WIEN report 2015 JUGENDLICHE RAUS AUS DEM GEFÄNGNIS Wir müssen dran bleiben. Eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von jugendlichen Untersuchungshäftlingen hat schon gegriffen. Es war im Frühjahr 2013 als ein Fall von Vergewaltigung eines 14-jährigen Burschen in der Justizanstalt Wien-Josefstadt für eine Welle der Empörung sorgte. Damals wurde von der Justiz verlangt, Alternativen zu entwickeln, damit so etwas nicht wieder passieren kann. Eine Taskforce, später umbenannt in „Runder Tisch“ wurde installiert, von dort ausgehend wurden Alternativen sondiert und erprobt. NEUSTART hat mit einer neuen Methode einen Beitrag dazu geleistet – der Sozialnetz-Konferenz in Kombination mit einer intensivierten, hochfrequent betreuenden Bewährungshilfe. Die Mehrheit der Fälle, bei denen diese Methode dem Richter vorgeschlagen wurde, konnte innerhalb kurzer Zeit wieder enthaftet werden. Das soziale Netz wurde aktiviert und viele Verwandte und Bekannte arbeiten jetzt INHALT Sozialnetz-Konferenz Seite 2 Familiäre Gewalt Seite 4 Bewährungshilfe Seite 5 Entlassung Seite 6 Maßnahmevollzug Seite 7 Hilfe 2014 in Wien Seite 8 WIEN report 2015 mit, diesen Jugendlichen eine Alternative zum „Sitzen“ zu bieten. Auf das Ergebnis kann man richtig stolz sein: Die mit der Sozialnetz-Konferenz erarbeiteten Überwachungs- und Betreuungspläne waren in fast allen Fällen erfolgreich. NEUSTART bekam dafür den Preis „SozialMarie 2014“ für soziale Innovationen zugesprochen. Nach einem starken Sinken der Zahlen der Jugendlichen in Haft war zuletzt ein neuerliches Ansteigen zu beobachten. Noch wissen wir nicht, ob es eine zufällige Schwankung ist oder ein Pendelschlag in die Gegenrichtung. Daher ist es wichtig, dranzubleiben. Denn was ein Jugendlicher in Haft erleidet unterstützt die Bildung einer reifen, zivilisierten Persönlichkeit leider nicht. Im Gegenteil, die Ausbildung von gewaltfreien Tendenzen wird in Haft eher behindert. Wir brauchen deshalb Alternativen zur Haft. Die neu erprobte Maßnahme der SozialnetzKonferenz wird jetzt auch bei einer ganz anderen Gruppe von Straffälligen erprobt: bei Menschen mit psychischen Problemen, die im sogenannten Maßnahmevollzug in den österreichischen Justizanstalten sind. Auch hier gab eine Diskussion rund um einen empörenden Einzelfall Nikolaus Tsekas Leiter NEUSTART Wien 1 Holzhausergasse 4/3 1020 Wien TEL 01 | 218 32 55-249 [email protected] Mag. Klaus Priechenfried Leiter NEUSTART Wien 2 Holzhausergasse 4/3 1020 Wien TEL 01 | 218 32 55-537 [email protected] den Anstoß. Der Bundesminister für Justiz, Dr. Wolfgang Brandstetter, hat bei beiden Themen reagiert und sowohl Veränderungen im Jugendstrafrecht als auch im Maßnahmevollzug in sein Aktionsprogramm aufgenommen. Von ihm wurden Arbeitsgruppen eingesetzt, an denen wir mitarbeiten dürfen. Wir wünschen Ihnen interessante Lektüre und stehen für Fragen und Anregungen gerne zur Verfügung! SOZIALNETZ-KONFERENZ – GEMEINSAM ALTERNATIVEN PLANEN Herr Huber wurde wegen versuchten Mordes angeklagt. Er habe im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit seine Ehefrau mit einem Gegenstand mehrmals ins Gesicht geschlagen, so der Vorwurf. Die minderjährige Tochter war Zeugin des Geschehens. Der zuständige Richter ordnete circa sechs Wochen vor der geplanten Hauptverhandlung vorläufige Bewährungshilfe gemäß § 179 Strafprozessordnung an. Gleichzeitig erfolgte der schriftliche Auftrag zur Durchführung einer Sozialnetz-Konferenz, um