M. Brenneisen (Hrsg.): Stigmatisierung-Marginalisierung

M. Brenneisen (Hrsg.): Stigmatisierung - Marginalisierung - Verfolgung
Brenneisen, Marco; Eckel, Christine; Haendel,
Laura; Pietsch, Julia (Hrsg.): Stigmatisierung
– Marginalisierung – Verfolgung. Beiträge des
19. Workshops zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Berlin: Metropol Verlag 2015. ISBN:
978-3-86331-257-2; 271 S.
Rezensiert von: Kurt Schilde, Gedenkstätte
Deutscher Widerstand
Seit 1994 organisieren Promovierende der
Geschichts- und anderer Wissenschaften
in Selbstorganisation schon die Workshops
zur Geschichte (und Gedächtnisgeschichte)
der
nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Die jährlichen Treffen finden in
der Regel in bzw. in Zusammenarbeit mit
KZ-Gedenkstätten im In- und Ausland statt
und werden (seit 2000) dokumentiert.1 Der
19. Workshop mit dem Themenspektrum
„Stigmatisierung – Marginalisierung – Verfolgung“2 hat mit 27 Teilnehmerinnen und
Teilnehmern vom 2.–6. Oktober 2013 in Kassel
stattgefunden. Als interdisziplinär konzipierter Schwerpunkt ist er in Zusammenarbeit
mit der Gedenkstätte Breitenau (Nordhessen),
der KZ-Gedenkstätte Moringen (südliches
Niedersachsen) sowie unter dem Schirm der
KZ-Gedenkstätte Neuengamme organisiert
worden. Deren Leiter Gunnar Richter (Breitenau), Dietmar Sedlaczek (Moringen) und
Detlef Garbe (Neuengamme) erinnern in
ihrem Grußwort an die „lange Geschichte des
Wegsperrens sozial und politisch missliebiger
Menschen“ – „die nicht erst in der NS-Zeit
begann und auch nicht mit ihr endete“ (S. 7).
Der Band umfasst zehn deutsch- und zwei
englischsprachige Beiträge von zwölf Vortragenden bzw. Teilnehmenden des Workshops.
Sie sind mit englischsprachigen Abstracts
versehen.
Zunächst werden Erkenntnisse aus drei
laufenden regionalen Fallstudien zu den Auswirkungen von Marginalisierung und Stigmatisierung vorgestellt. Eingangs hat Roman
Birke auf der Basis von Akten der Landesund Erbgesundheitsgerichte sowie der Gesundheitsämter in Linz, Graz und Wien die
Praxis der „freiwilligen Entmannung“ homosexueller Männer zwischen 1938 und 1945
nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken
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Nachwuchses“ untersucht. „Etwa 2800 Männer, die meisten von ihnen wegen Kindesmissbrauchs verurteilt, wurden bis 1945 einer solchen Zwangskastration unterworfen.“
(S. 37) Er stellt dabei fest, dass „die vom Gesetz geforderte Freiwilligkeit nicht existierte“
(S. 41).
Mit einem Forschungsdefizit hat sich Karoline Georg beschäftigt und die Einweisung
von Juden in Konzentrationslager in den ersten Jahren des NS-Staates untersucht. Unter
Rückgriff auf Ernst Fraenkels „Doppelstaat“
beleuchtet sie am Beispiel des Berliner Konzentrationslagers Columbia die Inhaftierung
von Juden 1935 als frühe antijüdische Maßnahme. Anhand biografischer Beispiele geht
sie der Frage nach, welche Bedeutung der „Inschutzhaftnahme“ bei der „Durchsetzung antijüdischer Maßnahmen und der Manifestierung der Ausgrenzung und Verfolgung der
jüdischen Bevölkerung zukam“ (S. 59). Waren
in den Jahren 1933/34 im Columbia-Haus –
so die bis heute weitgehend übliche Bezeichnung – überwiegend „als politische Feinde
Definierte“ (S. 60) inhaftiert, sind 1935 verstärkt Homosexuelle, Geistliche, Zeugen Jehovas, „Unangepasste“ und eben Juden dort
gefangen gehalten worden. „Wer als Jude
galt, bestimmten die Wachmannschaften ihrer rassistischen Ideologie folgend“ (S. 61).
