Fortschritte der Medizin 121. Jg. – Originalien Nr. I/2003, S. 1–4 Audimont – eine wissenschaftliche Expedition zum Cho Oyu im Himalaya Von K. Mees, A. Behnisch, M. Suckfüll D er Höhentourismus expandiert seit Jahren mit eindrucksvollen Zuwachsraten. In den Himalaya, die Andenländer und an Elbrus und Kilimandscharo ziehen inzwischen jährlich knapp eine halbe Million Höhentouristen. Die Nachfrage nach einer höhenmedizinischen Beratung steigt dementsprechend seit Jahren kontinuierlich. Diese setzt vor allem auch eine Kenntnis allgemeiner und individueller höhentypischer Risiken voraus. Nachdem bereits seit 1938 immer wieder über Hör- und Gleichgewichtsstörungen bei Höhenbergsteigern berichtet wird [3, 5–8] und deren Ursache nach wie vor unklar ist [4], sollte im Rahmen der Forschungsexpedition das Risiko für Gehör und Gleichgewicht quantifiziert werden. Hierbei wurde überprüft, wie die Sinneszellen des Hör- und Gleichgewichtsorgans auf den reduzierten Sauerstoffpartialdruck reagieren und ob Funktionsstörungen peripherer oder zentraler Genese sind. Im Herbst 2002 begleiteten Axel Behnisch und Klaus Mees, beide HNOKlinik der LMU München, mit einem Film-Team des ZDF eine Expedition Prof. Dr. med. K. Mees, Dr. med. A. Behnisch, Priv.Doz. Dr. med. M. Suckfüll, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke (Direktor: Prof. Dr. med. E. Kastenbauer), Klinikum Großhadern der LMU München. Die höhenmedizinische Expedition wurde unterstützt vom Wissenschaftlichen Herausgeberkollegium der MMW. Siehe auch die kommentierte Kurzfassung dieser Arbeit: K. Mees et al.: „Dünne Luft“ im Innenohr. MMWFortschr. Med. 145 (2003), 101. Abb. 1: Nordwestflanke (tibetische Seite) des Cho Oyu (8201 m). zum Cho Oyu (Abb. 1). Mit 8201 m ist er der sechsthöchste 8000er. Er liegt direkt auf der Grenze zwischen Nepal und Tibet. Die tibetische Nordwestflanke ist relativ gut erreichbar, die wissenschaftliche Ausrüstung kann Z U S A M M E N F A S S U N G Seit 1938 wird immer wieder über Hör- und Gleichgewichtsstörungen bei Höhenbesteigern berichtet, die Ursache ist nach wie vor unklar. Im Herbst 2002 wurde im Rahmen der Forschungsexpedition Audimont I an dem 8201 Meter hohen Cho Oyu überprüft, wie die Sinneszellen des Hör- und Gleichgewichtsorgans auf den reduzierten Sauerstoffpartialdruck reagieren. Während die vestibulären Sinneszellen unter den Bedingungen der Höhenadaptation keine Funktionsstörungen erkennen ließen, waren solche bei den kochleären Zellen jedoch nachweisbar. Mittels Ableitung otoakustischer FORTSCHRITTE DER MEDIZIN - Originalien 121. Jg., Nr. I/2003, K. Mees et al., Himalaya Emissionen konnte festgestellt werden, dass mit zunehmender Höhe das emittierte Signal der äußeren kochleären Haarzellen zwar schwächer wird, aber die Kurven der Distorsionsprodukt-Emissionen nicht denen einer Durchblutungsstörung entsprechen. Hörstörungen in extremen Höhen sind folglich Ausdruck eines erhöhten perilymphatischen Drucks und eines drohenden Höhenhirnödems, wobei die Drucksteigerung im Perilymphraum des Innenohrs eine unmittelbare Folge des erhöhten Hirndrucks ist. Schlüsselwörter: Höhenmedizin – Hören – Gleichgewicht – AudimontExpedition 1 Audimont – wissenschafltiche Himalayaexpedition mit Allrad-Jeeps bis zum unteren Basislager auf 4900 m transportiert werden und von dort mit Yaks in zwei Tagen zum vorgeschobenen Basislager auf 5600 m, dem Ausgangspunkt für die Besteigung. Gut 40 kg Medizintechnik wurden so an den Berg gebracht und später mithilfe von Sherpas am Berg transportiert. brinogenspiegels [2] die Strömungseigenschaften des Blutes [10], die Gerinnungsneigung nimmt zu und somit auch das Risiko für thrombotische und embolische