ein alternatives Betreuungskonzept zur vorgesehenen Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher 2 (gemäß § 21/1 Strafgesetzbuch) auszuloten. Laut psychiatrischem Sachverständigen leidet der 49-jährige Herr Huber (Name geändert) an einer schweren psychischen Erkrankung in Form einer anhaltend wahnhaften Störung. Definiertes Ziel der Sozialnetz-Konferenz war die Erarbeitung eines Plans zur künftigen Organisation und Betreuung des Betroffenen unter Einbindung der Personen aus seinem sozialen Netz. Zwei Koordinatoren von NEUSTART begannen Abklärungsgespräche und besuchten Herrn Huber in der Justizanstalt Josefstadt. Dabei wurde die Einladungsliste aller für Herrn Huber wichtiger Personen für die Teilnahme an der Sozialnetz-Konferenz erstellt. Für Herrn Huber sind das sein bester Freund, der Seelsorger der Justizanstalt, seine Mutter, seine beiden Brüder, seine Schwägerin und sein Sohn. Dann wurde die Verbindung zu diesen Unterstützungspersonen hergestellt und diese über das Vorhaben der Konferenz informiert. Um die Anforderungen und die vorhandenen Möglichkeiten für den www.neustart.at Zukunftsplan im Vorfeld abklären zu können wurde ebenso Kontakt zu allen wichtigen Bezugspersonen aus dem professionellen Umfeld aufgenommen (ärztliche Leiterin, Sozialarbeiterin der zuständigen Abteilung in der Justizanstalt, Rechtsanwälte, Leiterin der Nachbetreuungseinrichtung und Sozialarbeiterin des geplanten Beschäftigungsprojekts). Der Fokus wurde auf die Einbindung der beiden Opfer familiärer Gewalt (Ehefrau und Tochter) in der Vorbereitungsphase gerichtet. Gemäß der Kooperationsvereinbarung mit der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der „In die Vorbereitung wurden Familie wurden Geauch die Opfer der familiären spräche mit Ehefrau und Tochter geführt, Gewalt einbezogen.“ um deren Wünsche und Anliegen an den zu erstellenden Plan in die Sozialnetz-Konferenz aufnehmen zu können. Um wirksame und abgestimmte Maßnahmen der Rückfallsprävention setzen zu können wurde die Teilnahme der Prozessbegleiterin an der Sozialnetz-Konferenz als Vertreterin der Opfer vereinbart. Als dann die Sozialnetz-Konferenz stattfand wurden zunächst die Problemlage und die Vorgaben und Anforderungen an den Plan benannt und visualisiert. Das umfasste die Bereiche Wohnen (Unterkunft in einer betreuten Wohneinrichtung), Tagesstruktur (Teilnahme am dortigen Tagesprogramm), Nachbetreuung und Therapie (fixer Platz im Forensisch Therapeutischen Zentrum), psychosoziale Nachbetreuung (Bewährungshelfer als Case Manager), sowie Opferschutz (Weisung zum Kontaktverbot zu den Opfern). Die konkrete Sorgeformulierung lautete: „Wie kann Herr Huber seinen Plan mit allen Auflagen verwirklichen, so dass der maximale Opferschutz gewährleistet bleibt? Wer aus dem sozialen Netz kann Herrn Huber wie behilflich sein? Welchen Plan gibt es seitens des sozialen Netzes, mit Krisensituationen (Notfallplan) umzugehen? Was geschieht, wenn eine Verschlechterung bemerkt wird?