des Staates in Anspruch nehmen, um ihre Ziele oder
gemeinsam verabredete Vorhaben besser erreichen zu können, aber auch für staatliche Stellen, die sich fragen müssen, ob, mit wem und auf welche Weise hoheitliche
Aufgaben geteilt werden oder von wem sie übernommen werden können. Antworten
darauf dürfen – angesichts der wachsenden Bedeutung zivilgesellschaftlicher Einrichtungen für gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse – nicht länger beliebig und
zufällig gegeben werden. Gründe für die Übergabe staatlicher Aufgaben an Stiftungen
sind nach der bisherigen Erfahrung der DKJS beispielsweise der Wunsch nach einer
Beschleunigung reformerischer Prozesse, nach einer kostengünstigeren Abwicklung –
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vor allem von Verwaltungsaufgaben – sowie nach einer Überwindung von Zuständigkeitszwängen oder Ressortzuschnitten zugunsten einer höheren, der Sachlogik entsprechenden Urteils- und Handlungsfreiheit.
In Anbetracht der vorliegenden Erfahrungen auch im Programm »Ideen für mehr!
Ganztägig lernen.« wird man sich noch mehr als bisher an der Basis gesicherten Wissens auf beiden Seiten orientieren und angemessene Sensibilität für die Bedürfnisse
und Möglichkeiten des jeweiligen Partners entwickeln müssen. Beides muss einfließen
in die Entwicklung geeigneter, handlungsleitender Instrumente für eine Zusammenarbeit. Der Instrumentenkoffer in den Haushaltsreferaten der Länder und des Bundes
spiegelt diese neue Kultur der Zusammenarbeit noch nicht in jedem Falle wider, besonders auch, wenn man die finanzielle Unterstützung vieler öffentlicher Vorhaben
durch zusätzliche Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds mit den damit verbundenen Förderauflagen bedenkt. Insgesamt erwächst aus dem Erwartungs-AuflagenDilemma eine Entwicklungsaufgabe und ein Qualifizierungsbedarf auf Seiten der
»Geber« genauso wie auf der der »Nehmer«, um Interessen auszuloten, Grenzen vorhandener Instrumente zu erkennen, Spielräume konsequent zu nutzen und die eigene
Rolle im Kooperationsverhältnis souverän einschätzen zu können. Möglicherweise
formt sich auf einer solchen, reflektierten Wissensgrundlage ein klareres Bild davon,
welche Instrumente geschärft werden müssen, welche abzuschaffen und welche überhaupt erst zu entwickeln sind. Es wäre hilfreich, für diese Fragestellungen Aufgeschlossenheit und Transparenz herzustellen und Kriterien zu entwickeln, die diese
Transparenz sicherstellen. Gesichertes Wissen ist auch nötig, um ein deutlicheres Bild
davon zu bekommen, unter welchen Bedingungen und Umständen es sinnvoll ist,
Aufgaben auszulagern oder zu übernehmen, welche Konsequenzen dies für unabhängige gemeinnützige Organisationen hat, welche – gegebenenfalls auch externen, moderierenden – Unterstützungselemente für eine gelingende Zusammenarbeit notwendig sind, ob haushaltsrechtliche und fiskalische Gegebenheiten und Bestimmungen
die gewachsenen Ansprüche noch ausreichend widerspiegeln.
2.
Zur Frage der vertragsrechtlichen Gegebenheiten
Die Frage nach vertragsrechtlichen Gegebenheiten tangiert eine Schule gegenwärtig
vielleicht nur am Rande. Aber denkt man den Gedanken wachsender Autonomie von
Schule konsequent weiter, kann man sich vorstellen, auch sie wird Anträge an Stiftungen oder Länderverwaltungen stellen, um bestimmte Projekte und Entwicklungsvorhaben auf den Weg zu bringen. Dann wird es nur eine Frage der Zeit sein, dass alle am
Schulleben Beteiligten Klarheit über vertragsrechtliche Gegebenheiten haben müssen.