Gefäßverschlüsse. Die häufigste Todesursache in extremen Höhen ist deshalb auch – abgesehen von tödlichen Verletzungen im Gefolge von Spaltenstürzen und Lawinenverschüttungen – die Lungenembolie [1]. Anpassung an die physikalischen Bedingungen in extremer Höhe Mit zunehmender Höhe sinkt die Luftdichte. Beträgt sie auf Meereshöhe noch 760 mmHg, so sind es auf Everest-Höhe (8850 m) weniger als 255 mmHg. In gleicher Weise vermindert sich auch der Sauerstoffpartialdruck. Auf 5500 m ist er bereits um 50% reduziert und auf 8000 m beträgt er nur etwa 35%. Würde man kurzfristig in solche Höhen vordringen, dann käme es zu charakteristischen hypoxiebedingten Reaktionen. Ab etwa 4500 m tritt in zunehmendem Maß Schwindel auf und jenseits von 6000 m entwickelt sich kurzfristig Bewusstlosigkeit, auf 8000 m bereits innerhalb von zwei Minuten. Höhen jenseits von 5500 m können deshalb nur nach einer drei- bis vierwöchigen Akklimatisation, d. h. nach Anpassung von Atmung und Kreislauf, erreicht werden. Im Rahmen der Akklimatisations- und Anpassungsvorgänge, die nahezu ausschließlich der Erhöhung der Sauerstoff-Transportkapazität dienen, kommt es zu einer ausgeprägten Konzentration des Blutes und somit zu einer relativen Erhöhung der Erythrozyten. Hierdurch wird die Sauerstoffbeladung in der Lunge zwar deutlich verbessert und – was allerdings weniger vorteilhaft ist – auch die Fließeigenschaften des Blutes werden verschlechtert. Ein Hämatokrit von 55% ist bei Höhenbergsteigern keine Seltenheit [12], jenseits dieses Wertes steigt die Blutviskosität allerdings steil an. In Vorversuchen konnten wir [9, 11] nach2 Messtechnik Abb. 2: Aufsicht auf die Haarzellreihen in der spiralig gewundenen Cochlea. weisen, dass eine Erhöhung des Hämatokrit auf 58% bereits den kochleären Blutfluss um 40% reduziert. Die Blutviskosität wird darüber hinaus auch durch das nachlassende Durstgefühl in der Höhe und durch die eingeschränkten Möglichkeiten der Flüssigkeitsaufnahme erhöht, ebenso durch die trockene Luft und den Wasserverlust über die Atmung. Bereits ab –10 ºC ist die Luft wasserdampffrei, somit muss der gesamte Wasserdampfdruck von 47 mmHg aus Wasser, das der Schleimhaut des Respirationstrakts entzogen wird, aufgebaut werden. Unter diesen Bedingungen können bis zu zwei Liter Wasser täglich verloren gehen, unter körperlicher Anstrengung sogar noch mehr. Auch die Kälte beeinträchtigt die Mikrozirkulation. Bis auf 8000 m fällt die Temperatur bis auf etwa –30 ºC. Bei Wind steigt das Kälteempfinden rasch weiter an. Bereits Windgeschwindigkeiten von etwa 65 km/h führen zu einer Verdopplung der Kälte auf der Haut, d. h. zu einem Temperaturempfinden von etwa –60 ºC. Unter solchen Bedingungen gefrieren exponierte Hautareale innerhalb von 60 Sekunden und das Risiko der Hypothermie, die im Rahmen der Kreislaufzentralisation die Mikrozirkulation weiter verschlechtert, nimmt zu. Schließlich verschlechtert auch die hypoxieinduzierte Erhöhung des Fi- Die Funktion des Innenohrs wurde mit einem relativ jungen diagnostischen Verfahren, den otoakustischen Emissionen, bestimmt. Dieses ist zwar aufwendig, aber einfach zu handhaben und zuverlässig. Die in das Ohr eindringende Schallenergie „aktiviert“ die kontraktilen äußeren Haarzellen (Abb. 2). Deren Kontraktionen, die eine essenzielle Voraussetzung bei der Verstärkung und Frequenzauflösung der Schallwellen an der Basilarmembran sind, führen zu akustischen Geräuschaussendungen, die im äußeren Gehörgang mit einem hochempfindlichen Mikrofon aufgefangen werden können. Mit den kochleären Distorsionsprodukt-Emissionen (DPOAE) können frequenzassoziierte Einschränkungen des Gehörs und indirekt die Hörschwelle abgeschätzt