Ältere deutsche Literatur: Gender und mittelalterliche Literatur WS 2015/16 Ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit und Vollständigkeit der folgenden Informationen. Weiters hat Univ.-Prof. Mag. Dr. Lydia Miklautsch in der Vorlesung mehrmals darauf hingewiesen, dass für die Prüfung die vollständige Lektüre der behandelten Texte Voraussetzung ist. Diese sind auf Moodle zu finden. In dieser Mitschrift finden sich lediglich die Ausschnitte der Lektüre, die in den Präsentationen angeführt waren. 1 von 103 Gender und mittelalterliche Literatur 1. Vorlesung 8. Oktober 2015 Einführung 1.1 Was ist Gender? Der Genderbegriff ist in den deutschsprachigen Ländern seit 20/25 Jahren etabliert und damit ein sehr umfassender Bereich. Seit den 90er Jahren hat sie sich in der Forschung mit ihren verschiedenen Bereichen (also sowohl die Geistes- als auch die Literaturwissenschaften) als Analysekategorie etabliert. Gender ist somit eine Analysekategorie, die nicht mit Thema eines bestimmten Forschungsgegenstands, sondern ganz allgemein eine Rolle spielt. Das Wort Gender kann ins Deutsche nicht adäquat übersetzt werden, auch die englische und amerikanische Unterscheidung von sex und gender, im Sinne des biologischen und sozialen Geschlechts hat im deutschen keine Entsprechung und ist also nicht eins zu eins übertragbar. Eine auf einen Satz reduzierte Definition von Gender kann keinesfalls geleistet werden, man könnte sagen, man kann im Wesentlichen unter dem Begriff Gender soziale Zuschreibungen von Geschlechterrollen sehen, und unter sex biologische, wobei auch diese Unterscheidung zwischen biologischen und sozialen Geschlecht keinesfalls eine entweder/oder-Entscheidung sein kann, es sind alles Zugangsweisen und Analyseweisen zum Thema Geschlecht und Sexualität. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass der Begriff Gender kulturelle Determinationen von Geschlechterrollen umfasst und als Analysekategorie in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen dient. Gender ist somit die kulturelle, soziale Dimension von Geschlecht. Grammatische Bedeutung von Genus (im sprachlichen System) Hier muss dazu gesagt werden, dass die feministische Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft schon längst erkannt hat, dass die Formulierungen von Genus keinesfalls neutral zu sehen sind! Es gibt, wenn man so will, keine "unschuldigen" Verwendungen von Geschlechterbegriffen, warum das so ist, zeigt ein altes Beispiel und zwar: Grimmsches Wörterbuch: unter dem Begriff "Genus" bzw. dem Eintrag "Genera" folgendes steht: „Das maskulinum scheint das frühere, größere, festere, sprödere, raschere, das thätige, bewegliche, zeugende; das femininum das spätere, kleinere, weichere, stillere, das leidende, empfangende; das neutrum das erzeugte, gewirkte, stoffartige, generelle, unentwickelte, collective, das stumpfere, leblose." (1831) Man kann sagen, dass Reflexe dieser Vorstellung (maskulin/feminin) noch immer in diesem Sprachgebrauch vorhanden sind. Es ist klar, dass diese These oder die Vorstellung von Jakob Grimm, dem Zeitgeist des 18. und auch des 19. Jahrhunderts entspricht, durchaus analog zu dem damals vorherrschenden Geschlechtervorstellungen. Dieses Beispiel soll auch zeigen, dass 2 von 103 Sprache und Sprachgebrauch, und das ist wichtig, deutliche Reflexe patriarchaler Machtverhältnisse. Sprache ist etwa, dass natürlich zunächst einmal unbewusst bestimmte Geschlechtszuweisungen erst über die sprachliche Formulierung normiert. Neben diesen grammatischen Kategorien gibt es auch soziale und kulturelle und psychologische Referenzebenen. Jedenfalls kann man sagen, dass dieser Genderbegriff als Analysekategorie auch immer wieder neu definiert werden und auch immer wieder neu für das jeweilige Fach thematisiert und definiert werden muss. Es muss ein Unterschied sein, ob ich den Genderbegriff in der Naturwissenschaft oder in der Literaturwissenschaft anwende. Entscheidend ist aber, dass Gender auch als Metakategorie fungieren kann, das heißt diese Analysekategorie hat auch die Kraft und das Potenzial quasi fächerübergreifend zu arbeiten und in gewisser Weise Arbeitsfelder zu verbinden, die zunächst einmal nichts miteinander zutun haben, wie zB Mathematik- und Literaturunterricht: wer unterrichtet? Wie wird es rezipiert, etc. Wichtig ist es, dass es immer wieder, egal welcher Zugang gewählt wird, es immer auch um Identität, Sprache und sogenannte symbolische Ordnung (=kulturelles System, das nicht naturgegeben, sondern hergestellt ist). Grammatik der Geschlechter (Ranate Hof): es geht hierbei darum über Gender verdeckte Machtstrukturen und biologische Strukturen, sowie ihre sozialen und kulturellen Auswirkungen, die durch Gendermarkierungen entstehen, zu untersuchen. Wie weit werden Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft aufrecht erhalten oder immer wieder neu formuliert, die quasi zu einer Unterdrückung führen. Eines ist in der gendertheorie eine wichtige theoretische Voraussetzung, dass die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen keine naturgegebene ist, sondern eine ist, die kulturell hergestellt ist. Gender ist „eine grundlegende wissenschaftliche Analysekategorie“, mit der „die fragwürdig gewordene Opposition zwischen Männern und Frauen“ dekonstruiert, gleichzeitig aber die in der Praxis weiterbestehende Opposition zwischen männlich und weiblich „in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Realität als Mechanismus der Hierarchisierung“ ernstgenommen werden kann. (1995) Bei Definitionen von Gender wird immer etwas aufgebrochen. Man muss immer wieder einen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse haben, in denen ein Text oder eine Aussage entsteht. Es muss (als LiteraturwissenschaftlerIn) immer überprüft werden: Wie ist der Kontext? inwieweit urteile ich durch meine Sozialisation und durch meine kulturelle Zuschreibung als Frau/als Mann/ als StudentIn in unterschiedlichen sozialen Kategorien? Es geht immer auch um das Ich, das sich mit der Thematik auseinandersetzt und dieses Ich über diese Analyseergebnisse neu zu definieren und auch zu reflektieren. Judith Butler: Ohne Judith Butler ist die feministische Debatte nicht denkbar. Ohne sie gäbe es nicht diese sprachanalytischen Zugänge, die wir haben. Es kann gesagt werden, dass ihre Bücher nach wie vor grundlegend sind für eine Auseinandersetzung mit Gender. Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies: wichtig bei Judith Butler ist, dass sie diese fragwürdige Opposition zwischen sex und gender aufhebt, insofern, dass sie sagt, auch das biologische Geschlecht ist sozial hergestellt. Sie ist der Meinung, dass es nichts vor der kulturellen Zuschreibung gibt. 3 von 103 "Die Beziehung der Geschlechter zueinander kann nicht als Ausdruck oder Repräsentation einer statischen, naturgegebenen Ordnung verstanden werden. Geschlechterbeziehungen sind Repräsentationen von kulturellen Regelsystemen." Diese Grundaussage Butlers weist darauf hin, dass Geschlechterbeziehungen kulturelle Repräsentationen von kulturellen Regelsystemen. Man kann die Kategorie Gender keinesfalls auf dem soziologischen Bereich herausheben. Wir haben es mit Mechanismen zutun, die sehr langwierig sind. In der Literatur geht es nie um Fakten, aber sehr wohl um Imaginationen. Diese Imaginationen, die in der Literatur formuliert werden, sowohl von Männerbildern wie auch von Frauenbildern, sind sehr wichtig für eine Forschung von kulturellen Zusammenhängen. Je nach Disziplin spielt die kulturelle Dimension immer wieder eine ganz elementare Rolle. Hier geht es darum, die Sichtweise zu schärfen und von Mustern abzusehen. Es ist klar, dass die Dekonstruktion hier eine große Rolle spielt und man versucht sozusagen "die Katze gegen den strich zu bürsten" und durch radikale und ungewöhnliche Fragestellungen Neuerkenntnisse zu gewinnen. In den frühen 70er Jahren hat die Aussage Butlers zu einem Aufschrei geführt, auch innerhalb der feministischen Forschung. Grundsätzlich festzuhalten ist, dass der Begriff Gender darauf verweist, das Geschlechtsidentität nicht angeboren, sondern soziokulturell durch diskursive, also durch gesellschaftliche Praktiken hergestellt bzw. erworben werden. (zB in der Werbung: wie geschlechtsspezifisch wird für Kinderspielzeug geworben? Ebenso in der Modewerbung. Kulturell könnte man wieder von einer radikalen Trennung der Geschlechter sprechen, das zeigt sich schon, ganz stark an den Medien. Zum vergleich: die 70er Jahre waren so gesehen viel moderner, als es heute der Fall ist.) Der Begriff ist somit Ausdruck der Einsicht, dass Weiblichkeit und Männlichkeit historisch zeitgebundene Konstruktionen sind. Es gibt Zuschreibungsformen an die Geschlechter, die historisch über Jahrhunderte hinweg gewachsen sind. Entscheidend dabei ist, dass geschlechtliche Identität nicht als unveränderliche anthropologische Konstante verstanden wird, sondern als historische veränderbare Variable. Als Frau und als Mann macht man diese Veränderbarkeit immer wieder mit, was wiederum wieder zu verschiedenen Identitäten führt. nach Judith Butler ist diese Form der Identitätsfindung nicht abgeschlossen, außer man bleibt sozusagen bei einer Variante, die die einem kulturell am plausibelsten erscheint. Somit gibt es keine biologischen Muster und keine biologischen Konstanten, die unveränderbar sind. Soziale Geschlechterrollen haben eine Konsequenz auf biologische Geschlechterrollen. Die Tendenz zum Mainstream ist immer mit Machtverhältnissen verbunden. 1.2 Wichtige Themenbereiche der Gender-Forschung • Körper - Sinne (Butler) Butler siedelt hier ihre Theorien an. Der geschlechtlich markierte Körper bzw. das biologische Geschlecht ist noch keine kulturelle Identität. Wenn man als männliches Kind geboren wird, heißt das noch lange nicht, dass man heterosexuell und männlich ist. dasselbe gilt für ein Kind mit weiblichem Geschlecht, es heißt nicht, dass dieses Kind die Identität Frau und heterosexuell hat. Das, was letztendlich als Identität gesehen wird, ist ein Kulturationsprozess, und keine objektive 4 von 103 Tatsache. Die grundsätzliche kulturelle Differenz zwischen Mann und Frau ist nach Butler nicht biologisch, sondern entspricht einem kulturellen Bedürfnis. Die Debatte über die Sinne hat auch mit Mündlichkeit und Visualität zutun. Die Lenkung des Blickes, was soll gesehen werden und wie soll gesehen werden. Ein modernes Beispiel hierfür wären Modelshows, die den männlichen und weiblichen Blick auf ein bestimmtes Modell von Weiblichkeit und von Frau lenkt. Kategorien wie Intelligenz oder Wissen werden hierbei ausgeblendet. Im Mittelalter hat man sich die Frau mehr oder weniger als Statuen vorgestellt, die ein extrem beschränktes Rollenverhalten der Frau begründet. Die Frau sollte möglichst unbeweglich, statisch und schön dastehen, um bewundert und betrachtet werden zu können, tut sie das nicht und wird aktiv, wird dieses Bild zerstört. Ein Beispiel aus den antiken Mythen ist die Lenkung des Blickes, zB Medusa - der böse Blick - Sie muss von Perseus getötet werden, damit dieser böse Blick gebrochen wird. Auch bei Narziss, mit dem selbstverliebten Blick: er sieht sich als Mann und verliebt sich in sein Spiegelbild, stirbt dann aber aufgrund dieser Verliebtheit (eine Verliebtheit ins gleiche Geschlecht). Die Sinneswahrnehmung ist nicht etwas, was ich als freie Entscheidung mache, sie ist kulturell unterlegt. • Wissen (Foucault) Der Wille zum Wissen - Wissen ist Macht. Diejenigen, die Zugang zu Wissen haben, werden auch diejenigen sein, die dann die Gesellschaft stärker lenken, als die, die es nicht wissen. Es geht um Wissen, das kulturelles Wissen ist und deren Einsicht, und somit die Einsicht in Machtprozesse. Genesis: Letztendlich werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, weil angeblich Eva etwas wissen wollte. Diese mächtige Erzählung über den Sündenfall hat dazu geführt, dass über sehr viele Jahrhunderte hinweg der Wille der Frau zum Wissen, als sündig und gefährlich galt. Wissensverbot und -einschränkung sind zwei wichtige Elemente der Unterdrückung und sind an Geschlechtervorstellungen gekoppelt. Es gab auch Verbote für Männer, meist soziale Verbote. Auch innerhalb der Männergruppen gibt es starke Hierarchien, die aufrecht erhalten werden müssen. Die Randgruppen waren prinzipiell die, die sexuell anders orientiert waren. • Natur - Kultur (Zitat Adorno / Horkheimer: Dialektik der Aufklärung) Die Opposition Natur - Kultur ist immer eine Position, die verwendet wird zur Geschlechterhierarchisierung. Das hat man am Beispiel Jakob Grimm gesehen: das Femininum als das naturhafte, das Maskulinum als das kulturelle. Das sind Elemente, die im Zivilisationsprozess und in der Kulturellen Zivilisation immer wieder eine rolle gespielt haben - vor allem um eine bestimmte Arbeitsteilung zu schaffen. Was damit zusammenhängt ist eine bestimmte Vorstellung der Geschlechterbeurteilung. Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden, ein lebendiges Denkmal längst entschwundener Zeiten der geschlossenen Hauswirtschaft. Ihr war die vom Mann erzwungene Arbeitsteilung wenig günstig. Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in 5 von 103 deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt. Das war der Sinn der Vernunft, mit der er sich brüstete. Die Frau war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste, Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologischeUnterlegenheit des Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal. (Adorno/Horkmeier 1947) Das zeigt, dass es auch Männer gegeben hat, die sich mit der Thematik auseinandergesetzt haben und versucht haben, diese aus einer anderen Sichtweise zu sehen. Die Gleichsetzung mit Natur, die Fähigkeit der Frau zu gebären und zum Mutter sein, wurde immer schon als Argument genutzt, in dem man gesagt hat, das sei eine wunderbare Fähigkeit, dabei soll es auch bleiben nach Möglichkeit - "das ist die Rolle der Frau". Odysseus-Exkurs (Link?) Es wird gezeigt, wie diese Unterdrückung funktioniert und welchen Preis sie hat. Ein schlagendes Beispiel aus dem Mythos: die Szene, in der Odysseus dem Gesang der Sirenen zuhören will. Er lässt sich deshalb von seinen Gefährten an den Mast festbinden und lässt gleichzeitig die Ohren seiner Untergebenen mit Wachs verschließen. Er kann sich durch diese List zwar retten, der Gesang der Sirene bietet ihm jedoch nicht die Lust, die er erhofft hatte. Er ist relativ enttäuscht, man kann sagen, er ist Betrüger und Betrogener zugleich. Die Frau verheißt lustvolle Entgrenzung, der Mann sehnt sich nach dieser Erfahrung, schreckt aber zugleich davor zurück. Die Natur wird auch als Bedrohung gesehen, und muss deshalb auch domestiziert und unterworfen werden. • Sexualität (Laqueur) Thomas Laqueur ist ein Medizinhistoriker und -wissenschaftler, er hat medizinische Modelle bis in die Neuzeit (von der Antike bis Freud) untersucht und festgestellt, dass zumindest bis ins 18. Jahrhundert das sogenannte One-Sex-Modell vorgeherrscht hat. Es wurde nicht getrennt zwischen männlicher und weiblicher Medizin: Die Frau sei nichts anderes, als ein nach innen gestülpter Mann. Erst im 18. Jahrhundert wurde das durch ein Zwei-Geschlechter-Modell ersetzt, wo man gesehen hat, dass diese Analogien so nicht funktionieren. In der mittelalterlichen Medizin hat man Unterschiede innerhalb der Säftezusammensetzung festgestellt - der Mann der Heiße und Trockene, die Frau schleimig und feucht. Allein durch die Formulierung der Oppositionen werden hier Wertigkeiten mit transportiert. Laqueur schließt aus seinen Untersuchungen: dem Geschlechtsunterschied sind vom Faktischen sind keine Fesseln angelegt. 1.3 Gender und Literaturwissenschaft Einführung in die Gender Studies (Franziska Schößler): Frage Autor / Autorin und literarischer Kanon, Gattung und Geschlecht, welche Themen sind fruchtbar und interessant, Motive, Imagines Metzler Lexikon: Gender Studies. Geschlechterforschung 6 von 103 Zentrale Felder: 1. Autorin/ Autor - literarischer Kanon 2. Gattung - Themen - Motive: gibt es so etwas wie beliebte Motive weiblicher/männlicher Autoren? Wie funktionieren diese Zuschreibungen, was kann ich daraus gewinnen? 3. Bilder von Weiblichkeit / Männlichkeit - Imagines: es zeigt sich hier, dass die Zuschreibungen von Gender und Sex sich in der Schwebe befinden und nicht einfach über Stereotypen sprechen kann - es gibt genug Materialien, die bestimmten Stereotypen widersprechen. 4. Methodendiskussion 1.4 Gender und mittelalterliche Literatur Das, was für die Mediävistik entscheidend ist, ist ein stärkerer historischer Hintergrund. Diesen historischen Blick darf man in diesem Zusammenhang nie aus dem Auge verlieren. Moderne Texte und Theorien lassen sich natürlich auf mittelalterliche Texte anwenden. Mittelalterliche Literatur reflektiert genauso wie moderne Literatur kulturelle Ordnungsmuster. Diese gilt es zu sehen und auch zu analysieren, es gilt zu schauen, was wird über die Kategorien männlich/ weiblich und möglicherweise auch sächlich (das, was dazwischen liegen könnte) ausgesagt. Es bleibt jedoch immer eine gewisse Fremdheit da, da und mittelalterliche Kultur eine fremde Kultur ist. Man kann nicht bestreiten, dass mittelalterliche Texte einen heterosexuellen, normativen und misogynen, also frauenfeindlichen Diskurs haben. Aber es werden dort Körper- und Geschlechterdiskurse repräsentiert, die sozusagen zwischen den Zeilen quergelesen doch etwas zeigen, das erstaunlich nah ist. Themenfelder: • Gender, Identität, Subjekt und Subjektivität • Sexualität und Begehren • Körperdiskurse • Kulturelle Muster und Strukturen • Geschlechterrollen und Gattung 2. Vorlesung 15. Oktober 2015 Der Sündenfall: Eva - Ave Maria 1. Eva, Mutter aller Menschen Für die Definition der Geschlechter und deren Rollen war für das europäische Mittelalter und weit darüber hinaus zweifellos die Bibel der einflussreichste und wichtigste Text. Das erste Buch der Bibel, das Buch Moses, in der die Schöpfungsgeschichte aufgeschrieben ist, und dessen Auslegung durch die Kirchenväter hat entscheidend zur Ausbildung der Genderrollen (zumindest 7 von 103 fürs Mittelalter) beigetragen. In der Genesis (die Erzählung der Entstehung der Menschheit) ist Eva Heldin einer Geschichte, die vom Ursprung der Menschheit erzählt von der Grundlegung sowohl moralischer als auch gesellschaftlicher Ordnung. Es geht nicht nur um die Erschaffung der Menschen, sondern auch um eine gesellschaftliche und moralische Ordnung. In wenigen Sätzen wird eine globale Erklärung des Menschseins geliefert. Eine globale Erklärung, die unablässig und unabweislich in das Denken der Zeitgenossen und des christlichen Abendlandes eingegangen ist. Die Geschichte gibt Antwort, bzw. tut zumindest so, auf drei Fragen: 1. Warum ist die Menschheit geschlechtlich? 2. Warum ist die Menschheit schuldig? 3. Warum ist die Menschheit unglücklich? Das sind 3 Fragen, die auch in der theologischen Interpretation und Auseinandersetzung eine Rolle gespielt haben. Die Erzählung: Es gibt keine einheitliche Erzählung. Das Alte Testament setzt sich aus verschiedenen Erzählungen und zeitlichen Schichten zusammen, das gilt auch für die Genesis. Es gibt eine jüngere Erzählung, das sogenannte 6-Tage-Werk Gottes, hier ist von Adam und Eva als geschlechtsbestimmte Individuen zunächst noch nicht wirklich die Rede. Genesis 1: Gen. 1,26: Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib. 28 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriechet. Hier ist zwar von einer Geschlechtlichkeit die Rede, aber in einer gleichwertigen Form. Die Frau ist nach dieser Version Gott ebenbildlich geschaffen (wie der Mann) und erhält den gleichen Auftrag. Es gibt kein herrschen über Menschen nach dieser Version, sondern nur ein gemeinsames Verwalten der Schöpfung. In diesem Text ist, so wie es schient, volle Gleichheit der Geschlechter angesagt. Doch dieser Bericht wurde, zumindest in der Theologie des Mittelalters, vollständig durch das zweite und dritte Buch der Genesis überlagert. Die beiden stammen von einer anderen Quelle, die ein Jahrhundert älter ist, als die Genesis 1. Auch diese Quelle ist keine einheitliche, sondern setzt sich aus unterschiedlichen Schichten zusammen. Das, was wir im Alten Testament lesen ist kanonisch, das bedeutet, die Kirchenmächtigen haben sich auf diesen Text geeinigt. Wichtig ist, dass der Name Adam zunächst kein Eigenname, sondern bedeutet nichts anderes als Ackererde/ -boden. ("Der, der aus dem Ackerboden entstanden ist") Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. 8 von 103 Das zweite Kapitel der Genesis spricht über Adam zunächst als ein unbestimmtes Wesen - das ist allerdings nur kurz der Fall. In dieser Version wird danach gleich die Entstehung der Frau aus Adam nachgeliefert: Genesis 2: Gen 2,20: ...aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. 21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner rippen und schloß die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23 Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. 25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht. Der Mann hat hier die Erkenntnis, dass die Frau aus ihm heraus entstanden ist. Die Frau ist zunächst einmal die "Männin" - bei der Erschaffung der Frau handelt der Schöpfer Gott allein, sie ist eine Schöpfung Gottes - Adam liegt passiv im Tiefschlaf. Dass die Frau aus einem Bauelement (aus der Rippe des Adam) geschaffen wird, sieht man das, was man als Verwandtschaftsformel nennen kann: die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit beider Geschlechter. Erst hier fallen im hebräischen Text die zwei Worte von Mann und Frau. Gott ist also auch bei der Frau direkt als Schöpfer tätig. Dennoch führt die Erschaffung der Frau zur Hilfe für Adam, wie es heißt, zum Sündenfall. Genesis 3: Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten. Aber von den Früchten des Baums mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, daß ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, da´vom Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und sie flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten. Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da sprach Ada: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. Da sprach Gott der Herr zum Weibe: Warum hast du das getan? Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich, so daß ich aß. Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde 9 von 103 essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Gott der HERR machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, daß er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens. Wir haben hier die Verbindung von Sehen und Wissen. Nachdem beide vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, bedecken sie ihrer beider Geschlecht - sie sind sich jetzt ihrer Nacktheit bewusst. Gott bedeckt die Nacktheit beider Menschen. Es gibt zwei Bäume im Paradies: den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens, der ebenfalls verboten ist, denn er würde ewiges Leben erzeugen. Damit nun der Mensch nicht die Möglichkeit hat, das ewige Leben zu erlangen, wird er aus dem Paradies verwiesen. Das bedeutet aber auch, dass in dem Moment, wo der Mensch vom Baum der Erkenntnis isst, er auch sterblich wird. Daher ist Eva ist nicht nur die Urmutter aller Lebenden, sondern auch aller Toten. Hier ist schon deutlich eine Hierarchisierung der Geschlechter angelegt. Hauptperson ist zunächst die Schlange im Gespräch mit der Frau, die in der weiteren Tradition dann der Teufel geworden ist - sie ist eine Personifikation, sie ist das einzige Tier, das im Paradies spricht. Im biblischen Text ist die Schlange männlichen Geschlechts, aber keineswegs identisch mit Satan - dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Die Erzählung von Genesis 3, die die Motive von Baum-Frau-Schlange vereint, hat mit der daraus später gefolgten Verbindung von Frau-SexualitätSünde nichts zutun. Man kann sagen, dass dieses Dreieck Baum-Frau-Schlange zu dem Dreieck Frau-Sexualität-Sünde umgedeutet wurde. Interessant ist, dass in der Genesis 3 von Sexualität kein Wort steht, sondern es geht tatsächlich um das Sehen und die Erkenntnis. Also zunächst nicht um Geschlechtlichkeit - es ist der Wunsch zur Erkenntnis, der Eva dazu bewegt, vom Baum zu essen. Wir haben es hier auch mit einem Zerstören des Vertrauens zwischen Tier und Mensch, zwischen Frau und Mann und auch zwischen Mensch und Gott zutun. Man könnte sagen, man habe es mit einem tiefgreifenden Konflikt zutun, der hier entstanden ist. Gott sagt zwar, dass Mann und Frau jetzt eine Einsicht von gut und böse haben - was das Böse genau ist, wird im Text nicht ausgeführt. Es gibt zwei Strafen: einerseits wird die Schlange verurteilt, die Frau wird mit den Mühen der Schwangerschaft und Geburt und der Mann mit den Mühen der Arbeit bestraft. Die Frau wird zwar verflucht, aber nicht anders als der Mann auch. Es gibt hier allerdings einen beitragenden Satz, der bei den Kirchenvätern eine große Rolle gespielt hat: "...dein Mann soll dein Herr sein", den die Kirchenväter verwendet haben, um die Hierarchisierung der Geschlechter, also die Unterordnung von der Frau unter den Mann zu begründen. Genesiskommentare in der Bibel: Was haben diese Texte in der theologischen Auslegung eigentlich für Konsequenzen gehabt? Man kann sagen, dass das Christentum - das Urchristentum, aber dann auch das Frühchristentum - zu mittelalterlicher Zeit, ein großes Interesse daran hatte, die Texte der Bibel auszulegen. Das war die 10 von 103 Zeit vor Luther, wo keinesfalls davon ausgegangen wurde, dass die Texte der Bibel für sich sprechen, sondern die Kirchenväter waren davon überzeugt, das die Sätze der Bibel nicht einfach als Wort-für-Wort-Tatsachen gelten, sondern das diese Sätze so etwas waren wie Voraussagen oder Realprophetien in Hinblick auf die Ordnung der Gesellschaft und letztendlich die Ordnung der Geschlechter. Deshalb hat man immer wieder versucht durch den vierfachen Schriftsinn, also hinter die vierfache Bedeutungszusammenhänge der Schrift zu kommen und durch Typologien, also durch Entsprechungen die Texte der Bibel zu deuten und quasi die Wahrheit des Bibelwortes sehen zu können. Man hat also versucht den Sinn der Bibel zu ergründen, und das immer wieder unter den Intellektuellen dieser Zeit diskutiert, hat dann gültige Wahrheiten abgesegnet und diese dann Predigern mitgeteilt, die diese dann vereinfacht unters Volk gebracht haben. Die dominante moralische Instanz über das gesamte Mittelalter hinweg war also tatsächlich die Kirche. Jesus Sirach (2. und 3. Jhdt vor Christus): Eines der älteren Texte und hier wird das erste Mal die Frau mit Sünde gleichgesetzt. 25,24: Von der Frau nahm die Sünde ihren Anfang / ihretwegen müssen alle sterben. Tim 2,9ff: Eine Frau soll in der Stille lernen, in aller Unterordnung. Ich erlaube aber einer Frau nicht, zu lehren, auch nicht, daß sie über den Mann herrscht, sondern sie soll sich still verhalten. Denn Adam wurde zuerst gebildet, danach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, die Frau aber wurde verführt und geriet in Übertretung; sie soll aber [davor] bewahrt werden durch das Kindergebären, wenn sie bleiben im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung samt der Zucht Hier wird sofort daraus geschlossen, dass die Frau nicht nur untergeordnet sein soll, sondern auch still sein soll. Eine Rolle ist somit schon festgelegt, die der Frau. Des Weiteren ist sie Garant für das Fortbestehen der Menschheit, diese Rolle wird positiv gesehen, vorausgesetzt sie bleibt besonnen und im Glauben. Es wird also auch damit eine passive Rolle damit verbunden. Mit diesem Text wird das Lehrgebot der Frau wird unterschrieben und ihre Unterordnung sanktioniert weil sie sich als erste verführen hat lassen ist sie zweitrangig. Paulus Kor 11,7: Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz. Denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann. Und der Mann ist nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen. Auch hier wird eine Hierarchisierung herausgelesen: das Bedecken des Hauptes, also das Tragen eines Tuches, das im Frühchristentum noch üblich war. Die feministischen Theologinnen sehen "zur Hilfe des Mannes" tatsächlich als quasi Begleitung, also tatsächlich als Einheit der zwei Geschlechter - das Eine könne nicht ohne das Andere sein. 2. Eva, die Bibel und die Kirchenväter Augustinus von Hippo (354 - 430): Mann und Frau sind gottesebenbildlich, doch die aus Adam geschaffene Frau ist mit der Natur gleichzusetzen - die Natur ist der Vernunft (dem Mann) unterlegen. Er hat mehrere Genesiskommentare geschrieben, unter anderen einen ganz eigenen Text, wo er sich mit dem Text auseinandersetzt. Seine Lesart der Genesis 2 und 3 ist zunächst nicht so wie bei den späteren Kirchenvätern, denn dass Gott Mann und Frau geschaffen hat, bedeutet für ihn, dass 11 von 103 in jedem menschlichen Geschlecht männliches und weibliches erhalten ist. Allerdings geht er natürlich weiter in der Deutung, denn er meint, die Frau hat eindeutig die helfende, dienende Funktion und ist dem Mann untertan, "wie der Arbeiter dem Werkmeister". Er geht also auch von einer hierarchischen Ordnung der Geschlechter aus, wobei er (das erste Mal) zwischen Körper und Seele trennt. Nach seiner Deutung besteht der Mensch aus einem fleischlichen Teil (dem Körper, weiblich) und einem geistigen Teil (der Seele, männlich). Er ist überzeugt, dass sich der Mensch für eine Seite entscheiden kann, aber lässt außer Zweifel, dass die Vernunft (ratio) ein männliches Prinzip ist, während das weibliche eher de, apetitus, also der Begierde gleicht. Ein weiterer Aspekt ist die sogenannte Gottesebenbildlichkeit - es wird gesagt, dass die Frau erst in zweiter Linie Gott ebenbildlich ist, der Mann in erster Linie. Die Seele wiederum ist geschlechtsneutral, also weder männlich, noch weiblich. Bei Genesis 3 nennt er drei Agierende: • Der Teufel (die Schlange) hat sich zum Attackieren den Schwächeren ausgesucht: die Frau, weil die Schlange sich an den Mann nicht herangetraut hat. • Die Frau, versteht sich so gut aufs Verführen, und das hat die Schlange erkannt. • Adam hätte das Angebot nur angenommen, um die Frau nicht alleine verloren gehen zu lassen. Man kann sagen, dass Augustinus keinesfalls die Hierarchisierung der Geschlechter auf die Spitze treibt, er erwähnt in seinen Genesiskommentaren sehr wohl die Rolle der Sexualität, wenn auch nicht massiv. Die Gleichsetzung von Sexualität der Frau führt Augustinus nicht so aus, dass die Frau gleichzustellen sei mit Natur UND Sexualität. Man könnte sagen, dass die Frau die Triebhaftere ist und dass sie dieser Begehrlichkeit auch nachgeht, aber es kommt nicht so sehr die Fleischeslust zur Erwähnung. Man sieht, dass im Laufe der Jahrhunderte die Sexualität (der Frau) zunehmend eine Rolle spielt und stärker mit der Genesis verkoppelt und gleichzeitig verteufelt, weil sie zu diesem Sündenfall führt. Eine direkte Verschiebung zu dem Thema Sexualität gibt es also 300 Jahre später: Beda Venerabilis (672/73 - 735): Die Schlange rät zur Lust, die Sinnlichkeit des animalischen Leibes - das Weibliche in uns - gehorcht, und die Vernunft willigt ein. Er sagt von vornherein, dass Eva eine lüsterne Verführerin ist, die Frau ist also gefährlich für den Mann, deshalb müsse sie weggesperrt oder verschleiert werden. In der mittelalterlichen Gesellschaft durften Frauen keinesfalls geradeaus schauen, sie mussten den Blick niederschlagen. Der direkte Blickkontakt wurde ihr also verboten, und das wurde natürlich mit Genesis begründet. Eva wäre dem Baum ferngeblieben, hätte sie ihn nicht unvorsichtigerweise lange betrachtet. Durch ihre Augen ist sie dem Tod einhergefallen. Für den Mann ist ganz klar die Frau etwas Verbotenes. Die Verführungen, und damit die sexuellen Reize und die Wollust sind das Problem, und in den klösterlichen Welt des 9. Jahrhunderts hat sich die Meinung durchgesetzt, die Frau ist die leibhaftige Sünde und die verbotene Frucht ist das weibliche Geschlecht, oder wenn man so will, die Geschlechtlichkeit. 