Und denkt man z.B. über Bildungslandschaften nach, in denen alle Akteure gemeinsam, miteinander verschränkt und nicht nur additiv nebeneinander her ihrer Verantwortung für das Aufwachsen eines jeden Kindes gerecht werden sollen, wird ebenfalls
deutlich, wie wichtig es ist, hierfür auch geeignete Vertragsgrundlagen und praktikable Modelle der Kooperation zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor, ge-
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meinnützigen Trägern und Stiftungen auf der einen und staatlichen Förderern auf der
anderen Seite zu haben. Es ist wichtig zu wissen, dass sich in den vergangenen Jahren
die Förderpraxis in den Ländern, in Kommunen und auch beim Bund modifiziert
hat. Dies geschieht in vielen Fällen eher weniger als mehr reflektiert. Aufgeklärtes
Handeln auf beiden Seiten ist allerdings auch hier die beste Voraussetzung um auszuloten, ob der gewählte Weg die besten Effekte erzeugt. Der Zuwendungsempfänger
muss die Konsequenzen kennen, wenn z.B. formal »freie Zuschüsse« gewährt werden,
deren Ausführungsbedingungen allerdings denen eines klar umschriebenen Auftrags
sehr nahe kommen und somit zu »beauflagten« Zuschüssen werden. Es kann für den
Zuwendungsnehmer auch fiskalisch zu unschönen Überraschungen führen, wenn
diese Art von Zuwendungen von den Finanzämtern als Auftrag interpretiert und entsprechend besteuert werden. Diese »schleichende« Modifizierung hat jedoch zudem
gesellschaftspolitisch ernsthafte Konsequenzen. Haben das Land oder der Bund einem
zivilgesellschaftlichen Träger die Verantwortung und damit die Gestaltungshoheit für
ein Vorhaben übergeben, so groß oder klein es auch immer sein mag, so kann durch
enge und strikte Zuwendungsbedingungen, manchmal sogar »Zielvereinbarungen«
die Gefahr erwachsen, quasi »unter der Hand« die Freiheit in der Umsetzung des Vorhabens aufzuheben. Zu fragen ist, ob nicht andere Möglichkeiten entwickelt werden
können, dem Kontrollbedürfnis der öffentlichen Hand ohne zusätzliche Interventionen zu entsprechen, um nicht letztendlich die Maßgaben und das Vertrauen, die eine
Kooperation ermöglicht haben, zu unterlaufen. Manchmal geschieht dies versehentlich, gleichsam »gewohnheitsrechtlich«, gelegentlich jedoch scheint es beabsichtigte
Methode zu sein. Mehr Zivilgesellschaft braucht mehr Vertrauen und mehr Kompetenz, auf beiden Seiten. Deshalb ist es unverzichtbar bei zukünftigen Vorhaben, diesem Problem bewusst und mit Offenheit zu begegnen. Hier ist mein Plädoyer für
mehr – auch selbst- und institutionenkritisches – Bewusstsein, für Fairness, für die
notwendige Qualifizierung und kommunikative Kompetenz – auf beiden Seiten.
Chancen und Ideen, die schon Wirklichkeit zu werden beginnen
Vor einiger Zeit erschien in der Zeitschrift »Pädagogik« ein Artikel über die Initiative
»Blick über den Zaun«, in dem es darum geht, wie Schulen voneinander lernen können. Ein freundlich kritischer Einwand lautete damals: »Warum über den Zaun blicken, wenn man das Gartentor aufmachen und hindurchgehen kann, um nicht nur zu
sehen, sondern gemeinsam weiter zu gehen.« Das Bild gefällt mir, weil es ebenso auf
das Programm »Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« angewendet werden kann. Das
Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Länder und die Stiftung haben
Grundlagen für eine gemeinsame Arbeit gelegt und damit selbst Zukunftschancen für
eine Weiterarbeit von Anfang an mitgedacht. Sie haben – ohne dass dies von Anfang
an präjudiziert gewesen wäre – ein Modell für Kooperation entwickelt, das zukunftsträchtig und lohnend genug ist, um daran weiter zu arbeiten:
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Wie immer man die Ergebnisse der Föderalismusreform beurteilt, Konsens besteht
doch darüber, dass es neuer Formen der Zusammenarbeit unter den Ländern und
zwischen Bund und Ländern bedarf. Dafür sind verschiedene Modelle denkbar. Im
Falle des Programms »Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« versteht sich die Deutsche
Kinder- und Jugendstiftung als eine Plattform für die Kommunikation zwischen den
Ländern, als Katalysator für entstehende Ideen und als Moderatorin zwischen allen
beteiligten Akteuren. Sie beobachtet diese Entwicklung nicht nur passiv, sondern
sucht offensiv nach Wegen für eine aktiv gestaltende Rolle.
Noch vor drei Jahren wurde das Thema »Bildung« in der öffentlichen Diskussion
eher als Kriegsschauplatz mit gegenseitig verhärteten Positionen wahrgenommen. Das
hat sich seither grundlegend geändert. Vielleicht nur einen kleinen Teil, aber doch einen Teil hat dazu das Begleitprogramm »Ideen für mehr! Ganztägig lernen.« beigetragen. Es ist trotz der Unterschiedlichkeit der Länder ein produktiver thematischer und
fachlicher Diskurs entstanden, der sich ganz praktisch in den thematischen Netzwerken der Serviceagenturen niederschlägt, der sich darin zeigt, dass sich der jährliche
Bildungskongress, der im Rahmen des Programms durchgeführt wird, einer immer
größeren Nachfrage erfreut. In diesem fachlichen Diskurs stehen Sachfragen und ihre
Lösungen im Fokus, nicht Vorbehalte, Systemzwänge und sonstige Erschwernisse. Das
ist durchaus als neue Qualität gemeinsamen Nachdenkens zu verstehen.
Und – damit schließt sich der Kreis – es ist eben nicht mehr so ungewöhnlich, dass
mehr und mehr Verantwortung von der Bürgergesellschaft übernommen wird, dass
Stiftungen z.B. eben auch Träger großer Vorhaben sind, weil es allen Seiten zugute
kommt, dass sie stärker gestaltend als verwaltend arbeiten können, dass sie flexibel
nach Qualitätsmerkmalen akzentuieren und nicht nach festgelegten Kriterien handeln
müssen, dass sie Prozesse anschieben und sich hierfür als Motoren verstehen. Denn
unsere Gesellschaft ist unser aller gemeinsame Sache!