HISTORIE l a i z e Sp Ihr Ansprechpartner Nico Wendt Tel. 03421 721052 [email protected] DONNERSTAG, 23. APRIL 2015 | SEITE 16 Schlimme Nächte erlebt Auszüge aus der Schulchronik Langenreichenbach LANGENREICHENBACH. Es ist der 3. Mai: Ein amerikanisches Sanitätsauto holt den bei einem Tieffliegerangriff verwundeten Becker ab. 4. Mai: Trotz der schlimmen Zeiten gibt es zu Christas Geburtstag etwas Kuchen. Durch die Gerüchte wandelt sich die Stimmung dauernd von hoffnungsvoll zu düster. Wir müssen an unsere Angehörigen in Berlin denken. Meine Frau geht nach Audenhain, um sich zu erkundigen, was man bei der Beschlagnahme der Schule mit herausnehmen darf. Lehrer Jordan hat sich einquartiert beim Bauern Werner. Die Frau berichtete von einer fürchterlichen Nacht. Die Amerikaner wären ins Haus eingedrungen und hätten die Tochter von J. vergewaltigt. Frau Werner entging mit knapper Not dem Schicksal. Jordan ist mit seiner Familie am Morgen geflüchtet. 5. Mai: Der Sonnabend war schlimm! Unablässig fuhren russische Truppen durchs Dorf, die von Mockrehna kamen und nach Süden zogen. Alle bespannt. Ein Trupp blieb im Dorf. Bereits am Tage wurde in vielen Häusern geplündert, viele Frauen und Mädchen geschändet. Auch in die Schule kamen verschiedenen Male Trupps von zwei bis drei Mann, sie nahmen und taten nichts dafür. Abends erhielten wir eine Einquartierung. Fünf Offiziere und eine Ärztin, außerdem Funker und Melder. Ein Glück. Vor der Schule steht ein Posten, die Offiziere sind umgänglich! Gut, dass Familie Roesner polnisch sprechen konnte. Abends entstand in der Küche eine angeregte Unterhaltung. Die Nacht war für das Dorf furchtbar. Nicht nur, dass alles durchstöbert und geplündert wurde, auch viele Frauen, Mädchen und Kinder wurden geschändet. Die ganze Nacht gingen kleine Trupps von Haus zu Haus und suchten vor allen Dingen Uhren, Schmuck, Schnaps und Frauen. Frauen und Mädchen flohen in die Felder. Wer in der Wohnung oder im Versteck gefasst wurde, war meist verloren. Selbst Frauen über 60 wurden nicht verschont. Auch Offiziere beteiligten sich an diesen Ausschreitungen, wie auf dem Gut. Die Folgen werden furchtbar sein, asiatische Kinder und asiatische Geschlechtskrankheiten. Noch einige solche Nächte, und Frauen und Mädchen des Dorfes sind erledigt. So will man Deutschland biologisch vernichten. Panische Angst vor der nächsten Nacht. Frauen und Mädchen der benachbarten Häuser kamen in die Schule. Sie glaubten, in der größeren Zahl besseren Schutz zu finden. Ist aber fraglich. Jetzt wohnen nachts mehr als 80 Frauen, Mädchen und Kinder in der Schule. Da kein Lagerplatz mehr vorhanden ist, sitzen sie die ganze Nacht auf Stühlen. Wenn hier etwas passieren würde, wäre es furchtbar. Am 4. Mai traf meine Frau in Audenhain flüchtende Frauen aus Mockrehna. Sie flohen vor den Russen, die in Mockrehna auch schlimm gehaust haben sollen. Frau Lantzsch floh auch mit ihren Kindern. Fortsetzung folgt. Aus Schulchronik, notiert von Rektor Willi Stiller/Quelle: Margret Galisch V ielen Dank für das breite Interesse und die große Resonanz auf unsere Artikelserie „1945 – Kriegsende“. Mit diesem regen Zuspruch hätten wir zu Jahresbeginn nie gerechnet. Viele Zeitzeugen meldeten sich, lieferten Tagebuch-Aufzeichnungen, Erlebnisberichte und Auszüge aus Chroniken. Noch immer geht fast wöchentlich Material zum Thema ein. Darüber hinaus äußerten sich Heimatforscher, Geschichtsvereine und interessierte Leser, dass sie die Serie äußerst spannend und aufschlussreich finden. Ursprünglich sollte die Rubrik in dieser Woche mit dem Elbe-Day-Jubiläum enden. Die TZ-Redaktion hat jedoch entschieden, Ihnen den Großteil der zuletzt eingesandten Beiträge nicht vorzuenthalten und die Serie auch über die nächsten Monate fortzuführen. Es erwarten Sie weitere Artikel, die das Kriegsende in