Im Unterschied zu den anderen Häftlingskategorien bildeten sie eine sehr heterogene Kategorie: Sie stammten aus allen Schichten der Gesellschaft, hatten unterschiedliche
weltanschauliche Bezüge und „unterschiedlichste politische Überzeugungen.“ (S. 61) Eine gemeinsame Identität als Juden konnte
es nicht geben, „da ihr gemeinsames Merkmal ein von der SS zugeschriebenes war“
(S. 61). Als ein Fazit stellt Georg fest, dass
der Terror gegen jüdische Häftlinge ein wichtiger Beitrag zur Entsolidarisierung zwischen
1 Petra
Haustein / Rolf Schmolling / Jörg Skriebeleit
(Hrsg.), Konzentrationslager – Geschichte und Erinnerung. Neue Studien zum KZ-System und zur Gedenkkultur (7. Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager, 12.–15.10.2000 in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg), Ulm 2001.
2 Vgl. den Call for Papers: <http://www.hsozkult.de
/event/id/termine-21009> sowie den Tagungsbericht über das Treffen, in: H-Soz-Kult, 21.01.2014:
<http://www.hsozkult.de/conferencereport/id
/tagungsberichte-5196> (19.02.2016).
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jüdischer Minderheits- und nicht-jüdischer
Mehrheitsbevölkerung war. Sie ergänzt, dass
das KZ Columbia als Ausbildungsstätte des
Bewachungspersonals „eine Schlüsselrolle in
der Radikalisierung der antijüdischen Verfolgungspraxis zugekommen“ (S. 73) ist. Im dritten Text des ersten Abschnitts geht es um die
„Sicherungsverwahrung“ von als „Gewohnheitsverbrecherinnen“ bezeichneten Frauen.
Im Fokus der Studie von Katharina Möller
stehen die „Kontinuitäten der Ausgrenzung,
die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik begann und sich bis in die Bundesrepublik fortsetzte“ (S. 94).
In den drei Beiträgen des zweiten Themenblocks geht es um Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse innerhalb der Konzentrationslager. Zunächst thematisiert die Mitherausgeberin Julia Pietsch die Auswirkungen
der Kennzeichnung „Jude“ für Häftlinge des
im Norden Berlins gelegenen frühen KZ Oranienburg 1933/34. Gegenstand ihrer auf Akten der Lagerverwaltung und politischen Polizei basierenden Studie ist die „Judenkompanie“. Als Korrektiv zu der Tätersicht hat
sie Erinnerungsberichte, Entschädigungsakten und weitere Zeugnisse von Häftlingen
ausgewertet. Die Häftlingskartei enthält keinen Hinweis auf Religion oder „Rasse“. „Eine ‚jüdische’ oder ‚mosaische’ Religion war
lediglich auf einigen [. . . ] Transportzetteln
oder Gerichtsunterlagen vermerkt.“ (S. 104)
Pietsch stellt für das KZ Oranienburg – analog zu Georg für das KZ Columbia – die Heterogenität der als Juden angesehenen Häftlinge fest. Sie kommt – Michael Wildt folgend – zu dem Schluss: Das KZ Oranienburg mit seiner ‚Judenkompanie’ kann als
früher „Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Umgestaltungswillens, eines politischen
Projekts des sozialrassistischen Umbaus der
Gesellschaft“3 gelten.
