Übersicht 62: Glaubensfreiheit (Teil 1)

Übersicht 62: Glaubensfreiheit (Teil 1)
Übersicht 63: Glaubensfreiheit (Teil 2)
Grundrechtsstruktur des Art. 4 GG
Art. 4 I, II GG
Art. 4 I 2. Alt. GG
Art. 4 III GG
= einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit (h.M.)
= Gewissensfreiheit
= Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
Argumente: andernfalls ungewollte Privilegierung der Religionsfreiheit (Wortlaut Abs. 2);
Gleichstellung in Art. 33 III 2 GG und Art. 137
VII WRV; Parallele zu Art. 9 EMRK
 Sonderfall des Art. 4 I 2. Alt. GG
(durch Aussetzung Wehrpflicht
aber obsolet)
Forum internum
Forum externum
 Freiheit, einen Glauben (religiös/areligiös) sowie gewissensbegründete (= moralische) Überzeugung zu bilden und zu haben
 Freiheit, nach einem Glauben (religiös/areligiös) sowie gewissensbegründeter Überzeugung zu handeln und diese zu bekennen
beachte: in Praxis nicht relevant, da das „innere Denken“
allein einem staatlichen Eingriff nicht zugänglich ist
Beispiele: Werbung für Glauben/Überzeugung; Tragen bestimmter
Kleidungsstücke (Kopftuch/Turban); Haar- und Barttracht; Zirkumzision; Ernährungsregeln (Schächten); caritative Altkleidersammlung;
Gottesdienste; religiöse Kindererziehung (i.V.m. Art. 6 II 1 GG)
Schutzgewährleistungen des
Art. 4 I, II GG
Positive und negative Freiheit
Religion
Weltanschauung
 im Zentrum des Sinnsystems steht ein Gottesbezug
(sog. transzendentales
Element)
 Sinnsystems ist durch
wissenschaftliche Rationalität
gekennzeichnet
(sog. Immanenz)
Übersicht 64: Glaubensfreiheit (Teil 3)
Schranken des Art. 4 I, II GG
beachte: Die Glaubensfreiheit ist vorbehaltslos gewährleistet, dennoch besteht Streit
über die Beschränkungsmöglichkeiten
Mindermeinung: Die Kirchenartikel der WRV bilden
über Art. 140 GG einen Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseinschränkungen, der neben die verfassungsimmanenten Schranken tritt
BVerfG: Es gelten allein verfassungsimmanente
Schranken (= Grundrechte Dritter und Rechtsgüter
von Verfassungsrang)
Ausprägungen: Art. 136 I WRV (staatsbürgerl. Pflichtenvorbehalt); Art. 136 III 2 WRV (Fragerecht); Art. 137 III
1 WRV (Grenzen des Selbstverwaltungsrechts)
(2) Wille der Väter des Grundgesetzes (NS-Zeit)
Argumente: (1) Normen sind mit Übernahme vollwertiges
Verfassungsrecht (selbe Rangstufe)
(2) Die Weite des Schutzbereichs verlangt Restriktionen (andernfalls „uferlose Grundrechtsausübung“)
(3) Übernahme Kirchenartikel der WRV war Kompromiss, da
bzgl. Schranken keine Einigkeit erzielt wurde
Argumente: (1) lex-posterior-Regel
(3) Systematik des Grundgesetzes, wonach Schranken im
Zusammenhang mit Grundrecht normiert sind
(4) Verortung des Art. 140 GG i.V.m. Kirchenartikeln der
WRV im Abschnitt XI des Grundgesetzes (sog. Überlagerungsthese)
(5) Art. 136 I WRV passt nicht auf einheitliches Grundrecht
des Art. 4 I, II GG und Erweiterung der Beschränkungsmöglichkeit ist „unzulässige Analogie“
Beachten Sie: Konsequenzen hat der Streit insbesondere bei Überschneidungen von Art. 4 I, II GG mit Bauplanungsrecht (Bau einer
Moschee), Gaststättenrecht (Bhagwan-Disco) oder Immissionsschutzrecht (Glockenläuten; Muezzin).
RA Dr. Michael Hein, M.A., LL.M. - 10/2015
 notwendigerweise wird auch die Freiheit
des organisatorischen Zusammenschlusses
erfasst.