Torgau, Zwethau, Arzberg, Beilrode, Dommitzsch oder Audenhain zum Teil sehr genau schildern. Heute gibt´s anlässlich der Elbe-Begegnung – die fast auf den Tag genau 70 Jahre zurückliegt – die Spezialseite. Herzlichst, Nico Wendt Die Front rückt näher heran Händedruck an der Elbe mit Symbolcharakter: Auch dieses Foto ist weltbekannt. Foto/Quelle: Archiv Bräunlich Karabiner wurden unbrauchbar gemacht Russische Truppen hatten die Elbe erreicht / Kapitulation am 8. Mai war ein besonderer Tag NEUSSEN. An der Elbe gab es von deutscher Seite überhaupt keinen Widerstand mehr. Die kleinen Trupps verschwanden alle in Richtung Dahlener Heide. Ich habe einem Trupp noch eine Karte übergeben, damit sie ihre Marschrichtung finden konnten. Die Amerikaner standen bereits an der Mulde bei Wurzen. Dort wollten alle hin, um einer russischen Gefangenschaft zu entgehen. Das Beispiel der Soldaten war auch für unseren Volksturmtrupp Veranlassung, unsere Armbinden abzunehmen und die Karabiner unbrauchbar zu machen. Für uns hatte sich die Heimatverteidigung erle- digt, da wir sahen, wie die Kampftruppen sich verdrücken. Wir bekamen auch keine Verbindung mehr zu unserem Stützpunktkommando. Die Verantwortlichen hatten sich auch verdrückt. Wir waren ja heilfroh, dass in unserer Gegend keine Abwehrfront mehr zustande kam. Die Lage hatte sich immer mehr beruhigt. Man hörte auch keinen Schlachtenlärm mehr. Die Neußener „Flüchtlinge“ kehrten im Laufe des 24. April wieder zurück, da die Front im Westen bereits die Mulde erreicht hatte und somit eine Weiterfahrt zwecklos war. Am 25. April begegneten sich dann die Jahrestage würdig begangen TORGAU. Bild oben: April 1985: Auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof ehrt der Sohn des amerikanischen Kriegsveteranen Joe Polowsky die toten Sowjetsoldaten anlässlich der 40. Wiederkehr der Begegnung an der Elbe. Bild unten: April 1960: Beim Friedenstreffen anlässlich des 15. Jahrestages binden Pioniere Kriegsveteran Joe Polowsky (rechts) und einem sowjetischen Militär zum Zeichen der Freundschaft ihr Pionier-Halstuch um. Fotos/Archiv Fritz Martin Liebe Leserinnen, liebe Leser Amerikaner und Russen in Torgau und auch bei Strehla. An diesem Tag kam auch eine kleine amerikanische Einheit mit einigen Jeeps aus Richtung Dahlen durch Neußen und fuhr Richtung Belgern. Welch ein unendliches Gefühl – der Krieg war für uns vorbei! Inzwischen hatten die russischen Truppen die Elbe bei Belgern erreicht und begannen sofort mit dem Bau einer Pontonbrücke. Am 26. April kam zuerst eine kleine russische Einheit mit Panjewagen durch Neußen. Welcher Unterschied zu den Amerikanern, die voll motorisiert waren. Uns bewegte die Frage, wie die Russen den Vormarsch mit dieser Ausrüstung schaffen konnten. Wir sollten noch staunen. Nach Fertigstellung der Brücke in Belgern setzte eine ganze Sowjetarme über die Elbe. Es kamen gewaltige Panzerkolonnen und motorisierte Truppen mit schweren Geschützen, die durch Neußen in Richtung Oschatz/Chemnitz zogen, da im Sudetenland (heute Tschechien) die deutschen Truppen eingeschlossen waren und dort noch bis zum 8. Mai 1945 gekämpft wurde. Die Truppenbewegung ging tagelang. Wir gaben ihr den Namen „Armee Rote Fahne“, da alle Fahrzeuge rote Wimpel trugen. Uns gingen schließlich die Augen über, welche Kräfte die Sowjetarmee am Kriegsende noch aufzubieten hatte. Es war gewaltig. So viel Militärtechnik hatten wir noch nicht gesehen. Fortsetzung folgt Walter Winkler Noch schnell die Elbbrücke überschritten Ilse Schumann erlebte als 18-Jährige das Kriegsende in der Region Torgau TORGAU. April 1945: Ilse Schumann, damals Breitenbach, ist vermutlich die letzte in Torgau lebende Zeugin, die in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1945 die Elbbrücke passierte. Die 18-Jährige war mit ihrer Familie im Herbst aus dem