12 von 103 Die Kirche musste zugestehen, dass zum Zwecke der Zeugung ein Zeugungsakt, also ein geschlechtlicher Akt stattfinden muss. Wichtig ist also, dass diese Verbindung von Sexualität und Sünde, immer auch eine Verbindung von Sexualität und Frau ist und darüber hinaus eine Verbindung von Sexualität, Sünde, Körper der Frau und Natur. Im 12. Jahrhundert hat sich die theologische Ansicht durchgesetzt, begründet auf den Texten 2 und 3 der Genesis, dass Eva letztendlich die Ursache für den Sündenfall ist, der die gesamte Menschheit betrifft und dazu geführt hat, dass die Menschheit sterblich geworden ist. Man hat die Frau also systematisch dafür verantwortlich gemacht, eine Verantwortlichkeit, die so in dem Text der Genesis nicht zu sehen ist. Die Todsünde ist eine Sünde des Fleisches - das gilt für Männer und für Frauen. Die Theologie war damals das Gebäude der Lehre überhaupt und war gleichzusetzen mit der Philosophie. Nicht nur an den Universitäten war diese Ausdeutung der Bibel enorm wichtig: Man könnte sagen, die gesamte europäische Gesellschaft (das christliche Abendland) ist geprägt durch die Kirche und die Theologie und ihre Lehren und damit natürlich auch durch die von den christlichen Lehren verbreiteten Vorstellungen und Einschätzungen der Geschlechter. Es hat kaum ein umfassenderes gesellschaftsrelevanteres Modell gegeben, als das, was die Kirche zu den Geschlechtern gesagt hat. Deshalb hat das auch eine weitreichende Konsequenz auf die mittelalterliche Gesellschaft. Für die Hierarchisierung und Einschätzung der Geschlechter, ist das, was die Kirchenväter verbreitet haben, von enormer Wichtigkeit. Die Kirchenväter wussten das auch, beziehungsweise die Rom-Kirche, die damals das wichtigste Zentrum der moralischen und damit auch gesellschaftlichen Zuschreibungen war, hat eine "Propagandamaschine" eingesetzt, die außerhalb der schriftlichen Zeit funktioniert und als Multiplikator gewirkt hat, so dass Männer und Frauen diese Lehren verbreitet haben. Diesen Multiplikatoreffekt hat man versucht zu erzeugen, indem man hergegangen ist und hat relativ schnell, einfache Übersetzungen ins Deutsche in Auftrag gegeben, damit das nicht lateinkundige Publikum in den Predigen diese Ansicht und diese Sichtweise und Interpretation mitbekam. Diese war natürlich streng zensuriert, das bedeutet bestimmte Kirchenväter, die die Autoritäten waren, deren Auslegungen der Bibel wurden weiter verbreitet. 3. Textbesprechung: Die altdeutsche Genesis (oder auch "Wiener Genesis") Das ist ein frühes Zeugnis dafür, wie man sich das vorzustellen hat, also wie versucht wurde, diese Lehren zu beschreiben. Sie ist in vielerlei Hinsicht hochinteressant, sie folgt einerseits dem Text der Bibel sehr genau, andererseits die moralischen Deutungen mit hineinbringt. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts: Dieser altdeutsche Text ist ein äußerst wichtiges Zeugnis frühmittelalterlicher Frömmigkeit. In diesem Text sind die Deutungen schon miteingebaut: Gen 3,16: Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das 13 von 103 Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden Adam sin wib erchande, so chom si in unmaht, so noch site ist in dem lande. so was churz ire chraft, er hete mit ir minne, so was si fur tot, so man noch spulget (pflegen, gewohnt sein) hinnen unt ennen daz nebenam ire frost noh hunger daz was ein michel not. daz treip salle sine wurde eines chindes swanger. neun manode volle, ê si den gebaere, so nie nehein tach so ward ire ofto sware. maniges si geluste, churtzer noh langer gelach, sine wante wenegez wib swelihiz si dere verwiskte (verwirken) daz si begeben (aufgeben) muose den lip. daz tet ire vile we, daz muose so sin, also got ire fore sagete ê. want ir daz zuo drote unser trehten. Der Kommentar stammt von einem anonymen Verfasser zu dieser Textstelle. Er ist sehr aufschlussreich, weil er genau die Kirchenlehre wiedergibt, die seit Augustinus weiter ausgebaut wurden. Es wird eine Entsprechung zwischen dem Bibeltext und der Gegenwart gemacht, es wird sozusagen von der Wirklichkeit des Textes auf die Wirklichkeit des 11. Jahrhunderts geschlossen. Schon die Tatsache der Schwangerschaft wird moralisch aufgeladen, als Mühsal, als Konsequenz des Beischlafs gewertet und damit als Schwächung der Frau. man muss hierbei erwähnen, dass aufgrund des medizinischen Standes im Frühmittelalter viele Frauen im Kindbett gestorben sind auch die Lebenserwartung war nicht besonders hoch. Viele Frauen haben aus diesem Grund von vornherein den geistlichen Weg gewählt. 4. Ave Maria Ave: das umgekehrte Eva, hier wird ein Spiegelbild geschaffen. Maria ist quasi die Gegenfigur zu Eva. Das ist ein Spezifikum der christlichen oder katholischen Kirche des Mittelalters, es gibt kaum eine vergleichbare monotheistische Religion, wo eine Frauenrolle eine derartig wichtige Rolle spielt. Man könnte sagen, dass das tatsächlich dem Mittelalter zu verdanken ist, wo die Marienverehrung sehr stark propagiert wurde, das mit der speziellen Konstruktion dieser Religion zusammenhängt. Die Marienverehrung wurde ebenfalls von der Kirche als Propagandamittel eingesetzt und war eng verbunden mit religiösen und gesellschaftlichen Machtprozessen. Sie war also nicht etwas, was spontan entstanden ist, sondern durchaus vom hohen Klerus gelenkt und durchaus gewollt und provoziert wurde. Denn trotz der negativen Bewertung der Eva, hatte die Kirche wenig Interesse daran, einen Großteil der Gesellschaft zu verurteilen und zu verteufeln. Man hat also versucht, dem weiblichen Anteil der mittelalterlichen Gesellschaft ein Modell, eine Rolle zu bieten, die aber gleichzeitig kontrollierbar ist. Die Marienverehrung, die von Männern und Frauen gleichermaßen getätigt wurde, war hier also ein wichtiger Aspekt. Die Strömung war sehr unterschiedlich, vor allem was die Regionen anbelangte. Dieses uneinheitliche Marienbild hängt zusammen mit den Mariendogmen, die enorm wichtig für gesellschaftliche Rollenzuweisungen was die Frauen anbelangt, waren. 14 von 103 4 Mariendogmen • Maria Theotokus: Maria darf "Gottes-Gebärerin" und "Mutter Gottes" genannt werden, weil das Menschenskind, das sie geboren hat, zugleich Sohn Gottes ist. Maria als die Gottesgebärerin: Die Zeugung Jesus erfolgt nicht über das Geschlecht, sondern über das Wort, durch die Verkündung durch einen Boten, letztendlich erfolgt die erzeugende Befruchtung durch den Heiligen Geist, der geschlechtslos, aber vor allem körperlos ist. Auf Marias Körper wird nicht verzichtet - sie dient als menschlich-körperliches Gefäß. Entscheidend ist hier der Begriff der Mutter, ein Angebot an die Frau, die rolle positiv zu sehen. • Virgo Maria (Jungfrau-Mutter): Jesus kommt von Gott. Er ist wahrer Mensch, aber kein "Erzeugnis" menschlichen Könnens und Wollens. Sie ist auch nach der Geburt jungfräulich geblieben, damit wurde auch der Vorgang der Geburt entkörperlicht. Bei Maria erkennt man zwar an, dass ihr Uterus, ihr Leib, Jesus enthalten kann, der Vorgang selbst aber wird mystifiziert. Auch hier wird die Fleischlichkeit, also die Körperlichkeit zurückgedrängt. • Maria immaculata (Makellose): Gott erwählt und heiligt Maria schon im Mutterleib - in Vorausschau auf Christus. Er rettet sie vom ersten Augenblick ihres Lebens an vor der Macht des Bösen ("Erbsünde", persönliche Sünden) und befähigt sie, ihre Aufgabe als Mutter Jesu zu erfüllen. Sie selbst wurde von ihrer Mutter ohne Erbsünde empfangen. (Maria Empfängnis!) sie ist also frei von der Erbsünde. • Maria assumpta (in den Himmel aufgenommene): Gott lässt Maria nach Ablauf ihres Erdenlebens "mit Leib und Seele", d.h. voll und ganz, an der Osterherrlichkeit ihres Sohns teilhaben. Das bedeutet, ohne auf das jüngste Gericht warten zu müssen. Virgo-Maria: Laut Genesis und laut Deutung der Kirchenväter überträgt sich die Erbsünde durch die Zeugung eines Kindes, von den Eltern auf das Kind und zwar schon im Moment der Zeugung. Was passiert jetzt mit Jesus im Leib Marias? Hier wurde viel innerhalb der Theologie diskutiert, und man ist dann zu dem Schluss gekommen, dass Maria vollkommen passiv in ihrem Empfangen war, deshalb handelt es sich um eine unbefleckte Empfängnis - damit war auch Jesus frei von der Erbsünde. Das was für die Frauenbevölkerung konsequent war, war die wichtige und fast schon religiös aufgeladene Vorstellung von Jungfräulichkeit. Der verschlossene weibliche Körper, war der reinere Körper, als der nicht-jungfräuliche, was für die Sexualität der Frau bedeutet, dass eine Frau, die jungfräulich geblieben ist, nach theologischer Vorstellung wertvoller ist - es sei denn, die nichtjungfräuliche Frau wurde Mutter. Es wurden also in der Figur der Maria beide Identifikationsangebote vereint: die Jungfrau und die Mutter. Es wurden gleichzeitig zwei ganz elementare Frauenrollen festgelegt: • Jungfrau • Mutter 15 von 103 Auch bei der Mutterrolle wurde weitgehend die Sexualität ausgeschlossen, außer zum Zwecke der Zeugung und Empfängnis. Maria und die Marienverehrung haben zu einem sehr positiven Frauenbild und zu einem Ausgleich zu der Verteufelung der Eva geführt. Gottfried von Vendome (1093 - 1129): Mariengebet: Maria, die Gütige, hat Christus geboren und in Christus gebar sie die Christen. Und so ist die Mutter Christi die Mutter aller Christen. Wenn aber die Mutter Christi die Mutter aller Christen ist, sind Christus und die Christen offenbar Brüder. Christus ist nicht nur Bruder aller Christen, sondern er ist der Vater aller Menschen, vor allem der Christen. Er ist der Vater und der Bräutigam der Jungfrau und er ist ihr Sohn. Maria ist auch die Schwester, Braut und Magd des Herrn, sie ist aus Gnade Mutter aller Lebendigen im Gegensatz zu Eva, von der Natur aus Mutter aller Sterbenden. Die Figur der Maria in mehreren Rollen führt dazu, dass Verwandtschaftshierarchien vollkommen ausgetauscht werden können. Alle Verwandtschaftshierarchien, die im Sinne einer Geschlechtlichkeit betrachtet werden können, können außerhalb davon gesehen werden. Es steht: Maria ist auch die Schwester und die Braut Christi, das soll nicht als inzestuöse Verstrickung gesehen werden, sondern das, was rollenhaft von Maria möglich ist. Die Kirche bedient sich bestimmter Kategorien, die durchaus auch im Bereich der Liebeslyrik zu finden sind, und verwendet diese Kategorien in ganz eigenen Zusammenhängen. Religiöse Marienverehrung dient auch dazu, den Frauen des Mittelalters aufzuzeigen, was eine mögliche positive Rolle des Weiblichen sein kann. Vor allem der geschlossene weibliche Körper spielt hier eine Rolle, jegliche Form der Sexualität wird kanalisiert. Maria wird in ihrer Verehrung gewisser Weise verkörperlicht, ein menschlicher, weiblicher Körper wird quasi in Allegorien und in Deutungen aufgelöst. Wie diese Auflösung zu denken ist, zeigt uns das Melker Marienlied: 5. Textbesprechung: Das Melker Marienlied Es zeigt, in welche Richtung die Marienverehrung gehen kann, und wie ein sinnlicher, fleischlicher, weiblicher Körper literarisch vollkommen aufgelöst werden kann. 1 2 1 Ju in erde 2 leit Aaron eine gerte. 3 diu gebar mandalon, 4 nuzze also edile: 5 die süezze hast du fure braht 6 muoter ane mannes rat, 7 Sancta Maria. 8 Ju in deme gespreidach 9 Moyses ein fiur gesach. 10 daz holz niene bran, 11 den louch sah er obenan, 12 der was lanch unde breit: 13 daz bezeichint dine magetheit, 14 Sancta Maria. 3 4 15 Gedeon, dux Israel, 16 nider spreit er ein lamphel; 17 daz himeltou die wolle 18 betouwete almitalle: 19 also chom dir diu magenchraft, 20 daz du wurde berehaft, 21 Sancta Maria. 22 Mersterne, morgenrot, 23 anger ungebrachot, 24 dar ane stat ein bluome, 25 diu iuhtet also scone: 26 si ist under den anderen 27 so lilium undern dornen, 28 Sancta Maria. 16 von 103 5 6 29 Ein angelsnuor geflohtin ist, 30 dannen du geborn bist: 31 daz was diu din chunnescaft. 32 der angel was diu gotes chraft, 33 da der tot wart ane irworgen, 34 der von dir wart verborgen, 35 Sancta Maria. 36 Ysayas, der wissage, 37 der habet din gewage; 38 der quot, wie vone Jesses stame 39 wüehse ein gerten imme, 40 da vone scol ein bluome varen: 41 diu bezeichint dich unde din barn, 42 Sancta Maria. 7 8 43 Do gehit ime so werde 44 der himel zuo der erde, 45 da der esil unde daz rint 46 wole irchanten daz vronechint: 47 do was diu din wambe 48 ein chrippe deme lambe, 49 Sancta Maria. 50 Do gebære du daz gotes chint, 51 der unsih alle irloste sint 52 mit sinem heiligen bluote 53 von der ewigen noete; 54 des scol er iemmer gelobet sin; 55 vile wole gniezze wir din, 56 Sancta Maria. 9 10 57 Du bist ein beslozzeniu borte, 58 entaniu deme gotes worte, 59 du waba triefendiu, 60 pigmenten so volliu, 61 du bist ane gallen 62 glich der turtiltuben, 63 Sancta Maria. 64 Brunne besigelter, 65 garte beslozzener, 66 dar inne fliuzzit balsamum, 67 der wæzzit so cinamomum, 68 du bist sam der cederboum, 69 den da fliuhet der wurm, 70 Sancta Maria. 11 12 71 Cedrus in Libano, 72 rosa in Jericho, 73 du irwelte mirre, 74 du der wæzzest also verre: 75 du bist uber engil al, 76 du besuontest den Even val, 77 Sancta Maria. 78 Eva braht uns zwiscen tot, 79 der eine ie noch richsenot; 80 du bist daz ander wib, 81 diu uns brahte den lib. 82 der tiufel geriet daz mort: 83 Gabrihel chunte dir daz gotes wort, 84 Sancta Maria. 13 14 85 Chint gebære du magedin, 86 aller werlte edilin; 87 du bist glich deme sunnen, 88 von Nazareth irrunnen, 89 Hierusalem gloria, 90 Israhel leticia, 91 Sancta Maria. 92 Chuniginne des himeles, 93 porte des paradyses, 94 du irweltez gotes hus, 95 sacrarium sancti spiritus, 96 du wis uns allen wegunte 97 ze jungiste an dem ente, 98 Sancta Maria. Dass es um Maria geht, erfahren wir erst in der 7. Zeile mit „Sancta Maria“, was sich bis zum Ende wiederholt. Es geht um die jungfräuliche Empfängnis, aber möglicherweise auch um die jungfräuliche Geburt („muoter ane mannes rat“). Die Mandel ist innen süß und außen bitter: innen ist der süße Kern Jesus, außen die bittere Schale des Menschen bzw. des weiblichen Körpers. Die Wendung in der zweiten Strophe „daz holz niene bran“ bedeutet, dass die tatsächliche Unversehrtheit der Gottesmutter, denn sie hat nie das Feuer der Lust verspürt. Das heißt, Maria hat ohne jegliches Begehren empfangen, und damit ohne Sexualität, ohne sinnliche, fleischliche und leibliche Begierde. Es kommen immer wieder Elemente aus dem Alten Testament vor (Moses, Aaron, Gideon,…), wir haben hier eine typische Deutung im Sinne einer Weissagung. Auch in der dritten Strophe haben wir wieder die Empfängnisszene, es geht hier um das Lammfell, das König Gideon ausgebreitet hat und vom Himmel betaut wurde - das Lammfell als weibliches Geschlecht und der Himmelstau als göttlicher Samen. Erneut haben wir die Betonung auf jungfräuliche Empfängnis. Die vierte Strophe ist insofern interessant, da wie hier eine vollständige 17 von 103 Allegorisierung haben, keinen Vergleich mehr: „merstern“ (Element Wasser und Frau; =Morgenstern) und „morgenrot“ sind Bezeichnungen für Maria. Die vierte Strophe bezeichnet Maria als Licht. In der fünften Strophe spielt die Zurückweisung des Teufels eine Rolle: der Tod, der durch den Sündenfall entstanden ist, ist von Maria wieder aufgehoben. In der sechsten Strophe ist Maria eine Knospe, eine Blume. In der siebten und achten Strophe wird von der Geburt Gottes gesprochen, wobei sie hier überhaupt nicht als schmerzhafte dargestellt wird. In der neunten Strophe - eine erneute Allegorisierung - wird Maria als „beslozzeniu borte“ beschrieben, als eine nicht aufgebrochene Tür, womit natürlich wiederum die immerwährende Jungfräulichkeit Marias gemeint ist. Gleichzeitig ist die Turteltaube ein Sinnbild für Keuschheit. Ähnlich in der zehnten Strophe: ein besiegelter Brunnen, ein geschlossener Garten. Auch das ist wieder ein Ziechen für die Jungfräulichkeit. Letztendlich könnte man sagen, dass das ganze Melker Marienlied genau diese Funktion hat: ein Verweis auf die immerwährende Jungfräulichkeit Marias. Ganz wichtig ist hier die zwölfte Strophe: man kann hier sehr schön sehen, wie diese Opposition zwischen Eva und Maria läuft und wie das aufgefasst wurde. Das Melker Marienlied nennt in sehr konventioneller Weise in den 12 Strophen die wichtigsten Sinnbilder oder Allegorien Mariens und zeigt sehr gut, wie sich die irdische Frau Maria gleichsam ästhetisch sinnbildlich auflöst, er wird durchwegs allegorisiert. Das heißt, hier findet eine vollkommene Allegorisierung der Figur und damit gleichzeitig eine Auslöschung des Körpers. Maria die Himmelskönigin ist für normalsterbliche Frauen in unerreichbare Sphären gerückt, letztendlich kann die menschliche Frau diesem Vorbild zwar immer wieder nacheifern, letztlich aber nie gänzlich entsprechen. Menschliche Frauen bleiben also eher Töchter Evas und weniger Töchter Marias. 3. Vorlesung 22. Oktober 2015 Die Erlösung - Heilige Frauen Maria Magdalena und Katharina 1. Heiligenlegende als literarische Gattung ist vor allem wichtig für Genderfragen. Legende: das zu Lesende oder das zu Vorlesende, was einiges über die ursprüngliche Funktion und Bedeutung von Legenden aus. Legenden wurden an Jahrestagen, bei Predigten, und in den Klöstern vorgelesen. Sie waren jene Erzählungen, die auch dem Laien bekannt waren. Auch in den heutigen Kalendern finden sich oft bestimmte Namen, bei denen es sich um Heilige und Namenspatronen handelt. Miniatur (Folie): ein paar Heilige fehlen, die im Laufe der Jahrhunderte meist aufgefüllt werden. Man spricht hier von Heiligensammlungen, sogenannten Legendaren, in denen im Jahreskreis diese Geschichten gesammelt werden. Diese Sammlungen wurden im deutschsprachigen Raum 18 von 103 im 8. und 9. Jahrhundert angefertigt und haben sich dann verbreitet. Sie waren zunächst in lateinischer Sprache, im 13. Jhdt. hat man sie dann in der Volkssprache verfasst. Die wichtigsten volkssprachlichen Legendare: • Elsässische Legende Aurea (1275) • Passional (gereimt - Mitte 13. Jhdt.) • Väterbuch (um 1290) • Märterbuch (gereimt - Ende 13. Jhdt.) Dem Inhalt nach gibt es verschiedene Untergattungen: • Vita: nicht im sinne einer Biografie zu verstehen, sondern es werden Elemente des Heiligenwegs beschrieben, zB die asketische Lebensweise oder die Bedrohung des Glaubens. • Passio: einer der häufigsten Formen, die Erzählung des Märtyriums. • Visio: Erzählungen von Visionen und Jenseitsreisen in andere Sphären, die imaginiert werden. • Translatio: es geht um Erzählungen über Reliquien, der Reliquien-Kult war spätestens im 13. Jhdt. sehr ausgeprägt. Reliquie = ein Stück (Körperteil, Knochen, etc.) eines Heiligen. • Mirakel: Erzählungen von Wundern, die durch oder nach dem Tod des Heiligen geschehen sind. Alle diese Untergattungen können auch in einer Legende vereint sein, wie es zB bei Maria Magdalena der Fall ist. Die Legende aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Nach Andre Jolles zählt sie zu den einfachen Formen (= Texte wie Sagen,...), sie ist also nicht hochkomplex. Er sagt allerdings, dass die Legende auch innerhalb der Texte, die er als einfache Formen behandelt, eine Sonderstellung einnimmt. Die Legende ist mehr als ein literarischer Text also nicht als fiktionaler Text aufzufassen, sondern es geht auch um die Vita eines Heiligen Menschen, und sie postuliert zumindest vom Ansatz her einen historischen Wahrheitsanspruch. Wir haben es also mit einem Text zutun, der zwischen Wahrheit und Fiktion oszilliert. Entscheidend ist, dass die Legende elementar in religiöse und soziale Praktiken eigen ist. Sie zeichnen sich anhand einer enormen Wirkkraft aus, sie sind jene Texte, die am meisten und auch am längsten gewirkt haben. Grubrecht (Literaturwissenschaftler) hat Legenden als Faszinationstypen bezeichnet. Es sind Texte, die immer wieder Erstaunen hervorrufen und nicht vollkommen unberührt lassen. Wichtig ist, dass eine Legende hat zwar historischen Anspruch für sich postuliert, sie ist aber dennoch deutlich konstruiert, es ist eine fast paradoxe Situation. Legenden erschaffen den Heiligen quasi durch den Text. Wir haben es also einerseits mit einem Text zutun, der konstruiert ist, aber andererseits mit einem Text, der so tut, als wäre er historische Wahrheit. Entscheidend ist nach Jolles, dass die Figur des Heiligen so dargestellt wird, dass die Umgebung zu einem Imitatio aufgerufen wird - es geht also um den Aspekt des Nachahmens. Bei Jolles bedeutet dass, dass die Heiligenlegende zu einem "heiligenmäßigen" Leben, also zu einer bestimmten Form des Glaubens führen kann, allerdings zu einem Leben, dass gleichzeitig auch auf das jeweilige Geschlecht normiert wird. 19 von 103 Die abendländisch-katholische Legende [...] gibt das Leben des Heiligen, oberflächlich gesagt seine Geschichte - sie ist eine Vita. Diese Vita als eine sprachliche Form hat aber so zu verlaufen, [...] daß sich in ihr dieses Leben noch einmal vollzieht. Es ist nicht damit getan, daß sie Ereignisse, Handlungen unparteiisch protokolliert, sondern sie muß diese in sich zu der Form werden lassen, die sie von sich aus noch einmal verwirklicht. (Andre Jolles: Einfache Formen: S.39) Die Heiligenlegende ist nicht nur ein Bericht, oder eine Biografie, sondern sie ist von ihrer Form her so angelegt, dass mit jedem Absatz so viel mehr an Aufforderung und Information da ist, dass die Hörenden einfach nicht unbeteiligt und unparteiisch bleiben können. Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das >Historische< in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legende kennt das >Historische< in diesem Sinne überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder (ebd. S.40) Das Historische ist da, zB bei Biografien oder Informationen, wo gesagt wird, dass der Heilige aus einem bestimmten Ort stammt, aber diese historische Information ist nur der Beginn einer Information, die auf etwas anderes abzielt - auf die Glaubensfestigkeit. Das Historische verändert sich in Richtung Wunder- und Glaubensgeschichte: Die Legenden arbeiten immer wieder mit Wiederholungen, sie werden als (möglicherweise) nachahmbar bezeichnet. Es ist ein suggestives Element, das mit transportiert wird. Wichtig ist also, dass die Legenden über das gesamte Kirchenjahr gehört und gelesen wurden, und dass diese Legenden weniger auf einen historischen Wahrheitsgehalt abgezielt haben. Entscheidend war ihre erbauende die Indoktrinierende und Appellative. Man kann also sagen, dass es sich um eine Textsorte handelt, die sich nicht damit begnügt eine Vita zu erzählen. Man kann also sagen, dass die Legende keine einfache Form ist, sondern äußerst raffiniert sprachlich konstruiert ist. Raffiniert insofern, das die Legende das wichtigste Propagandainstrument der Kirche war, um die Gesellschaft moralisch in eine bestimmte Richtung zu bringen. Es liegt also nahe, die Legenden auf Kodierungen von Geschlechterrollen zu befragen. Die zwei folgenden Legenden berichten vom Leben zweier unterschiedlicher Frauen, allerdings gibt es viele Parallelen in der Darstellung der Heiligenfrau: 2. Maria Magdalena Maria Magdalena ist keine Unbekannte, sie kommt in den Evangelien, also im Neuen Testament vor, und ist eine äußerst prominente Frauenfigur - sie wird öfter erwähnt, als Maria die Mutter von Jesus. (18 mal) 2.1 Im neuen Testament Maria hat die Kreuzigung verfolgt, ist also eine Zeugin derselben. Als der Lichnam Christi vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt wurde, gedachten die Frauen, den Leichnam nach dem Brauch der Zeit zu salben, finden den Leichnam aber nicht vor. Die anderen Frauen laufen erschreckt davon, nur Maria Magdalena hat dort gewartet. Jesus offenbart sich ihr und sagt, sie 20 von 103 solle zu den Jüngern gehen und verkündigen, dass er auferstanden sei. Sie ist also die erste Zeugin der Auferstehung (apostola apostulorum). Es gibt aber im Neuen Testament zwei andere Erzählungen von Maria Magdalena, die eindeutig von den neutestamentarischen Studien zwei andere Frauen sind, aber es sind Geschichten, die überlagert wurden. Wir haben zunächst einmal jene Geschichte (Evangelium nach Matthäus und Lukas), wo eine Prostituierte die Füße von Jesus salbt (im Hause Lukas). Die Gäste empören sich, dass Jesus das zulässt, sich von einer Prostituierten die Füße waschen zu lassen und Jesus sagt dann, sie sollen sie lassen, da sie seinen Leib im Voraus gesalbt hat zu seinem Begräbnis. Genau an dieser Stelle kommt es zu dieser Verwechslung, man ist davon ausgegangen, dass die Sünderin, also die Prostituierte Maria Magdalena sei. Johannes erzählt die gleiche Episode, allerdings sagt er, dass diese Frau mit dem Salböl Maria ist, meint aber damit nicht, Maria Magdalena, sondern sagt: "Diese Maria war die Schwester von Martha und von Lazarus", enge Freunde von Jesu, sie sitzt zu Füßen Jesus und lauscht seinen Worten. Wir haben es also mit 3 Personen zu tun: die erste Person ist Maria Magdalena als Zeugin der Auferstehung, die zweite Person ist die Prostituierte, die Jesus die Füße salbt und die dritte person ist die Schwester von Martha und von Lazarus, die Jesus zu Füßen sitzt und seinen Worten lauscht. Drei Frauen, die aber alle mit dem Leib Jesu zutun hatten und in seiner Nähe waren. Zwei davon werden auf den Knien dargestellt, also zu Füßen des Herrn - in bestaunlicher Haltung, in Bewunderung und Demut. Man kann sagen, wir haben hier 3 Frauen, und das wurde zunächst einmal bis ins 9. Jhdt. so gesehen, ab dann hat Papst Gregor der Große im 19. Jhdt. festgestellt, dass die Frau, die von Lukas als Sünderin bezeichnet und von Johannes Maria genannt wird, dieselbe ist, über die Markus sagt, ihr seien böse Geister ausgetrieben worden, alle drei Frauen seien also als eine Person zu sehen. Seit dem 9. Jhdt. gilt das für die lateinische Christenheit. In der griechischen wurde das noch nicht so gesehen, sie wurde als eigene Person verehrt und es gab einen sehr ausgeprägten Magdalenenkult. Diese kurdische Verehrung der Heiligen ist dann nach Europa gelangt, zuerst nach England, von dort über die Missionare nach Frankreich. Der älteste Text einer Marien Magdalenen-Verehrung stammt aus Frankreich: "In veneratione Sanctae Mariae Magdalaene" (10.Jhdt.): Der Text zeigt sehr schön, wie man sich die Entstehung von Heiligenlegenden vorzustellen hat. Es war ein Sermon, der auch dazu bestimmt war, vorgelesen zu werden - zunächst in Klöstern aber auch in Kirchen. Beim Inhalt kommen Elemente dazu, die nicht in der Bibel stehen: Wir erfahren, dass Maria Magdalena vermögend, freigiebig und von vornehmer Geburt war. Maria Magdalena verfügt über ihre eigenen Bücher. Es wird hier also offensichtlich eine Vita konstruiert. 