Konsequenz: Kollektive Glaubensfreiheit
 neben dem Glauben, Bekennen und Handeln (die positive Freiheit entspricht
dem forum externum) ist auch die negative Seite (z.B. Nichthaben, Verschweigen des Glaubens/Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaft) geschützt (vgl. Art. 136 III 1 WRV)
 Schutz der Gemeinschaft als solche in
ihrer Existenz und Funktionsfähigkeit, ohne
dass Rückgriff auf Art. 19 III GG erforderlich
Beispiele: Nichtteilnahme Schulgebet/-sport; Art. 136 IV WRV; Recht auf Kirchenaustritt; Verweigerung von „Beflaggung“ eines Hauses (Fronleichnam)
beachte: die kollektive Freiheit ist lex specialis zu Art. 9 I GG
aber: kein Konfrontationsverbot (Gipfelkreuz; Kopftuch im Straßenraum; umstr.
bzgl. Kruzifix), da kein Fall der Zwangsidentifikation, sondern Toleranzgebot
RA Dr. Michael Hein, M.A., LL.M. - 10/2015
Freiheit des organisatorischen Zusammenschlusses
RA Dr. Michael Hein, M.A., LL.M. - 10/2015
Schema 1: Verletzung von Freiheitsgrundrechten
mit geschriebenem Gesetzesvorbehalt
Schema 2: Verletzung von Freiheitsgrundrechten
ohne geschriebenen Gesetzesvorbehalt
I.
1.
2.
3.
Eröffnung des Schutzbereichs
Sachlicher Schutzbereich
Persönlicher Schutzbereich
Grundrechtskonkurrenzen
I.
1.
2.
3.
Eröffnung des Schutzbereichs
Sachlicher Schutzbereich
Persönlicher Schutzbereich
Grundrechtskonkurrenzen
II.
1.
2.
3.
Eingriff
Eingriffsarten (klassisch/modern)
Eingriffsakt benennen, Art. 1 III GG
Problemfälle:
 Grundrechtsverzicht
 Grundrechtsverwirkung
 Bagatellen und Belästigungen
II.
1.
2.
3.
Eingriff
Eingriffsarten (klassisch/modern)
Eingriffsakt benennen, Art. 1 III GG
Problemfälle:
 Grundrechtsverzicht
 Grundrechtsverwirkung
 Bagatellen und Belästigungen
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
hier: Rechtfertigung des Eingriffs
1. Anforderungen an Schranke
Besonderheit: Erfüllung der Anforderungen bei qual. Gesetzesvorbehalt (Art. 5 II GG; Art. 11 II GG etc.)
2. Formelle Verfassungsmäßigkeit
 Gesetzgebungskompetenz, Art. 30, 70 ff. GG
 Gesetzgebungsverfahren, Art. 76-78. GG (und GOBT)
 Form, Art. 82 GG
3. Materielle Verfassungsmäßigkeit
a) Grundsätzliche Anforderungen
 Bestimmtheit
 Rückwirkung
 Zitiergebot
 Verbot des Einzelfallgesetzes
 Wesensgehaltsgarantie etc.
b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
hier: Prüfung legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit
und Angemessenheit
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
hier: Rechtfertigung des Eingriffs
1. Schrankengewinnung
abzulehnen:
 Schrankenübertragung aus Art. 2 I, 5 II GG etc.
 Gemeinwohlklausel
sondern (h.M.): Verfassungsimmanente Schranken
 Grundrechte Dritter („Grundrechtskollision“)
 Rechtsgüter von Verfassungsrang
Konsequenz: (zumindest) Schutzbereich (bei GR Dritter) bzw.
Gewährleistungsgehalt (bei RG von Verfassungsrang) inzident
prüfen, da nur dann Kollision überhaupt möglich
2. Inzidentprüfung des beschränkenden Gesetzes
beachte: wegen Art. 20 III GG einfachgesetzliche Ausprägung
nötig, die ihrerseits auf formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen
instruktiv: Hufen, Staatsrecht II, 4. Aufl. 2014, § 9 Rn. 30 ff.
Abschluss: Praktische Konkordanz
hier: angemessener Ausgleich zwischen den kollidierenden
Grundrechten bzw. Güterabwägung
Sonderproblem: Einzelfallanwendung
Sonderproblem: Einzelfallanwendung
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