“ In der Sozialnetz-Exklusiv-Phase berieten die Unterstützungspersonen aus dem sozialen Netz von Herrn Huber ohne Beisein der professionellen Betreuungspersonen, wie der Zukunftsplan konkret aussehen könnte und wie Herr Huber unterstützt werden könnte. Um die Ideen zu entwickeln war für diese Phase ausreichend Zeit vorhanden. Herr Huber stellte dann den nun wieder anwesenden professionellen Betreuungspersonen seinen Zukunftsplan vor. Herr Huber akzeptierte das Betreuungsprogramm der zuständigen Wohneinrichtung, wollte aber auch sein langfristiges Ziel, wieder alleine wohnen zu können, genannt wissen. Für die zukünftige Tagesstruktur gab es viele Vorschläge: Die Unterstützungspersonen würden Herrn Huber bei Behördenwegen helfen (Umschulungsmaßnahmen beim Arbeitsmarktservice), aber auch bei der Freizeit- und Urlaubsgestaltung. Der Plan umfasste auch Maßnahmen zur Steigerung der Selbstständigkeit, die für das spätere eigenständige Wohnen Voraussetzung sein würde. Für den Krisenfall (auffällige Veränderung im Verhalten Herrn Hubers) wurde vereinbart, dass jede in der Sozialnetz-Konferenz anwesende Person den Bewährungshelfer kontaktieren kann. Zum Schutz der Opfer verpflichtete sich Herr Huber, sich an das gerichtliche Kontakt- und Aufenthaltsverbot zu halten und keinen Kontakt mehr zu Ehefrau und Tochter aufzunehmen. Die Schwägerin von Herrn Huber stellte sich als Verbindungsperson für die Opfer der familiären Gewalt zur Verfügung und die Kooperation zwischen Bewährungshilfe und Opferschutzeinrichtung wurde intensiviert. Am Ende der Sozialnetz-Konferenz wurde der Plan vom betreuenden Bewährungshelfer abgenommen, in schriftliche Form gebracht und an den zuweisenden Richter versendet. Bei der Hauptverhandlung wurde vom Geschworenengericht die Qualifikation auf „schwere Körperverletzung“ herabgesetzt. Der Durchführung des Zukunftsplans wurde stattgegeben. Von der ursprünglich notwendigen Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher konnte vorerst Abstand genommen werden und die vorbeugende Maßnahme wurde gemäß § 45 Strafgesetzbuch bedingt ausgesprochen. Drei Monate nach der Hauptverhandlung fand in den NEUSTART Büroräumen eine Folgekonferenz statt, bei der die Umsetzung der Ergebnisse evaluiert wurde. Bei Herrn Huber und allen Beteiligten seines sozialen Netzes sowie der Prozessbegleiterin war eine hohe Zufriedenheit mit der Umsetzung des Plans feststellbar. – [email protected] – 3 WIEN report 2015 GEGEN GEWALT AN FRAUEN UND GEWALT IN DER FAMILIE Seit April 2015 existiert eine institutionalisierte Kooperation von NEUSTART Wien mit der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. Die Bundesarbeitsgemeinschaft opferschutzorientierte Täterarbeit stellte im Dezember 2013 fest: Zur Weiterentwicklung von opferschutzorientierter Täterarbeit und Verbesserung der Gewaltprävention muss die Zusammenarbeit zwischen dem Verein NEUSTART und Op„Gefährlichkeit einschätzen ferschutzeinrichtungen, die im Bereich und Sicherheit planen führt der Prävention von zu Rückfallsprävention.“ Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt tätig sind (Interventionsstelle, Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser) ausgebaut werden. Es wurde eine Arbeitsgruppe von Expertinnen und Experten seitens NEUSTART und der Wiener Interventionsstelle eingerichtet, die einen Entwurf für die konkrete Zusammenarbeit erstellte. Zwischen diesen beiden Einrichtungen besteht schon eine enge Kooperationen im Bereich des Projekts „Rückfallprävention bei schwerer und wiederholter Gewalt“. Der Entwurf wurde beim Arbeitstreffen der Bundesarbeitsgemeinschaft 4 Täterarbeit im April 2014 in Salzburg diskutiert; danach konnten alle teilnehmenden Organisationen Rückmeldungen geben und Ergänzungen vorschlagen, die in den Entwurf der Kooperationsvereinbarung eingearbeitet wurden. Ziele der Kooperation zwischen Opferschutzeinrichtung und NEUSTART sind, dass eine