21 von 103 Dieser Aspekt, dass Maria Magdalena möglicherweise auch die Prostituierte ist, wird überhaupt nicht erwähnt, sondern es werden 2 Dinge betont. Einerseits hat Maria Magdalena ihre weibliche Schwäche überwunden, und zwar ihre Furcht und ihre Angst, indem sie nicht davongelaufen ist wie die anderen Frauen, sondern beim offenen Grab stehengeblieben ist. Das wird mit ihrer Überwindung der Schwäche und mit ihrem zweiten Wesenszug, der Fähigkeit zu großer Liebe erklärt. Ihre große Liebe zu Jesus hat sie dazu bewogen, eben nicht wegzugehen, was wiederum ihre Standhaftigkeit zeigt. Maria Magdalena wird als eine Frau dargestellt, die Jesus über alles liebt. man könnte sagen, dass dieser Text aus dem 10. Jahrhundert Maria Magdalenas sehr positive Aspekte behandelt. Es wird nichts über ihr lasterhaftes Leben in der Jugend erwähnt, was ihr später widerfahren ist. Maria Magdalena steht damit mit diesem ersten Verehrungstext zwischen Eva und Maria. Sie ist zwar eine Sünderin, aber sie ist nicht so wie Eva und kann natürlich auch nicht so sein wie Maria. Durch ihren Glauben und ihre Liebe zu Gott nimmt sie aber eine Zwischenposition ein und man kann sagen, sie hat ein Identifikationsangebot für Frauen, das zwischen diesen beiden Extremen liegt. Es ist also etwas, das nachahmenswert ist. Dieser lateinische Sermon hat letztendlich zu einer Maria Magdalena-Verehrung geführt, die über das gesamte Mittelalter angedauert hat. Gegen Mitte des 11. Jhdts. verbreitet sich das Gerücht, das Maria Magdalena in Burgund war und sich ihr Leichnam dort befindet, was dazu geführt hat, dass der sich Kult dort besonders verstärkt hat. Das heißt, das mittelalterliche Frankreich hat für sich die Position in Anspruch genommen, dass Maria Magdalena dort war. Dazu wird natürlich eine Erzählung benötigt, die dann nachgeliefert wurde. Diese Erzählung, wie Maria Magdalena tatsächlich nach Frankreich gekommen ist, finden wir dann in der Legenda aurea. Die Frage, die sich hier stellt ist folgende: Was war in der Zeit zwischen der Erscheinung des auferstandenen Christus und ihrem eigenen Tod? Alles, das nicht in der Bibel stand, musst irgendwie aufgefüllt werden. Diese Klitterung der drei Frauenfiguren hat man aber ebenfalls übernommen. Wie ist also eine Frau, die eigentlich in Medea gewohnt hat, nach Frankreich gekommen? Es ist wieder eine Klitterung von mehreren Legenden, die kursiert haben. Die Legenda aurea gibt also Erklärungen dafür, wie Maria Magdalena nach Frankreich gekommen ist. Eine Erzählung ist hier besonders interessant, eine Erzählung aus dem ägyptischen Bereich: Maria Aegyptiaca: Maria und das Einsiedlerleben. Diese Figur ist nicht Maria Magdalena, sondern Maria Aegyptiaca, die in der Wüste ihr Büßerleben durchgeführt hat. Es gibt hier zwei Parallelen zu Maria Magdalena: auch Maria Aegyptiaca war in ihrer Jugend eine Prostituierte, ist dann aber zum christlichen Glauben übergetreten und zur Buße in die Wüste gegangen. In der Wüste wird ihr Körper entweiblicht, sie hat keine Brüste mehr und auch die Haare sind in der Darstellung zurückgedrängt, in der Wüste ist der weibliche Körper also verdorrt. Ihre Geschlechtlichkeit spielt keine Rolle mehr, sie ist letztendlich fast schon tierhaft. Diese Geschichte wurde nicht nur aufgrund 22 von 103 der Namensgleichheit, sonder eben auch aufgrund der Parallelen in der Biografie auf Maria Magdalena übertragen. In der Übersetzung der lateinischen Vorlage der elsischen Legenda aurea heißt es: In der Zwischenzeit begehrte Maria Magdalena nach höherer Betrachtung; sie ging in die rauheste Wildnis und lebte dort dreißig Jahre lang unerkannt an einem Ort, den die Hände von Engeln für sie geschaffen hatten. An diesem Ort gab es weder ein Bächlein noch Bäume oder Gras als Trost. Daran wird deutlich, daß unser Herr sie nicht mit irdischer Nahrung, sondern mit himmlischer Speise sättigen wollte. Jeden Tag aber wurde sie zu den sieben Gebetsstunden von Engeln in die Lüfte gehoben und hörte mit ihren leiblichen Ohren den Gesang der himmlischen Heerscharen. So wurde sie alle Tage mit dieser süßen Kost gespeist und dann von denselben Engeln wieder an ihren Platz auf die Erde zurückgebracht, so daß sie keiner irdischen Nahrung bedurfte. (ELA: S.436, Z.12-19) Es wird zwar das Leben einer irdischen Frau geschildert, die dieses in der Wüste verbringt, aber die Erzählung zeigt deutliche Züge einer Heiligung der Person. Sie braucht keine irdische Nahrung mehr, sie muss sich nicht mehr den täglichen Mühen einer Nahrungssuche widmen, sondern sie ist quasi von den Menschen entrückt. Die "süße Kost" ist sozusagen die Belohnung für ihr Eremitenleben. Das ist insofern interessant, da es im 13. und 14. Jahrhundert relativ viele Bewegungen gegeben hat, wo Gläubige, Männer und Frauen, ein Eremitenleben gewählt haben völlige Verleugnung und Kasteiung des Körpers hängt damit zusammen. Diese Schilderungen, die nicht nur in dieser Legende vorkommen, haben real dazu geführt, dass sehr viele Frauen, wie auch Männer sich dazu entschieden haben, dieses asketische Leben (die körperlichen Bedürfnisse betreffend) auf sich zunehmen. Es wurde kein Wert mehr auf Hygiene gelegt, nur das allernötigste gegessen bis hin zu einer Bewegung, bei der sich manche haben einmauern haben lassen. Es ist ein sehr gutes Beispiel für Imitatio, was diese Geschichte auch als Wundergeschichte erscheinen lässt. Man erfährt, dass Maria Magdalena von Engeln in den Himmel getragen wurde. Das, was hier wiederum nachahmenswert ist, ist tatsächlich die Tatsache der Askese und der Eremitage. In der Wüste wird sie dann von einem Priester entdeckt, der den Körper nicht mehr als Frauenkörper wahrgenommen hat und sich deswegen sogar gefürchtet hat, da er nicht recht wusste, was denn das für ein Körper sei. Der Priester ist dann zu einem Bischof gegangen, hat ihn informiert, der dann mit Maria Magdalena gesprochen hat. Sie wurde dann mitgenommen und stirbt dann: […] dann empfing die selige Maria Magdalena den Leib und das Blut des Herrn unter vielen Tränen aus der Hand des Bischofs, streckte ihren Körper vor den Stufen des Altars weit aus und verschied. Nach ihrem Tod verblieb in der Kirche ein solch süßer Duft, daß er noch sieben Tage lang von allen, die in die Kirche kamen, wahrgenommen wurde. Ihren heiligen Leib salbte der selige Maximinus mit vielen Wohlgerüchen und bestattete ihn mit allen Ehren. (ELA S.437, Z.26-31) Der heilige Körper ist ein besonderer Körper, er ist weder männlich noch weiblich und er entspricht nicht den irdischen Kriterien. Es ist auch ein Körper, der nicht verwest - es gibt sogar Wohlgeruch. Der heilige Körper ist auch unzerstörbar, wie man später bei Katharina sehen kann. Damit liefert der heilige Körper ein Indentifaktionsangebot sowohl für Männer als auch und für Frauen. Eine andere Geschichte ist ebenfalls sehr interessant, die sich an Erzählungen aus der Bibel sehr wohl anlehnt, denn Maria Magdalena ist Verkünderin und Apostolin, sie ist aber auch Bekehrerin 23 von 103 und Predigerin nach dieser Legende, man nennt es ihr apostolisches Leben. Es betrifft also ihr Leben vor allem nach dem Tod Jesus. Hier kommt Maria Magdalena nach Marseilles, Frankreich. "[…] durch göttliche Fügung gelangten sie aber nach Massilia. Dort fanden sie niemanden, der ihnen Unterschlupf gewähren wollte und blieben deshalb in der Vorhalle eines heidnischen Tempels. Als Maria Magdalena sah, wie das Volk zu dem Heiligtum strömte, um den Götzen zu opfern, stand sie auf und begann mit sanfter Miene, heiterem Gesicht und milden Worten die Leute vom Götzenkult abzukehren und predigte ihnen ohne Unterlaß vom christlichen Glauben. Da wunderten sich alle Leute über ihre Schönheit, ihre Beredsamkeit und ihre süßen Worte. Und tatsächlich ist es kein Wunder, daß die Lippen, die die Füße unseres Erlösers mit so frommen und so süßen Küssen bedeckten, besser als alle anderen den Duft von Gottes Wort verströmten." (ELA S.436, Z.5-11) Sie ist Predigerin mit milden Worten, hier sieht man also, dass die geschlechtsspezifischen Merkmale hier doch eine Rolle spielen. Auch ihre Schönheit ist hier ein wichtiger Aspekt. Die Geschichte der Prostituierten wird zunächst außen vor gelassen. Was hier wiederum betont wird, ist die Tatsache, der Fußsalbung und auch, dass die Jesus körperlich so nahe war, dass sie ihm die Füße geküsst hat. Aus diesem Kuss entsteht nicht ein "erotisches Verhältnis", sondern der Kuss bewirkt, dass Maria Magdalena quasi süße Worte formulieren kann und damit auch zu einer Missionarin wird. Das heißt, ihr Predigen ist ein Predigen aufgrund ihres Kontaktes zu Jesus. Was in dieser kleinen Textstelle auffällt, ist, dass auch hier diese Tatsache, dass eine Frau von sich aus das Wort ergreift und predigt, sehr positiv gesehen und nicht als ein Problem gesehen wird verwunderlich, wenn man an die Stelle in der Bibel denkt, in der steht, dass die Frau eigentlich lieber überhaupt nichts sagen sollte. Das heißt, wenn eine Frau spricht und das im Glauben tut, wird es positiv vermerkt In der elsischen Legenda aurea ist dieser Text in lateinischer Fassung so nicht zu finden. Im 14. Jahrhundert ist genau diese Funktion des Predigens zurückgedrängt worden. Es wird zwar gesagt, dass Maria Magdalena dort bekehrt, aber ihre süße Rede wird mit keinem Wort erwähnt - es wurde gestrichen. Offensichtlich war es dem Verfasser bzw. dem Übersetzer doch zu positiv. Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt, sind Maria Magdalena und ihre Tränen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Legenda aurea eine Komposition verschiedener Geschichten ist. Drei verschiedene Frauenfiguren wurden hierbei in die Legenden aufgenommen und zu einer Person kombiniert. Dann gibt es Zusatzerzählungen, die die Kindheit und Jugend, also quasi die "Frühzeit" der Maria Magdalena und dann auch die "Spätzeit", also nach dem Tod Jesus betreffen. Damit haben wir eine abgerundete Vita. Anhand dieser verschiedenen Elemente der Legende zeigt sich eine sehr starke Veränderung der Bewertung der Maria Magdalena, die zumindest im 12. Jahrhundert eingesetzt hat. Ihre Rolle der Bibel, also die der Verkünderin wurde zurückgedrängt. Maria Magdalena wurde weniger als Zeugin der Auferstehung, sondern als Büßerin gesehen. Ab dem 12. Jhdt. hat die Kirche versucht, über das Bußsakrament ihre Gläubigen stärker in den Griff zu bekommen. Man sollte seine Sünden nicht nur beichten, sondern auch bereuen, um dann eine Tilgung der Sündenschuld zu erfahren. Dieser sogenannte Ablasshandel hat dann auch zur Spaltung der Kirche geführt, und hat die Reformbewegung ausgelöst. Maria Magdalena hat für diese Aufforderung der Buße hergehalten. Sie wurde als die reuige Sündige bezeichnet, was alle anderen Aspekte zurückgedrängt hat. Zunächst war Maria Magdalena die reuige Sünderin, da aber vor allem auch die Weinende. Der Aspekt der Liebe, der besonders im Johannes-Evangelium steht, wurde dadurch zusätzlich betont. 24 von 103 Das heißt also, aus Liebe zu Jesus hat Maria Magdalena große Reue empfunden. Gerade in der Renaissance-Malerei wurde Maria Magdalena als die Weinende und so als die im Übermaß Liebende dargestellt. Das war ebenfalls ein wichtiges Identifikationsangebot für die Frau zu dieser Zeit, denn diese blühende Liebe zu Jesus hat tatsächlich zu einer Frauenbewegung geführt, zu den sogenannten Beginen, die anfangs nicht in einer klösterlichen Gemeinschaft gelebt haben und diese Beginen haben vor allem diesen Aspekt betont. das sind dann jene Frauen, die Texte verfasst haben, die letztendlich nichts anderes sind, als sehr sprachlich interessante Liebeserklärungen an Jesus. Andererseits wird sie aber als Sündige und als reuige Sündige bezeichnet, was streng genau ein Fehler ist, da Maria Magdalena nicht mit der Prostituierten zutun hat. Die elsische Legenda aurea formuliert es folgendermaßen: Weil Maria Magdalena Reichtum im Übermaß besaß und die Wollust sich gerne großem Besitz zugesellt, gab sie sich in gleichem Maße der Lust hin, wie sie reich und schön war, und man nannte sie deshalb schon nicht mehr bei ihrem richtigen Namen, sondern nur noch "die Sünderin". Als Christus predigend durch das ganze Land zog, kam sie durch göttliche Fügung ins Haus des Pharisäers Simon, denn sie hörte, daß Christus dort essen wollte. Weil sie eine Sünderin war, wagte sie jedoch nicht, unter den Gerechten Platz zu nehmen; so blieb sie hinter dem Herrn zu seinen Füßen und wusch sie mit ihren Tränen, trocknete sie mit ihrem Haar und salbte sie mit einer köstlichen Salbe. Die Leute dieser Gegend hatten nämlich wegen der sengenden Hitze die Gewohnheit, sich oft zu baden und zu salben. Da dachte der Pharisäer Simon bei sich: "Wäre dieser Mann ein Prophet, dann ließe er sich nicht von einer Sünderin berühren." Der Herr zürnte ihm jedoch sehr wegen seines überheblichen Gerechtigkeitssinns und vergab der Frau all ihre Sünden. (ELA S.431, Z.16-31) Hier ist auch die Verbindung von Schönheit und Wollust zu sehen, was auch von der Kirchenpropaganda oft hervorgehoben wurde - dass die Schönheit der Frau gefährlich verführerisch ist. Das heißt also, dass Maria Magdalena hier als reuige Sünderin verstanden wird. Weiter heißt es in der elsischen Legenda aurea: Weil sie den besten Teil der Buße erwählte, heißt sie das bittere Meer, denn sie hatte davon viel Bitternis; das erkennen wir daran, daß sie genug Tränen vergoß, um damit dem Herrn die Füße zu waschen. (ELA S.430, Z.10-12) Maria Magdalena wird ab dem 12. Jahrhundert immer stärker zur Prostituierten, aber damit gleichzeitig auch zu einer gefährlichen Frau. Maria Magdalena geht immer mehr in Richtung dieser kirchlichen Propaganda und wird zum Beispiel einer Frau, die ihre Sinnigkeit lebt, die dann aber letztendlich ihr Leben in Buße verbringt. Maria Magdalena wird als Schönheit beschrieben und damit aber auch als gefährlich, denn sie hatte Männer in Versuchung geführt - sie hat Parfum verwendet, sie hat ihr Haar offen getragen. Es war typisch für die späteren Darstellungen von Maria Magdalena sie zunehmend als nackte Verführerin zu zeigen. es gibt ab der Renaissance unzählige Darstellungen der Maria, wo sie als verführerische Frau dargestellt wird. Sie ist als Heilige ambivalent. Die Kirche hat an die Frau, die Maria Magdalena verehrt, ein Angebot gerichtet, dass der Aspekt der Liebe zwar wichtig ist, dieser aber auf Jesus gerichtet sein muss. Damit ist das Potenzial der Sinnlichkeit und der Erotik im Keim erstickt worden. 25 von 103 3. Katharina von Alexandrien: Sie ist neben Maria Magdalena eine der populärsten Heiligen des Mittelalters. Es gibt viele Parallelen zu Maria Magdalena, aber auch ganz entscheidende Unterschiede: Marthabuch: ein gereimter Text, wo Katharina als reine Frau, als Frau ohne Wandel, eine züchtige und weise Frau und im Unterschied zu Maria Magdalena von Anfang an: die rain magt aller wandels frey czuchtig und weis dienen Got was ir gir Der Inhalt der Legende: Katharina ist eine Königstochter und wie Maria Magdalena von außerordentlicher Schönheit. Als Königstochter hat sie das Privileg zur Bildung und sie erweist sich als hochbegabt. Mit 18 ist sie eine berühmte Gelehrte. Sie bekennt sich zum Christentum von vornherein und versteht sich als Braut Christi. Damit haben wir einen wesentlichen Unterschied zu Maria Magdalena - sie ist Jungfrau und bleibt es auch. Eines Tages zwingt der römische Kaiser Maxentius, der sich gerade in Alexandrien befindet, die ortsansässigen Christen dazu, den heidnischen Göttern zu opfern. Das hört Katharina, stürmt in den Palast und stellt den Kaiser zur Rede, indem sie in sofort in ein Religionsgespräch verwickelt und erklärt ihm, dass das nicht ginge und dass er aufhören solle den heidnischen Göttern zu opfern. Der Kaiser ist nicht nur von ihrer Schönheit beeindruckt, sondern auch von ihrerFähigkeit zur Argumentation beeindruckt und schlägt ihr vor, mit 50 Gelehrten, die er kommen lässt, über ihren Glauben zu diskutieren. Wenn sie diese 50 Gelehrten überzeugt, dann würde er es dabei belassen. Allerdings können die 50 Gelehrten Katharina nichts entgegnen, denn sie ist in ihrer Argumentation so gut, dass die 50 Gelehrten verzweifelt sind und sich zum Christentum bekehren. Der Kaiser ist erzürnt, da er dies nicht erwartet hatte und lässt alle verbrenne. Er meint, damit wäre das Problem gelöst, wäre da nicht die Kaiserin, seine Frau, die so beeindruckt ist, dass sie ebenfalls zum christlichen Glauben wechselt. Nun will der Kaiser Katharina als Frau, sie aber verweigert das verweist dabei auf Jesus. Das lässt der Kaiser natürlich nicht auf sich sitzen, sondern er lässt Katharina foltern und in den Kerker geworfen. Sie wird ausgepeitscht, auf das Rad gespannt und vieles mehr. Sogar im Kerker gelingt es ihr noch, Menschen zu bekehren. Katharina bleibt also standhaft und der Kaiser weiß keinen Ausweg mehr, denn auch die Folter bewirkt nichts - ein Spezifikum des Heiligen Körpers - er kann dank Gott nicht zerstört werden. Zum Schluss lässt der Kaiser sie köpfen und aus ihrem geköpften Leib fließen Blut und Milch, als Zeichen ihrer Heiligkeit und sie wird von den Engeln in den Himmel getragen. Wir haben hier also eine ganz typische Märtyrergeschichte. Katharina ist also reich und schön, aber anders als bei Maria Magdalena führt dieser Reichtum nicht zur Sünde. Sie tritt ebenfalls als Predigerin auf und sie wird sogar als Gelehrte bezeichnet. Wie ist es nun möglich, dass tatsächlich eine Heilige als Gelehrte erscheint? Das ist nur deshalb möglich, weil Jesus das so bestimmt. So heißt es zunächst: "Der engel Sprach: V.24874: Got macht dich so chünstreich/ und geit dir sinne also vil,/ daz an desselben tages zil/ dich niemand mag ueberredenn." 26 von 103 Die Klugheit ist jedoch nicht weiblich konotiert, denn diese Klugheit kommt ausschließlich von Gott. Das heißt, die Klugheit ist männlich, ganz entsprechend den Bibelstellen im Zusammenhang mit Eva. Klugheit ist die ratio und die ratio ist etwas männliches. Sie wird auch von Gott "eingeimpft" Katharina ist nichts anderes als das Medium Gottes, sie ist sozusagen seine Stimme. V. 24931: Solcher red der rett sy vil/ mit Gottes hilf auf daz czil/ daz die meister gar erchamenn/ und all sy wunder namenn/ von wan sy het so grozzen sin./ ir chainer was under in/der ir antwurten chünde. Es wird von den Gelehrten als großes Wunder begriffen, dass Katharina in der Lage ist, sie in der Konfrontation zu übertreffen. Katharinas Schönheit ist, anders als bei Maria Magdalena, Teil der Heiligkeit, sie löst sich in der Heiligkeit gleichsam auf. Im Text wird die Schönheit als ein göttliches Leuchten beschrieben. Der Körper leuchtet von sich heraus und der weibliche Körper löst sich im Glanz auf - damit löst sich auch das Geschlecht. V. 25067: "und sahen sitzen engel da pey der maid Kahterina und salbten andenn stündenn der maid ir grozze wündenn die ir warn vor denn tagenn jemerlich durch Got geslagenn und wo die salb hin wart gestrichen, da was die wünde sa entwichen und wart davonn schöne gar, daz sy jahen des für war ez müst nür vonn Gotte sein." Die Schönheit ist somit eine gottgegebene, also eine andere Schönheit, als die der verführerischen Frau. Katharinas Schönheit ist spirituell gesehen und nicht erotisch kodiert. Das zeigt sich auch in ihrem Tod: V. 25519 und do sy den tod enphie, für plüet milich von ir gie. auch warn die engel da und namen den leichnam sa und fürten in sichtichleich dahin Got von himelreich gab Moysi die zehen gebot, Der heilige Körper ist der Körper, der auch in den Himmel kommt. Er ist nicht mehr menschlich, er ist nicht mehr weiblich oder männlich, er ist geschlechtslos. Er hat quasi eine andere Dimension. Die Schönheit ist also nicht mehr die Schönheit des irdischen Körpers, sondern die Schönheit des heiligen Körpers und damit nicht mehr in irdischen Kategorien messbar. In der Zerstückelung und Folter des Körpers entsteht ein neuer, unzerstörbarer, spiritueller, virtueller und verklärter Körper. Diese Kodierung von Männlichkeit und Weiblichkeit lösen sich scheinbar darin auf. Entscheidend ist bei Katharina ihre Jungfräulichkeit. Das heißt, der jungfräuliche Körper ist zumindest in der Lesart dahinter geeigneter für diese Art der Heiligung als bei Maria Magdalena. Man könnte sagen, der jungfräuliche weibliche Körper ist, wenn man verschiedene Legenden miteinander vergleicht, tatsächlich dem nicht jungfräulichen Körper überlegen. Er erfährt in diesen Legenden auch eine Aufwertung. Das hat durchaus auch für die reale Lebensweise der Frauen im Mittelalter Konsequenzen. 27 von 103 Einerseits haben wir bei Maria Magdalena die Kodierung der Schönheit, die gefährlich ist, andererseits jungfräuliche Schönheit, die spirituell umgedeutet wird. Obwohl die Legenden einander gleichen, gibt es in der Geschichte selbst sehr wohl immer wieder Kodierungen von Geschlechterdifferenzen. Es ist tatsächlich so, dass hier eine Hierarchie eingesetzt wird, die besagt, dass der jungfräuliche Körper dennoch wertvoller ist, als der nichtjungfräuliche und dass der mütterliche Körper einer ganz anderen Kategorie zuzuteilen ist. Es gibt nur wenige Legenden, wo Mütter zu Heiligen werden. Ein typischer Legendenzug ist, dass Prostituierte keine Kinder haben, es ist auch ein literarischer Topos. Die Reproduktion wird (in beiden Fällen) gewisserweise außen vor gelassen. Es ist sehr selten, dass Katharina als Studierende oder Lesende dargestellt wird, wie es bei Onorio Marinari der Fall ist. Wie keine andere Gattung hat die Legende dazu beigetragen geschlechtsspezifische Hierarchien zu verankern. In allen Legenden wird der Gegensatz von Körperlichkeit und Spiritualität betont, außer bei den Tränen bei Maria Magdalena, die aber ein Ausdruck der Liebe zu Jesus sind. Man könnte sagen, im christlichen Abendland sind eigentlich die weiblichen Heiligen die einzigen weiblichen heroischen Figuren, die es gibt. Die Legenden zeigen sehr schön, wie Geschlechterkonstruktionen aussehen und wie sie letztendlich gemacht werden. Um wieder auf Jolles zurückzukommen: Legenden sind Texte, die als Propagandamittel unendlich klug eingesetzt werden und das mit vor allem literarischen Mitteln. 4. Vorlesung 5. November 2015 Der Körper der Frau Der weibliche Körper mit Imaginationen ist ein wichtiges Forschungsfeld innerhalb der Genderforschung, da vor allem mit den Vorstellungen des schönen Körpers und des hässlichen Körpers anhand verschiedener Textvorstellungen. „sex“ bezeichnet in der Genderforschung das biologische Geschlecht, also den biologischen Geschlechtsunterschied, der körperlich sichtbar ist. Der biologische Unterschied zwischen Männern und Frauen ist so offensichtlich, dass es sich nur schwer vorstellen lässt, dass auch dieser einem historischen Wandel unterworfen ist. Diese biologische Teilung der Geschlechter in männlich und weiblich, die bis heute als unumstößlich gilt, ist eine Erfindung der letzten 200 Jahre. 1. Der medizinische Diskurs: Galenos von Pergamon (ca. 129 - ca. 199): Für Galenos von Pergamon, einer der bedeutendsten und einflussreichsten Ärzte in der Antike, war eine Trennung und Unterscheidung der Geschlechter nach ihren spezifisch organisch- 28 von 103 anatomischen Besonderheiten wenig bis gar nicht sinnvoll. In den antiken Vorstellungen ähnelten sich Mann und Frau mehr, als sie sich unterschieden. Er gilt als Humoralpathologe. „Anatomie von Mann und Frau ist im Prinzip gleich." Thomas Laqueur (*1945): Der auf der Universität Berkeley lehrende Historiker Thomas Laqueur hat für diese antike Vorstellung den Begriff „one-sex-model“ geprägt. Demnach lag der altertümlichen und damit auch mittelalterlichen Wahrnehmung von Mann und Frau nur ein einziges Geschlecht zugrunde, dem sogenannten vollkommenen Geschlecht. Reale Frauen und Männer waren letztendlich nichts anderes als Abwandlungen dieses einen perfekten Geschlechts, das am männlichen orientiert war. Der Mann stand der Vollkommenheit näher als die Frau. Auch die Philosophie, unter anderen zB Aristoteles, hat sich mit diesem Aspekt auseinandergesetzt. Aristoteles behauptete, die Frau sei nichts anderes als eine minderwertigere Ausführung des Menschen. Das Männliche bildete das Maß aller Dinge, das galt immerhin bis 1800. Der herrschenden anatomischen Meinung befand sich beim Mann draußen, was bei der Frau aufgrund ihrer größeren Unvollkommenheit und geringeren Hitze (4-Säfte-Modell) im Inneren verborgen blieb. Der Unterschied zwischen Penis und Vagina, so lehrte Galenos seine Schüler, sei rein topologischer Art. Stülpe man das gesamte männliche Geschlechtsorgan um - wie einen umgedrehten Handschuh, so Galenos, verwandle sich dieses in weibliche Genitalien. Der Penis würde zur Vagina, der Hodensack zur Gebärmutter und die Hoden zu den Eierstöcken. Bis ins späte 18. Jahrhundert sprachen die Ärzte im Englischen von männlichen und weiblichen Testikeln. Dasselbe wäre auch umgekehrt bei der Frau möglich. Nichts komme dazu, nichts gehe verloren. Diese Vorstellung kann man auch bei DaVincis Zeichnungen sehen, seine Zeichnungen waren eine lange Zeit sehr wichtig für die Anatomie und die medizinische Forschung. Körper und Kosmos - die Elementenlehre: Physiologisch galt die Frau als die kühlere Variante des Mannes, aber keinesfalls als sein Gegensatz. Aus dieser Elementenlehre erklärte man sich alle biologischen Unterschiede, zB warum Frauen menstruieren, und Männer nicht. Die Erklärung war folgende: die heißere Hälfte der Menschheit - der Mann - verbrannte das überschüssige Blut im Körper. Die Körperflüssigkeiten waren bei beiden Geschlechtern austauschbar. Das Gleichgewicht der Frau war die kühlere Variante, das des Mannes die heißere. Hatte der Mann zB mehr Kälte im Körper, bekam er Hämorrhoiden. Menstruation war somit nichts typisch weibliches, sondern ein Blutfluß, der aus den Mischungen der Säfte erklärt wurde, und nicht wie heute aufgrund bestimmter hormoneller Fakten. Die Körperflüssigkeiten (Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle) können sich ineinander verwandeln. Der männliche Samen wurde als eine Form von veredelten Blut verstanden. Man glaubte auch, dass ein Kind aus männlichen und weiblichen Samen entstanden. Der männliche Samen wurde als stärker und dicker verstanden, der weibliche als dünner. Damals also sahen unsere Vorfahren der klassischen Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein nur ein einziges Geschlecht mit zwei unterschiedlichen Ausformungen - einer vollkommenen und einer weniger vollkommenen, einer heißeren und einer kälteren, einer männlichen und einer weiblichen. 29 von 103 Die Grundlagen des Geschlechtsunterschieds lagen nicht im und am Körper, sondern in der gestuften Ordnung des Universums, also in der Verbindung von Körper und Kosmos. Diese Eingeschlechtlichkeit hat allerdings nicht zu einer Gleichheit geführt. Als das perfekte Geschlecht wurde der Mann gesehen, das weniger perfekte war die Frau. Im 18. Jahrhundert begann sich diese Auffassung zu ändern, natürlich auch aufgrund der medizinischen Erkenntnisse, allerdings hat man dann versucht in einer umgekehrten Regelung diese biologischen Tatsachen immer wieder auch auf eine Schwäche zurückzuführen. Alles das, was spezifisch weiblich ist, zB Menstruation, Schwangerschaft und der weibliche Orgasmus wurden als Schwächen verstanden, während beim Mann wiederum die biologischen Tatsachen als Stärke gedeutet wurden. Die zwei Geschlechter wurden nun in der Deutung als ein Gegensatz verstanden. Das Zweigeschlechtsmodell hat nicht nur aus biologischen Gründen den Siegeszug davongetragen, sondern vor allem aus philosophischen und gesellschaftlichen Gründen. Die Biologie hat die Metaphysik ersetzt - das was man metaphysisch glaubte wurde in der Neuzeit immer seltener. Die Biologie hatte ab dem 19. Jhdt. eher die Tendenz das Trennende zu betonen, als das Gemeinsame von Mann und Frau. Bei beiden Modellen wurde zu Mechanismen gegriffen, um den weiblichen Körper abzuwerten, wenn es auch beim Eingeschlechtsmodell keine biologische Abwertung gab. Im Eingeschlechtsmodell geht es um eine kosmische Ordnung und eine metaphysische Erklärung, während die Biologie so tut, als gäbe es unumstößliche naturwissenschaftliche Beweise für die Ungleichheit der Geschlechter und in weiterer Folge - subtil - für die Abwertung des weiblichen Körpers. Beide Modelle zeigen sehr gut, dass die Unterscheidung der Geschlechter nicht nur eine Unterscheidung ist, um etwas zu wissen, sondern dass sie auch einem sozialen und politischen Zweck dient - ein Machtmittel zur Unterdrückung des Weiblichen. Die Unterschiede sind eng verknüpft mit kulturellen Zuschreibungen und Machtprozessen. Die Theologen haben sich mit den anatomischen Modellen, die damals kursierten, auseinandergesetzt und sind hergegangen und haben dieses in ihrem Sinne gedeutet, was eine Verknüpfung von Theologie und Biologie schaffte, etwas, das in der heutigen Zeit undenkbar ist. 2. sex und Theologie Thomas von Aquin (1225 - 1274): Summa Theologica: Ein Werk, das einen enormen Einfluss auf das gesamte Mittelalter bis weit ins 15./16. Jahrhundert hatte. Interessant ist, dass er den medizinischen Diskurs aufgreift und diesen theologisch ausdeutet: „Es war notwendig, dass das Weib ins Dasein trat, wie die Schrift sagt, als Gehilfin des Mannes; zwar nicht als Gehilfin zu einem anderen Werke als dem der Zeugung, wie einige behaupten, da ja der Mann zu jedem sonstigen Werke eine bessere Hilfe im anderen Manne findet als im Weibe sondern es war notwendig als Gehilfin im Werke der Zeugung.“ 30 von 103 Er sagt also, dass Frauen vollkommen entbehrlich sind. Sie werden auf die biologische Funktion des Kindergebährens reduziert. Er geht noch weiter: Für Thomas von Aquin entsteht die Frau durch einen biologischen Wandel. Der Samen des Mannes wäre auf die Zeugung eines Jungen angelegt. Dass ein Mädchen gezeugt wird, ist das Ergebnis einer Schwäche. Nach dieser theologischen Begründung ist die Geburt eines Mädchens ein Fehler, quasi eine Schwäche des Samens. Die Frau sei ein verhinderter Mann und etwas mangelhaftes. Er geht als auch vom Eingeschlechts-Modell aus. Innerhalb der Spezies Mensch wäre der Mann das Vollkommene (Perfektum). Die Frau ist die Schwächere (Imperfectum), das könne man an ihrer Körperlichkeit bemessen und ist dem kälteren und feuchten Bereich zuzuweisen. Nach Aquin muss die Frau dem Mann unterworfen sein, schon allein, weil die Frau von Natur aus schwächer sei, als der Mann. Er verknüpft die Begründung für die untergeordnete Stellung der Frau also mit theologischen Argumenten. Der männliche Samen ist das Aktive/Zeugende, während der Uterus das Passive/ Materielle ist, nichts anderes als ein Gefäß für den männlichen Samen und idealerweise für das männliche Kind. Aus diesen Tatsachen, die einerseits biologisch und auch aus der Elementenlehre kommen, werden die Geschlechterhierarchien gesponnen. Es gibt allerdings eine interessante „Gegenposition“, die tatsächlich von einer Frau kommt - rund 100 Jahre vor den Thesen Thomas von Aquins: Hildegard von Bingen (1098 - 1179): Sie war eine hochgebildete Klosterfrau, der auch in männlichen Kreisen ein enormer Zuspruch und Respekt entgegengebracht wurde. Sie ist auf die Unterscheidung der Geschlechter in ihren Schriften immer wieder eingegangen. Sie hat sehr wohl die theologischen Schriften dieser Zeit gekannt und auch aufgenommen, hat aber dennoch eine andere Sichtweise formuliert. Hildegard von Bingen weicht von der Grundeinstellung ab, dass der Mann stärker ist als die Frau, auch die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sind für sie eindeutig geregelt. Allerdings versuchte sie ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau zu finden - sie spielt eine Gegenseitigkeit an. Sie vergleicht Mann und Frau mit Sonne und Mond und erstellt damit eine Art Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden, da das eine nicht ohne das andere existieren kann. Sonne und Mond ist auch gewissermaßen eine Metapher - die Sonne, die für die Hitze steht (Mann) bescheint den kälteren Mond (Frau) und bringt ihn zum leuchten. Gleichzeitig sagt sie, dass die Frau nicht nur zum Zwecke der Zeugung da ist, sondern dass beide Geschlechter aufeinander angewiesen sind: „Gott hat ja das Weib dem Manne mit dem Eidesschwur der Treue verbunden und zwar so, dass diese Treue ihnen niemals gebrochen werden sollte , dass sie vielmehr in eins miteinander übereinstimmten, ganz wie Seele und Leib, die Gott zu einer Einheit verband.“ Man kann hier eine ganz andere Betonung erkennen. Das „eins“ ist die Verbindung, auch die sexuelle. Sie wird in ihren Schriften durchaus konkret. Bemerkenswert sind ihre Ausführungen zur männlichen und weiblichen Sexualität. Auch bei Hildegard von Bingen ist der Mann die Seele und die Frau der Leib, aber beide, also die vier Elemente, können nur in einer harmonischen Entsprechung zusammen wirken. Wenn also die Frau feucht und kalt sei und der Mann trocken und heiß, so käme es erst durch die Verbindung aller vier Elemente zur gottgewollten Einheit der Geschlechter. Die Zeugung ist für sie also nicht nur eine Notwendigkeit zum Fortbestand der 31 von 103 Menschheit - sie macht auch keinerlei Unterscheidung zwischen der Zeugung eines Mädchen oder eines Jungen, sondern sie sagt, dass die Harmonien aufeinander einwirken. „Die weibliche Lust kann man mit der Sonne vergleichen, welche die Erde mit ihrer Wärme sanft, langsam und fortwährend durchdringt, damit sie Früchte hervorbringe. Würde sie stärker und ständig auf die Erde herabbrennen, würde sie die Früchte eher schädigen als hervorbringen. So hat auch die weibliche Lust eine sanfte, milde aber dennoch ständige Wärme um Nachwuchs zu empfangen und zu gebären.