Anschließend plädiert Anke Binneweg für
eine „stärkere Einbeziehung der historischen
Bauforschung in die KZ-Forschung und ihre Verknüpfung mit historischen Quellen“
(S. 30). Sie hat die „Bauliche und räumliche
Ausprägung von Stigmatisierungs- und Verfolgungsprozessen am Beispiel des ehemaligen KZ Buchenwald“ untersucht. Den zweiten Themenblock schließt Veronika Duma mit
ihrer Analyse des Systems der Funktionshäft-
linge im Frauen-KZ Ravensbrück ab. Ausgehend von juristischen Auseinandersetzungen im nachnationalsozialistischen Deutschland thematisiert sie auch die sozialen Beziehungen nach 1945.
Im dritten und mit fünf Beiträgen umfassendsten Themenblock werden Kontinuitätslinien nach 1945 behandelt. Rafael Kropiunigg
untersucht den Umgang lokaler Behörden mit
dem KZ Ebensee, einem Außenlager des KZ
Mauthausen. Die folgende Studie von Martin Reiter beschäftigt sich mit der Struktur
der Häftlinge im Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg im Hamburger Hafen. Die Nachgeschichte des Konzentrations- und Durchgangslagers Risiera di San Sabba in Triest ist
Thema des Beitrags von Gianluca Liva und
Janine Schwemmer (in Englisch). Dabei geht
es auch um die wechselvolle Geschichte der
slowenisch-italienischen Grenzregion.
Ein sehr wichtiger Aspekt in Bezug auf
Kontinuitätslinien vom nationalsozialistischen Deutschland zur Bundesrepublik ist
der Umgang mit dem Völkermord der als „Zigeuner“ Verfolgten und die späte staatliche
Anerkennung. Sebastian Lotto-Kusche hat
die Positionen der Sinti- und Roma-Verbände,
der Gesellschaft für bedrohte Völker sowie
des 1982 gegründeten Zentralrats Deutscher
Sinti und Roma einerseits und der daran
beteiligten Behörden insbesondere des Bundeskanzleramts (unter Helmut Schmidt)
andererseits untersucht. Im Zentrum seiner Studie steht das Gespräch zwischen
dem Zentralrat und der Bundesregierung
am 17. März 1982. Bei den Vorbereitungen
des Bundeskanzleramtes auf dieses Treffen
musste noch betont werden: „Die Vertreter
des Zentralrates legen Wert darauf, nicht als
Zigeuner oder Landfahrer, sondern als Sinti
und Roma bezeichnet zu werden.“ (S. 240)
Das erste offizielle Gespräch zwischen der
Bundesregierung und dem Zentralrat hatte
endlich „die Anerkennung der Verbrechen
zum Ergebnis“ (S. 224). „Versäumt wurde es
von staatlicher Seite aber, die verfolgungsbedingten Benachteiligungen mit finanziellem
Aufwand effektiv politisch anzugehen.“
(S. 243)
Den Workshop-Band und das Kontinuitäts3 Michael Wildt, Funktionswandel der nationalsozialisti-
schen Lager, in: Mittelweg 36 20,4 (2011), S. 80.
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M. Brenneisen (Hrsg.): Stigmatisierung - Marginalisierung - Verfolgung
thema abschließend beschäftigt sich Wiebke
Hiemesch mit den Erfahrungen von Kindern
als Überlebenden der Konzentrationslager.
Sie sind in den Erinnerungsdiskursen weitgehend marginalisiert. Zusammenfassend ist
festzuhalten, dass der hier zu Wort gekommene wissenschaftliche Nachwuchs wichtige
Facetten der Geschichte des Nationalsozialismus erforscht. Die hier präsentierten Ergebnisse lassen wichtige und interessante Dissertationen erwarten. Abgeschlossen wird der
Band mit einer Aufstellung der Begleitpublikationen zu den Workshops zur Geschichte (und Gedächtnisgeschichte) der nationalsozialistischen Konzentrationslager.
HistLit 2016-2-003 / Kurt Schilde über Brenneisen, Marco; Eckel, Christine; Haendel, Laura; Pietsch, Julia (Hrsg.): Stigmatisierung –
Marginalisierung – Verfolgung. Beiträge des
19. Workshops zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Berlin 2015, in: H-Soz-Kult
01.04.2016.
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2016-2-003