Osten gekommen. Der Vater und dessen Kollegen, Gestütswärter in Trakehnen, hatten die verbliebenen Pferde nach Graditz überführt. Nun war Befehl gekommen, auch Graditz zu verlassen, weil „der Russe“ käme. Ilse hatte beim Auszug aus Ostpreußen mit dem Schreiben eines Tagebuchs begonnen. Das sollte zwar später bei der Flucht in der Dübener Heide verlorengehen, doch jemand fand es im Dreck und gab es ihr am 9. Juli zurück, weshalb es noch immer, wenngleich lädiert, in ihrem Besitz ist. So kann man dort nachlesen, dass sie am 24. April ’45 bereits das Grummeln der Front in der Ferne vernommen habe, als man spätabends mit wenig Sack und Pack über die Elbbrücke gezogen sei. Und kaum hätten sie diese passiert, war der laute Knall hinter ihrem Rücken zu hören gewesen. Mehrmals hätte es gerumst. Das war die Brücke, hätte einer im Tross gesagt. Diese Idioten. Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht. Gegen 16 Uhr schon reichten sich Amerikaner und Russen auf den Trümmern die Hände. Was Ilse Breitenbach erst später aus den Geschichtsbüchern erfuhr, denn sie und ihre Familie irrten etwa zwei Wochen lang kopflos durch die Dübener Heide, nächtigten im Freien und froren in der Frühlingskälte. Schließlich fanden sie Aufnahme in Wöllnau, der Kindergarten bot Obdach. Am 19. Mai, morgens um 5 Uhr, starb Wilhelmine Schattner, die Oma. Die Anstrengungen waren für die 79-Jährige zu groß gewesen. Pfingstmontag, zwei Tage später, wurde sie in einem fremden Hemd in fremder Erde bestattet. Am 23. Mai holten Wilhelm B., den Vater, russische Soldaten nach Winkelmühle. Er zog das Bein, vom Rheuma geplagt, noch stärker nach als sonst. Nach einigen Tagen Arbeitseinsatz kapitulierten die Sowjets und brachten ihn nach Wöllnau zurück. Ein Soldat kutschierte im Kastenwagen die Familie am 14. September bis an die Elbe. Der gutmütige Russe fragte: Ist das die Mulde? Über eine Behelfsbrücke gelangten die vier über die Elbe nach Graditz. Die Odyssee war zu Ende. Die Familie bekam Quartier bei Familie Großmann. Die Kreisbauernschaft, in der Ilse B. seit Herbst 1944 gearbeitet hatte, war inzwischen zum »Tierzuchtamt« mutiert und hatte ihre Dienststelle von der Torgauer Bäckerstraße in eine Scheune nach Falkenberg verlegt. Als man dort hörte, dass in Graditz ein Ehepaar und deren beide Töchter Selbstmord begangen hätten, löste das helle Aufregung im Amt aus: Es könnte eventuell ihre junge Kollegin aus Ostpreußen gewesen sein, von der man geraume Zeit nichts gehört hatte. So traf eines Tages in der Bürgermeisterei in Wöllnau eine Postkarte mit der besorgten Anfrage ein. Da aber waren die Breitenbachs bereits wieder in Graditz. Irgendwann erreichte Ilse B. diese Karte. Sie fuhr sofort mit der Mutter nach Falkenberg und nahm ihre Arbeit als Sekretärin im »Tierzuchtamt« wieder auf. Bis 1948 lief sie täglich von Graditz nach Beilrode. Dort stieg sie in die Bahn, in der auch Werner S. aus Torgau saß. Er kam aus britischer Kriegsgefangenschaft und musste in Falkenberg seine Korbmacherlehre zu Ende bringen. Im Zug baggerte er sie an, sagt sie heute. Damals hieß das wohl anders. Jedenfalls wurde aus der Bahnbekanntschaft mehr. Anfang 1948, nachdem sie in die Familie in der Leipzi- Frank Schumann mit seiner Mutter Ilse. Foto: privat ger Straße 19 eingeführt worden war, verlobte man sich. Die am 11. September 1948 geschlossene Ehe stand unter keinem besonders glücklichen Stern. Am Datum wird’s wohl nicht gelegen haben, der 11. 