“ Entscheidend bei ihr ist, dass auch bei Hildegard von Bingen die Vorstellung der Geschlechter völlig unabhängig ist von den primären körperlichen Geschlechtsteilen. Auch bei ist der Körper sowohl der männliche, als auch der weibliche - eine Folge der Ordnung des Kosmos. Geschlechtsmerkmale und Charaktereigenschaften sind nichts anderes als eine Mischung von Körpersäften unter Einfluss der Elemente. Der sichtbare Geschlechtsunterschied spielt in diesen Überlegungen keine Rolle. 3. Imaginationen: Der schöne Körper Das Bild der Frau in der Dichtung ist von diesen Sichtweisen nicht unberührt geblieben. Es gibt aber unzählig mehr Spielarten und Varianten in der Dichtung. Eine erstaunliche Variante gerade des 12. und 13. Jahrhunderts ist zB das Bild der hohen Frau im Minnesang. Das Bild der hohen Frau ist etwas, das vordergründig die Hierarchie der Geschlechter vollkommen umkehrt, denn im Minnesang wird die Frau als das Höchste verehrt und der Mann bzw. der Sänger unterwirft sich ihr vollkommen. Es wird ein Frauenbild geschaffen, dass vollkommen im Gegensatz zum medizinischbiologischen Diskurs steht. Der Sänger sieht sich als Dienender, als hoffnungslos Sehnender und unterwirft sich der Frau bedingungslos. Seine unerfüllte Liebe führt zu Schmerz. Walther von der Vogelweide: Er ist ein berühmter Lyriker des deutschen Hochmittelalters und hat viele Lieder geschrieben, unter andern auch des hohen Sangs. Das folgende Lied ist die erste Schönheitsbeschreibung des Frauenkörpers. Si wunderwol gemachet wîp, daz mir noch werde ir habedanc! Ich setze ir minneclîchen lîp vil werde in mînen hôhen sanc. Gern ich in allen dienen sol, doch hân ich mir dise ûz erkorm. ein ander weiz die sînen wol: die lob er âne mînen Zorn; hab ime wîs unde wort mit mir gemeine: lob ich hie, sô lob er dort. Sie hât ein küssen, daz ist rôt. gewünne ich daz für mînen munt, Sô stüende ich ûf von dirre nôt unt waere ouch iemer mê gesunt. Swâ si daz an ir wengel legt, dâ waere ich gerne nâhen bî: ez smecket, sô manz iender regt, alsam ez vollez balsmen sî: daz sol si lîhen mir. swie dicke sô siz wider wil, sô gibe ichz ir. Ir houbet ist sô wünnenrîch, als ez mîn himel welle sîn. Wem solde ez anders sîn gelîch? es hât ouch himeleschen schîn: Dâ liuhtent zwêne sternen abe, dâ müeze ich mich noch inne ersehen, daz si mirs alsô nâhen habe! sô mac ein wunder wol geschehen: ich junge, und tuot si daz, und wirt mir gernden siechen seneder sühte baz. Ir kel, ir hende, ietweder fuoz, daz ist ze wunsche wol getân. Ob ich da enzwischen loben muoz, sô waene ich mê beschouwet hân. Ich hete ungerne> decke blôz!< gerüefet, do ich sî nacket sach. si sach mich niht, dô si mich schôz, daz mich noch sticht als ez dô stach, swann ich der lieben stat gedenke, dâ si reine ûz einem bade trat. 32 von 103 Got hât ir wengel hôhen flîz, er streich sô tiure varwe dar, Sô reine rôt, sô reine wîz, hie roeseloht, dort liljenvar. Ob ichz vor sünden tar gesagen, sô saehe ichs iemer gerner an dan himel oder himelwagen. owê waz lob ich tumber man? mach ich si mir ze hêr, vil lîhte wirt mîns mundes lop mîns herzen sêr. Es geht hier ganz eindeutig um eine schöne Frau. Die Deskriptio beginnt von oben nach unten, beginnt also beim Kopf und endet bei den Füßen. Das männliche Ich stilisiert sich in der zweiten Strophe als ein krankes Ich. Lilien und Rosen (dritte Strophe) sind sehr wichtige Attribute der weiblichen Schönheit, sie kommen auch bei Mariendarstellungen vor. Die weiße Haut war ein Schönheitsideal, genau wie das Rot der Lippen. Die Farben rot und weiß finden hier eine wunderbare Harmonie. Diese Schönheitsbeschreibung hat durchaus (gewollte) Anklänge an einen religiösen Diskurs, hier an Maria, was in der fünften Zeile deutlich wird. In der vierten Strophe kippt das Ganze, die Dame wird wieder in den "realen Raum" zurückgeholt. Auch der Duft der Dame ist Teil der Schönheitsbeschreibung, es geht also nicht nur um das Aussehen, der Sänger bedient sich auch seiner restlichen Sinne. In der fünften und letzten Strophe erfahren wir, dass er sie ungesehen beobachtet, während sie badet. Wir haben also eine klassische Schönheitsbeschreibung, die mit dem nackten Frauenkörper endet. Die Dame ist nicht nur wunderschön, sondern auch voller Liebreiz. Das Lied zielt auf eine erotische Schlusspointe ab, die offen lässt, ob es zu einer sexuellen Erfüllung kommt, oder nicht. Der Sänger stilisiert sich dreimal als Verwundeter (Strophe 2, 4, 5), hier wird die Geschlechterordnung also umgekehrt. Entscheidend aber ist, dass der Schönheitspreis der Frau ironisch gebrochen ist, denn man muss dieses Gedicht poetologisch lesen. In der ersten Strophe wird klar, dass die Dame Muse ist - sie inspiriert den Sänger zu seiner Dichtung. Er betont aber gleichzeitig, dass sie ohne sein Lob letztendlich nichts wäre, was in der dritten Strophe gut zu beobachten ist. Die Schönheit würde unerkannt bleiben. Wir haben immer den Blickwinkel des Sängers - in literaturwissenschaftlichen Analysen ist es sehr wichtig, wer wen sieht. Die Lenkung des Blickes ist für die Geschlechterhierarchie sehr bedeutend - wer darf schauen, wer muss den Blick senken. Er gibt eine Kostprobe seiner Kunst, indem er die Schönheit preist und sie ausstellt. Er entrückt die Schönheit der Frau in himmlische Sphären, um sie dann gleich wieder vom Himmel herunterzuholen (ab Strophe 4). Der Blick des Sängers richtet sich sofort ins Voyeuristische. Der Blick des Mannes wird von der passiven Demutshaltung zu einem aktiven begehrlichen Blick. Man könnte auch sagen, als reale Frau ist sie dem realen Begehren des Mannes ausgesetzt. Das, was als ein selbstloser Traum aussieht, ist letztendlich nichts anderes, als die Spiegelung des Mannes, dessen Kunst in der Schönheit der Frau zu finden ist - man könnte fast sagen, ihre Schönheit ist seine Kunst. Die erste Deskriptio der körperlichen Schönheit der Dame ist nichts anderes als ein Lob des Sängers auf seine Kunst, wenn man es poetologisch liest. 33 von 103 Die Vorstellung, dass die Liebe durch die Schönheit entsteht und damit auch die Vollkommenheit des Mannes bewirkt begegnet uns in der Literatur immer wieder. Es gibt in der Literatur eine starke Entsprechung von Schönheit und Vollkommenheit, allerdings eine Entsprechung, die natürlich immer wieder gebrochen ist. Hier gibt es keinerlei Hierarchien - Sowohl die Männer als auch die Frauen sind in der Literatur schön. Schönheit ist nichts geschlechtsgebundenes, sie ist etwas objektives, etwas das menscheneigen sein kann. Das wird damit erklärt, dass Schönheit als Eigenschaft Gottes angesehen wurde, Gott selbst gilt als Inbegriff der Schönheit, wobei sie etwas körperloses ist. Die Schöpfung wird ebenfalls als schön bezeichnet, aber nur in dem Moment, wo Gott wirkt. Hier gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten. Interessant ist aber dann, dass diese Schönheit gebrochen wird und zwar durch den Körper der Frau. Die Schönheit der Frau ist nicht nur die ideale Schönheit, sie kann auch eine hässliche Seele verbergen. 4. Imaginationen: Der hässliche Körper „Parzifal": Wolfram von Eschenbach: Parzifal war ein sehr berühmter Roman des Hochmittelalters. Es gibt darin eine sehr markante Szene: die Szene des Auftritts der Kundrie, der Gralsbotin, die an den Artushof kommt um Parsifal und dem gesamten Artushof sein Fehlverhalten vorzuwerfen (er hat nämlich im ersten Teil des Romans die Mitleidsfrage gestellt, ohne es zu wollen). Kundrie bricht in die Feststimmung hinein, um allen mitzuteilen, dass er nicht der edle Ritter ist, den sie glauben vor sich zu haben. Parzifal selbst wird als wunderschön beschrieben. Interessant ist hier aber die Beschreibung der Kundrie: nu hœrt wie diu juncfrouwe reit. ein mûl hôch als ein kastelân, val, und dennoch sus getân, nassnitec unt verbrant, als ungerschiu marc erkant. ir zoum und ir gereite was geworht mit arbeite, tiwer unde rîche. ir mûl gienc volleclîche. si was niht frouwenlîch gevar. wê waz solt ir komen dar? „si was nicht frouwenlîch gevar“ kann übersetzt werden als „sie sah nicht wie eine Dame aus“. Kundrie ist nicht nur ungewöhnlich hässlich, sondern auch außerordentlich gelehrt und eine Zauberin. Sie spricht mehrere Sprachen, besitzt vorzügliche Kenntnisse in den Wissenschaften der freien Künste und ist darüber hinaus auch noch in der Astronomie bewandert. Ihrer Hässlichkeit zum Trotz ist sie nach der neuesten Mode gekleidet - ein Hut aus Frankreich, einen schönen Mantel, also ein großes Kontrastprogramm. Sie hat Haare wie Schweineborsten, Zähne wie Hauer von einem Eber, Ohren wie ein Bär, Hände wie Affenhaut und Fingernägel wie die Krallen eines Löwen. Sie entspricht der höfischen Norm, und dann wieder nicht. Der höfischen Norm entspricht sie durch ihre Kleidung, aber sonst keineswegs. Sie ist eine moralische Instanz. Es kommt ihr eine Schlüsselfunktion im Werk zu, da sie den Artushof und Parzifal auf sein Fehlverhalten hinweist. Welche Funktion hat aber nun ihre Hässlichkeit? Sie ist eine Abgrenzung und Ausgrenzung gegenüber der Norm, das betrifft nicht nur ihre Hässlichkeit, sondern auch ihre Gelehrsamkeit.Die 34 von 103 gelehrte Frau ist außerhalb der Norm und wird als etwas nicht Weibliches qualifiziert wird. Mit dieser Figur wird eine Unvereinbarkeit von weiblicher Schönheit und Intelligenz. Kundrie ist auch eine moralische Instanz, weshalb man ihre Hässlichkeit auch als eine Art äußere Entsprechung der inneren Zustände Parzifals verstehen kann. In dem Moment, in dem Kundrie kommt, ist er innerlich zerfressen und entspricht nicht seinem Äußeren. Kundrie dient als Spiegel und Verbildlichung seines inneren Zustands. Sie bleibt aber die Außenseiterin, und unbrauchbar für Männer, wie der Erzähler anmerken lässt. Er distanziert sich von dieser Art der weiblichen Darstellung. „Eneide“: Heinrich von Veldeke Sybille ist die Seherin im Eneasroman und sie ist hässlich. Sie ist Vermittlerin zwischen zwei Welten - zwischen der Welt der Götter und der der Menschen. Sybille ist gelehrt und hat die Gabe der Vorsehung. Sie lebt in einer Höhle abseits der Gesellschaft. Nur mit ihrer Hilfe kann Eneas in das Totenreich gelangen. Der mittelhochdeutsche Roman geht auf eine französischste Vorlage zurück, die wiederum auf die Antike zurückgeht. Auch in der Antike ist Sybille Seherin und weiße Priesterin. Es gibt jedoch ein Problem - alle Figuren in der Antike sind Heiden. Um diese Geschichten in das christliche Mittelalter zu übertragen, musste man sich etwas einfallen lassen. Die Gabe des Sehens wurde somit auf ihre Bildung zurückgeführt und nicht auf den Einfluss der Götter. In der bildenden Kunst - es gibt nur wenige Darstellungen von Sybille als hässliche Frau - wird sie vorwiegend als schöne Frau dargestellt. Offensichtlich ist der Zusammenhang von Hässlichkeit und Weisheit in der bildenden Kunst ein anderer. Sybille wird auch im Eneasroman als hässliche Figur bezeichnet. Interessant ist, dass in der mittelalterlichen Version die intellektuellen Fähigkeiten stärker zurückgedrängt werden, während die Hässlichkeit wiederum betont wird. Gleichzeitig wird die Hässlichkeit bei Heinrich von Veldeke als komischer Effekt genutzt. Wo bei Wolfram von Eschenbach die Gelehrsamkeit der Kundrie unhinterfragt bleibt, wird sie bei Veldeke als komisch und leicht lächerlich dargestellt, obwohl sie Eneas zu Hilfe kommt: 35 von 103 84,21 Dô fûr der hêre Ênêas dâ frouwe Sibille was. dô her quam dâ her si vant, dô hete der wîgant 25 angest dô her sie gesach umb daz ich û sagen mach: si was vil freislîche getân. iedoch gienk her vor si stân, her begonde si ane schouwen: 30 sine was einer frouwen niht gelîch noch einem wîbe. hern hete in allem sîme lîbe nie solhes gesehen, des wil ich an die lûte jehen, 35 die daz bûch hânt gelesen. sie ne mohte niht wesen egeslîcher dan si was. diu frouwe saz antvas in einem betehûs, 40 als uns saget Virgiliûs 85 von ir al vor wâr. grôz und grâ was ir daz hâr und harde verworren, daz wir wol sprechen torren, 5 als eines pharîdes mane. und diu frouwe hete ane vil unfrouwelîch gewant. ein bûch hete si an ir hant, dar ane saz si unde las. 10 dô gesach si Ênêas. Her markte sie rehte. mies lokkehte hieng ir ûz den ôren. sine mohte niht gehôren, 15 ezn wâre ob man ir riefe. ir ougen stunden tiefe under den ouchbrâwen langen unde grâwen, die dâr vore hiengen 20 und ir zû der nasen giengen. grûwelîch was ir lîb. ime enwart nie dehein wîb also wunderlîche kunt. swarz und kalt was ir der munt. 25 si saz in der gebâre, alse ir leben wâre ân aller slahte wunne. die zene stunden ir dunne und wâren ir lank unde gele. 30 ir was der hals und diu kele swarz unde gerumphen. si selbe was gescrumphen in bôseme gewande. ir arme unde ir hande 35 wâren âdern unde vel. dô sie der helt snel vil rehte besach, dô bôt her ir gûten tach. Der Held verspürt Angst, als er sie erblickt - ihre Hässlichkeit ist abschreckend. Im Unterschied zur Darstellung von Wolfram von Eschenbach wird hier die Hässlichkeit als etwas negatives bezeichnet. Es wird hier aber auch klar, dass ihre Hässlichkeit abstoßend und angsterregend ist, sie ist ins Groteske gesteigert. Bei beiden Hässlichkeitsbeschreibungen, wenn auch bei Wolfram von Eschenbach weniger, gibt es durchaus Anklänge an die Texte der Heiligenlegenden, bei denen der weibliche Körper nach einer Reise in die Wüste vertrocknet. Das scheint einen Zusammenhang mit der Tatsache zu haben, dass beide hässlichen Frauen als intelligent gelten. Es gibt im Mittelalter kaum dezidierte Beschreibungen von sehr gelehrten Frauen, die auch gleichzeitig sehr schön sind. Es gibt natürlich Beschreibungen von geschulten Frauen, zB Isolde, aber nicht gelehrte Frauen. Beide Autoren machen klar, dass diese Art von Frauengestalten sie nicht erotisch interessieren. Diese Art von Frauen war literarisch „konsumierbarer", wenn sie gleichzeitig hässlich ist. Wenn eine Frau gelehrsam ist, wird sie in Räume außerhalb der Gesellschaft verbannt und als Bedrohung empfunden. Der hässliche Körper ist asexuell und wenn er gelehrt ist angsterregend. 5. Vorlesung 12. November 2015 Mutterrollen: Ein Thema, worüber man gut und gerne eine eigene Vorlesung halten könnte, die wichtigsten Aspekte werden hier zusammengefasst. 36 von 103 1. Mutter Maria Mutterrollen im Mittelalter wären ohne der Figur Marias nicht zu denken. Das Christentum hat sicherlich die raffinierteste symbolische Konstruktion geschaffen, in der Weiblichkeit als Mütterlichkeit aufbewahrt wird. Man kann sagen, dass letztendlich die Menschwerdung des Gottes nur durch die Mutter, also durch Maria möglich war. Doch die Menschlichkeit der jungfräulichen Mutter wurde von der Kirche zunehmend konterkariert, und es wurde versucht diese Menschlichkeit abzuschwächen, unter anderen indem man Maria zB als Mensch dargestellt hat, die nicht der Sünde ausgeliefert ist und sich ihr entzieht. Was also ist nun menschlich an der Mutter Christi? Die Frage führt zu den Evangelien des Neuen Testaments, und man muss feststellen, dass diese sehr wenig über Maria erfahren. Die meisten Informationen sind im Lukasevangelium. Wir erfahren, dass Maria eine junge Verlobte ist - sie ist mit Josef verlobt - und sehr gottesfürchtig ist. Wir erfahren auch, dass sie während einer Andacht von einem Engel heimgesucht wird, der ihr verkündet, dass sie den Messias und Gottessohn zur Welt bringen wird. In einem Lukasevangelium enthaltenen berühmten Gebetenmagnificat erfährt Maria sie demütig ihr Schicksal. Diese Demut und Gottesunterwürfigkeit ist dann auch ein wesentlicher Aspekt der Marienverehrung. Weiters wird im Lukasevenagelium dann nur noch kurz von der Schwangerschaft berichtet, von der Geburt und deren Umständen wir nichts erzählt. Es wird nur noch erzählt, dass, als Jesus 12 Jahre alt ist, er in den Tempel geht und sich von seinen Eltern abwendet und Maria das sorgenvoll betrachtet. Maria ist während des öffentlichen Wirkens ihres Sohnes kaum präsent. Die nächste Präsenz Marias zeigt sich dann am Kreuz - sie steht davor, sieht ihren Sohn sterben und ist dementsprechend von Leiden erfüllt. Diese Szene bei der Kreuzigung ist sehr berühmt. Zum letzten Mal wird Maria im Lukasevangelium im Kreise der Jünger Jesus dargestellt, wo sie auf die Sendung des Heiligen Geistes wartet. Johannes, jener Jünger, dem Jesus seine Mutter überantwortet hat zwei zusätzliche Einträge zu Maria verfasst, zunächst über ihre Rolle bei der Hochzeit zu Kana und dann wiederum die Rolle während der Kreuzigung von Jesus. Die Beziehung zwischen Maria und Jesus ist in den Evangelien eher ein universelles, als ein personales Prinzip. Bei der Darstellung aus dem Hortus Deliciarum „Die Geburt Jesu Christi“ von Herrad von Landsberg (12. Jahrhundert) wird in der Schrift rundherum um das Bild ganze drei Mal erwähnt, dass Maria Jungfrau ist. Was ebenfalls auffällt ist, dass eigentlich keine Beziehung zwischen Mutter und Kind dargestellt wird, auch der Blick der beiden ist noch aufeinander gerichtet, als auf die Heiligen drei Könige. Die Beziehung ist also ein universelles Prinzip, das heißt Mutter ist nicht etwas, das als Nutzverwandtschaft zu sehen ist, dass Jesus das ablehnt, liegt auf der Hand. Berühmt sind folgende Sätze: Joh. 19,26-27: Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter und von dieser Stunde nahm der Jünger sie an sich. Mit dem Jünger in der ersten Zeile ist Johannes gemeint. Jesus erwähnt seine Mutter kein einziges Mal mit der Bezeichnung „Mutter“, er sagt entweder „Weib“ oder „Frau“. Auch von Jesus’ Seite wird die Beziehung nicht als Mutter-Sohn-Verhältnis verstanden. 37 von 103 2. Mutterbild und Marienverehrung Dennoch hat die Kirche aus diesen wenigen Quellen, die wir in den Evangelien haben, ein interessantes Profil der Maria, einzigartig in den monotheistischen Religionen, entwickelt. Wir haben kaum, abgesehen von archaischen Muttergöttinnen, mütterliche Gottheiten. Die Ambivalenz zwischen menschlich und spirituell ist immer ein Problem gewesen. Man musste Maria dann an der Marienverehrung aufwerten, da sie immerhin einen Gott geboren hat. Das heißt, man hat Mutter und Sohn einander gleichgestellt. Insofern als auch Maria ohne Sünde empfangen wurde und auch die Maria Himmelfahrt. Wir haben eine Spiritualisierung und auch eine Allegorisierung, der menschliche Körper Marias löst sich in der Allegorie auf und wir haben dazu passend auch das Bild der Himmelskönigin. Doch obwohl es im Neuen Testament keinerlei Zeugnis dafür gibt, ist es allmählich zu einem Sinnbild einer Liebesbeziehung zwischen Mutter und Kind gekommen, also zu einer Form von Mütterlichkeit, mit speziellen Aspekten: Verlust, Demut und Askese. Der dritte Aspekt - Askese - ist so etwas wie eine Humanisierung der Maria. Man versucht über diese Rolle eine Vermenschlichung Marias zu leisten, die eben auch als Vorbild dienen kann. genau diese Aspekte der Mütterlichkeit werden eine elementare Rolle spielen, auch in der Bewertung der „Nicht-Maria“. Die Ikonen von Maria sind in ihrer Bildzeichnung sehr konservativ, beide, Maria und Jesus werden erwachsen dargestellt, wenn auch Jesus kleiner ist, als Maria. In der Renaissance kommt es zu einem Wandel im Mutterbild, es wird ein Aspekt der Mütterlichkeit dargestellt, der eine Art Liebesaspekt ist, der in der Betrachtungsweise von Mutterrollen eine Rolle spielen wird. Es bildet sich damit ein Darstellungsmuster aus: Jesus wird als Baby dargestellt und es gibt einen körperlichen Kontakt zwischen Maria und Jesus, der in der Hochzeit der Marienverehrung zumindest in der Ikonographie und im Neuen Testament überhaupt nicht der Fall ist. Man sieht hier also, was mit Humanisierung gemeint ist. Es ist dieser Schritt einer sehr Endpersonalisierten Betrachtung von Mutter und Kind, hin zu einer sehr persönlichen. Man könnte sagen, der menschliche Aspekt Marias ist neben ihrer passiven Haltung gegenüber ihrem Sohn letztendlich auch diese Art der Zärtlichkeit. Ganz entscheidend ist aber, dass das Christentum die Mutterschaft und Jungfräulichkeit miteinander verkoppelt hat. Es gibt verschiedene Varianten von Muttergöttinnen: jungfräuliche Göttinnen, die jungfräulich bleiben und es gibt Muttergöttinnen, die jedes Jahr gebären - eine Art Fantasie des Verschlingens und Gebärens. Aber die Kombination innerhalb des weiblich-göttlichen zwischen Mutterschaft und Jungfräulichkeit ist tatsächlich etwas spezifisch christliches. Was bedeutet diese Kombination? Sie bedeutet letztendlich ein Weggehen von jeglicher Art von Sexualität, was bei der Verkündigungsszene ganz deutlich. Was man aus dem mütterlichen Körper verbannt ist Sexualität, diese Art von Zärtlichkeit, die dargestellt wird, wird kanalisiert in eine Zärtlichkeit gegenüber dem Kind. Was körperlich immer wieder betont wird, sind zwei Aspekte beim menschlichen Körper Marias und das sind Milch und Tränen. Das sind diese Flüssigkeiten par excellence, die die Imagination der Maria im 11. und 12. Jahrhundert bestimmt. Sie ist jene Mutter, die aufgrund des Schicksals ihres Sohnes weint und Milch ist natürlich jene berühmte Form, die im 12. Jahrhundert 38 von 103 schon vorkommt: Maria lactans, die nährende Mutter. Gleichzeitig ist aber Milch auch eine Metapher für die Quelle der Liebe. Die Milch hat aber nicht nur eine nährende Funktion, sondern auch eine spirituelle. Milch und Tränen sind zwei Hervorbringungen des Körpers, die gleichzeitig nichtsprachlich sind. Letztendlich könnte man sagen, dass wir hier auch eine schweigende und stumme Maria, sie ist immer diejenige, die nicht spricht. Eine Ausnahme hierzu ist im Johannesevangelium zu finden, wo sie bei der Hochzeit zu Kana tatsächlich spricht. Wenn sie spricht, dann ist es ein Glaubensbekenntnis. Bei der Vorstellung der Maria lactans haben wir schon die ersten Spuren einer Vorstellung der sogenannten Mutterliebe, die mit der Mutterrolle verbunden ist, wobei das, was wir heutzutage als Mutterliebe verstehen, wird im Mittelalter nicht als solches gesehen. Mutterliebe im Mittelalter ist nicht naturhaft gegeben. Mit dem Aspekt der Demut, der Askese und des Leidens, aber auch den Aspekt des Liebens haben wir die Grundeigenschaften des Mutterbilds, das sich sehr wohl auf gesellschaftliche Muttermuster und -strukturen ausgewirkt hat, nämlich einer Vorstellung einer bestimmten Mütterlichkeit, das sich als soziologisches Konzept allmählich weiterentwickelt hat. Erst im 18. Jahrhundert ist von einer spezifischen Form von Mutterliebe, die auch biologisch begründet wird, parallel zum medizinischen Diskurs von einer „angeborenen Mutterliebe“ die Rede. Die Mater dolorosa ist die leidende Mutter. Mit diesem Aspekt der Marienverehrung ist letztendlich auch die gesellschaftliche Stellung der Frau als Mutter in das gesellschaftliche Bewusstsein hineingekommen, natürlich mit den jeweiligen Normvorstellungen, die damit zusammenhingen. Man kann sagen, Mutterschaft ist ein nicht zu unterschätzender Faktor weiblicher Identität in der Geschichte, egal ob die Frau nun Mutter ist oder nicht. 3. Kulturhistorische Konsequenzen Soziologische Studien, auch im Bereich der Genderforschung, legen Vermutungen nahe, dass die Vorstellungen der fürsorglichen und nährenden und auch entbehrenden Mutter (die Mutter, die ihre Kinder gehen lässt) auch in der heutigen Gesellschaft dominanter sind, als es den Anschein hat. Bei der Vorstellung, dass die Bildung von Mutter und Kind nach wie vor sehr stark aufgeladen ist, haben wir es mit einer Ideologie zutun, je nach Gesellschaftsgruppe wird diese immer wieder herangezogen, leider auch, um Frauen von der Arbeitswelt und von Machtpositionen fernzuhalten. Entscheidend ist, dass dieses Modell von Mutterschaft und die Gesellschaft in der Relevanz von Mutterschaft mit Erziehung und Obhut der Kinder immer auch mit moralischen und sentimentalen Kategorien aufgeladen ist. Das lässt sich zB sehr wohl an Berichterstattungen über Kindermorde sehen: wenn eine Mutter ihr Kind ermordet, dann ist die Berichterstattung aggressiver und hysterischer, als wenn ein Vater sein Kind ermordet. Barbara Vinken: „Die deutsche Mutter“ (2001): Die Autorin hat festgestellt, dass es, was die Bewertung von Müttern anbelangt, nach wie vor eine Vermischung institutioneller, ethischer und pseudobiologischer Kategorien gibt, die hartnäckig an einem Modell der Mutterschaft festhalten, die eine Gleichbehandlung der Geschlechter über Generationen nach wie vor unmöglich machen. 39 von 103 Dass Frauen weiterhin von Machtpositionen ferngehalten werden liegt auch daran, dass den Müttern, und hier kommt die Psychoanalyse zum tragen, dass der Mutter nach wie vor sehr sehr große Verantwortung in den ersten Lebensjahren zugesprochen wird. Heute löst sich das ein wenig auf, aber wirklich nur bei 1 oder 2% der Fälle. 4. Die Mutter im feudalen System Ausflug in die Realgeschichte, was die Rolle der Frau oder Mutter im föderalistischen System anbelangt: Wir wissen, dass das feudale System sehr stark patriarchalisch geordnet ist. Das heißt, Frau und Kinder waren Eigentum des Mannes, was mit den Ehegesetzen der Zeit zusammenhängt. Die Kirche des Mittelalters hat versucht von dieser Abhängigkeitsehe hin zu einer Konsenzehe zu kommen, wo Männer und Frauen zumindest das Jawort gleichberechtigt geben können. Dass die Kinder dem Mann gehörten, und nicht der Frau, hatte mit der adligen Erbfolge zutun. Wichtig war es hier, dass diese Erbfolge klar und geregelt war, ohne dass es irgendwelche Ausrisse gab. Nicht die Frau als Mutter, sondern die Frau als Gebärende stand im Mittelpunkt. Wir haben kaum mittelalterliche Quellen über Mütter, aber wir wissen, dass die Frau des Mittelalters sehr wenig mit ihren Kindern zutun hatte, zumindest in den adligen Kreisen. Außerdem zeichnen die Aufzeichnungen, die zur Verfügung stehen, ein sehr düsteres Bild der Mütter: Dauerschwangerschaften waren natürlich ein Thema, genauso wie viele Todesfälle - die Sterberate bei der Geburt war außerordentlich hoch. Das hat dazu geführt, dass sehr viele Frauen spätestens nach der Geburt des zweiten oder dritten Kinds ins Kloster gingen. Die adligen Frauen hatten bei der Aufzucht ihrer Kinder nicht viel Einfluss, sie wurden sehr früh in Erziehung gegeben, denn das Ammenwesen war sehr weit verbreitet. Das selbstständige Stillen des Kindes war nicht üblig, auch wenn es im Zuge der Marienverehrung auch immer stärker Bestrebungen gab, die Kinder selbst zu stillen. Allerdings nicht, weil es eine besonders liebesvolle Geste ist und nicht, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken, sondern um dem Kind keine minderwertige Milch einer Amme zu geben. Es gab, wenn man so will, zumindest in adligen Kreisen keine enge emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind, wir sie heute unter Mutter-Kind-Bindung verstehen. Unter dem Einfluss der Marienverehrung ist so etwas wie eine neue Vorstellung von Mütterlichkeit entstanden, sie man aus den mittelalterlichen Zeugnissen aber nicht herauslesen kann. Wohl aber, aus den literarischen Zeugnisse. Auch der Begriff der Mutterliebe als spezifische Form der Liebe, nämlich eine entbehrungsreiche, asketische, bedingungslose Liebe, hat erst im 18. Jahrhundert diese Facetten, wie wir sie heute kennen, erlangt. Elisabeth Badinter: „Der Konflikt“: Die Autorin hat sich mit dem Begriff der Mutterliebe auseinandergesetzt. Die Maria-lactans-Vorstellungen waren vermutlich die ersten, die zu einer Umkehrung eines Mutterbildes geführt und die den menschlichen Aspekt hervorgebracht haben. Das war tatsächlich auch jene Maria, die die Frauen sehr gut als Vorbild und Identifikationsvorlage annehmen konnten. Inwieweit diese bildnerischen und literarischen Beispiel dann tatsächlich in die gesellschaftliche 40 von 103 Realität des Mittelalters hineingegangen sind, so dass sich das Bild verändert hat, kann nur über Jahrzehnte und Jahrhunderte festgestellt werden. Wir wissen, dass mit den Städten im 14. und 15. Jahrhundert die Frauen tatsächlich eine neue Aufgabe bekommen haben und mit dieser auch gleichzeitig eine Aufwertung, nämlich tatsächlich das Sich-kümmern um die Kinder. Das war eine soziale Rolle, die der Frau zugestanden wurde, in der sie auch Autonomie und Macht hatten, allerdings das, was dann mit den Kindern in weiterer Folge passierte, war Sache des Mannes. 