gemeinsame Gefährlichkeitseinschätzung und Sicherheitsplanung erfolgt und möglichst wirksame Maßnahmen der Rückfallsprävention gesetzt werden. Im April 2015 fand eine gemeinsame Veranstaltung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wiener Interventionstelle gegen Gewalt und dem Verein NEUSTART statt; bei dieser wurden die Details der Kooperationsvereinbarung präsentiert und ein gemeinsames Prozedere für eine enge und gute Zusammenarbeit entwickelt. In bisher 21 Fällen von häuslicher Gewalt wurde eine konkrete Fallkooperation mit regelmäßiger Kommunikation und Einverständnis sowohl des betroffenen Opfers als auch des Gefährders angestrebt. Dem Ziel eines deutlich erhöhten Opferschutzes durch intensive Zusammenarbeit mit den Mitteln opferschutzorientierter Täterarbeit sind wir damit einen wichtigen Schritt nähergekommen. Durch intensive Unterstützung kann die Gefahr neuerlicher Gewalt reduziert werden – denn unsere Hilfe schafft Sicherheit! – [email protected] – www.neustart.at NEUE STANDARDS IN DER BEWÄHRUNGSHILFE Neue kriminologische Erkenntnisse führen in unserem Tätigkeitsfeld immer wieder zu Anpassungen der Methoden. In der Bewährungshilfe ist diese Weiterentwicklung wegen der relativ langen Betreuungszeit immer deutlich zu sehen. Die Betreuung von straffällig gewordenen Menschen dauert hier im Schnitt knapp drei Jahre, wodurch es besser möglich ist, auch Methoden zum Einsatz zu bringen, die Zeit und Verbindlichkeit erfordern. Waren es von 15 bis 20 Jahren die Erkenntnisse der Resilienzforschung, die in der Bewährungshilfe verwendet wurden (Orientierung an jenen Faktoren, die zum Ausstieg aus den „Die Forschung kennt die kriminellen Karrieren führen), so wurde in Faktoren für Rückfälle. Und den letzten Jahren die für den Ausstieg.“ der Fokus auf das Delikt gelegt. Mit Hilfe der Deliktverarbeitung wurde sehr konkret an Handlungsmustern und ihrer Modifikation gearbeitet. Das Einfühlen in das Opfer, das Erarbeiten und Einüben von alternativen Handlungsoptionen sind etwa Ziele dieser Maßnahmen. Schon vor mehr als zehn Jahren haben wir in der Bewährungshilfe ein Stufenmodell der Intensität der Betreuung eingeführt. Das heißt wir richten die Intensität, mit der wir in einem bestimmten Fall arbeiten, daran aus, was notwendig ist, um bei einer Person Rückfälle zu vermeiden. Um das tun zu können muss man am Beginn der Betreuung Zeit investieren und gezielt erheben, welche Ziele erreicht werden sollen. Genau diese Eingangsphase wollen wir in Zukunft noch besser mit Prognoseinstrumenten versehen, die an Forschungsergebnissen ausgerichtet sind. Die Forschung kennt mehr oder weniger gut identifizierbare kriminogene Faktoren, also solche, die oft zu Rückfällen führen. Und sie kennt Faktoren, die häufig zu einem Ausstieg aus kriminellen Karrieren führen. Wenn wir in der Erhebungsphase möglichst gut erkennen, welche dieser Faktoren in welcher Ausprägung vorliegen, können wir unser Handeln gezielt darauf ausrichten, die kriminogenen Faktoren ab- und die Ausstiegsfaktoren aufzubauen. Wir haben deswegen bei NEUSTART in einer Kooperation mit der NEUSTART Niederlassung in Baden-Württemberg ein Testverfahren entwickelt, das genau diesen Zweck erfüllen soll. Derzeit testen schon einige Kolleginnen und Kollegen dieses Verfahren. Schon bald gibt es also bei NEUSTART einen neuen sozialarbeiterischen Standard im Umgang mit Straffälligen, das „Ressourcen und Riskeninventar in der Bewährungshilfe“. Das