werden. DPOAE entstehen, wenn das Hörorgan mit zwei Sinustönen unterschiedlicher Frequenz stimuliert wird. Die Frequenz der Distorsionsprodukte (2f1-f2) unterscheidet sich von den Reizpegelfrequenzen (f1, f2). Eine Diskrimination von Reiz und Antwort ist somit ohne zeitliche Verzögerung gewährleistet. Bei den Reiztönen wurde ein Frequenzverhältnis von f1/f2 = 1,2 gewählt und mit den Reizfrequenzen 1/1,2 kHz, 2/2,4 kHz und 4/4,8 kHz stimuliert. Die Reizpegel L1 und L2 waren unterschiedlich. Um eine niedrigere Emissionsschwelle zu erzielen, wurde mit einer Pegeldifferenz L1–L2 = 10 dB in 5-dB-Schritten zwischen L1 = 35 und 70 dB/SPL ge- FORTSCHRITTE DER MEDIZIN - Originalien 121. Jg., Nr. I/2003, K. Mees et al., Himalaya Audimont – wissenschafltiche Himalayaexpedition Abb. 3: Messung in den Hochlagern mit Strom aus portablen Akkus. messen. Input-Output-Kurven wurden bei 1, 2 und 4 kHz mit steigenden Reizpegeln zwischen 35 und 70 dB SPL abgeleitet. Zur Generierung und Ableitung von DistorsionsproduktEmissionen verwendeten wir eine Madsen Capella Messeinheit*. Messungen wurden vor dem Abflug nach Nepal in München durchgeführt und vor Ort im vorgeschobenen Basislager auf 5600 m, dem ersten Hochlager auf 6450 m und im zweiten Hochlager auf 7050 m (Abb. 3 und 4). Neben den kochleären wurden auch die vestibulären Sinneszellen auf hypoxische Funktionseinschränkungen überprüft. Die Messungen erfolgten mit einem Hortmann Video CNG Analyser*. Über eine Videobrille mit integrierten Infrarot-Videokameras wurden Augenbewegungen auf den unterschiedlichen Höhenstufen zwischen Basislager und zweitem Hochlager sowohl grafisch als auch optisch abgeleitet. Ergebnisse Mit zunehmender Höhe wird das emittierte Signal der äußeren Haarzellen schwächer und auch der Basislager-Ausgangswert wird nach Besteigung des Gipfels und der Rückkehr * GN Otometrics GmbH & Co. KG, D-72654 Neckartenzlingen. Abb. 4: Messung im zweiten Hochlager (7050 m). zum Basislager nicht sofort wieder erreicht. Diese Befundkonstellation lässt sich bei allen gemessenen Frequenzen, bei 1000, 2000 und 4000 Hz, nachweisen. Auffällig ist darüber hinaus vielfach auch eine überproportionale Signalreduktion bei 1000 Hz. Auf den gemessenen Höhenstufen konnte ein Nystagmus in keinem Fall provoziert werden, auch dann nicht, wenn Teilnehmer über eine diffuse Gangunsicherheit klagten. Ein Teilnehmer entwickelte kurz vor dem Gipfelplateau auf knapp 8100 m ein Höhenhirnödem mit charakteristischer Ataxie. Messungen führten wir verständlicherweise nicht durch, da die Lebensrettung bzw. der sofortige Transport nach unten selbstverständlich absoluten Vorrang vor dem wissenschaftlichen Interesse hatte. Als Ursache für die Einschränkung der Haarzellfunktion im Innenohr müssen gegenwärtig zwei Hypothesen diskutiert werden, die rheologische Hypothese und die Druckhypothese. Sowohl die gestiegene Blutviskosität als auch die verschlechterte Mikrozirkulation können als klassische Risikofaktoren die Befunde erklären, ebenso allerdings auch die Erhöhung des intrakraniellen Drucks. Dieser steigt in der Höhe als Folge des erniedrigten arteriellen Sauerstoffpartialdrucks an und ist gekennzeichnet durch eine Zunahme des Intra- und FORTSCHRITTE DER MEDIZIN - Originalien 121. Jg., Nr. I/2003, K. Mees et al., Himalaya Extravasalvolumens. Hierbei kommt es zwangsläufig auch zu Drucksteigerungen im Perilymphraum des Innenohrs, da dieser über den Aquaeductus cochleae mit dem zerebralen Subarachnoidalraum kommuniziert. Steigerungen des perilymphatischen Drucks beeinträchtigen letztlich auch die Motilität der Basilarmembran und der äußeren Haarzellen, was sich gleichfalls in einer Abschwächung der