5. Mutterrollen in der Dichtung Interessant ist, dass es in der mittelalterlichen Literatur gar nicht so wenige Mutterfiguren und Mutterrollen gibt und sicherlich eines der spannendsten und herausragendsten Mutterfiguren der mittelalterlichen Literatur insgesamt ist die Mutter Parzifals: 5.1 Herzeloyde in Wolframs „Parzifal“ (Reader Text 12) Sie ist Parzifals Mutter - Parzifal ist der berühmte und große Roman Wolframs von Eschenbach wird im Roman aber nicht als solche eingeführt, sondern als eine sehr selbstbewusste erotisch aktive Landesherrin. Eine Landesherrin, die ein Tournier ausschreibt, weil ihr voriger Mann gestorben ist. Sie ist noch jungfräulich, denn ihr Mann war zu krank, um die Ehe zu vollziehen. Herzeloyde schreibt das Tournier aus, um den besten der Männer zu finden, den sie dann heiraten will: Gahmuret, der spätere Vater Parzifals. Er will zunächst gar nicht heiraten, doch Herzeloyde zwingt ihn dazu, und es wird daraus dann doch noch eine glückliche Ehe, die, wie Wolfram von Eschenbach betont, erotisch äußerst anspruchsvoll ist. Gahmuret ist ein Ritter, wie es sich gehört, weshalb er nicht bei seiner Frau bleibt, sondern sofort wieder auf Ritterschaft zieht. Während dieser Ritterschaft empfängt er eine tödliche Wunde, was Herzeloyde in einem grauenhaften Visionstraum vorausahnt. In diesem Traum träumt sie, dass sie durch eine Geburt zerrissen wird durch einen Drachen, den sie gebiert, der ihren Unterleib zerreisst und an ihren Brüsten saugt - ein Bild, das durchaus in Zusammenhang mit Maria stehen könnte. Man könnte sagen, sie hat einen Geburtstraum, der grauenhafter nicht sein könnte, denn dieser Drache zerreisst ihr auch das Herz. Wolfram von Eschenbach verwendet in der Darstellung der Herzeloyde - und gerade in dieser Darstellung - sehr drastische Bilder, die auch für uns heute noch außergewöhnlich wirken. Herzeloyde erfährt unmittelbar nach diesem Angsttraum, dass Gahmuret tatsächlich im Kampf gestorben ist. Herzeloyde ist zu diesem Zeitpunkt schon mit Parzifal schwanger. Das Leid, dass sie aufgrund dieser Nachricht empfindet, sucht auch in der Darstellung der mittelalterlichen Literatur ihresgleichen. Sie überlegt kurz nach der Nachricht, sich umzubringen, im letzten Moment sieht sie aber davon ab, da sie eben ein Kind von ihrem Mann erwartet: Herzeloydes Gattenklage: (110,14ff) si sprach «mir sol got senden die werden fruht von Gahmurete. daz ist mînes herzen bete. got wende mich sô tumber nôt: daz wær Gahmurets ander tôt, ob ich mich selben slüege, die wîle ich bî mir trüege daz ich von sîner minne enphienc, 41 von 103 der mannes triwe an mir begienc.» Es ist eine öffentliche Rede, eine schwangere Herzeloyde spricht also vor dem Boten und vor dem Hof, die alle zusammen diese Schreckensnachricht hören. Es geht darum, dass sie letztendlich vo, Sterben absieht, weil sie das Kind Gahmurets trägt. In dem Moment, wo wir von ihrer Schwangerschaft im Roman erfahren, ist sie bereits eine leidende Frau. Das erste Mutterschaftsbild hier ist das einer leidenden Mutter. Was Herzeloyde aber entscheidend von Maria unterscheidet, ist die erotische Komponente, die hier eine Rolle spielt, nämlich, dass es die Frucht von Gahmuret ist. In der nächsten Stelle der Gattenklage steht sie vor versammelten Publikum, entblößt ihre Brüste und Milch aus ihnen presst (Maria lactans!) und sie spricht zu dieser Milch: (111,3ff.) si sprach «du bist von triwen komn. het ich des toufes niht genomn du wærest wol mîns toufes zil. ich sol mich begiezen vil mit dir und mit den ougen, offenlîch und tougen: wande ich wil Gahmureten klagn.» Milch und Tränen - auch das sind zwei elementare Komponenten von Mutterschaft. Hier wird Milch mit der Taufe gleichgesetzt, es ist der reine Saft, deshalb ist diese drastische Szene mystisch überhüllt. Das, was Wolfram von Eschenbach hier zeigt, ist wie eine Frau in ihrem Leid allmählich zu einem Frauenkörper wird, der zwar erotisch konnotiert werden kann, aber nicht mehr erotisch funktioniert, sie wird quasi mystifiziert. Milch und Tränen verweisen auf die Sakramente der Kirche und kirchliche Rituale, was durchaus beabsichtigt ist. Nach der Geburt Parzifals, die sehr schwer war - insofern bewahrheitet sich der Traum, denn Herzeloyde stirbt fast daran - kommt es tatsächlich auch zu einer Maria-lactans-Szene, die erste in der mittelalterlichen Literatur überhaupt: sie stillt ihr Kind selbst. In feudalen Kreisen zu Wolfram von Eschenbachs Zeit war das nicht üblich: (113,5ff.) Diu küngîn nam dô sunder twâl diu rôten välwelohten mâl: ich meine ir tüttels gränsel: daz schoup sim in sîn vlänsel. selbe was sîn amme diu in truoc in ir wamme: an ir brüste si in zôch, die wîbes missewende vlôch. si dûht, si hete Gahmureten wider an ir arm erbeten. si kêrt sich niht an lôsheit: diemuot was ir bereit. Sie stillt Parzifal selbst und vergleicht sich in diesem Stillvorgang mit Maria - also eine klare Parallelsetzung zwischen Maria und Herzeloyde, allerdings wird er bei Herzeloyde wieder um den erotischen Aspekt ergänzt - es erscheint ihr nämlich, als hätte sie wieder Gahmuret, ihren Geliebten, im Arm. Wolfram von Eschenbach verwendet hier scheinbar die religiöse Vorstellung der Austauschbarkeit von Kind und Mann. Es gibt also eine Gleichsetzung von Mutter und Geliebte des Sohnes, die eben nicht psychoanalytisch im Sinne Freuds, sondern es ist eine religiöse 42 von 103 marianische Topik. Diese erotische Ebene wird gleichsam sakralisiert und gleichzeitig auch entkörperlicht, im Sinne einer Erotik zwischen Mann und Frau. Das bedeutet, dass auch bei Wolfram von Eschenbach Herzeloyde letztendlich eine Mutter ohne Erotik zu einem Mann. Alles, was sie an Empfinden hat, wendet sie an ihren Sohn und es ist auch klassisch, dass er sich in der Szene zu Wort wendet, dass sie sich mit Demut an ihre Bestimmung wandte. Sie ist aber an sich überhaupt nicht jene Mutter, die sich demütig ihrem Schicksal fügt, denn sie will Parzifal für sich alleine haben. Herzloyde als mater dolorosa: (113,27ff.) sich begôz des landes frouwe mit ir herzen jâmers touwe: ir ougen regenden ûf den knabn. si kunde wîbes triwe habn. beidiu siufzen und lachen kunde ir munt vil wol gemachen. si vreute sich ir suns geburt: ir schimph ertranc in riwen furt. In dieser Szene übergießt Herzeloyde ihren Sohn mit ihren Tränen. Herzeloyde beschließt also das Kind für sich zu behalten mit der Begründung, dass nicht so ein Schicksal passieren solle, wie ihrem Mann Gahmuret. Sie will das Objekt ihrer Liebe isolieren und zieht in eine Art Einöde, die gleichzeitig Naturparadies und Wüste ist. Sie sieht mit einem Gefolge dorthin und verbietet diesem, Parzifal irgendetwas von Ritterschaft zu erzählen - sie will nicht, dass ihr Sohn etwas von dieser männliche Wert erfährt. In ihren Augen ist die männliche Welt familienzerstörend - ein Aspekt, der die gesamte mittelalterliche Literatur prägt. Die Verbindung Väter - Söhne ist eine sehr reduzierte. Herzeloyde identifiziert sich so sehr mit ihrem Liebesobjekt bei ihr wird tatsächlich etwas wie Mutterliebe dargestellt - dass sie alles zerstören will, was dem im Wege steht. Wie Parzifal als kleinerer Knabe jagt - der Jagdtrieb ist dem kleinen Parzifal nämlich nicht auszutreiben - wird in folgender Szene beschrieben: Parzifals Kindheit: (117,30ff.) der knappe alsus verborgen wart zer waste in Soltâne erzogn, an küneclîcher fuore betrogn; ez enmöht an eime site sîn: bogen unde bölzelîn die sneit er mit sîn selbes hant, und schôz vil vogele die er vant. Swenne abr er den vogel erschôz, des schal von sange ê was sô grôz, sô weinder unde roufte sich, an sîn hâr kêrt er gerich. (117,30ff.) sîn lîp was clâr unde fier: ûf dem plân am rivier twuog er sich alle morgen. erne kunde niht gesorgen, ez enwære ob im der vogelsanc, die süeze in sîn herze dranc: daz erstracte im sîniu brüstelîn. al weinde er lief zer künegîn. sô sprach si «wer hât dir getân? du wære hin ûz ûf den plân.» ern kunde es ir gesagen niht, als kinden lîhte noch geschiht. 43 von 103 (118,29ff.) frou Herzeloyde kêrt ir haz an die vogele, sine wesse um waz: si wolt ir schal verkrenken. ir bûliute unde ir enken die hiez si vaste gâhen, vogele würgn und vâhen. die vogele wâren baz geriten: etslîches sterben wart vermiten: der bleip dâ lebendic ein teil, die sît mit sange wurden geil. (119,13ff.) Der knappe sprach zer künegîn «waz wîzet man den vogelîn?» er gert in frides sâ zestunt. sîn muoter kust in an den munt: diu sprach «wes wende ich sîn gebot, der doch ist der hœhste got? suln vogele durch mich freude lân?» Das Kind Parzifal tötet die Vögel, weil er einem Trieb folgt, aber er weint, weil die Vögel dann nicht mehr singen. Als Herzeloyde das sieht, will sie die Vögel vernichten, um ihrem Kind das Leid zu ersparen, sie will in die Schöpfung eingreifen, was natürlich nicht geht. Sie erkennt, dass sie gegen Gottes Gebot frevelhaft gehandelt hat. Parzifal hat naturgegeben das Männliche in sich und im Grunde genommen wird hier auch demonstriert, dass sie dem gegenüber machtlos ist. Parzifal geht seinen Weg und es kommt, wie es kommen muss: er begegnet dem Ritter Karnachkarnanz in voller Rüstung und wunderschön und Parzifal ist vollkommen hin und weg. Er macht den entscheidenden Fehler, dass er diesen Ritter für Gott hält. In einer früheren Szene fragt er seine Mutter nach Gott und sie sagt Gott sei heller als der Tag, worauf Parzifal vermutet, dass alles was strahlt gottähnlich ist. Er kehrt zu seiner Mutter zurück, um ihr von der Erscheinung zu berichten, die ihm dann sagt, dass es sich dabei um einen Ritter gehandelt hat. Daraufhin entschließt er, dass auch er Ritter werden will. Herzeloyde erkennt in diesem Moment, dass sie nichts dagegen tun kann, da das Bestreben des Knaben zu stark ist. Sie versucht dennoch weiter in gewisser Weise den Lebensweg zum Ritter zu verhindern, indem sie den Knaben in die Narrenkleider steckt und ihm ein altersschwaches Pferd gibt. Kurz vor seinem Ausritt gibt sie ihm noch ein paar Ratschläge mit, die sehr elementär sind: Herzeloydes „Lehre“ (127,13ff.): «dune solt niht hinnen kêren, ich wil dich list ê lêren. an ungebanten strâzen soltu tunkel fürte lâzen: die sîhte und lûter sîn, dâ solte al balde rîten în. du solt dich site nieten, der werlde grüezen bieten. Op dich ein grâ wîse man zuht wil lêrn als er wol kan, dem soltu gerne volgen, und wis im niht erbolgen. sun, lâ dir bevolhen sîn, swâ du guotes wîbes vingerlîn mügest erwerben unt ir gruoz, daz nim: ez tuot dir kumbers buoz. du solt zir kusse gâhen und ir lîp vast umbevâhen: daz gît gelücke und hôhen muot, op si kiusche ist unde guot. du solt och wizzen, sun mîn, der stolze küene Lähelîn dînen fürsten ab ervaht zwei lant, diu solten dienen dîner hant, Wâleis und Norgâls. ein dîn fürste Turkentâls den tôt von sîner hende enphienc: dîn volc er sluoc unde vienc.» «diz rich ich, muoter, ruocht es got: in verwundet noch mîn gabylôt.» (Ratschläge sind in verschiedenen Farben gekennzeichnet): 1. Meide dunkle Wege und bevorzuge die übersichtlichen (grün) 2. Grüße alle Leute (blau) 3. Wenn du einem weisen Mann begegnest, der dich etwas lehren will, so folge ihm. (violett) 4. Wenn du Ring und Kuss einer Frau erwerben kannst, dann nimm sie (rot) 44 von 103 Das Letzte, was sie ihm auf den Weg mitgibt, betrifft seine Herkunft, von der Parzifal nichts weiß nach mittelalterlichen Vorstellung hat er keine Identität (orange): sie sagt ihm, er solle Lähelin rächen, weil der seine Ländereien genommen hätte. Da weiß er plötzlich, dass er Erbe von Ländereien ist, es sind natürlich die Ländereien seines Vaters. Er ist tatsächlich fast eine Tabula Rasa und der weitere Lebensweg Parzifals wird zunächst von diesen Falschinformationen seiner Suche nach Identität geprägt sein. Herzeloyde stirbt schließlich - sie hat keinen Lebenszweck mehr und auch in ihrer Identität als Mutter hat sie keine Funktion mehr: Herzeloydes Tod (128,16ff): [frou] Herzeloyde in kuste und lief im nâch. der werlde riwe aldâ geschach. dô si ir sun niht langer sach (der reit enwec), wemst deste baz? dô viel diu frouwe valsches laz ûf die erde, aldâ si jâmer sneit sô daz se ein sterben niht vermeit. ir vil getriulîcher tôt der frouwen wert die hellenôt. ôwol si daz se ie muoter wart! sus fuor die lônes bernden vart ein wurzel der güete und ein stam der diemüete. ôwê daz wir nu niht enhân ir sippe unz an den eilften spân! des wirt gevelschet manec lîp. doch solten nu getriwiu wîp heiles wünschen disem knabn, der sich hie von ir hât erhabn. Die zweite Spalte ist eine Art Seligsprechung des Autors. Obwohl diese Zeit zwischen Mutter und Sohn für Parzifal sehr problematisch war, richtet der Erzähler nicht darüber - ganz im Gegenteil. Parzifal selbst ist zu diesem Zeitpunkt doppelt belastet. Er ist einerseits vollkommen unwissend, andererseits wird ihm dann später im Roman der Tod der Mutter als Schuld angerechnet. Neben der „Seligsprechung“ der Mutter zerbricht sich die Forschung auch über diese Schuldzuweisung in den Kopf, denn letztendlich ist es ja etwas, das er von seiner Art her tun muss. Dennoch wird Parzifals Onkel Trevrizent, der Bruder seiner Mutter, dann sagen, dass er diese Sünde hat. Genau genommen hat Parzifal zwei Sünden, die Erschlagung des Ithar kommt noch hinzu. In der französischen Vorlage ist es verständlicher, da er sich dort nochmal umdreht und seine Mutter fallen sieht, aber dennoch weiter reitet. Bei Wolfram von Eschenbach ist dies nicht der Fall. Wolfram von Eschenbach schafft Herzeloyde ein äußerst religiös stilisiertes Bild der stillenden Mutter und bewirkt so etwas wie eine Erhöhung der Mutterliebe. Man kann sagen, dass man hier eine Mutterfigur vor sich hat, von wahrlich epochaler Bedeutung. Es ist nämlich ganz eindeutig in diesem Roman zu erkennen, dass Wolfram von Eschenbach hier eine ganz eigene Form von Gefühlskultur entwickelt hat. Interessant ist auch die hohe Affektivität: die Beziehung von Herzeloyde zu ihrem Mann, aber auch ihre Beziehung zu Parzifal, etwas, was in der mittelhochdeutschen Literatur so in dieser Form nicht mehr vorkommt. Es ist also eine Art der Darstellung, die als erste Mystifizierung von Mutterschaft gesehen werden kann und die sehr wohl mir der irdischen Körperlichkeit der Frau arbeitet, in jenen Aspekten der Darstellung, in denen die erotischen Komponenten eine Rolle spielen. Das, was Wolfram von Eschenbach versucht, ist die Topoi der Marienverehrung letztendlich auf eine irdische Frau zu übertragen, deren Handlungen zwar mystisch erklärt werden, die aber dennoch menschlich sind. Eine menschliche Maria mit all ihren Fehlern und Fehlentscheidungen, die dann letztendlich für den Sohn eine große Rolle spielen werden. 45 von 103 5.2 Mütter und Töchter in Neidharts Sommerliedern (Reader Text 13) Neidhart hat ungefähr 20 Jahre nach Wolfram von Eschenbach gedichtet (zwischen 1210 und 1240) und ist ebenfalls ein Klassiker. Er ist ein äußerst produktiver Minnedichter, der so etas wie eine neue Gattung innerhalb des Minnesangs geschaffen hat, nämlich die Gattung der sogenannten höfischen Dorfpoesie. Heutzutage würde man sagen, dass seine Lieder vor allem Parodien auf höfisches Leben sind. Er überträgt die Ideale der feudalen adligen Gesellschaft auf bäuerliches Umfeld und dreht es um. Die Bauern sind natürlich nicht in der Lage, diese höfische Lebensart zu übernehmen, aber indem er die ganze Gesellschaft in das bäuerliche Umfeld transferiert, hält er natürlich der höfischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Es wurden mehr als 200 Lieder von ihm überliefert - was enorm viel ist. Heute glaubt man, dass nicht alle Lieder von ihm selbst stammen, sondern dass er viele Nachahmer gefunden hat. Wichtig für unseren Zusammengang ist, dass es Sommerlieder und Winterlieder gibt. Sommerlieder sind nichts anderes als einfache Tanzlieder zum Thema Minne: Ein ritterlicher Liebhaber kommt zu einem Dorffest und die Dorfmädchen finden ihn sehr anziehend. Der Ritter prügelt sich mit den Bauern, denen es überhaupt nicht gefällt, dass ein Ritter die Bauernmädchen verführen will. Warum sind nun diese Sommerlieder für unseren Zusammenhang interessant? In den Sommerliedern ist das Gespräch zwischen Mutter und Tochter konstitutiv. Es geht um die Gefahren, die es gibt, wenn die Tochter zum Tanz geht. Es findet nicht statt, zwischen Mutter und Kind, sondern zwischen Mutter und pubertierender Tochter. Es geht hier um eine sehr konfliktreiche Beziehung. Im Grunde genommen wird Mutterliebe hier nicht thematisiert, aber sehr wohl das Konkurrenzverhältnis zwischen Mutter und Tochter. Denn die Mutter ist die personale Instanz der Aufsicht über ihre Tochter und sie hat zunächst einmal die Merkmale einer rationalen Aktiven und die Tochter einer emotional Passiven. Allerdings wird das Ganze durcheinander gewirbelt, sonst wäre es nicht Neid. Grundsätzlich hat also die Mutter für das gesellschaftliche Gleichgewicht zu sorgen. Sie will die Tochter vor Unheil bewahren und somit die Aufgabe, die Tochter vor dem verführenden Mann zu bewahren. Aber es passiert dann ein Normbruch: im Gespräch zwischen Mutter und Tochter geht es nicht nur darum, dass die Mutter ihre Tochter warnt, sondern dass die Mutter ihre Tochter nicht zum Tanz schicken will, weil sie selbst dorthin will. Plötzlich wird die Mutter erotisiert, sie liebt den Ritter also selbst und natürlich wird auch klar, dass die Tochter die Konsequenz eines Fehltritts der Mutter ist. Dieser Versuch der Mutter, die Tochter am Tanz zu hindern, wird sehr grob geschildert, es geht bis zur Prügelstrafe. Das heißt also, die Ordnung, die die Mutter scheinbar herstellt will, wird durch sie selbst unterlaufen, weil die Mutter nicht als Ordnungshüterin taugt, sobald sie selbst erotische Fantasien entwickelt. Sobald also eine Mutter wiederum als Frau agiert, ist sie nicht mehr gesellschaftsrelevant und taugt nichts, um irgendwelche ethischen Verhaltensnormen aufrecht zu halten. Anders gesagt: Mütter, die nicht in ihrer Rolle aufgehen, sind triebhaft und nicht liebevoll, sondern gewalttätig. Die sexuell orientierte Mutter verliert somit jegliche mütterlichen Eigenschaften. Das kommt in vielen Liedern Neidharts vor und da sieht man, dass es auch sehr viele negative Mutterrollen gibt, nicht nur im Zusammengang mit Mutter-Tochter-Darstellungen, sondern auch 46 von 103 Mutter-Sohn-Darstellungen - Herzeloyde ist tatsächlich eine Ausnahme. In der mittelalterlichen Literatur gibt es viele Beschreibungen von Müttern, die unerlässlich in das Leben der Söhne eingreifen wollen und mit diesem Eingreifen mit dem Tod bezahlen. Dieses Eingreifen passiert oft im Zusammenhang mit der Partnerwahl des Sohnes, wo die Mutter die Frau nicht als ebenbürtig oder nicht als gut genug für den Sohn bezeichnet. Die Mutter muss deshalb eliminiert werden. Man kann auch sagen, dass die negativen Mutterrollen in der mittelalterlichen Literatur eher überwiegen und dass jene Mütter, die als emotional und liebevoll geschildert werden, eher die Ausnahme sind. Es gibt allerdings auch noch ein paar positive Mutterdarstellungen, erstaunlicherweise vor allem im Bereich der Ziehmutterschaft. Die Figur der Amme ist in der Literatur ambivalent, sehr oft aber ist sie emotional stark hervorgehoben, was ein Aspekt aus der antiken Literatur ist. Zusammenfassung: Die Mutterrolle zeichnet tatsächlich so was aus wie eine jahrtausendelange oder jahrhundertelange Einübung in bestimmte Rollenmuster. Das sind vor allem gesellschaftliche Funktionen, die der Frau damit zugesprochen werden. Mutterschaft ist etwas, das nach wie vor sehr deutlich als Identifikationsangebot da ist und noch immer sehr stark aus verschiedenen Bereichen emotional belastet ist. Wichtig ist, dass Mutterschaft in unserem Zusammenhang keine authentische, keine naturgegebene, keine mit der Natur bestehende Form ist, sondern letztendlich eine hergestellte, immer auch kulturell definierte Form, die letztendlich auch weibliche Identität nach wie vor ganz elementar prägt und bestimmt. Mit dieser Aufwertung der Mutterrolle geht nicht unbedingt eine Aufwertung der Frau einher, mit dieser Aufwertung geht aber auch eine zunehmend wachsende Belastung einher. In dem Moment, wo mütterliche Eigenschaften, Haus und Kinder zum Aufgabenbereich der Frau geworden sind, wurden sie systematisch erweitert, so sehr, dass es dann unmöglich war, etwas anderes zu tun. Mit dieser Erweiterung des Aufgabenbereichs, hat man die Frau von anderen Zuständigkeitsbereichen, wie von den Machtpositionen innerhalb der Gesellschaft ferngehalten. Das ist sehr stark mit biologischen Argumenten einhergegangen. Eigenschaften, die den Müttern zugesprochen werden wurden dann auch zu weiblichen Eigenschaften per se. Die gute weibliche Natur ist also jene Natur, die alle Eigenschaften einer guten Mutter in sich vereint. Die Kirche hat damit einen Grundstein gelegt was Mütterlichkeit anbelangt, aber auch was Vorstellungen von Weiblichkeit ist. Diese im Zusammenhang mit dem Bereich der Mutterschaft sind Demut, Hingabe, Opferbereitschaft und in gewisser Weise Trauer auf keinen Fall selbstbestimmte Sexualität. 6. Vorlesung 19. November 2015 Herrscherinnen, Königinnen, Landesherrinnen Frauen und Macht 1. Herrscherinnen in der mittelalterlichen Gesellschaft Hier geht es um jene Frauen, die eine wichtige und vor allem gesellschaftlich-politische Position ausübte. Es gab sowohl in der Literatur, als auch in der Realität mächtige Frauen, die eine männliche Position inne hatten - gemeint sind Künstlerinnen, Mäzeninnen, Herrscherinnen und 47 von 103 damit auch Politikerinnen. Die dünne Schicht der mächtigen Frauen beschränkt sich auf adelige Frauen, die nicht nur eine wichtige Funktion in der Repräsentation des Hofes hatten, sondern sie übernahmen auch durchaus männliche Rollen in der Abwesenheit des Mannes. Das passierte in der kriegerischen Zeit relativ oft - sie übernahmen also die Verteidigung und Verwaltung der Burg. Es gab auch Frauen, die an Kriegszügen teilnahmen, nicht nur als Begleitung, sondern durchaus auch als aktiv Kämpfende. Dieser Eindruck wird allerdings in männlichen Domänen (Krieg und Politik) nur in Ausnahmefällen und Notsituationen akzeptiert. Nicht selten kam es vor, dass eine Frau für ihr Engagement entweder ausgeschlossen, oder sogar mit ihrem Tod bezahlen musste (zB. Johanna von Orleans). Das Frühmittelalter, (8. bis 11. Jhdt.), war durch viele Frauenfiguren ausgezeichnet, die eine wichtige Rolle inne hatten. Erst ab dem 12. Jhdt. ist das zurückgedrängt worden, was damit zusammenhängt, dass die staatlichen Mechanismen auf ab diesem Zeitpunkt auf stärkeren Regeln beruhten. Wir wissen von diesen politisch tätigen Frauen durch Berichte von Chronisten, die durchaus positiv ausfallen. Chronik von Dietmar von Merseburg (975 - 1018): Er war ein Bischof, der die berühmte Chronik über die Zeit der Ottonen geschrieben hat. Er hat über Theophanu (die Gattin Ottos II.) folgendes geschrieben: Obwohl sie [Theophanu] dem schwachen Geschlecht angehörte, zeichnete sie sich durch Disziplin und Stärke und einen trefflichen Lebenswandel aus. … Sie bewahrte ihres Sohnes Herrschaft mit männlicher Wachsamkeit und in ständiger Freundlichkeit gegenüber Rechtschaffenen sowie in furchtgebietender Überlegenheit gegenüber Aufsässigen. Otto II. wurde mit einer Griechin (Theophanu) verheiratet worden, die, nach dem frühen Tod des Gatten, gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Adelheid die Herrschaft übernommen und gegenüber Heinrich verteidigt hat, der Erbansprüche gestellt hat. Wir haben hier also zwei Frauengestalten, die in einer Allianz für Otto III. regiert haben. Diese Regentschaft der Frauen wurde schon damals von den Historikern sehr positiv bewertet. Entscheidend ist hier die Formulierung - es geht um den trefflichen Lebenswandel, obwohl sie dem schwachen Geschlecht angehören. Trefflicher Lebenswandel bedeutet hier, dass die Frau im Zeitpunkt ihrer alleinigen Regentschaft zumeist Witwe blieb und somit gewisserweise den Status einer nicht verheirateten Frau hat. In der Forschung wird hier oft einerseits der Begriff mater regnorum verwendet, ein Mutterbegriff, der auf die Königin übertragen wird - ein interessanter Aspekt: die Verbindung von Mütterlichkeit und Politik und der Begriff virago (oder vir ago) im Sinne von „handeln wie ein Mann“. Man kann also sagen, dass es für die politische Teilhabe von Frauen eine Art Verbindung zwischen männlichen Eigenschaften (zB Herrschereigenschaften oder kluge Reden etc.) und weiblichen Eigenschaften (Freigebigkeit echt.) gab. Das kann im Zitat von Dietmar von Merseburg sehr gut beobachtet werden, da Freundlichkeit keine (eindeutig) männliche Eigenschaft ist. Weibliche Herrscherinnen, Königinnen und Landesherrinnen haben durchaus eine positive Presse von Männern dieser Zeit bekommen, die Eigenschaften werden aber immer als männlich kodiert. Wir haben immer eine Bezugssetzung von männlichen Zuschreibungen und weiblichen 48 von 103 Stereotypen, die in diesen Chronikberichten aufscheinen, wobei zu den männlichen Tugenden Disziplin, Stärke, Wachsamkeit und Klugheit und zu den weiblichen Tugenden Freundlichkeit und Gottesfurcht gezählt wird. Die Möglichkeit einer weiblichen Erb- bzw. Nachfolge ist erst im 13. Jhdt. eine rechtliche Möglichkeit, davor waren Frauen in Machtpositionen zumeist Platzhalter für Männer. Jene Frauen, die dem Adel angehörten, waren relativ autonom, was die Verwaltung ihrer Ländereien und Gelder anbelangte. 2. Ein Beispiel aus der mittelalterlichen Literatur: Giburc in Wolfram von Eschenbachs “Willehalm“ Eschenbach ist ein Meister der Erschaffung herausragender Frauenfiguren. „Willehalm“ ist fast schon unheimlich zeitgemäß, denn er beruht auf einer chanson de geste (zu deutsch „Heldentaten“), dem Chanson d’Aliscans und behandelt Ereignisse aus der Zeit Karls des Großen. Es geht in erster Linie um einen Kampf zwischen Christen und Heiden, also einem Glaubenskampf zwischen Muslimen und Christen. In der mittelalterlichen Literatur werden Muslime generell als Heiden bezeichnet, sie werden mit den antiken Göttern gleichgesetzt. Wider besseres Wissen hat man in der Literatur propagiert, dass Muslime Polytheisten seien. Der Glaubenskampf ist im Mittelalter omnipräsent, mit einem eindeutigen Kräfteverhältnis - das europäische Mittelalter war bis auf wenige Gebiete vollständig christialisiert. Der Roman setzt zu dieser Zeit an: Es geht um reale Kämpfe - wir befinden uns in der Zeit Ludwigs I., dem Sohn Karls des Großen und König von Frankreich. Damals gab es Auseinandersetzungen in Frankreich und Spanien und er wurde von Wilhelm von Toulouse, einem Heerführer und Fürsten, unterstützt. 2.1 Inhalt: Willehalm ist jener historischer Wilhelm von Toulouse, die Geschichte, die dann erzählt wird, hat aber nichts mehr mit historischen Tatsachen zutun. http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/wp-content/uploads/2015/10/Eschenbach_Willehalm.pdf (In diesem Link werden die wichtigsten Aspekte genannt, es steht auch eine Inhaltsangabe zur Verfügung!) Der Dichtung ist ein sogenannter Gebetsprolog vorangestellt, in dem etwas entwickelt wird, das in der Glaubensauseinandersetzung zwischen Christen und Heiden eine wichtige Rolle gespielt hat. Der Roman wird um 1220 angesetzt - er gilt als Spätroman Wolfram von Eschenbachs - und ist fragmentarisch, also nicht vollständig ausgedichtet. Im Prolog geht es um die Frage, was Gott eigentlich mit seiner Schöpfung gemacht hat. Nach mittelalterlichem Verständnis wird man durch die Taufe nicht nur Christ, sondern auch Kind Gottes und der Mensch wird somit in die (privilegierte) Verwandtschaft des Gottes gegeben. Andererseits ist Gott nicht nur ein Schöpfer von Christen, sondern ein Schöpfer von allen Menschen. Es wird gesagt, dass alle, die nicht getauft sind, Heiden und somit verdammt sind. Nur die, die getauft sind, haben die Chance in den Himmel zu kommen. Andere Stimmen sagen aber, dass Gott unmöglich Menschen geschaffen haben kann, die nur weil sie nicht- oder andersgläubig sind, für die ewige 49 von 103 Verdammnis bestimmt sind. Das ist die Grundfrage, die im Prolog gestellt wird - was passiert mit Gottes Schöpfung? Das Werk beginnt mit einer kriegerischen Auseinandersetzung, die in der Provence stattfindet. Der Großkönig Terramer fällt mit einer riesigen Streitmacht ein, um Willehalm zu bekämpfen. Terramer macht das aber nicht etwa um die Christen zu bekämpfen, er macht es, um seine Tochter Giburc, die auch Arabel heißt, zurückzuholen. Das also, was wie ein Glaubensstreit aussieht, ist zunächst ein Familienstreit. Willehalm war in Arabien edler Gefangener von Terramer, während dieser Gefangenschaft hat er mit Arabel Schach gespielt und sie hat sich in ihn verliebt. Die ehemalige Arabel ist daraufhin zum Christentum übergetreten und hat ihn geheiratet. Giburc war zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem heidnischen Mann verheiratet (mit Tybald) und hat Kinder. Sie verlässt also ihre ganze Familie und Verwandtschaft. Willehalm ist von diesem Kriegszug zwar nicht überrascht, aber sehr wohl von der gewaltigen Streitmacht, die in die Provence einfällt, und er verliert die erste Schlacht bei Aliscans. Er ist der einzige Überlebende, es kommt also zu tausenden von Toten. Die Schlachtschilderungen suchen zu dieser Zeit ihresgleichen - es wird präzise zwischen Massenschlachten und Einzelkämpfen gewechselt. Bemerkenswert ist, dass beide Kämpfer werden absolut gleichwertig geschildert, es gibt also sowohl auf der Seite der Heiden als auch bei den Christen mutige und gleichwertige Kämpfer. Wolfram von Eschenbach geht sogar so weit, dass er einzelne Kämpfer den Christen in jeglicher Hinsicht, auch in der inneren Einstellung und in der Ehre, überlegen sieht. Wolfram von Eschenbach ist zwar tief religiös, aber darum bemüht, einen Ausgleich zu schaffen. Willehalm kann sich auf seine Stammburg auf Orange flüchten. Hier wird es jetzt für unseren Zusammenhang interessant: Giburc wird hier als eine Landesherrin geschildert, die in einer Rüstung kämpft. Das Ehepaar, das als Herrscher- und Liebespaar betrachtet wird, beraten sich miteinander - entscheidend ist hier, dass eine völlige Gleichwertigkeit im Gespräch vorherrscht. Beide beraten mit gleichwertigen Redeanteilen, was nun zu tun sei. Willehalm beschließt gemeinsam mit Giburc zum französischen König Lois (König Ludwig I.) zu reisen und um Hilfe zu bitten. Hier bekommt die Familienauseinandersetzung erstmals eine „Weltkriegsdimension“, weil hier der herrschende König zur Hilfe gebeten werden soll. Giburc verspricht Willehalm die Burg nach bestem Wissen zu verteidigen, sie übernimmt nicht nur die Landesherrschaft, sondern auch eine Art Kriegsherrschaft über die Burg. Willehalm kommt zum französischen König, dort findet ein festlicher Hoftag statt. Mitten in die Feierstimmung kommt Willehalm, der bewusst seine zerschlissene blutige Rüstung nicht ausgezogen hat. König Lois ist mit der (namenlosen) Schwester von Willehalm verheiratet, es befinden sich alle Verwandten Willehalms am Hofe. Der König will zuerst nicht helfen, er muss erst überredet werden. Nach längerer Zeit erklärt er sich bereit, die gesamte Familie und somit auch das gesamte christliche Reich im Kampf zu unterstützen. Daraufhin wird die Burg von Terramer und seinen Heeren belagert, der Vater belagert somit die Tochter. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist eine höchstinteressante Facette des Werkes: Auf dem Königshof befindet sich ein muslimischer Knabe, der nicht zum Christentum übertreten will und deshalb Küchendienst leisten muss. Rennewart ist der jüngste Sohn Terramers und somit Giburcs Bruder. Weder Giburc noch Willehalm wissen von seiner Identität. Rennewart bleibt ganz bewusst Heide, aber er tritt in den Dienst Willehalms. Wir haben hier also die paradoxe Konstellation, dass 50 von 103 Willehalm, ein christlicher Heerführer, unterstützt wird durch einen muslimischen heidnischen Kämpfer - er wird entscheidend dazu beitragen, dass die zweite Schlacht gewonnen wird. Zum Christentum konvertiert er jedoch nie. Ein gewaltiges Heer wird einberufen von Lois, alle verfügbaren Heerführer reiten gemeinsam nach Orange zur Stammburg. Giburc wird von ihrer Aufgabe entlastet und es kommt zu einem großen Empfang, an dem Giburc wieder in ihre weibliche Rolle schlüpft - als Repräsentantin des Hofes. Es kommt zu einer großen Rede Giburcs. Es kommt zur zweiten Schlacht, hier gewinnen die Christen. Die Christen feiern, mitten in dieser Feier wird Willehalm aber bewusst, dass Rennewart verschwunden ist. Hier bricht die Dichtung ab. Man weiß nicht, wie Eschenbach diese Dichtung hätte fortführen wollen, da er sehr viele Aspekte eingebaut hat, die einen einfachen Schluss gewisserweise nicht zulassen. 