Instrument soll Risiken rechtzeitig identifizieren und zusätzlich Unterstützung und Hinweise für den optimalen Betreuungsprozess geben. Es soll aufzeigen, in welchen Bereichen der Situation der Klientin oder des Klienten Veränderungsbedarf besteht. Der Fokus des Ressourcen- und Riskeninventars liegt infolgedessen nicht nur auf den Risikobereichen der Klientin oder des Klienten (jene Bereiche, die rückfallsrelevant sind), sondern auch auf der Ermittlung von Ressourcen und Veränderungsbereitschaft. – [email protected] – 5 WIEN report 2015 ARBEITEN GEGEN DAS ENTLASSUNGSLOCH Etwa 8.000 Personen werden jedes Jahr aus der Strafhaft entlassen. Versetzen Sie sich bitte einmal kurz in folgende Situation: Monate- oder sogar jahrelang war jede Minute Ihres Tages von der Anstaltsordnung einer Justizanstalt bestimmt. Aufstehen, Frühstück, Bewegung im Freien, Tätigkeit in der Küche, Abendessen, Schlafengehen. Nichts wurde von Ihnen selbst geplant und entschieden. Jetzt stehen Sie aufgrund eines eher plötzlich gekommenen Entlassungsbeschlusses heraußen. Endlich! Sie haben sich so auf diesen Moment „Das Leben in Freiheit gefreut. Da tauchen unangenehme muss erst wieder erlernt Fragen in Ihrem Kopf werden.“ auf: Wie finde ich eine Wohnung, einen Job? Mögen mich meine Freunde noch, meine Familie? Wie weit komme ich mit dem Entlassungsgeld, was ist dann? Und all die Formulare, Ausweise, Meldezettel die zu besorgen sind. Es könnte jetzt auch ganz schön schwer werden. Ein sehr harter Übergang führt jeden Entlassenen von drinnen nach draußen. Dieser Bruch in der Lebensweise von einem Tag auf den anderen stellt eine enorme Belastung dar, die oft zu psychischen Krisen führt. Klar, dass es dann umso schwieriger wird wieder Fuß zu fassen in der Welt. Deswegen begleitet die NEUSTART Haftentlassenenhilfe die Menschen von drinnen nach draußen. Schon in der Haft bieten wir möglichst allen Insassinnen und Insassen ein Gespräch an, um die Entlassungssituation zu besprechen. Danach beginnt mit jenen, die diese Hilfe in Anspruch nehmen wollen, die Entlassungsvorbereitung noch in Haft. Wohnen, Arbeit, 6 medizinische Betreuung, Schuldenregulierung und viele andere Dinge werden vorbereitet und die Termine für die Zeit nach der Entlassung schon mit den Institutionen, die dabei unterstützen können, vereinbart. Manchmal sehen wir, dass die Beratung nicht ausreicht, um das „Entlassungsloch“ aufzufangen. Dann schlagen wir vor, dass die Insassinen oder Insassen schon in der letzten Phase der Haft in die Werkstätte des NEUSTART Arbeitstrainings kommen. Dort trainieren sie das Verhalten in der Arbeitswelt. Vor allem aber lernen sie Menschen kennen, die nach der Entlassung ebenso da sind wie während der letzten Haftzeit. Ein Klient erzählte später von dieser Phase: „Ich wusste überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Alle Leute, mit denen ich im Vollzug reden konnte, waren weg. Ich war ja froh, nicht mehr in Haft zu sein, aber da war niemand, den ich richtig kannte und ich hatte noch keine Idee, wie ich das alles angehe. Es hat mir richtig gut getan zu wissen: Morgen früh um acht Uhr werde ich in der Werkstätte in der Schönbrunner Straße erwartet, denn da muss ich bei einem Möbeltransport helfen. Da sehe ich Leute, die ich kenne und mit denen ich einfach reden und arbeiten kann.