9. sollte erst im Jahr 2001 eine gewisse Bedeutung erlangen ... In den 70er-Jahren zog Ilse B., geschiedene S., in die Wintergrüne 2. An der Wand des Hauses, das an das Eckgebäude grenzte, standen noch immer die kyrillischen Lettern und der Pfeil, der in die Richtung der Küche des 2. Bataillons deutet. Der Hinweis steht, gottlob, noch heute dort. Es ist von allen Denkmalen, von denen es in Torgau so viele gibt, jenes, das am meisten anrührt. Dieses Zeugnis ist zutiefst menschlich, es verweist auf ein irdisches Bedürfnis: Der Mensch muss essen! In dieser einen Zeile wird sichtbar, was mitunter schon wieder in Abrede gestellt wird: Es trafen sich am 25. April an der Elbe nicht uniformierte Besatzer oder Barbaren, sondern Menschen. Und man muss ferner hinzufügen, weil auch das inzwischen aus dem Blick zu geraten droht: Sie kamen nicht aus freien Stücken. Sie kamen mit ihren Panzern und Kanonen, weil zuvor deutsche Soldaten ihre Nachbarn heimgesucht und eine Spur der Vernichtung und Zerstörung gezogen hatten. Die hatte man nun vertrieben und über die Elbe gejagt. Frank Schumann TORGAU. Am 16. April 1945 erhielt meine Mutter die Aufforderung, dass ja unmittelbar an der Elbe liegende Haus zu verlassen. (Heute wissen wir, es war der Tag des Beginns der Oderoffensive der Sowjetarmee). Wir hatten das Glück, im Haus des Bäckermeisters Willi Bolde in der Spitalstraße 29 unterzukommen. Die „Meestern“, wie die Frau des Bäckermeisters allgemein genannt wurde, war Vaters Schwester, also meine Tante „Hanni“. Willi Bolde ist der Urgroßvater von Andreas Bolde, der noch heute in der Schlossstraße eine Bäckerei, nunmehr in vierter Generation, betreibt. Es war wohl am frühen Nachmittag, dem 24. April 1945, als eine Artilleriegranate in das Eckhaus Bäckerstraße/Wintergrüne einschlug. Ein Splitter dieser Granate flog bis in den Hof der Bäckerei Bolde. Ein französischer Kriegsgefangener, der in der Bäckerei arbeitete, definierte auf unerklärliche Weise diesen Splitter als von einer russischen Granate stammend und war durch nichts aufzuhalten, vor dem absehbaren russischen Einmarsch gen Westen zu flüchten. Zumindest die Nacht auf den 25. April verbrachten die Bewohner des Hauses Spitalstraße 29 im ehemaligen Bierkeller, der noch unter dem Kohlenkeller lag. Am frühen Morgen des 25. April, nach meinem Empfinden kurz nach 3 Uhr, klopften uns Volkssturmmänner ungefähr mit den Worten: „Los Willi, steht auf, haut ab, der Russe steht am Brückenkopf“ aus dem Schlaf. Die Handwagen standen bepackt fluchtbereit, binnen weniger Minuten waren wir unterwegs Richtung Westen zur Eilenburger Straße. Es war noch dunkel, als wir auf der Eisenbahnüberführung kurz haltmachten. Für mich Elfjährigen war es ein interessanter Anblick von der Höhe der Überführung Richtung Osten, wo jenseits der Elbe der Gefechtslärm zu hören war. Leuchtspurgeschosse hin und her flogen, Brände loderten. Und dann folgende Episode: Mein Onkel Willi (Bäckermeister Bolde) brachte es fertig, angesichts dieser Kriegsszenerie und der Fluchtsituation meiner Mutter in aller Form zu ihrem 40. Geburtstag zu gratulieren. Es ging weiter auf der B 87, ich auf Mutters Fahrrad dem Treck ein Stück voraus, als kurz vor Sonnenaufgang – es kündigte sich ein strahlender Frühlingstag an und wir waren inzwischen im Wald zwischen Klitzschen und Audenhain angekommen – eine gewaltige Explosion mich fast vom Fahrrad riss: Die Elbbrücke war gesprengt worden. Es folgten noch mehrere nicht so heftige Explosionen: die Sprengung der Eisenbahnbrücke und mehrerer Brücken über den Schwarzen Graben. Eine weitere Erinnerung hat sich festgesetzt: der Anblick der abgekämpften, kriegsmüden und demoralisierten deutschen Soldaten in den Straßengräben zwischen Audenhain und Mockrehna. Es war wohl gegen 10 Uhr, als wir in Doberschütz ankamen. „Onkel Willi“ hatte bei einem wohlhabenden Bauern Quartiert für seine Familie gefunden. Ich erinnere mich: das Gehöft lag rechts hinter der scharfen Kurve der B 87 kurz vor dem Ortsausgang Richtung Eilenburg. Die Lage bot später gute Beobachtunsmöglichkeiten in das Dorf hinein. Fortsetzung folgt Friedrich-Wilhelm Giesel, Templin
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