2.2 Giburc: manlîch - wîblich Giburc wird mit folgenden Worten eingeführt: Ei Gîburc, heilic vrouwe, dîn saelde mir die schouwe noch füege, daz ich dich gesehe aldâ mîn sêle ruowe jehe. durh dînen prîs den süezen wil ich noch fürbaz grüezen dich selbn und die dich werten sô daz si wol ernerten ir sêl vors tiuvels banden mit ellenthaften handen. (403,1-10) Sie wird wie eine Heilige angerufen, ähnlich einer Marienpreisung. Man kann von dieser ersten Anrufung des Erzähler davon ausgehen, dass sie eine eindimensionale Figur ist. Ihre einengende Charakterisierung als überzeugte Christin funktioniert aber nicht. Giburc wird im Roman als eine Figur dargestellt, die sich durch den ganzen Text hindurch in einem politischen und persönlichen Dilemma befindet. Sie ist so etwas wie eine andere Helena, die wegen wegen ihrer Ehe mit Willehalm nicht nur den Streit zweier Männer um sie auslöst, sondern der Krieg ist durch ihre Blutsverwandtschaft an die Feinde auch ein Familienkrieg, ein Religionskrieg und letztendlich durch die Aufbietung aller Streitkräfte auch ein Weltkrieg. Nach der Anrufung heißt es gleich einschränkend, dass wegen ihr alles passiert ist. Sie hat also nicht nur durch ihre zwei Namen eine Zwischenstellung. Wie weit wird diese Zwischenstellung nun vom Autor für politische Aussagen genutzt? Eine der politischen Aussagen zu Wolfram von Eschenbachs Zeit ist, dass gesagt wird, man muss die heidnischen Mitgeschöpfe schonen und man darf sie nicht töten. Das ist durchaus ein hetzerischer Gedanke, modern könnte man sagen, dass es ein Toleranzgedanke ist, so etwas wie „das Recht des Anderen“. Das Erstaunliche ist, dass dieses Recht des Anderen von einer Frau, durchaus in einer politischen Funktion, formuliert wird. 51 von 103 Giburc tritt im Roman in verschiedensten Rollen auf: Ihr erster Auftritt zeigt sie in einer männlich-weiblichen Ambivalenz (manlîch-wîblich): in ihrer Funktion als Landesherrin und Verteidigerin der Burg. Sie steht hinter den verschlossenen Toren und zunächst will sie nicht mal Willehalm einlassen, weil sie ihn nicht erkennt, da seine Rüstung im Kampf zerstört wurde und er nun die eines Heiden trägt. Als sie in schließlich erkennt, gewährt sie im Einlass. Was sie dann von Willehalm hört, erschüttert sie zutiefst, nämlih dass nicht nur ihre früheren, sondern auch ihre neuen christlichen Verwandten gestorben sind. In ihrer ersten Reaktion ruft sie zur Rache auf, dieser Ruf wird vom Erzähler lobend kommentiert: manlîche sprach daz wip, / als ob si manlîchen lîp / und mannes herze trüege. (95,3) Sie stellt sich somit gegen die eigene Verwandtschaft und Familie und stellt ihre neue Familie und ihren neuen Glauben dem zunächst gegenüber. Diese manlîche Rede ist allerdings nicht so eindeutig zu sehen, denn sie hat mehrere Gespräche mit männlichen Verwandten, unter anderen auch mit ihrem Vater Terramer während der Belagerungszeit. Da wird klar, dass sie nicht will, dass ihr ehemaliger Mann und ihre Kinder getötet werden. Giburc wird auch als liebende Frau gezeigt, in dem Moment, als sie Willehalm die Wunden verbindet und mit ihm schläft - sie ist eine Art Seelenpflaster für Willehalm. Kontrastreicher könnte die Darstellung nicht sein. Willehalm schläft dann ein und Giburc hält ihren ersten Monolog, in dem sie die Verluste und auch den Tod ihrer eigenen Verwandten beweint. Sie sieht keinen Ausweg in eine Versöhnung, sondern das einzige, das hier unübergehbar ist, ist der Krieg und der Kampf. Sie weiß auch, dass sie hier selbst im Mittelpunkt steht und nicht heraus kann. manlîch, ninder als ein wip/ diu künegin gebarte (226,30f.) Sie wird also weiblich in dem Moment, in dem sie sich mit ihrem Mann vereint, wird aber wieder männlich, als sie wieder die Rolle der Landesherrin übernimmt. In dem Moment, wo Willehalm mit Hilfe in die Burg zurückkommt, wechselt Giburc sofort die Rolle bewusst: jetzt wo alle Männer wieder da sind, ist es Zeit, wieder in die weibliche Rolle und in die schönen Kleider zu schlüpfen, um die Männer mit ihrer Schönheit zum Kampf anzutreiben. Sie wird wieder zur höfischen Repräsentantin. Der Erzähler macht sich ein wenig darüber lustig, vor allem als sie ihre Rüstung zur Verteidigung der Burg trägt, er sagt, er würde sich vor solchen Frauen fürchten - die Frau als Kämpferin ist also auch hier gut für misogyne Witze. Aber es ist nicht der einzige Zugang dazu. 2.3 Giburcs (politische) Reden: Durch ihre Reden wird deutlich, dass Giburcs Handeln durch drei Pole bestimmt wird, die sie verzweifelt versucht zu trennen: Politik, Verwandtschaft und Religion. Das führt uns zur einer Frauenfigur der Antike, wo ähnliches der Fall ist: Antigone. Auch sie ist zwischen Verwandtschaft und Politik hin und hergerissen - Religion spielt bei ihr eine geringere Rolle. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es offensichtlich starke Parallelen gibt, die sich über die Rolle der Frau in einem politischen staatlichen Diskurs ergeben. Die Rede der Frau im politischen Diskurs wird als gefährlich eingestuft - eine politische Rede vor Männern ist keine übliche Tatsache. Bei Antigone 52 von 103 führt das politische Sprechen zu ihrem Tod, es muss ausgemerzt werden. Auch bei Giburc haben wir politische Reden - zwei persönliche Reden (mit ihrem Vater Terramer) und eine, die vor dem Fürstenrat stattfindet und besonders wichtig ist. Wie wird nun Giburcs politisches Sprechen im Roman bewertet? Wird es als gefährlich eingestuft oder spielt ihr Sprechen eine Rolle? Auffällig ist, dass Giburc alle Gespräche und Reden nur mit Männern durchführt. Die Reden bewegen sich alle zunächst im verwandtschaftlichen Feld: zwei Gespräche mit ihrem Vater Terramer, die während der Belagerungszeit stattfinden, ein Gespräch mit dem Halbbruder Rennewart, von dem sie aber nicht weiß, dass er ihr Bruder ist und dann noch ein Gespräch mit Willehalms Vater Heinrich und mehrere mit dem Ehemann. Die Gespräche zwischen Vater und Tochter beschäftigen Verwandtschaft und Religion. Terramer fragt seine Tochter, Ehebrecherin und Abtrünnigen aus seiner Sicht geworden interessant, da es sehr sachlich und unemotional geschildert sich zunächst mit den Polen warum sie zu einer Verräterin, ist. Dieses Gespräch insofern ist - fast als Religionsgespräch. Terramer unterstellt dem Christentun auch Polytheismus durch die Trinität, was Giburc zurückweist. Im Grunde könnte man sagen, dass beide aneinander vorbei reden was die religiösen Themen angeht. Das Berührende an diesem Gespräch ist aber die Betonung der Verwandtschaft. Terramer sagt zwar, dass er seine Tochter bestrafen will, letztendlich führt aber die Betonung der Verwandtschaft zu einer offensichtlichen Trauer bei beiden. Beide sind also betroffen von den Geschehnissen, ohne etwas davon zurücknehmen zu können. Terramer ist zur Rache seiner Tochter verpflichtet, die für die muslimische Gesellschaft den größten Frevel begangen hat, er möchte es aber nicht. Giburc, die ihren Vater als Vater anspricht, kann nicht verstehen, warum er ihre Konversion nicht versteht. Die Gespräche führen also zu nichts. Die Trauer und die Tränen werden allmählich zum Topos der Figur - sie sind eine Metapher des Nichtsprechens. Giburc spricht aber, und allmählich kommen die Tränen. Gespräch mit dem Schwiegervater Heinrich: Hier ist Giburc in ihrer Rolle der Repräsentantin, es geht um das große Begrüßungsmahl der ankommenden Heere, wo sie, wie es sich als Landesherrin gehört, neben ihrem Schwiegervater sitzt. Es kommt zu einem Gespräch zwischen den beiden. Hier spielen die Tränen Giburcs eine Rolle. Sie erzählt ihm ihr innerliches Leid und beginnt öffentlich zu weinen, was er ihr sofort verbietet. Sie darf also nicht öffentlich trauern, weil das die Kampfkraft der männlichen Krieger mindert. Es bleibt nicht bei diesem Verbot der öffentlichen Trauer Heinrichs, denn es gibt nach diesem Festmahl einen Fürstenrat: Giburcs Rede vor dem Fürstenrat: Giburc geht von sich aus zu dieser Männerberatungsrunde und bittet um Aufmerksamkeit und bittet, das Wort ergreifen zu können. Das ist das radikal politische Umfeld - ein stärker männlich dominiertes Umfeld als den Fürstenrat könnte es gar nicht geben - in das sie mit ihrer Rede kommt. (WICHTIG!!!) Diese Rede hat in der Forschung höchste Aufmerksamkeit errungen, denn sie hat es inhaltlich in sich. 53 von 103 Entscheidend ist für viele Forscher folgende Sequenz: sie spricht in ihrer Rede von ihrem Leid, aber auch von ihrer Schuld - es ist gewissermaßen ein Schuldbekenntnis. Sie versucht aber ihr Handeln zu rechtfertigen und führt auch einen kleinen Religionsdiskurs: dem sældehaften tuot vil we, ob von dem vater siniu kint hin zer vlust benennet sint: er mac sich erbarmen über sie, der rehte erbarmekeit truoc ie. (307,26-30) [dem, dem die Erlösung zugesprochen ist (gemeint ist Gott), schmerzt es sehr, wenn dem Vater seine Kinder zur Verdammnis bestimmt sein sollen. Er, der schon immer die wahre Barmherzigkeit in sich trägt, soll sich ihrer erbarmen] Auffällig ist hier "dem Vater seine Kinder“. Die Forschung hat hier darüber gestritten, was damit gemeint ist. Spricht sie hier allen Menschen den Status der Gotteskindschaft zu? Im Prolog gibt es schließlich die Unterscheidung zwischen Gottesgeschöpflichkeit, das wären alle Menschen, und Gotteskindschaft, das wären nur die Christen. Hier sind aber eigentlich alle gemeint und es spricht nichts dafür, dass nur die Christen gemeint sind. Hier scheint Giburc also den Heiden in ihrer Rede den Status der Gotteskindschaft und damit die potentielle Erlösbarkeit zuzusprechen. Es ist ein sehr radikaler Gedanke, der zu Wolfram von Eschenbachs Zeiten durchaus als ketzerisch anzuerkennen ist. Hier muss man sich den Kontext ansehen, in dem die Rede stattfindet: sie ist öffentlich und findet im politischen Umfeld statt. Dass die Rede von enormer Wichtigkeit ist, liegt auch daran, dass sie die längste im ganzen Werk ist und auch aus Giburcs Mund ist. Aufbau der Rede: Sie kommt in den Fürstenrat und bittet um Aufmerksamkeit. Sie bekennt ihre Schuld und nennt zwei Argumente, die widersprüchlich sind: Rache und Schonung, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. rechet den jungen Vivianz / an mînen mâgen und ir her (V. 306,22f.) hoeret eines tumben wîbes rât / schonet der gotes hantgetât (v. 306,27f.) Das was sie in ihrer Argumentation sagt ist, dass in dem Moment, in dem sich ein Kind im Mutterleib befindet, es auf jeden Fall ein Geschöpf Gottes ist, wenn auch nicht christlich. Die Schonung begründet sie durchaus theologisch, einerseits mit den Umständen und den theologischen Kenntnissen dieser Zeit, sie argumentiert aber auch mit einem Barmherzigkeitsgedanken, was dem Christentum eigentlich immanent ist. Sie beteuert, dass wenn man Christ ist, muss man auch an Barmherzigkeit glauben. Letztendlich sind Ansätze da, dass man die Heiden zwar bekämpfen muss, aber nicht aufgrund ihrer Religion und weil sie ohnehin für die Verdammnis bestimmt seien. Am Ende der Rede weint Giburc - sie verstummt und man erfährt nichts mehr. Sie ist sozusagen die Weinende zum Schluss und so aus dem Roman ausgeblendet. Ihre Rede hat aber keine Konsequenz für den Roman - es gibt kein Pardon und keine Schonung der Andersgläubigen, die Schlacht findet blutiger als die davor statt. Ein Indiz gibt es, dass sie möglicherweise etwas bewirkt haben könnte: Willehalm lässt nach dem Sieg alle Leichen der heidnischen Fürsten sammeln und in einem Zelt aufbewahren. Die Überlebenden sollen sie 54 von 103 mitnehmen und nach ihren Ritualen begraben. Das ist etwas neues, das in der altfranzösischen Vorlage nicht vorkommt. Es wäre ein Indiz dafür, dass Giburcs Rede doch Einfluss hatte. Die Person der Sprechenden ist mit ihren verschiedenen Rollen so problematisch, man könnte sagen Giburc ist von vornherein als Sprecherin mit negativen Vorzeichen besetzt. Sie ist eine Figur, die im politischen und kriegerischen Handeln zwar aufscheint, letztendlich aber nichts zu sagen hat, insofern, als ihr Sprechen zu keiner Konsequenz führt. Der Aufruf zur Schonung hat beim Kriegsrat nichts bewirkt, die Rede bleibt vollkommen unkommentiert, auch vom Erzähler, der sonst eigentlich immer wieder eingereift. Giburc ist als politische Person zu diesem Zeitpunkt nicht stark genug, aber allein von der Aussage des Roman ist es trotzdem entscheidend, dass diese Rede von einer weiblichen Hauptperson gesprochen wird. Denn welche Figur wäre geeigneter einen Gedanken zu formulieren, der zu Wolfram von Eschenbachs Zeit ein politisch gefährlicher war? Es ist eine Doppeldeutigkeit in dieser Funktion: denn die Tatsache, dass sich eine Frau in einem Fürstenrat zu Wort meldet und auch der Inhalt ihrer Rede sind beide ein scandalum. Dennoch ist es eine hoch aufgewertete Rede, zwar nicht auf der Handlungsebene, sondern auf der Inhaltsebene. Der Autor gibt einen radikalen Gedanken einer Frauenfigur in den Mund, was auf der Handlungsebene zu keinen Konsequenzen führt, aber dennoch ausgesprochen wird. Es soll verdeckt werden, dass die Rede nicht unmöglich ist, sondern etwas formuliert, das radikal und möglich wäre. Giburc ist also auf der Handlungsebene mit ihrer Rede zum Scheitern verurteilt. Es wäre undenkbar, dass eine männliche Person diese Rede gehalten hätte. Da die Frau hier aber zwischen all diesen Polen steht kann sie diesen Gedanken formulieren. Sie ist in dieser Szene also eine Schweigende und gleichzeitig eine Sprechende, was die ambivalente Zeichnung der Figur erklären würde. Sie ist Handelnde und Nicht-Handelnde, sie ist jemand, die durch diese Rede durch den Roman entrückt und entfernt wird. Auch als die Schlacht gewonnen ist, wird sie nicht mehr erwähnt. Vielleicht ist liegt da der Grund darin, warum Wolfram von Eschenbach die Figur mit einer Anrufung eingeführt - um den humanitätsgeschichtlich neuen Gedanken subtil in Szene zu setzen. 7. Vorlesung 3. Dezember 2015 Frauen schreiben: Hrotsvit von Gandersheim 935 - ca. 973 In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit Stimmen von Frauen - mit Zeugnissen (zumeist literarisch) von Frauen. Das sind zwar wenige, aber sie sind von herausragender Bedeutung. Es sind Werke, die unbekannt sind und kaum im Kanon erscheinen. Wir befinden uns in der Frühzeit der deutschen Literatur. 1. Schreibende Frauen im Mittelalter Man kann über das gesamte Mittelalter hinweg davon sprechen, dass schreibende Tätigkeit von Frauen mit enormen Schwierigkeiten verbunden war. Das gilt auch für jene Frauen, die bereits zu 55 von 103 Lebzeiten berühmt waren und Frauen, deren schriftstellerische Tätigkeiten durchaus anerkannt wurde - auch von männlichem Publikum (im Sinne von Schriftlichkeit). Hildegard von Bingens Schriften wurden von der männlichen „Community“ anerkannt, aber auch sie musste ihr Schreiben rechtfertigen, genau wie Roswitha von Gandersheim, aber auch Christine de Pizan, die sich ebenfalls einige Rechtfertigungsstrategien überlegen mussten, um ihr Schreiben zu rechtfertigen. Dieses Schreiben und die Rechtfertigung des Schreibens hängt immer auch mit der Tatsache des Geschlechts zusammen, also mit der Tatsache des Frauseins. 2. Die Rhetorik der Demut Eine sehr schöne Beschreibung von diesem Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und dem Willen zum Schreiben stammt aus dem 8. Jahrhundert von einer angelsächsischen Nonne: Hugeburc von Heidenheim. Sie hat zwei Viten über Willibald und Wunibald geschrieben, Bewohner und Heiliggesprochene des Bistums Eichstätt. Auch wenn der Originaltext in lateinischer Sprache geschrieben wurde, zählt er trotzdem zur deutschsprachigen Literatur - sie ist im Frühmittelalter auch lateinische Literatur. Das ist das, was das 9. und 10. Jhdt. zu einer faszinierenden Epoche macht, weil wir hier eine Zweisprachigkeit haben, teilweise sogar eine Dreisprachigkeit, die zu einer eigenen Atmosphäre des Schriftlichen geführt haben. Lateinisch war die Sprache der Gelehrten. Hugeburc von Heidenheim (geb. 730/740): Von all denen, die hier vom Heiligen Geist geführt leben, bin ich, unwürdig wie ich bin, aus dem angelsächsischen Geschlecht stammend, die letzte, die ankam, nicht nur wegen des Alters, auch wegen meines bisherigen Lebens. Trotzdem beschloss ich, die ich im Vergleich mit den anderen Christen eine schwache Kreatur bin, einige Anmerkungen in Form einer Einleitung zu machen, die sich auf den Beginn des Lebens des heiligen Willibald beziehen, und schreibe sie hier nieder, damit sie nicht vergessen werden. Ganz wichtig ist hier, dass die Rhetorik der Frau als schwache Kreatur übernommen wird. Aber die Memoria ist ebenso wichtig. Entscheidend hierbei ist aber, dass nicht nur der heilige Willibald und dessen Vita nicht vergessen wird, sondern auch die, die es aufgeschrieben hat. Das wäre sozusagen die Ebene, die dahinter steckt. Trotz allem möchte gerade ich, die ich durch die zerbrechliche weibliche Einfachheit meines Geschlechts beeinflussbar bin und mich nicht auf das Vorrecht der Weisheit oder einer großen Kraft, die mich beseelt, stütze, wie ein unwissendes Wesen, das vom Scharfsinn des Herzens und von den vielen dichtbelaubten Bäumen voller Blüten einige Gedanken gewinnt, damit beginnen, ein paar dieser Gedanken zu sammeln und darzulegen, mit einer schwachen Kunst von den untersten Zweigen zusammengetragen, damit ihr sie in eurer Erinnerung bewahrt. Und jetzt sage ich mit erneuter Stimme und wiederhole, ohne in das Erwachen meines eigenen Stolzes zu vertrauen, ohne meiner vermessenen Kühnheit zur vertrauen, dass ich (oder vielleicht fast nicht) wage anzufangen. Viten über Willibald und Wunibald (Bistum Eichstätt). Wir haben hier wieder die Kombination schwache Kunst und Memoria. Diese Rhetorik ist eine bekannte, es ist eine Rhetorik des Empfehlungsschreibens, die im 8. und 9. Jahrhundert üblich ist: die sogenannte Demutstopik, die nicht nur auf weibliches Schreiben beschränkt ist, sondern zum rhetorischen Allgemeingut. Ein männliches Beispiel hierfür wäre die Vita Karoli Magni von Einhard 56 von 103 (770 - 840) über Karl den Großen. In seiner Einleitung schreibt er folgendes über ein eigenes Schreiben: So nimm hin dies Buch, das die Erinnerung an den ausgezeichneten und großen Mann enthält! Du wirst darin nichts finden, was du bewundern kannst, als seine Taten und höchstens noch, daß ich, ein Barbar, der nur wenig Übung in der lateinischen Sprache hat, glaube, gefällig und angenehm Latein schreiben zu können; und daß ich mich unverschämt über einen Satz des Cicero hinwegsetzen zu dürfen wähne. Er schreibt nämlich im ersten Buche seiner Tuskulanen, da er von den lateinischen Schriftstellern spricht, also: ... Dieser Gedanke des vortrefflichen Redners hätte mich wohl vom Schreiben abgeschreckt, wenn ich nicht von vornherein entschlossen gewesen wäre, mich lieber jeglichem Urteil der Welt auszusetzen und durch diese Schrift den Ruf meines unbedeutenden Talentes zu gefährden, als aus Rücksicht auf mich die Lebensgeschichte eines solchen Mannes nicht zu schreiben. Auch hier haben wir die Demutsrhetorik, der Unterschied ist aber, dass er glaubt, es dennoch zu können. Was hier wiederum passiert, ist die Berufung auf eine männliche Tradition, die mit der Schreibkultur vertraut ist. Trotz aller Demutstopik bewegt er sich wesentlich virtuoser in der Balance zwischen Demut und eigenem Vermögen. Man kann also feststellen, dass das Bestehen der Frauen auf ihre eigene Unwissenheit, Unfähigkeit und Schwäche, mehr ist, als nur rhetorische Formen. Es ist eine Art Initiationsritual, das ihnen überhaupt erlaubt, die Schwelle zur dominanten männlichen Schriftkultur zu übertreten. Sie zeigen sich in der Demutsform geübt, variieren sie aber mit eigenen Bildern und indem sie die Demutstopik eins zu eins übernehmen (von der rhetorischen Tradition her), zeigen sie aber gleichzeitig auch, dass sie in der Lage sind, daran teilzuhaben. 3. Hrotsvit von Gandersheim (935 - ca. 973): In ihren Vorreden versichert sie, dass Gott beim Schreiben an ihrer Seite sei, dass sie schwach und unwissend sei, aber dennoch ihre Stimme erheben wollen, weil diese gehört werden wolle. Wenn sie spricht, wäre ihre Stimme eine männliche, was sie immer wieder betont. Wenn eine Frau im Geiste stark ist, wird dieser von Theologen dieser Zeit als männlich verstanden. Wenn Frauen männliche Rhetorik übernehme, bedeutet das nun, dass sie quasi ein männliches Ich annehmen, weil sie die erlaubten Schranken des weiblichen Geschlechts überschreiten. Versuchen sie, so wäre eine mögliche Frage, ohne Identität auszukommen, um so am Spiel des dominanten männlichen Geschlechts teilzunehmen? Wenn man die Texte dieser Frauen isoliert betrachtet und nicht in einem Gesamtzusammenhang, dann könnte man diesen Eindruck durchaus kriegen. Wenn man die Texte von Frauen liest, akzeptieren diese den patriarchalen Diskurs teilweise noch radikaler und noch nachhaltiger, als die Männer selbst. Es fällt auf, dass die Schriftstellerinnen die Einstellungen der Männer zu den Frauen teilweise ganz radikal übernehmen. Wir finden das tatsächlich, dass Frauen viel strenger im Urteilen gegenüber Frauen sind, auch Themen wie die Schuld Evas, den Stellenwert der Jungfräulichkeit und andere betreffend. Sie verlangen genauso radikal Strafen für Fehlverhalten. Allerdings ist dieses Bestehen der schreibenden Frauen auf die Stärke der patriarchalen Ideologie widersprüchlich und durchaus brüchig.Teilweise sieht man, dass diese Argumente ins Treffen gebracht werden, dieses Insistieren auf den patriarchalen Diskurs ist letztendlich ein Schutzschuld für die Stärke der eigenen Stille. Es ist eine Art Maskerade, um in einer männlichen Welt zu bestehen und um die eigenen Interessen stärker umsetzen zu können. 57 von 103 Dass Frauen ihre Stimme erheben, dass sie aus dieser Stille, die ihnen auferlegt ist, austreten verlangte viel Mut. Die Schriftstellerinnen übernehmen nicht nur den Diskurs der männlichen Wissenschaft. Es gibt durchaus Tendenzen, ihre eigenen Räume einzunehmen. Diese eigenen Räume sind überwiegend symbolische Räume. Deshalb ist es für LiteraturwissenschaftlerInnen so wichtig, sich diese Texte genau anzusehen, um zu sehen, wie diese genutzt und aufgebaut werden. Diese symbolischen Räume können sich sowohl in weiblichen bestimmte weibliche Themen diskutiert werden, eben wie die Verteidigung oder Mutterschaft und Themen der Kindstötung. Sie können aber auch betreffen, die von einer weiblichen Sichtweise aufgeladen werden - Figuren auftun, wo der Jungfräulichkeit, bestimmte Themen zB die Frage der Beweglichkeit, des Ruhms, der öffentlichen Anerkennung, des Lachens oder die Macht an sich. 4. Leben und Werke Hrotsvit von Ganderheim laut Verfasserlexikon: Hrotsvit von Gandersheim ist nicht nur die erste deutsche Dichterin und Geschichtsschreiberin, sondern überhaupt die erste bedeutende lateinische Autorin seit der Antike und die erste Dramatikerin der christlichen Welt. Wichtiger ist, dass sie, fast auf sich allein gestellt, ein Werk geschaffen hat, dem sie bei aller stofflichen, formalen und weltanschaulichen Determiniertheit das unverwechselbare Gepräge ihrer Person geben konnte. (Fidem Rädle, VL, Sp. 208) Was die Bedeutung angelangt, ist sie nicht wirklich im Kanon der GermanistInnen. Ihr dichterisches Werk ist vielgestaltet, es sind also nicht nur Dramen sondern auch acht Legenden und zwei historische Epen, die sie verfasst hat. Man sieht, auch an ihrem Beispiel, dass eines bei den schreibenden Frauen funktioniert hat, dass das Schreiben auch eine Form der Memoria ist. Hätte sie nicht geschrieben, wüssten wir nichts über sie. Das war den Frauen des Mittelalters durchaus bewusst. Je mehr Schrift verschriftlicht wurde und je mehr man von einer oralen Kultur zu einer skripturalen Kultur gekommen ist, desto stärker war den kulturell tätigen Personen klar, dass Memoria nur über Schrift funktionieren kann. Wir wissen weder das genaue Jahr ihrer Geburt, noch den Ort. Wir wissen nicht einmal, ob Hrotsvit ihr richtiger Taufname ist, weil man oft beim Eintritt in das Stift seinen Namen ändert. Er ist aber nicht ohne Bedeutung. Sie selbst hat ihn in ihrer Vorrede zu Dramen gedeutet und will ihn so verstanden haben, dass er „starker Klang“ oder „helltönende Stimme“ bedeutet. Es könnte durchaus sein, dass sie ihn für sich ihn Anspruch genommen hat, um etwas in ihrem Namen zu zeigen, was ihr wichtig wahr. Aus ihren Dichtungen und vor allem ihren Vorreden, gibt es ein paar Anhaltspunkte. Es steht fest, dass sie zur Zeit der Äbtissin Gerberg lebte, die von 940 bis 1001 lebte. Bei Klöstern hat man vor allem Aufzeichnungen, da sie die Zentren der Schriftkulturen waren und die führenden Persönlichkeiten wurden dort immer verzeichnet. Hrotsvit erzählt in einer ihrer Vorreden, dass diese Äbtissin ihre Lehrerin war und sie in den Wissenschaften unterwiesen hat, wobei Gerberg etwas jünger war, als sie selbst. Außerdem sagt sie, dass sie nach dem Tod Herzog Ottos geboren sei - er ist 912 gestorben -, wenn man das zusammenbringt, kann man davon ausgehen, dass sie zwischen 930 und 940 geboren wurde. Was das Todesjahr angeht, fehlt uns jeder Anhaltspunkt, vermutlich ist sie in den 970er Jahren gestorben, wenn man bedenkt, wie alt die Bevölkerung 58 von 103 damals wurde. Man weiß, dass die Frauen in den Klöstern älter wurden, als die Frauen, die nicht in den Klöstern waren, was vor allem an den Lebensumständen lag. Wir wissen auch wenig über ihre Herkunft, aber Historiker haben wahrscheinlich recht, dass sie einer sächsischen Adelsfamilie angehörte, da dieses Kloster in Gandersheim ein sehr exklusives Kloster war, das eng mit dem sächsischem Kaiserhaus verbunden war. Wir wissen nichts über ihr Leben vor dem Eintritt ins Kloster, geschweige denn, wann und warum sie ihm beitrat, sie war aber keine Nonne im vollen Sinne war, sondern Kanonisse. Das bedeutet, dass sie von drei Gelübden nur zwei abgelegt hat: das Gelübde der Keuschheit und das des Gehorsams, nicht aber das Gelübde der Armut, weil sie offensichtlich über ein Vermögen verfügt haben muss. Was auch noch sonderbar bei Kanonissen im Gegensatz zu Nonnen ist, ist dass sie mehr Bewegungsfreiheit haben. Sie dürfen aus und ein gehen, sind also nicht in ständiger Klausur, und es scheint, dass Hrotsvit öfters am ottonischen Hof zugange war. Wann sie dem Kloster beigetreten ist, ist in der Forschung deshalb eine Frage, die immer wieder gestellt wird, weil sie erstaunlich freizügig und informiert agiert und spricht, wenn es um Sexualität ist. Sie macht sich über männliche Sexualität lustig und spricht weibliche Sexualität durchaus in einer sehr freizügigen Art und Weise an. Forscher vermuten, dass sie längere Zeit ein weltliches Leben geführt hat. Jetzt ist man eher der Meinung, dass sie als junges Mädchen eingetreten ist, da ihr Werk von einer umfassenden Bildung zeugt, was die meisten Autorinnen des Mittelalters auszeichnet. Damals war Bildung sehr umfassend und beinhaltet nicht nur geistliche Literatur, sondern durchaus auch antike weltliche Literatur. Diese Gelehrtenbildung wurde von einer Frau als extrem hoher Wert angesehen, sie eigentlich den Männern vorbehalten war. Wissenschaftliches Schreiben und Dichten war eine Einheit. Hrotsvit war der Meinung, dass Dichten selbst nur aus einer wissenschaftlichen Kenntnis und der Beschäftigung von wissenschaftlichen Werken entstehen kann - also nicht intuitiv, sondern die Auseinandersetzung mit der damaligen Form des Wissens als Voraussetzung, was sie in ihren Vorreden immer wieder betont. Sie orientiert sich in ihrer literarischen Produktion an den lateinischen Dichtern. Ihr Werk ist aber mehr als nur eine Synthese männlicher Autoren - es ist äußerst komplex. Sie versteht es vorhandene Räume durch spezifische weibliche Begriffe zu besetzen. Ihre Werke: 6 Dramen: 1. Die Bekehrung des Feldherrn Gallcanus 2. Dulcitus 3. Die Wiedererweckung der Drusiana und des Calimachus 4. 5. Fall und Bekehrung der Maria, der Nichte des Eremiten Abraham Die Bekehrung der Buhlerin Thais 6. Sapientia Es sind relativ kurz Dramen und die Forschung hat sich lange überlegt, was man mit diesen im Kloster gemacht hatte - hat man sie sich angehört, haben andere Nonnen sie gelesen, oder wurden sie aufgeführt? Eines ist sicher, sie wollte unbedingt, dass ihre Werke aus dem klösterlichen Umfeld herauskommen. Sie hat es nicht nur für ein weibliches Publikum geschrieben. 59 von 103 8 Legenden: 1. Die Geschichte von der Geburt und dem ruhmreichen Lebenswandel der unbefleckten Mutter Gottes 2. Die Himmelfahrt des Herrn 4. Pelagius 5. Theophilus 6. Basilius 7. Dionysius 3. Gongolf 8. Agnes Hier orientiert sie sich an der Legenda aurea. Ein Vergleich ist unglaublich aufschlussreich, wenn man sieht, wie Hrotsvit die Legenden zum Vergleich mit den Legendaren dieser Zeit erzählt - mit kleinen Wendungen, wie sie die weibliche Sichtweise hineinbringt und perspektiviert. 