“ Das Arbeitstraining stabilisiert den Übergang „von drinnen nach draußen“ und beugt den Krisen vor, die in der ersten Zeit nach Haft fast unausweichlich bevorstehen. Die Tätigkeit der Haftentlassenenhilfe und des Arbeitstrainings ist mit den Justizanstalten stark verschränkt. Sie baut auf der Arbeit in der Justizanstalt auf und setzt den Vollzugsplan in der Zeit knapp vor der Entlassung und danach in Freiheit fort. Die sozialen Dienste der Justiz und der Wachkörper bieten uns die Möglichkeit, diese Tätigkeit gemeinsam mit ihnen schon im Vollzug zu beginnen. Deshalb bedanken wir uns an dieser Stelle sehr herzlich für diese gute Kooperation! – kp – www.neustart.at MASSNAHMEVOLLZUG Carlo wird von uns im Rahmen der Bewährungshilfe betreut. Er wurde vor einem Jahr bedingt aus der Maßnahme nach § 21 (2) entlassen. Nach sechs Jahren Haft. Die Maßnahme mag in vielen Fällen begründbar sein. Als Reaktion auf die Straffälligkeit eines Jugendlichen, selbst mit einer schwierigen Persönlichkeit, ist sie zu hinterfragen. Als 17-Jähriger wurde Carlo im Jahr 2006 zu sechs Monaten bedingt verurteilt; die Unterbringung in einer Anstalt für geistig Rechtsbre„Bei der Straftat eines schwie- abnorme cher wurde ebenfalls rigen Jugendlichen ist die bedingt angeordnet. wohnte damals Maßnahme zu hinterfragen.“ Er in einer betreuten Wohngemeinschaft und hatte kinderpornografisches Material auf seinen Computer heruntergeladen und an Mitbewohner weitergegeben. Ein Jahr danach fühlte sich ein Betreuer durch Carlos Aussage „Ihr geht mir alle auf die Nerven, ich könnte euch erschlagen“ bedroht und erstattete Anzeige. Sowohl die bedingte Verurteilung als auch die bedingt ausgesprochene Maßnahme wurden widerrufen. Nach der Strafhaft trat Carlo die Maßnahme in der Justizanstalt Mittersteig an. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er, er werde nun eine Art stationäre Therapie machen. So erklärte ihm der Richter die Maßnahme nach der Urteilsverkündung. Dass diese „Therapie“ sechs Jahre dauern würde, wusste Carlo zu diesem Zeitpunkt nicht (der Richter hatte von einem halben Jahr gesprochen). Im Lauf der Jahre wurde Carlo regelmäßig begutachtet. Von Entwicklungsstörungen ist in den Gutachten die Rede, von ADHS, von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, von chronischen Abweichungen des Sexualverhaltens, sogar von einer Hochbegabung. Die Gutachter kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen, widersprechen einander teilweise. Außer den Eltern bleibt niemand mit Carlo in Kontakt. Das soziale Bezugssystem des nun 18-Jährigen sind Justizwachebeamte, psychosoziale Fachkräfte und Mithäftlinge. Die Rollen sind klar verteilt: hier die Guten, da die Bösen; hier die Gesunden, da die Kranken. Carlo macht eine Lehre als Schlosser in der Werkstatt der Anstalt – die einzige Möglichkeit einer Ausbildung. Immerhin darf er „draußen“ die Berufsschule besuchen und hat so auch „normale“ soziale Kontakte. Aber er hat mit dem Stigma des Häftlings zu kämpfen. Wenn sich die Schulkollegen am Wochenende zum Fortgehen verabreden, ist er in seiner Zelle eingesperrt. Alltagspraktische soziale Kompetenz erlernt er nur unzureichend. Die Rahmenbedingen in der Haft sind schlecht, 7 WIEN report 2015 HILFE 2014 IN WIEN um ihn auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Viele Notwendigkeiten des Alltags fehlen in der Haft: selbstbestimmtes Handeln, Beziehungen führen, den Umgang mit Geld lernen, Ansprüche bei Behörden durchsetzen... Carlo hat keine Perspektive, kann sein Leben nicht gestalten, seine Zukunft nicht planen, sich nicht einmal auf