Distorsionsprodukt-Signale widerspiegelt. Von beiden Hypothesen zur Entwicklung von Hörstörungen beim Expeditionsbergsteigen halten wir nun die Druckhypothese für zutreffender. Bei Durchblutungsstörungen sind die Distorsionsprodukt-Emissionen nur bei niedrigen Reizpegeln eingeschränkt. Bei unseren Messungen konnten aber bei allen Reizpegeln Signalreduktionen abgeleitet werden. Zudem konnten wir in experimentellen Voruntersuchungen unter Normoxie bei charakteristischen Hämatokritwerten, wie sie in extremen Höhen vorliegen, keine signifikante Abschwächung der DistorsionsproduktEmissionen nachweisen. Trotzdem wollen wir aber nicht völlig ausschließen, dass unter den extremen physikalischen Bedingungen jenseits der so genannten Todeszone auch noch eine rheologische Komponente hinzukommen kann. 3 Audimont – wissenschafltiche Himalayaexpedition Summary: Audimont – a Scientific Research Expedition to Mount Cho Oyu in the Himalayas Even though hearing and vestibular disorders at high altitude have been reported since 1938, their reasons are still unknown. During the Audimont Research Expedition the risk for cochlear and vestibular sensory cells has been quantified by otoacoustic emissions and videonystagmography. Vestibular disorders could not be observed up to 7050 meters. However, the outer hair cells in the inner ear showed a reduction of emissions at increasing height. The pattern of the inner ear reply, depending on the altitude, complies with an increase of the perilymphatic pressure. As the perilymphatic space corresponds directly to the subarachnoid space, the limitation of hearing thus appears to be a direct consequence of raised intracranial pressure. Keywords: High altitude medicine – hearing – equilibrium – Audimont research expedition Literatur 1. Berghold, F., Schaffert, W.: Physiologie und Medizin der großen und extremen Höhen. Lehrskriptum Alpin- und Höhenmedizin. ÖGAHM, BexMed 2000. 4 2. Imoberdorf, R., Garlick, P. J., McNurlan, M. A., et al.: Rate of synthesis of albumin and fibrinogen at high altitude. J. Appl. Physiol. 90 (2001), 528–537. 3. McFarland, R. A.: Psycho-physiological studies at high altitude in the Andes. J. Comp. Psychology 23 (1938), 147–188. 4. Mees, K., Suckfüll, M.: Kochleo-vestibuläres Risiko beim Höhenbergsteigen. Laryngo-Rhino-Otol. 81 (2002), 465–468. 5. Nordahl, S. H., Aasen, T., Owe, J. O., Molvaer, O. I.: Effects of hypobaric hypoxia on postural control. Aviat. Space Environ. Med. 69 (1998), 590–595. 6. Oelz, O.: Mit Eispickel und Stethoskop. AS, Zürich 1999. 7. Rosenberg, M. E., Pollard, A. J.: Altitude-dependent changes of directional hearing in mountaineers. Br. J. Sports Med. 26 (1992), 161–165. 8. Sharp, G. R.: 1978; In: Berghold, F., Schaffert W.: Physiologie und Medizin der großen und extremen Höhen. Lehrskriptum Alpin- und Höhenmedizin. ÖGAHM, BexMed 2000. 9. Suckfull, M., Mees, K.: Hemoconcentration as a possible pathogenic factor of sudden hearing loss. Eur. Arch. Otorhinolaryngol. 255 (1998), 281–284. 10. Suckfüll, M., Wimmer, Ch., Reichel, O., et al.: Hyperfibrinogenemia as a risk factor for sudden hearing loss. Otol. Neurootol. 23 (2002), 309–311. 11. Suckfüll, M., Winkler, G., Thein, E., et al.: Changes in serum osmolarity influence the function of outer hair cells. Acta Otolaryngol. 119 (1999), 316–321. 12. Winslow, R. M., Samaja, M., West, J. B.: Red cell function at extreme altitude on Mount Everest. J. Appl. Physiol. 56 (1984), 109–116. Für die Verfasser: Prof. Dr .med. Klaus Mees, Universitäts-HNO-Klinik, Klinikum Großhadern, Marchioninistr. 15, D-81377 München FORTSCHRITTE DER MEDIZIN - Originalien 121. Jg., Nr. I/2003, K. Mees et al., Himalaya
© Copyright 2025 ExpyDoc