2 historische Dichtungen: 1. Biografie Kaiser Ottos des Großen: Gesta Ottonis 2. Geschichte des Stifts Gandersheim Auch diese haben unendlich viel mit Memoria und Selbstverhältnis zutun, denn dass sie sich auch als Historikerin betätigt, ist überhaupt die Domäne der Männer. Dass sie es wagt, als Frau eine Biografie des Kaisers zu schreiben, ist sehr mutig. Sie wagt sich also wirklich in Bereiche vor, die absolute Männerdomänen sind und schafft hier größte Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie wurde weder als Hexe verteufelt, noch wurde sie auf den Scheiterhaufen geworfen - es gibt keine einzige negative Stimme über sie von ihren Zeitgenossen und auch darüber hinaus. Die Werke sind natürlich religiösen Inhalts, was die einzige Form war, um überhaupt gehört zu werden. In ihren Dramen entwickelt sie sehr positive Modelle weiblicher Tugendhaftigkeit und Keuschheit. Aber sie entwirft nicht Modelle, die bei Nichtbefolgung Bestrafung mit sich ziehen würden, sondern positive Modelle, im Sinne einer sehr freudigen Sichtweise. Alle Protagonistinnen sind willensstark, redegewandt und standhaft, was sehr stark betont wird. Die männlichen Protagonistinnen sind bis auf wenige Ausnahmen triebhaft, weniger redegewandt und dumm, was sehr deutlich zu beobachten ist. Man kann also sagen, dass Hrotsvit Frauenrollen in den Mittelpunkt gestellt hat. Es sind soziale Tendenzstücke, sie hat eine Sichtweise der Welt entwickelt, die ganz männerzentriert war. Was sie nun macht, ist, dass sie zumindest eine Frauenzentriertheit hineinbringt, das allerdings ganz klar im konventionellen Rahmen der damaligen Sichtweise der Geschlechter. Sie ist durchaus mit dieser Sichtweise auch für die Rechte, das gesehen werden und für das Recht auf Memoria bei den Frauen eintrat. Selbstzeugnisse: Sie hat die Bücher selbst zusammengestellt - sie hat es als Opos verstanden und herausgegeben, indem sie die Dramen als ein Buch zusammengefasst und dazu eine Vorrede geschrieben hat. Sie hat zu diesem Buch auch Briefe und Widmungsschreiben hinzugefügt. Weil das Material so teuer war, gab es immer nur ein Buch, dieses hat sie Otto I. gewidmet. Einige Forscher vermuten, dass sie deshalb nicht das dritte Gelübde abgelegt hat, um die Geldmittel für die Buchproduktion zu haben. Aus diesen Begleitbriefen und Widmungen wissen wir, warum sie geschrieben hat. Sie sagt einiges Über ihre Antriebe und Zielsetzungen ihres Dichtens. Ein Aspekt ist besonders interessant: das, was sie zum Schreiben bewegt, war nichts anderes als der Wunsch, ihr Talent nicht ungenützt zu lassen - zum Zwecke des Gotteslobs und der Gottesverherrlichung. Das setzt schon mal ein 60 von 103 Bewusstsein von Talent voraus. Sie sagt, dass die Quellen auf die Bibel bezogen sind, aber auch auf apokryphe Quellen und auf die antike Literatur, die als heidnisch galt. Sie sagt, sie habe zwar diese Texte herangezogen, was sich irgendwann als richtig herausstellen würde, und bittet die gelehrten Leser um Nachsicht, aber auch um Aufmerksamkeit. Danach folgt die übliche Rhetorik, wie der Hinweis auf stilistische und metrische Fehler. Sie widmet ihr Werk ganz dezidiert den gelehrten Lesern (das waren zu dieser Zeit Männer), das heißt, sie will sich ganz elementar mit ihren männlichen Kollegen auf eine Stufe gestellt wissen - sie will gehört werden. Ein weiterer Aspekt ist, dass sie ihr weibliches Geschlecht miteinbezieht und dies gleichzeitig als Begründung ihres Schreibens nimmt. Hrotsvit versteht ihr Dasein als Nonne und Mitglied eines Frauenklosters als Kraftquelle für ihr Schreiben und betont somit, wie wichtig es für sie ist, ihren eigenen Bereich und Raum zu haben. Das ist nur möglich innerhalb eines Frauenklosters und in einer Gemeinschaft, in der Schriftlichkeit vorkommt. Für die Frauen im Mittelalter war das Kloster ein unglaublicher Schutzraum, der ihnen ermöglicht hat etwas zu tun, was ihnen in der Öffentlichkeit verwehrt blieb - sich mit der Wissenschaft auseinanderzusetzen und ganz bei sich zu sein. Fast alle schreibenden Frauen von großer Bedeutung hatten etwas mit Kloster zutun. Sie schreibt Dramen, die zu dieser Zeit auch Komödien waren und so sind auch ihre zu lesen. Hrotsvit hat sich vor allem mit den Komödien des Terenz auseinandergesetzt, die manchmal von recht schlüpfrigen Inhalts sind. Das war ihr durchaus bewusst. Sie sagt, Terenz schreibt so wunderbar, aber die Inhalte seien sündig. Ihre Aufgabe wäre es nun, genau diesen Missstand zu beheben, sodass die süße literarische Rede nicht sündig, sondern christlich und moralisch vertretbar ist. Was sie beabsichtigt, ist eine inhaltliche Widerlegung des Terenz und ein Sieg über ihn auf seinem eigenen Feld, in Bewusstsein ihrer moralischen Stärke und ihrer christlichen Position. Die Stärke ihrer Position erreicht sie, indem sie diesen moralischen Anspruch ihrer Gesellschaft übernimmt. Sie bleibt also vollkommen in diesem Rahmen, sprengt ihn aber insofern, als sie als Frau ihren Anspruch "ziemlich vermessen" formuliert, auch wenn sie es immer wieder abschwächt. Die Subversion befindet sich tatsächlich in ihren Selbstaussagen. Auch die Vorreden zu ihren historischen Werken sind von Bescheidenheitstopoi und Demutsformen durchsetzt, aber allein die Tatsache, dass sie sich als Frau an eine Biografie des Kaisers heranwagt, ist schon bahnbrechend genug. Man kann also sagen, dass die Autorin sämtliche rhetorischen Formen der Bescheidenheit beherrscht, sie aber einsetzt, um ganz deutlich nicht außerhalb, sondern innerhalb der etablierten männlichen Literaturgeschichte einen Platz zu finden. Es wäre für Hrotsvit chancenlos gewesen, gegen den männlichen Diskurs anzuschreiben ihre Schriften wären vernichtet und sie weggesperrt geworden. Die einzige Strategie also war, möglichst in den männlichen Diskurs hineinzugehen und ihn vielleicht sogar überzubetonen, um dann subtil im Text selbst eine ganz spezifisch weibliche Sichtweise der Dinge zu etablieren. Die subversiven Elemente befinden sich in den vorkommenden Frauenfiguren: 5. Dulcitius - Exkurs: Geschlecht und Lachen Dulcitius ist ein Werk, ein Drama, wo ein Aspekt wichtig ist: der Aspekt des Lachens. Ein Lachen, das zu dieser Zeit weder erlaubt, noch typisch war. Frauen waren in ihren Ausdrucksformen 61 von 103 extrem eingeschränkt. Sie durften nicht immer auf öffentlichen Plätzen sein, mussten strenge Kleiderordnungen befolgen, den Blick senken und ihre Stimme dämpfen - sie durften nicht laut lachen und mussten sich auf ein Lächeln beschränken. Heftiges Lachen wurde nämlich mit sexueller Lust in Verbindung gebracht. Leander von Sevilla (540 - 600): Er sagt folgendes zum Thema Lachen: ES IST EINE SÜNDE, DASS EINE JUNGFRAU AUSGELASSEN LACHT 1. Zeige, daß du dich an Gott erfreust, aber mit der heiteren und gezügelten Freude des Geistes, wie es der Apostel empfiehlt ... Diese Freude verwirrt deinen Geist nicht mit dem beschämenden Schauspiel des Lachens, sondern es löst in deiner Seele Sehnsüchte nach jener himmlischen Ruhe aus, in der du folgendes vernehmen kannst: Nimm teil an der Freude des Herrn. 2. Beim Lachen zeigt sich normalerweise das Herz einer Jungfrau, denn sie wird nie ausgelassen lachen, wenn sie ein keusches Herz hat. Das Gesicht ist der Spiegel des Herzens: Nur die Freizügige lacht wie verrückt. Wovon wir zu viel in unserem Herzen haben, von dem spricht der Mund, sagt der Herr. Und das Lachen, das sich des Gesichts einer Jungfrau bemächtigt, rührt von der Eitelkeit, die ihre Seele erfüllt. 3. Höre, was wir darüber lesen können: Das Lachen betrachte ich als Verrücktheit, und ich sagte zur Freude: Warum betrügst du dich vergeblich? 4. Fliehe vor dem Lachen, Schwester, wie vor einer Verrücktheit, und verwandle die Freuden des Jahrhunderts in Weinen, damit du erlöst wirst, denn du beweinst deine Verbannung auf dieser Welt, und die, die weinen, sind glücklich und werden Trost finden. Das ist die Atmosphäre, die auch noch zu Zeiten Hrotsvit bestand. Wenn man nun vor diesem Hintergrund ihre Dramen ist, so merkt man, dass sie von einem eigenwilligen Humor durchdrungen sind, auf den sie selbst in ihrer Vorrede eingeht, und als Grund dafür anführt, dass sie zunächst heimlich schreibt: ... als es mir zu Beginn meiner Arbeit an Kraft fehlte und Sicherheit; war ich weder reif genug an Jahren, noch in der Wissenschaft erfahren, auch wagte ich es nicht, ratsuchend meinen Plan vorzulegen den Gelehrten, damit sie mir nicht wegen meines Späßemachens weiteres Schreiben verwehrten. So begann ich geheim und verstohlen bald zu dichten, bald Misslungenes wieder zu vernichten, um mühte mich in hartem Ringen, einen Text, sei er auch nur von kleinstem Nutzen, zustandezubringen. Aus der „Vorrede zu den Legenden“ Inhalt: Im Dulcitius werden drei Schwestern mit den Namen Agape, Chionia und Irene vom Christenverfolger Diocletian aufgefordert, sich wegen künftiger Verheiratung loszusagen. Die Schwestern verweigern diesen Glaubensabfall vom Christentum und auch die Ehe und werden vom Kaiser Diocletian als eigensinnig und starrköpfig bescholten und dem Gericht des Stadthalters übergeben. Dulcitius weist seine Soldaten an, die Schwestern in den Innenraum des Küchenhauses zu bringen, wo in einer daran anschließenden Kammer die Diener das Küchengeschirr aufbewahren. Er hat natürlich die Absicht alle drei zu vergewaltigen und lässt sie deshalb nicht ins Gefängnis einsperren, sondern in der Küche. Er weist seine Wächter an, vor der Küchenhaus zu warten. Man hört die drei Jungfrauen Hymnen singen. Dulcitius will daraufhin hinein, um sie zu vergewaltigen, doch durch eine göttliche Fügung wird ihm der Verstand verwirrt und er fängt mit dem Küchengeschirr eine erotische Beziehung an, da er es für die Frauen hält. Durch eine Ritze beobachten die drei Frauen das Spektakel und lachen. Dulcitius wird vollkommen mit Ruß verschmutzt und verlässt das Haus, woraufhin seine Torwächter ihn nicht erkennen. Er geht zu seiner Frau, die ihn fragt, was los ist und er kommt darauf, dass er offensichtlich durch Zauberei so weit getrieben wurde. Die Rache ist natürlich fürchterlich. Er will sie nackt auf die Straße treiben, die Kleider aber fallen von den Jungfrauen nicht ab. Als sie die Mädchen 62 von 103 verbrennen sollen, funktioniert das ebenfalls nicht. Daraufhin werden zwei von den Frauen auf den Berg Sinai entführt und werden zu heiligen Körpern und werden gerettet, indem sie in den Himmel aufsteigen. Die Wächter werden nochmal lächerlich gemacht, da sie unbedingt den Berg erreichen wollen, was ihnen aber auch nicht gelingen will. Sie schießen einen Pfeil ab, der abprallt und sie selbst trifft. Somit sind die Männer als kämpfende Männer völlig lächerlich gemacht worden, da quasi nichts funktioniert. Abgesehen von der klassischen Legendenerzählung ist die Szene in der Küche: Agape: Wer lärmt vor der Tür? Irene: Der unselige Dulcitius kommt herein. Chionia: Gott möge uns schützen. Agape: Amen. Chionia: Was soll dieses Zusammenschlagen der Töpfe, Kessel und Pfannen (collisio ollarum, caccaborum et sarta-ginum) bedeuten? Irene: Ich sehe nach. Kommt doch heran, bitte, schaut durch die Ritzen! Agape: Was gibt’s? Irene: Seht nur, dieser Dummkopf, der den Verstand verlor (stultus, mente alienatus), er glaubt, er läge in unseren Armen. Agape: Was macht er denn? Irene: Jetzt wärmt er die Töpfe im weichen Schoß, jetzt umarmt er Pfannen und Kessel, er gibt ihnen milde Küsse. Chionia: Es ist Lachen erregend. (Nunc alias mollifovet gremio, nunc sartagines et caccabos amplecitur, mitia libans oscula. Ridiculum.) Irene: Sein Gesicht, die Hände und seine Kleidung sind so befleckt und so mit Schmutz bedeckt, daß die Schwärze, die sich an ihm zeigt, der eines Mohren gleicht (ut nigredo, quae inhaesit, similitudinem Aethiopis exprimat). Agape: Recht so, daß er sich im Äußeren so stellt, wie sein Geist vom Teufel besessen ist (qualis a diabolo possidetur in mente)." Offensichtlich werden die Jungfrauen in diesem Stück von Gott geschützt, gleichzeitig aber zum Verlachen des Vergewaltigers verführt. Der Blick durch die Ritzen ist im eigentlichen Sinn kein voyeuristischer Blick, da Dulcitius eben gerade nicht ein Objekt der Begierde darstellt. Er wird durch den Blick der Frauen in seiner geschwärzten Körperlichkeit als Vertreter der weltlich heidnischen Macht desavouiert, gleichzeitig wird seine Sexualität und seine männliche Triebhaftigkeit als fehlgesteuert und lächerlich abgetan und verlacht. Man kann hier radikal andenken, dass Jungfräulichkeit ein Aspekt weiblicher Sexualität sein kann und nicht weiblicher Nicht-Sexualität. Die männliche Sexualität wird nicht nur lächerlich, sondern auch öffentlich gemacht, denn er wird sogar von seinen männlichen Kollegen ausgelacht. Die intendierten Opfer des Dulcitius werden in dieser Szene, und das ist das Entscheidende, vorübergehend zum Subjekt der Szene, die vor des Teufels Küche spielt. Dieses sehende Objekt stellt das Ebenbild des allmächtigen Gottes dar, der alles sehen kann, aber selbst nicht zu sehen ist. Das stellt die drei Jungfrauen tatsächlich auf eine sehr hohe Ebene. Die Frauen sind für einen Augenblick mächtiger als des Teufels Koch, sogar mächtiger als der Teufel selbst, der wehrlos nicht nur allein seiner sexuellen Gier, sondern auch den Blicken der Frauen ausgeliefert ist. Die Szene ist beispiellos, es gibt keine Vorlage in ihren Quellen, die sie hätte heranziehen können. Das heißt, die Definitionsmacht des einseitigen männlichen Blicks, der oft in die Gewalt der Berührung übergeht, wird durch die Macht der Schwestern ausgerufen. Die Macht des männlichen Blicks ist vorübergehend an die lachenden Frauen übergegangen. Das heißt also, das laute Lachen der Frauen triumphiert über diese Geschichte, was erneut subversiv ist, da bewusst nicht 63 von 103 vom Lächeln die Rede ist. Die metaphysische Instanz des Bösen, das von Dulcitius verkörpert wird, wird von der Gegeninstanz, dem wunderwirkenden Gott und den Frauen, ins Lächerliche gezogen. Zusammenfassung: Im Dulcitius stehen drei Männer, die heidnisch, gierig und gewalttätig sind, drei christlichen, starken, klugen und schönen Frauen gegenüber. Die männliche Welt konnotiert mit Heidentum, die weibliche Welt wird christlich aufgewertet. Ehe wird negativ gesehen, zumindest vn den drei Jungfrauen. Ehe wird bei Hrotsvits Drama als der Zugriff der Männer auf den weiblichen Körper verstanden, dem die drei Frauen nicht nachgeben wollen. In diesem Stück ist der Zugriff ein zerstörender, vergewaltigender. Wichtig ist, dass der Körper der Frau bewahrt ist, dass Sexualität männlich konnotiert ist und diese männliche Sexualität und die Begehrlichkeit lächerlich gemacht wird. Auch wenn hier die Männer die Heiden sind, ist es doch so, dass hier Männlichkeit ganz allgemein behandelt wird. Wir haben hier eine Stimme einer Frau, die sich tatsächlich traut, Männlichkeit und männliche Sexualität lächerlich zu machen, auch wenn sie es ganz geschickt mit einer Handlung absichert. Exkurs: Das Lachen der Frauen und die Macht: Im europäischen Mittelalter das wurde das Lachen von Frauen und Männern und deren gesellschaftlichen Bedeutung sowie deren Bedeutung für die Genderrollen kontrovers diskutiert. Es ist ein affektiver Bereich, der Symbole auf unterschiedliche Bedeutungen erzeugt, je nachdem, ob das Lachen von Männern oder von Frauen stammt. Wie überprüft man dieses Lachen? Wer lacht in den Texten? Als LiteraturwissenschaftlerInnen bedient man sich hierbei an den literarischen Figuren, die zur Verfügung stehen. Bei Hrotsvit kann man feststellen, dass ihre Texte voll Ironie sind und sehr ironisch aufgeladen sind. Dieser Humor ist in viele Richtungen ausdifferenziert. Er ist nicht nur komisch, sondern grotesk übertrieben und grausam. Dieser Humor hat die Funktion letztendlich die Frauen in der Hierarchie einer Position der Macht zuzusprechen und sie in der Hierarchie über die Männer zu stellen. Der Humor ist so, dass es positiven Frauenfiguren möglich ist, auch über den Kaiser zu lachen, was eigentlich ein Tabu ist. Das Lachen ist eindeutig ein Mittel der Macht, das immer wieder eingesetzt wird. Helga Kotthoff: “Das Gelächter der Geschlechter“ (1996/2001): Auch hier ist der Befund eindeutig, dass tatsächlich das exzessive Lachen von Frauen heutzutage zwar nicht tabuisiert wird, aber eher ein negatives Bild auf Frauen wirft, während das exzessive männliche Lachen anders begriffen wird. Man kann sagen, dass freies Lachen von Frauen sehr stark als Übertretung aufgefasst und oft sexuell konnotiert ist. Wenn man Hrotsvits Texte betrachtet, macht sie genau das Gegenteil: Sie macht das Lachen der Frau nicht zu etwas Negativen, sie folgt also insofern nicht dem patriarchalen Diskurs, sondern macht es zu einem Mittel der Macht. 6. Fall und Bekehrung der Maria, der Nichte des Eremiten Abraham: Dieser Text funktioniert ganz anders, als Dulcitius. 64 von 103 Inhalt: Abraham ist ein Stück, das nicht nur gewagte Inhalte behandelt, sondern auch in der Perspektivierung ziemlich ungewöhnlich ist, da es aus einer weiblichen Innenperspektive heraus funktioniert. Das ist etwas, das generell nicht üblich in der damaligen Zeit war - es gibt kaum Beispiele wo aus einer männlichen Innenperspektive heraus agiert wird. Es gibt zwei Hauptpersonen: den Eremiten Abraham und seine Nichte Maria. Abraham und sein Mitbauer Ephrem beschließen die 8-jährige Nichte vor dem männlichen Zugriff zu bewahren - gemeint sind vor allem die Heiden - und ihre Jungfräulichkeit zu bewahren. Abraham spricht mit Maria und sie stimmt zu. Daraufhin verbringt sie 20 Jahre in einer Klause. Eines Tages kommt ein als Mönch verkleideter Mann, der ein Zuhälter ist, dorthin und es gelingt ihm Maria zu entführen und in ein Bordell zu bringen. Sie wird auch von ihm verführt und sie wählt dieses Leben im Bordell letztendlich freiwillig, weil sie sich in ihn verliebt hat. Abraham bemerkt ihr Verschwinden und hört, dass sie sich dort befindet. Er verkleidet sich als Ritter, begibt sich in das Bordell und verlangt nach Maria. Er gibt sich zu erkennen und erinnert sie an ihr früheres Leben. Maria bricht zusammen und will wieder zurück. Sie bespricht mit ihm, was sie dafür tun müsse. Er erklärt ihr, dass sie bereuen müsse. Sie verlässt daraufhin mit Abraham das Bordell und verbringt ihr Leben in Einsamkeit und schwerer Buße. Interessant sind hier die Augenblicke des inneren Umbruchs Marias, die immer aus der inneren Perspektive beschrieben werden. Sie ist nicht eine Getriebene, sondern ihre Handlungen basieren aus dem Inneren. Wichtig ist, dass in der Szene, wo Abraham Maria ihm Bordell trifft, die Erinnerung sie zurückbringt. Eines der Hauptthemen ist nicht nur Bekehrung einer Sündigen, sondern das Sich-Bekehren aufgrund der eigenen Memoria. Die Erinnerung erweist sich hier in diesem Stück als vitale positive Kraft, die den Menschen vor dem Selbstverlust bewahrt. Eine weitere Motivation des Schreiben lässt sich hier herauslesen: Schreiben, um sich selbst nicht zu verlieren. Das ist ein sehr moderner Gedanke, den man durchaus zulassen kann, wenn man an Hrotsvit denkt. Erstaunlich sind hier die Männerrollen, da sie unsichere Rollen sind - es sind die Männer, die sich verkleiden: ein Verführer, der sich als Mönch verkleidet und einen Eremiten, der sich als Freier gebärdet. Allein die Tatsache, dass hier derartige Männerollen möglich sind, spricht für das subversive Potential der Hrotsvit. Es ist ein literarischer Topos bei Hrotsvit, der hier sehr deutlich formuliert ist, dass Mönche die lüsternsten Männer sind. Zusammenfassung: Verglichen mit Dulcitius wird in Abraham ein umgekehrter Weg des weiblichen Weges zu Gott gezeigt. In der ersten Phase der Handlung entscheidet sich die Frau gegen den Willen des christlichen Mannes und somit auch gegen die Ehe und für ein Eremitenleben. Dann kommt der christliche Mann, ihr Onkel Abraham, gegen den sie sich wieder entscheidet, weil sie ihr Leben als Prostituierte fristet, kommt aber dann wieder zurück, allerdings nicht, weil er sie holt, sondern weil sie sich an einen Zustand ihres Körpers und ihrer Seele erinnert, der ihr erstrebenswerter erscheint. Im Abraham gibt es auch Männer, die nicht heidnisch und gewalttätig sind, sondern christlich und gebildet. Man muss aber sagen, dass hier ein Verhältnis auf Augenhöhe passiert. 65 von 103 Abraham und seine Nichte werden tatsächlich als ein Paar auf Augenhöhe bezeichnet, er hat keine große Moralpredigt im Sinn, sondern es geht um den inneren Antrieb. In beiden Dramen ist es aber so, dass Ironie und Humor eine große Rolle spielen. 8. Vorlesung 10. Dezember 2015 Marie de France: „Die Lais“ Wir machen nun einen großen Schritt in das 12. Jahrhundert - zu einer Autorin, die in der Volkssprache auf Französisch geschrieben hat: Marie de France. Eine Autorin, die schon in der höfischen Zeit ihre Stimme erhoben hat: Wem Gott Wissen und Beredsamkeit gegeben hat, darf das nicht verschweigen und verheimlichen, sondern muß sich bereitwillig hervortun. Die Lais, »Prologue«, 1-4. Diese Begründung für das Verfassen eines Werkes ist in diesem zitierten Prolog nicht ohne Brisanz, da diese Rechtfertigung aus der Feder einer Frau stammt. Man sieht, dass hier ganz bewusst allgemein gesprochen wird, es wird also nicht zwischen Männern und Frauen getrennt. Man erkennt hier, dass Marie de France durchaus selbstbewusst agiert, auch wenn diese Begründung für das Verfassen zunächst einmal klingt wie eine typische Begründung, der man auch bei männlichen Autoren begegnet. Dieses Selbstbewusstsein begegnet uns auch im nächstem Zitat: Ich werde meinen Namen nennen, damit man sich an mich erinnert: Maria heiße ich, ich stamme aus Frankreich. Mag sein, daß viele Schriftsteller behaupten werden, mein Werk sei das ihre. Aber ich will nicht, daß irgendeiner es ihnen zuschreibt. Der handelt nämlich falsch, der nicht an sich selbst denkt. Äsop, »Epilogus«, 3-8. Was in diesem Zitat unmissverständlich ausgesprochen wird ist ihr Insistieren auf die Autorinnenschaft und sie legt auch Wert auf Nachruf, erhebt also Anspruch auf Memoria. So wie ihr Selbstbewusstsein, so sind auch ihre Motive ungewöhnlich, die sie für ihr Dichten nennt: »Wer dem Laster Widerstand leisten will, muß studieren und danach streben, ein schwieriges Werk zu beginnen, denn dadurch kann man sich eher davon fernhalten und sich von einem großen Schmerz befreien. Die Lais, »Prologue«, 23-27. Laster bedeutet hier ganz allgemein "schlechtes Leben" Marie de France betont hier Schreiben als eine Art Lebensstrategie/-entwurf. Müßiggang wäre beispielsweise so ein Laster. Schreiben ist somit gegen jede Form schlechten Lebens gerichtet. Was wissen wir nun über dieses Individuum, das hier spricht? Nahezu nichts, was sie aber nicht von den männlichen Autoren dieser Zeit unterscheidet - auch von diesen wissen wir nur sehr wenig. Das einzige, was man mit Sicherheit über sie weiß, ist, dass sie zur Zeit Heinrich II. (1133 - 1189) lebte, einem der wichtigsten Förderer französischer und lateinischer und höfischer Literatur. Auch am englischen Hofe wurde französisch gesprochen - eine lange Tradition. König Heinrich II. ist deshalb auch als jemand festzumachen, der ein Zeitgenosse Marie de France war, weil sie ihm wahrscheinlich eine Werkgruppe gewidmet hat. 66 von 103 Das Anglonormannische: Die anglonormannische Sprache (franceis, fraunceis oder romanz) ist eine romanische Sprache, die die normannische Oberschicht nach der Eroberung Englands im Jahre 1066 aus Frankreich mitbrachte. Sie unterschied sich von Anfang an von der Sprache der Île-de-France. Nach der Trennung zwischen den britischen Inseln und der Normandie im frühen 13. Jahrhundert entfernte sich das Anglonormannische weiter vom festländischen Französisch, was z. B. in Geoffrey Chaucers Beschreibung der Prioresse im Prolog der Canterbury Tales zum Ausdruck kommt: And Frensh she spak ful faire and fetisly After the scole of Stratford atte Bowe For Frensh of Paris was to hire unknowe (124 – 126). Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts blieb Anglonormannisch (neben Latein) Sprache des englischen Hofs, der Verwaltung und Justiz. In der Literatur wurde es seit Mitte des 13. Jahrhunderts vom Mittelenglischen abgelöst. Eine Sprache der Oberschicht, der Adligen, aber auch eine der Literatur - neben dem Lateinischen. Erst in der Mitte des 13. Jhdts. hat man in Britannien dann in Mittelenglisch gedichtet. 1. Ihre Werke: 1. Ysop (Sammlung von 102 Fabeln): die sie wahrscheinlich auf der Basis einer lateinischen Vorlage gedichtet hat. Sie hat damit die volkssprachliche Ysoptradition eingeleitet. 2. Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii: Eine Fegefeuerexpedition eines irischen Ritters, gestützt auf einen lateinischen Bericht. Marie de France hat hier eine Verifizierung des Prosatextes durchgeführt und auch wiederum deutlich gemacht, dass sie auch kanonische Texte angehen kann. 3. Die Lais (12 kurze Verserzählungen): man könnte hier fast schon von Novellenstrukturen sprechen. Diese 12 beschäftigen sich mit keltischen Sagenstoffen, die wichtig für die Literatur dieser Zeit waren. Die keltischen Sagenstoffe waren die modernsten Stoffe für Literaturproduktion überhaupt. • Guigemar oder Guingamor • Equitan • Le Fresne ('Die Esche') • Bisclarvet • Lanval • Les deus amanz ('Die beiden Liebenden') • Yonec • Laüstic • Milun • Chaitivel • Chievrefeuil (=Geißblatt) • Elidu Man hat in der Forschung immer wieder versucht mehr über Marie de France herauszufinden und es gibt einige Indizien darauf, dass sie mit der Äbtissin Mary von Shaftesbury, eine Halbschwester Heinrich II. und eine illegitime Tochter Graf Gottfried IV. von Anjou, gleichzusetzen ist. Wenn sie aus diesem Königshaus stammt, so würde sie zum höchsten Adel gehören, was ihre umfassende Ausbildung, die in ihren Werken erkennbar sind, erklären würde. Wir wissen auch, dass sie sehr mit dem zeitgenössischen Gerichtswesen vertraut war, auch dem Kirchenrecht, was wiederum auf eine weltliche Karriere schließen würde. Sie hat teilweise die Themen sehr frei verhandelt, vor allem im Zusammenhang mit Liebesfragen. Das würde wiederum dafür sprechen, dass sie am Hofe aufgewachsen ist. Wir können uns aber nur auf ihr schriftstellerisches Programm verlassen: Deshalb dachte ich zuerst daran, irgendeine gute Geschichte zu verfassen und sie vom Lateinischen ins Französische zu übertragen; aber das würde mir kaum Anerkennung einbringen: So viele andere haben sich schon das zur Aufgabe gemacht! Ich dachte an die Lais, die ich gehört hatte. Ich hegte keinen Zweifel daran, ja ich wußte es wohl, daß diejenigen, die sie zuerst begannen und die sie weiterverbreiteten, sie zur Erinnerung an die abenteuerlichen Geschehnisse verfertigten, die sie vernommen hatten. Mehrere davon habe ich erzählen 67 von 103 hören und ich will sie nicht auf sich beruhen lassen und vergessen. Ich habe einige davon in Reime gefaßt und eine Dichtung daraus gemacht, oftmals bin ich deshalb wach geblieben. Die Lais, »Prolog, 28-42. Sie reflektiert über ihre Beweggründe des Schreibens, und welche Stoffe dafür geeignet wären. Die mittelalterliche Literatur muss sich immer auf bestimmte Stoffe berufen. Es gibt keine Schöpfung allein aus einem Genie oder einem Gedächtnis heraus, sondern man berief sich auf bereits vorhandene Geschichten und hat diese literarisiert. Es geht hier um eine mündliche Literatur, die nicht immer schon verschriftlicht war. Sie stellt sich in eine historische Erzähltradition und übernimmt einen Gestus, den wir beim berühmten Erfinder des Artusromans Chrétien de Troyes finden: sie sagt, dass sie mündliche Erzählungen aufgreift und in Dichtung bringt, damit sie nicht vergessen wird. Die Form der Lais ist ähnlich der gebundenen Rede, sie verwendet 8-silbige Paarreime, in der sie die Geschichte verfasst. Sie will die mündliche Poesie verschriftlichen und damit die bessere Bewahrbarkeit gewährleisten. Matière de Bretagne - keltische Sagenstoffe: Hier gab es vor ihrer Zeit zwei wichtige männliche Autoren: Geoffrey von Monmouth und Wace, das sind jene zwei Autoren, die als erstes die mittelalterliche keltische Sagentradition - vor allem die Artusgeschichte - verschriftlicht haben, wobei sie es eher als Chronik des britannischen Volkes und Erzählguts aufgefasst haben. All das wurde also nicht als Fantasie, sondern als tatsächliche Ereignisse in heroischer Vorzeit bezeichnet. Chrétien de Troyes ist derjenige, der einen Schritt hin zur halbfiktionalen Erzählweise durchgeführt hat, indem er gesagt hat, dass der Sinn der Geschichte weniger in der historischen Wahrheit, als in dem moralischen und idealen Gehalt, der in dieser Geschichte von König Artus uns der Tafelrunde steckt. Marie de France macht mit ihrer Lais noch eine andere Wendung, weil sie die Stoffe in gewisser Weise in eine andere Sichtweise umkehrt. Sowohl bei Geoffrey von Monmouth, als auch bei Wace und Chrétien de Troyes sind die Geschichten sehr männerbezogen - es geht also vor allem um die ritterliche Bekehrung, um Kampf und um heroische Bewährung - was bei Marie de France nicht so ist. Sie errichtet mit ihren Geschichten einen ganz eigenen poetischen Raum, wo vor allem die Frauen im Mittelpunkt der Geschehnisse liegen, auch wenn sie nicht titelgebend sind. 2. Minnekultur des Mittelalters: Sie entwickelt und betont noch deutlicher als Chrétien de Troyes die Minnekultur der höfischen Gesellschaft und die Frage der Liebe in diesen Texten. Das hat mit der Minnekultur des Mittelalter zutun, die in Frankreich früher an den Höfen gepflegt wurde. An den französischen Höfen wurde so etwas wie ein Gesellschaftsspiel betrieben, das zum Thema die höfische Liebe hatte. Dichtung und Gesellschaftsspiel wurden miteinander verknüpft. An den hochadligen Höfen wurde über Liebe diskutiert, es wurden Liebesgedichte vorgetragen, es fand Minnereflektionen statt, es wurden Traktate vorgelesen. Liebe wurde nach allen Richtungen auf ihren Gehalt hin befragt, es wurde die psychische Befindlichkeit der Liebe analysiert, es wurde gefragt welchen Stellenwert die Liebe in der Gesellschaft hat, es wurde über das Rechteverhalten in der Liebe resümiert und dieses Spiel wurde sehr ernst genommen - es war DAS dominante Thema des höfischen Adels. 68 von 103 Warum hat gerade das Liebesthema einen derartigen „Boom“ ab dem 12. Jhdt. erlebt? Denn letztendlich war die Gesellschaft, zumindest was die Realität anbelangt, längst nicht soweit. Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich in der adligen Praxis selbst, vor allem in der adligen Eheschließungspraxis, denn die adligen Ehen waren keinesfalls Liebesehen, sondern zu 95% arrangiert - Liebe spielte kaum eine Rolle und Sexualität wenn überhaupt nur als Form der Fortpflanzung. Vor- und außereheliche Sexualbeziehungen von Männern waren Gang und Gäbe und auch selbstverständlich. Zumeist waren diese zu niedergestellten Frauen. Liebe und Ehe waren an sich unvereinbar, was auch die Liebeslehre („De Amore“) von Andreas Capellanus besagt. Diese besagt, dass wahre Liebe in der Ehe nicht möglich ist. Wenn nicht in der Ehe, wo dann? Die Antwort darauf ist: nur in außerehelichen Beziehungen. Das war vor allem für Frauen äußerst gefährlich, da außereheliche Beziehungen von Frauen wesentlich strenger verurteilt wurden, als die von Männern. Ein berühmter Roman, der diese Thematik deutlich aufgreift ist der Roman Tristan und Isolde. Diese Liebesgeschichte hat keltischen Ursprung. Auch der Artusstoff ist nicht ganz frei von dieser Form des Ehebruchs, wenn man an Artus’ Frau Guinevere und ihr Liebesverhältnis zu Lanzelot denkt. Diese Liebeskultur ist aufgrund von realen Bedingungen entstanden. Jetzt könnte man fragen, warum die Männer der höfischen Gesellschaft so ein großes Interesse gehabt haben sollen Liebe zu diskutieren? Es ist zu vermuten, dass es vor allem die adligen Frauen waren, die ein großes Interesse an diesem Thema hatten und die auch eine wichtige Funktion im mittelalterlichen Literaturbetrieb hatten. Adlige Frauen waren wichtige Mäzeninnen. Drei davon sind: • Ermengarde von Narbonne • Eleonire von Aquitanien • Marie de Champagne Diese Frauen sind erwiesenermaßen große Förderinnen der höfischen Literatur und der höfischen Liebe. Frauen waren in ihren Ausrichtungen auf ein Liebesobjekt, egal ob nur auf einer emotionalen Ebene oder auf einer körperlichen Ebene, sehr eingeschränkt. Wir wissen, dass sie hart bestraft wurden, teilweise auch mit dem Tod, wenn der Ehebruch aufgedeckt wurde - zumeist vom Ehemann, der das in dieser männlich-dominierten Welt als enorme Kränkung aufgefasst hat. Wurde der Mann dabei erwischt, musste er sich zwar einem Gerichtsprozess stellen, aber zumeist freigesprochen. Man kann sagen, dass es sehr viel Rollenspiel war. Wenn so ein Gesellschaftsspiel stattgefunden hat, so hat ein Minnesänger oder Troubadour ein Lied vorgetragen, das anders war, als wir es im deutschsprachigen Bereich gewohnt sind, durchaus direkt an eine Dame gerichtet. Sehr oft ist er als Liebender aufgetreten und hat eine Art Dreiecksverhältnis inszeniert oder provoziert. Das heißt also, dass für dieses Rollenspiel auch höfische Liebesdichtung sehr stark rhetorischen Mustern unterworfen war - es gab also großes Interesse an der Kunstfertigkeit. 