ein konkretes Haftende einstellen. Er kann sich nicht wie die gleichaltrigen Schulkollegen in unterschiedlichen Rollen oder Identitäten ausprobieren. Alles was er tut oder nicht tut wird kontrolliert, beobachtet und bewertet und wirkt sich auf den Verbleib in der Maßnahme aus. Nach vier Jahren sagt man ihm, er sei potenziell entlassungsfähig, aber er habe es verabsäumt, sich „draußen“ ein tragfähiges Umfeld aufzubauen. Deshalb sei eine Entlassung nicht möglich. Das empfindet Carlo als puren Zynismus. Schlussendlich wendet er sich mit Hilfe eines engagierten Anwalts an die europäische Menschenrechtskommission und macht das in der Anstalt publik. Bald darauf wird er entlassen. ... Bewährungshilfe Wien Stand zum Jahresende: 2.638 Personen Carlo findet sich in der Freiheit nur schwer zurecht. Ihm fehlt Lebenserfahrung. Er ist unsicher, seine Identität instabil. Zwar nutzt er die Unterstützung durch NEUSTART und geht regelmäßig zu seinem Therapeuten, den er aus der Haft kennt. Seine sechs Jahre im Gefängnis lassen sich weder im Lebenslauf noch in seiner Psyche kaschieren. Er findet keinen geeigneten Job, hat wenig Geld, muss auf vieles verzichten. Er würde gerne die Matura machen und studieren (das intellektuelle Potenzial wäre vorhanden), dazu fehlt aber das Geld. Carlo will nachholen – die Jugend genießen, fortgehen, reisen, lernen und sich ausprobieren. Er führt phasenweise ein exzessives Leben, geht Risiken ein, hat depressive Phasen. Dann wird er wieder aktiv und kreativ, sucht intensiv nach Arbeit, organisiert öffentliche Partys und singt in einem Chor. Sein Freundeskreis ist jünger – viele seiner Bedürfnisse entsprechen nicht seinem tatsächlichen Alter. Die Gesellschaft hingegen erwartet von ihm Eigenverantwortung, Orientierung, Zuverlässigkeit und Stabilität. „Der Preis für meine Taten ist hoch“ sagt er. Den Wert der Maßnahme für seine Entwicklung kann er nicht erkennen. Natürlich war nicht alles schlecht. Die Einzeltherapie habe ihm sehr geholfen, manche Justizbeamte waren auch als Menschen für ihn da. Vor allem aber sei seine Frustrationstoleranz gewachsen, das könne er heute gut gebrauchen. ... Elektronisch überwachter Hausarrest Erhebungen: 208 Betreuungstage (statt Haft): 20.492 ... Haftentlassenenhilfe Klienten insgesamt: 1.250 Personen ... Tatausgleich Zugewiesene Tatverdächtige: 1.342 Personen ... Vermittlung gemeinnütziger Leistungen Zugewiesene Personen: 647 ... Vermittlung gemeinnütziger Leistungen statt Ersatzfreiheitsstrafe Zugewiesene Personen: 617 ... Alternativer Strafvollzug für Finanzvergehen Vermittlung gemeinnütziger Leistungen Zugewiesene Personen: 179 ... Betreutes Wohnen Anzahl der Wohnplätze: 72 (Auslastung 88,7 Prozent) Zugänge an Klientinnen und Klienten: 123 ... Arbeitstraining Insgesamt 86 Personen mit 18.608 Stunden ... Prozessbegleitung Zugänge: 11 Personen Wir bedanken uns bei allen Zuweiserinnen und Zuweisern sowie Kooperationspartnerinnen und -partnern und bei unserer Subventions- und Fördergeberschaft für das erwiesene Vertrauen! – [email protected] – Impressum Medieninhaber, Hersteller: NEUSTART | Castelligasse 17 I 1050 Wien Redaktion: Mag. Klaus Priechenfried (kp), Nikolaus Tsekas Endredaktion und Produktion: Mag. Dorit Bruckdorfer Fotos: Felicitas Matern, NEUSTART Layout: Werbeagentur Rubikon I 8010 Graz Grafische Gestaltung: Wolfgang Grollnigg I 1210 Wien Druck: GröbnerDruck I 7400 Oberwart
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