69 von 103 Ein dominantes Genre in den höfischen Spielen war zB das inszenierte Streitgespräch mit sogenannten Nonsensfragen („Ist es dir lieber, es im Winter warm zu haben, als im Sommer eine Geliebte?“ oder „Ist der Pfarrer der bessere Liebhaber oder der Ritter?“). Es sind spielerische Elemente - Frauen und Männer übernahmen die Rolle der einen oder anderen Position, und es wurde ein Streitgespräch geführt, wo es gar nicht so sehr um die Lösung ging. Es ging um das Besprechen der Liebe. Es war eine Kultur, die genau dieses Gefühl präsent gehalten hat und dafür gab es Möglichkeiten des Ausdrucks - bis hin zur Parodie und zum Spott, aber auch zu sentimentalen und schönen Liebesgedichten. Innerhalb dieser höfischen Kultur hat Marie der France einen eigenen individuellen Klang, da sie die Liebe - und das ist ungewöhnlich - aus der Sicht einer Frau darstellte, die diese Liebeskultur nicht teilt und sich über die feudale Heiratspolitik und die frauenfeindliche Doppelmoral empört. Sie nimmt tatsächlich auch realistische Gegebenheiten auf und kritisiert sie. Marie de France sagt selbst einmal, wie es kommt, dass eine Frau nicht frei wählen darf, während andererseits rüpelhafte Höflinge sich leichtfertig durch die ganze Welt hindurch vergnügen und dann damit prahlen. Sie spricht die sexuelle Unterdrückung der Frau mit ungewohnter Offenheit aus und bezeichnet das als Doppelmoral. 3. Yonec: Eine junge Frau wird von ihren Eltern an einen sehr alten Mann verheiratet, der deshalb heiraten will, um Erben zu zeugen. Dieser eifersüchtige Alte sperrt sie in einen Turm, weil er verhindern will, dass seine junge schöne Frau sich mit anderen Männern vergnügen will. In diesem Turm ist sie dann eingesperrt und wird von der alten Schwester ihres alten Mannes bewacht und ist von den Menschen isoliert. Sie wird krank vor Kummer und entstellt und bejammert ihr Unglück: Mein Schicksal ist sehr hart! In diesem Turm bin ich gefangen, nie werde ich da herauskommen, es sei denn durch den Tod. Dieser eifersüchtige Alte, wovor fürchtet er sich, daß er mich in so strenger Haft hält? Er ist so überaus töricht und dumm! ... Verflucht seien meine Eltern und all die anderen, die mich diesem Eifersüchtigen zur Frau gaben. Die Lais, »Yonec«, 68-83. Sie verflucht ihr Schicksal, aber Gott selbst erhört ihr Gebet und schickt ihr auf märchenhafte Weise einen Geliebten. Dieser kommt immer dann, wenn sie ihn herbeisehnt. Es ist so etwas wie eine Utopie, die durch die höchste Instanz legitimiert wird. Sie privilegiert die weibliche Fantasie, die Fähigkeit sich in andere Räume, Zusammenhänge und Lebensformen hineinzudenken. Damit schafft sie einen Sehnsuchtsraum, der nicht in der Kemenate der einzelnen Frau bleibt, sondern durchaus an die Öffentlichkeit des Hofes tritt. Denn wir wissen aus Rezeptionszeugnissen, dass ihre Dichtungen großen Erfolg hatten und an den Höfen vorgetragen wurden. Ein weiterer Aspekt ihrer Sichtungen ist, dass sie zwar ein Mitglied des höchsten Adels ist, aber die extreme Schwarzweißmalerei nicht mitmacht, was die Stände anbelangt. Die Liebeskultur des Adels war höchst elitär, so sehr, dass sie für sich behauptet haben, dass nur Adelige lieben könnten - Bauern wären zu grob dafür. Die Bauern wurden in den höfischen Dichtungen immer wieder diskriminiert. 70 von 103 Marie de France wiederum hat einen Blick auf den Adel, den man durchaus als kritisch bezeichnen kann. Sie sagt, dass die Artuswelt keinesfalls ein Ort der Vollkommenheit ist. Sie äußert das Recht der Frauen und kritisiert den Hof und die Gepflogenheiten des Adels. Wie ist das überhaupt möglich? Wie kommt sie durch die männliche Zäsur? Sie macht das mit einem literarischen Trick, indem sie diese Hofkritik in ein märchenhaftes Gewand kleidet. Sie ist diejenige, die in gewisser Weise den fiktionalen Raum der Literatur nutzt, um Aussagen zu treffen, für die sie in der Realität belangt werden kann. Sie kann sich immer darauf beziehen, dass sie sich letztendlich im Raum der Literatur bewegt. Dass sie diesen Raum der Literatur trotzdem als einen Art Echoraum für die Realität begreift sehen wir an einem Beispiel, wo sie die Erzählung vom Wolf und Lamm als Aussage für die Gerichtsbarkeit der Herrschenden deutet: So nahm der Wolf das kleine Lamm, erwürgte es zwischen seinen Zähnen und brachte es um. Das tun auch die hochgestellten Räuber, die Vizegrafen und Richter mit denen, die sie unter ihrer Gerichtsbarkeit haben. Aus Habgier finden sie eine falsche Anklage, die ausreicht, um sie zu Grunde zu richten; oft lassen sie sie zu Gericht zusammenrufen: sie nehmen ihnen ihr Fleisch und ihre Haut, so wie es der Wolf dem Lamm tat. Äsop, 11, 29-38. Sie drückt sich hier ganz klar aus, wenn auch als Kommentar zu der Fabel. Wenn man das Lamm als Frau bezeichnet ist es auch durchaus eine Anspielung auf Prozesse gegen Frauen, die nicht sehr oft für die Frauen ausgegangen sind, da Gerichtsbarkeit ausschließlich in männlicher Hand war. Marie de France war erstaunlich „sozial“ gestimmt, denn in einer weiteren Fabel sagt sie etwas über die Armen und Nicht-Adligen: sie sagt, dass auch diese ein Widerstandrecht, sogar eine Widerstandspflicht hätten. Sie hat ihren Zorn und ihre Hoffnungen in poetisch schöne Bilder eingekleidet. Diese Bilder wirken wie Traumbilder, sie bleiben geheimnisvoll, sind aber trotzdem unmittelbar verständlich. Die Märchen, die Marie de France entwirft, sind tatsächlich ein Gegenentwurf zu der Welt, in der sie sich befindet und sie sind Utopien. Die Gattung der Utopie war zu dieser Zeit noch nicht vorhanden. Sie entwirft sozusagen etwas, was wir dann ganz konkret bei einer Frau aus dem 14. Jahrhundert haben: Christine de Pizon, die mit ihrer „Stadt der Frauen“ tatsächlich so etwas wie ein utopisches Frauenreich entwirft. Es sind magische Momente, die die Protagonistinnen aus misslichen Situationen herausheben, aber im Magischen bleiben, ähnlich wie bei dem vorigen Beispiel von der Frau, die von ihrem Gatten in den Turm gesperrt wurde. Es wird ein Geliebter geschickt, aber niemand kann das sehen, weil es im utopischen Bereich bleibt. Auch grelle Effekte werden gewissermaßen aufgelöst, was ihre Poetik von ihren männlichen Zeitgenossen unterscheidet. Dennoch wirken ihre Metaphern bei aller Kritik spielerisch leicht. Die Metapherngenauigkeit ist da, sie ist sehr präzise sie sind einerseits undeutlich, andererseits aber auch sehr klar. Was dahinter steckt ist künstlerische Präzisionsarbeit. Ihre Texte sind sehr genau und präzise gebaut, was etwas ist, dass sie durchaus weiß und mit Selbstbewusstsein formuliert: Dichter, die sich in den Büchern, die sie einst verfaßten, recht dunkel ausdrückten, damit diejenigen, die nach ihnen kommen und die Bücher studieren sollten, deren Text auszudeuten und vermöge ihres eigenen Verstandes das über den Text Hinausgehende hinzu zufügen vermochten. Die Philosophen wußten und verstanden es aus sich selbst heraus, daß die Menschen, je weiter die Zeit fortschreiten würde, einen umso feinsinnigeren Verstand bekämen und sich desto mehr davor zu hüten vermochten, das zu übergehen, was in den Büchern stand. Lais, »Prologue«, 11-22. 71 von 103 Sie ist sozusagen ganz bewusst, was ihre literarischen Mittel anbelangt. Sie will keinen dunklen, sondern einen klaren Stil, den man auch noch in der Nachwelt vergnügt lesen kann. Sie wünscht sich die Philosophen und feinsinnigen Menschen als Rezipienten. Es wird also ganz klar der Rezeptionskreis angesprochen - es geht um die Literaturelite. Sie weiß aber auch, dass es sarkastische Äußerungen und verleumderische Äußerungen geben wird. Marie de France war als schreibende Frau starker Kritik ausgesetzt: ... wenn es in einem Land einen Mann oder eine Frau von hohem Ansehen gibt, dann sagen ihnen diejenigen, die auf ihre Vorzüge neidisch sind, oft Gemeinheiten nach: Sie wollen ihr Ansehen herabsetzen; deshalb beginnen sie das Geschäft des bösartigen, feigen, arglistigen Hundes, der die Leute hinterlistig beißt. Keinesfalls will ich deshalb aufgeben, auch wenn Spötter und Verleumder es mir als Fehler auslegen wollen: Das ist ihr Recht, üble Nachrede zu führen. Die Lais, »Guigemar«, 7-18. Es ist wiederum sehr klug argumentiert von Marie de France, dass sie von Mann und Frau spricht. Sie stellt sich nicht allein als eine Frau dar, die etwas vermag, sondern sie ist jemand, die in ihren Vorzügen mit den Männern, die diese ebenfalls haben, eins ist. Wir wissen von den Zeitgenossen wenig über sie, es gibt wenige Zeugnisse der Rezeption. Meist sind es missbilligende Äußerungen von männlichen Kollegen, die ihre Erzählungen unter anderem als märchenhaft beschreiben. 4. Lanval: Lanval ist ein vorbildlicher Ritter im französischen Chevalier, ein Königssohn, der alle ritterlichen Tugenden besitzt. Ungewöhnlich dabei ist, dass er zwar alle ritterlichen Tugenden hat, diese aber am Artushof nicht erkannt werden. Der Artushof ignoriert den Ritter, das geht sogar so weit, dass Artus zu einem Pfingstfest, wo alle seine Ritter der Tafelrunde beschenkt werden, Lanval einfach vergisst. Warum wird nicht genauer gesagt, er ist auf jeden Fall unter den Artusrittern nicht berücksichtigt und damit gleichzeitig ein Ungleicher. Hinzu kommt, dass er aus der Ferne kommt und sein ganzes Vermögen ausgegeben hat, um König Artus zu dienen, was keinesfalls honoriert wird. Das ist ein typisches Motiv - das Erzählmotiv des übergegangenen Helden. Artus wird hier einfach Vergesslichkeit unterstellt. Lanval reagiert darauf traurig und betrübt, er ist damit aus der Artusrunde isoliert und erhält keinerlei Unterstützung. Damit entschließt er, den Artushof zu verlassen. Der Artushof, wie er sich hier darstellt, ist kein Hof der Tafelrunde - die männliche Ordnung ist gestört, es herrscht Ungleichheit, Missgunst, Neid und Falschheit. Die Idealität des Artushofes ist nur dann gewährleistet, wenn das Kollektiv funktioniert. Die Realität des Artushofes ist nicht auf Individualität aufgebaut, dafür spricht auch das Symbol des runden Tisches - es ist keine Einzelner hervorgehoben. Die Artusrunde sollte also als Kollektiv von Männern funktionieren, wo es keine Rangunterschiede gibt. König Artus ist in dieser Geschichte nichts anderes, als der Kumulationspunkt aller Identität - auch er ist nichts ohne seine Ritter. Zum Artushof gehören zwar in den herkömmlichen Erzählungen auch die Frauen, die aber eher diejenigen sind, die die Artusidealität stören. Zu Zeiten Marie de France’ ist die Artusrunde aber noch das Zeichen einer idealen männlichen Gesellschaft. Und genau von dieser geht Lanval weg. 72 von 103 Lanval reitet davon und steigt von seinem Pferd ab. Das ist eine ganz wichtige Geste, denn Chevalier-Ritter sind Pferdemenschen - ohne ihr Pferd sind sie nichts. Auch in der Artusdichtung spielen Pferde eine ganz elementare Rolle. Er entledigt sich damit einem Teil seiner Männlichkeit, seines Rittertums. Er entspannt sich und schläft ein. Er sieht eine wunderschöne Frau. Es folgt eine Traumsequenz, er sieht dort genau das, was man dem Artusreich nachsagt: eine Wunschwelt voller Schönheit und Reichtum, es ist ein Feenreich. Die Frau, die Lanval sieht ist eine wunderschöne Fee. Man kann sofort sagen, dass diese Wunschwelt, die er erträumt, die Welt des Weiblichen. Diese ist auch die Welt der Liebe, nicht nur für das männliche Individuum. Die Fee lädt in ein, in ihre Zelt zu kommen, in dem es zu einer gegenseitigen Liebe kommt, das heißt, beide verlieben sich ineinander. Diese Gleichzeitigkeit wird besonders betont. Diese Liebe führt auch in die erotische Vereinigung, die auch etwas ganz wichtiges ist, womit sie das Recht der Frau auf Erotik und Sexualität betont. Diese Traumwelt ist eine Welt der erotischen Erfüllung und es kommt zu einem Bruch: die Fee schlägt Lanval vor, dass er wieder in das Artenreich zurückkehrt, um seine Rehabilitation als ritterlicher Mann für sich selbst als Individuum zu bekommen. Sie verspricht ihm dafür Reichtum, er darf aber keinesfalls etwas von ihrer Existenz verraten. Er darf sein individuelles Glück also nicht öffentlich kundtun. Lanval kehrt nun als reicher Ritter zu diesem Adel zurück und wird als solcher erkannt, allerdings teilweise neidisch erkannt - der Neid als Element am Artushof bleibt also. Das Glück und die Freude der anderen ist nur ein partikulares. Hinzu kommt, dass in der Welt des Artushofes nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen problematisch sind, vor allem an der Gestalt von Artus’ Frau Guinevere. Sie bemerkt, dass Lanval nicht nur reich, sondern auch außergewöhnlich schön ist. Sie will ihn verführen. Guinevere macht das, was einige höfische Frauen tun mussten, sie sucht sich ein Liebesobjekt. Lanval weist sie aber zurück, nicht nur, weil er nichts mit der Königin anfangen will, sondern weil er ein Vasall ihres Mannes. Er erweist sich damit als loyal und bleibt so in seiner Vasallenpflicht. Die Königin ist damit nicht erfreut und wirft ihm darauf Homosexualität vor. Er antwortet ihr daraufhin, dass er in eine Frau verliebt ist, die tausend Mal schöner ist als sie. In dem Moment hat er sein Schweigegebot gebrochen, womit er todunglücklich ist. Die Königin geht daraufhin zu Artus und meint, Lanval hätte sie verführen wollen. Artus glaubt seiner Frau und es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, die Lanval völlig passiv hinnimmt, weil er aufgrund des Bruchs seines Gelöbnisses vollkommen verzweifelt ist. Die Loyalität gegenüber Lanval ist am Artushof nicht vorhanden, niemand solidarisiert sich mit ihm, außer Gawan, der in der Artusdichtung immer als idealer Ritter dargestellt wird. In die harte Realität der Gerichtsverhandlung kommt die übernatürliche Sphäre - die Fee. Die Fee ist die einzige, die ihrem Geliebten trotz des Brechen des Gelübdes beisteht. Es wird geschildert, dass Artus bereits ungeduldig ist, da die Vasallen sich mit dem Gerichtsspruch Zeit lassen. Die Königin selbst drängt zu einem Ergebnis. Die Fee taucht auf, und ihr Aufzug in die Art ihrer Erscheinung führt zu einer totalen Beschämung der Artuswelt. Die Beschämung ist sehr gut inszeniert, da sie König Artus duzt und ihm erklärt, dass er falsch urteilen würde. Die Königin müsse einsehen, dass die Jungfrau, die da heran kommt, wesentlich schöner ist, als sie selbst. Der Ausweg, den Marie de France findet für ihren Lanval findet, ist ein interessanter, es ist der Ausweg des Einzelnen. Zusätzlich zu der Traumwelt stellt sie die Wünsche des Individuum hin. Lanval und die Fee beschließen vom Artushof wegzugehen und nach Avalon zu gehen, dem Reich 73 von 103 des Übernatürlichen und der Glückseligkeit. Marie de France trennt somit die beiden Welten. Sie gehen also in die Individualität. Es heißt dann, dass man von den beiden nie wieder etwas gehört hat. Es findet also eine keine Versöhnung, sondern eine Entrückung statt, die Vision wird aufrechterhalten. Gleichzeitig wird damit auch angesprochen, dass die Sehnsucht des Individuum nach einem persönlichen Glück in einer derartigen Gesellschaft, wie sie von dem Artushof repräsentiert wird, nicht möglich wäre. Eine radikalerer Kritik könnte kaum formuliert werden. Es ist ein moderner Zugang, den man sonst in dieser kollektiv denkenden Männerwelt so nicht hat. Es ist ein Versuch, Individuelles zu betonen und es ist ein klares Bild, dass der Realität vorgehalten wird und es wird die Problematik aufgezeigt, die zwischen den Ansprüchen einer höfisch-adligen Gesellschaft und einem Einzelnen besteht. Zwar ist die Hauptperson ein Mann, aber die Wünsche und Sehnsüchte sind nicht rein-männlich, sondern sie sind auch die der Fee. Der Traum, den der Mann hier hat, ist ein Traum nach einem weiblich definierten Raum, einem ruhigen Raum der Selbstbestimmung. 5. Fresne: Hier haben wir eine weibliche Protagonistin. Der Text ist keine Märchenfantasie, er ist in mehrerer Hinsicht nicht ganz einfach zu verstehen. Die Geschichte selbst ist ganz einfach: Es gibt zwei edle reiche Ritter mit zwei Frauen, miteinander befreundet sind. Die Frau des einen Ritters bekommt Zwillinge, worauf die zweite Frau eifersüchtig reagiert, da sie selbst noch kinderlos ist. Sie setzt das Gerücht in die Welt - das zu dieser Zeit ein realistisches war - dass eine Geburt mit Zwillingen nur deshalb möglich ist, wenn man sich mit zwei Männern vergnügt hat. Dieses Gerücht führt dazu, dass die andere von ihrem Mann verstoßen wird. Auch die Zwillinge selbst werden nicht als rechtmäßige Erben anerkannt. Zur Strafe bekommt die Verleumderin dann aber auch Zwillinge - zwei Mädchen - und sie überlegt, eines der Mädchen zu töten. Kindstötung, vor allem die Tötung von Mädchen, waren im europäischen Mittelalter keinesfalls die Ausnahme. Eine Zofe dieser Frau schlägt aber einen anderen Weg vor, den der Aussetzung. Die Mutter wickelt das Kind in ein kostbares Seidentuch und gibt ihr einen Ring mit, damit die hohe Herkunft gekennzeichnet ist. Sie legt dieses Kind in eine Esche - daher der Name Fresne - und eine Äbtissin findet das Baby und adoptiert es. Das Mädchen ist nicht nur klug, sondern auch außergewöhnlich schön und dieser Ruf verbreitet sich im ganzen Land. Ein Edelmann hört von ihr, sucht das Kloster auf und bittet um ein Gespräch. Die Äbtissin lässt es zu und lässt die Adoptivtochter alleine mit dem Mann. In diesem Gespräch verführt er das Mädchen, es beruht aber auf Gegenseitigkeit und er besucht sie daraufhin öfter. Letztendlich haben wir eine Flucht aus dem Kloster, was aber erneut auf Gegenseitigkeit beruht. Beide flüchten aus dem Kloster und er bringt sie auf seine Burg. Auf dieser Burg führt sie aber das Leben einer Konkubine. Die Verbindung der beiden wird nicht legitimiert, allein deshalb, weil er nicht ihrer Herkunft weiß, und Ebenbürtigkeit war sehr wichtig zu dieser Zeit - es ist fast unmöglich, wenn nicht sogar gänzlich ausgeschlossen, eine Frau niederen Ranges zu heiraten. Die Vasallen des Ehemannes raten ihm zu heiraten, um Erben zu bekommen. Die Wahl fällt auf die Zwillingsschwester von Fresne, Codre (zu deutsch: Hasel). Die Geschichte nimmt nun eine erstaunliche Wendung. Fresne nimmt die Entscheidung ihres Geliebten, eine andere Frau zu 74 von 103 heiraten, vollkommen an und gehört somit zu den duldsamen Ehefrauen. Entscheidend ist hierbei, dass sie Fresne zur Märtyrerin ihrer eigenen Liebe macht. Sie nimmt das Schicksal, dass die einen Mann liebt, der eine andere heiraten muss, demütig an. Dennoch löst sich die Geschichte sehr gut auf, denn am Tag der Hochzeit legt Fresne ihr Tuch auf das Brautbett. Die Mutter erkennt es rechtzeitig, erkennt ihre Tochter und erzählt dem Ritter von der Aussetzung. Daraufhin wird die Hochzeit abgesagt und Fresne kann ihn heiraten. Es gibt zwei Aspekte, die bemerkenswert sind: die erotische Beziehung des Paares, die eine außereheliche ist, und im Kloster beginnt. Sie wird mit keinem Wort negativ erwähnt. Diese erotische Liebe wird als gegenseitige bezeichnet, genauso wie die nicht erotische. Für Fresne ist die Liebe eine Art Gewinn ihrer Identität. Die unerschütterliche Liebe und demutsvolle Haltung ist hier also positiv gekennzeichnet. Warum? Diese Liebe ist selbstgewählt, denn die Entscheidung mit dem Mann zu flüchten, geht von ihr aus, weil sie ihn so liebt. Das ist etwas, was im patriarchalen Diskurs durchaus vorkommt, es ist nicht neu. Geschichte von Griselda Eine Geschichte, die in Boccaccios „Decamerone“ steht: es ist nichts anderes als das Muster der vollkommen duldsamen Frau, die alles aushält, um ihrem Mann genehm zu sein. Hier kann man von nichts anderem als sadistischen Fantasien des Ehemannes ausgehen: er nimmt der Frau die Kinder weg, er heiratet zum Schein eine andere, nur um festzustellen, ob seine Frau tatsächlich eine duldsame Frau ist - ganz anders als bei Marie de France. Das Märtyrerinnenmodell ist nicht nur ein äußerst positives, sondern dieses Vorstellen der duldsamen und in jeder Beziehung treuen Frau, ist nichts anderes als ein Anschreiben gegen das misogyne Bild dieser Zeit, da die Frau als wankelmütig, untreu und sexuell zügellos bezeichnet wird. Marie de France will zeigen, dass es auch anders geht, vorausgesetzt, die Liebe ist eine selbstgewählte. 9. Vorlesung 17. Dezember 2015 Frauenlieder Lieder von Frauen Wir haben es mit einer Gattung zutun, die, was den deutschsprachigen Minnesang anbelangt, fest in der Hand der Männer liegt: die Gattung der Lyrik. Das ist aber nicht 100%ig der Fall, es gibt durchaus auch Lyrik von Frauen, wenn auch nicht im deutschsprachigen Raum. 1. Mittelalterliche Frauenlieder Frauenlieder sind zunächst einmal eine Untergattung des Minnesangs, es sind zumeist Monologe, in denen das lyrische Ich eine Dame ist. Verfasst wurden sie aber ziemlich sicher von Männern, zumindest sind sie in den lyrischen Sammlungen unter Männernamen verzeichnet. (zB „Unter der Linde“ von Walther von der Vogelweide). Frauenlieder sind innerhalb des Minnesangs eine eher kleine Gattung, also nicht sehr häufig. Neben den Monologen kommen auch dialogische Lieder 75 von 103 vor, zumeist mit einem Boten. Es ist auch eine erotische Gattung dabei, wo das lyrische Ich ebenfalls eine Frau ist. Die Männer, die dieses in Szene setzen, formulieren über diesen Umweg Gedanken über die Liebe. Man kann sich das so erklären, dass man die mittelalterliche Lyrik als Rollenlyrik begreifen kann und soll - es geht um die Literarisierung der vorgestellten, nicht unbedingt der erlebten Erfahrung. Es ist etwas, das für die mittelalterliche Dichtungsauffassung durchaus selbstverständlich war, denn es geht um die Norm- und Wunschvorstellung. Lyrik ist auch ein Ausdruck der höfischen Liebeskultur, dieser Mode, möglichst vielfältig über das Phänomen Liebe zu sprechen. Es ging also nicht darum, einen radikalen neuen Gedanken zu formulieren, sondern möglichst neue Varianten des Ausdrucks zu finden. Wie kann man also den Satz "Ich liebe dich" so zu formulieren, dass es trotzdem einen individuellen bedeutsamen Namen bekommt? Der Sprecher meint in diesem Moment schließlich etwas Besonderes. Wie kann dieser Gedanke mittels rhetorischer Mittel und kunstvollen Sprachformulierungen also einzigartig gemacht werden? Liebesgedichte und das Sprechen über die Liebe ist natürlich in einem gesellschaftlichen großen Kontext etwas anderes, als es „face-to-face" zur geliebten Person zu sagen. Es gibt für den mittelalterlichen Poeten also immer dem Anspruch möglichst mit Nuancen eine ästhetische Qualität dieser Liebeslyrik zu gewinnen, die ihn von den anderen Autoren abhebt. Frauenlieder funktionieren ähnlich, sie sind ebenfalls zunächst einmal ein Trick der Männer, etwas zu imaginieren, was sie von sich aus nicht haben können: die Sichtweise einer Frau. Typologie • das weibliche lyrische Ich berichtet über ihre Liebe und Sehnsucht zu einem Mann und über ihre Sorgen bezüglich ihrer Minne die frouwe beauftragt in einigen Frauenliedern einen Boten, um dem Geliebten eine Nachricht zu überbringen • • sie ist einerseits zurückhaltend und möchte ihre Ehre bewahren • andererseits äußert sie deutlich ihre Zuneigung • sie befindet sich in einem Dilemma: sie wägt ihr persönliches Glück mit ihren Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und ihrem Ruf bzw. ihrer Ehre ab Die Frau im Mittelalter war in ihren privaten Gemächern - die Tatsache, dass eine Frau öffentlich vor einem Publikum sagt: „Ich liebe diesen Mann“ ist undenklich. Die Männer machen das aber und imaginieren damit eine Frau, die das offen bekennt. Zumeist ist das aber trotzdem in einem scandalum, zumeist behandeln die Lieder auch eine Situation, wo die Frau einen Boten beauftragt, ihre Liebesbotschaft an einem Mann zu überbringen. Der Bote ist somit der Komplize der Frau, man nennt es eine eingeweihte Geschichte. Dann kommt das Dilemma: dieses offene Zugestehen der (erotischen) Liebe führt natürlich zu einer Bedrohung ihrer Ehre und ihres gesellschaftlichen Ansehens. Das heißt also, es gibt bestimmte Motive, die hier eine Durchmusterung ermöglichen. Zur Aufführungspraxis: Es ist Liebeslyrik, aber sie wurde immer öffentlich vorgetragen, also gesungen. Liebeslieder sind Chansons. Wir wissen relativ wenig über die Aufführungspraxis und sind auf Berichte aus Romanen angewiesen. Es ist aber wohl so, dass die Lieder oft den Charakter von Tanzliedern hatten. Es gab wohl auch so eine Art Vortragsspiel. Wie wurden nun die Frauenlieder vorgetragen? Hat es eine Dame des Hofes vorgetragen? In der Forschung gibt es dazu keine Einigkeit. Vermutungen besagen, dass es von Frauen vorgetragen wurde, aber es sind sehr ungesicherte 76 von 103 Erkenntnisse. Letztendlich haben wir nur die Texte auf dem Pergament. Jetzt kann man sich natürlich fragen, ob es ausschließlich Lieder sind, die von Männer geschrieben und konzipiert sind, oder gibt es die Möglichkeit, dass höfische Damen, die sich nicht als Dichterinnen in die Öffentlichkeit wagten, einem Mann ein Gedicht übergeben haben, der es dann als seines ausgegeben hat. Das ist aber reine Spekulation. Die Lieder sind teilweise auch mit Melodien überliefert, mit einer mittelalterlichen Notenschrift, den sogenannten „Neumen“. Sie wurden zunächst für den gregorianischen Choral verwendet und dann auch auf weltliche Lieder übertragen: Neumen (griechisch νεῦμα neuma ‚Wink‘) sind graphische Zeichen, Figuren und Symbole, die seit dem 9. Jahrhundert zur Notation der melodischen Gestalt und der Interpretation des Gregorianischen Gesangs und gelegentlich auch für das Aufschreiben weltlicher und religiöser Melodien außerhalb der Liturgie verwendet wurden. Es ist aber sehr schwierig sie auf unsere Noten zu übertragen. Wir haben es mit einem einstimmigen Gesang zutun, der mehrstimmige kam erst viel später (Ende des 14./Anfang des 15. Jhdts.), allerdings ist der einstimmige Gesang schon sehr kunstvoll. Zurück zur Typologie und damit auch zum Stellenwert der Frauenlieder: In der mittelhochdeutschen Lyrik haben wir im Gegensatz zur französischen keine einzige weibliche Lyrikerin. In der Frauenlyrik ging es darum, die Liebe zuzugeben. Die Frau wird als eine Frau imaginiert, die tatsächlich liebt und diese Liebe auch kundtut. Das ist im Kontext der Hochzeit der mittelalterlichen Liebeslyrik durchaus eine außergewöhnliche Stellung, da wir uns eher in einem männlichen Konzept befinden, nämlich dem des Frauendienstes. Es gibt französische Forscher, die sogar der Meinung sind, dass diese Minnelieder gar nichts mit Frauen zutun haben, sondern eigentlich Metaphern für das Vasallentum sind. Das Konzept der Minne ist, dass sich der Mann, also das lyrische Ich in eine vollkommene dienende Stellung gegenüber der Frau gibt, aber diese Frau keine lebendige Person mit Gefühlen, sondern vollkommen unerreichbar und abwesend ist. Einer der prominentesten Lyriker dieser Gattung ist Reinmar der Alte, der in seinen Liebesliedern nichts anderes besingt, als die Dame, die vollkommen unerreichbar ist und von seiner Existenz nichts weiß. Wir haben hier also eine unmögliche Werbungssituation. In Frankreich gab es verschiedene Liedgruppen im Norden und Süden Frankreichs und da gibt es zwei nebeneinander existierende Formen: Die abweisende Dame, die den werbenden Sänger nicht erhört und andererseits die empfangende Dame, die den Mann liebt und wo es eine Art der Gegenseitigkeit gibt. Diese Rolle der sehnsüchtigen liebenden Dame, hat man oft in den Frauenliedern. Man kann sagen, dass die Frauenlieder als Gattung innerhalb des Minnesangs eher die freizügigere Gattung ist. Es geht tatsächlich um Erotik, körperliche Liebe, Sehnsucht und Empfindungen. Innerhalb dieses Gattungsspektrum wird eine Liebe poetisiert, die dem persönlichen Empfinden näher kommt, als jene Position, in der die Dame die ablehnende und unerreichbare Herrin ist. In gewisser Weise thematisieren Frauenlieder auch so etwas wie eine Art Unabhängigkeit von der gesellschaftliche Konvention. Das ist vor allem in Frankreich der Fall, wo 77 von 103 in den Frauenliedern ganz offen eine Dreieckskonstellation angesprochen wird. Das war möglicherweise auch ein gesellschaftliche Spiel, allerdings ist es sicherlich realistischer als man annehmen könnte, da der mittelalterliche Adel, was Liebe und Liebeserfüllung angeht, für diese Fantasie in der Ehe keinen Platz fand. Man kann sagen, dass die Frauenlieder als Gattung dazu dienten, eine Art von Liebe zu formulieren, die freier ist, die erotischer ist. Die Männer legen den Frauen eine Art Wunschprogramm in den Mund, sie imaginieren damit eine Vorstellung von freierer Liebe, die an den Höfen Frankreichs so nicht lebbar oder möglich ist. 2. Trobairitz: Liedermacherinnen ▪ ▪ Alais, Carenza, and Iselda Almucs de Castelnau and Iseut de ▪ ▪ Guillelma de Rosers Domna H. ▪ ▪ Capio Alamanda Castelnau (1160–1223) Isabella ▪ ▪ Gaudairenca Azalais d'Altier ▪ ▪ Lambarda Clara D'Anduza ▪ ▪ ▪ Garsenda de Proença Maria de Ventadorn Comtessa Beatriz de Dia ▪ Beatritz de Romans [Bieris] Hier haben wir 17 altprovenzalische Dichterinnen, Frauen, die Liebesgedichte geschrieben haben. Bei einigen von ihnen wurde nur ein Lied überliefert. Es ist ein absolut singuläres Phänomen, denn es ist davon auszugehen, dass diese Frauen diese Gedicht auch vorgetragen haben. Wenn man sich die Sammlung der Lieder ansieht, sieht man, dass sie ganz klaren Traditionen der von Männern konzipierten Liebeslyrik folgen. Es ist als keine spezifische Frauenlyrik, denn sie dichten im Kontext der damaligen männlichen literarischen Konventionen. Sie entwickeln auch keine eigenen Themen und Motive, entscheidend ist aber die Art und Weise, wie diese in Szene gesetzt werden. In der Forschung der 60er und 70er Jahre hat das dazu geführt, dass Dichtungen der Trobairitz kaum und wenig beachtet wurden. Es wurde gesagt, dass es für die Genderforschung kauen nutzbar und wenig originell sei. Es geht aber gar nicht darum, hier eine weibliche Dichtung zu entdecken, sondern darum, dass es Frauen gibt, die sich selbst eine Stimme gegeben haben. Das heißt also, dass sie auf den ersten Blick keine besonderen Texte sind, aber diese Partizipation adliger Frauen am literarischen Feld zeigt ein eigenes künstlerisches Selbstverständnis der Frauen - hier vor allem der französischen Frauen. Das hängt wahrscheinlich auch mit der Offenheit des französischen Hofes zusammen, mit Literatur umzugehen, indem sie auch als Mäzeninnen stark aufgetreten sind. Den mittelalterlichen Lyrikerinnen blieb also nichts anderes übrig, als direkt an ihren männlichen Kollegen anzuknüpfen, aber sie haben dadurch wundervolle Gedichte geschrieben. Über die Lebensumstände wissen wir wenig bis gar nichts - das gilt für alle mittelalterlichen Dichter. Es gibt eine Eigenheit in der französischen Lyrik, dass vor den Gedichten kleine Vidas, also Lebensbeschreibungen gegeben werden: Vida der Beatriz de Dia: Die Gräfin von Dia war die Frau von Herrn Guillem von Poitiers, eine schöne und angenehme Dame. Und sie verliebte sich in Herrn Rambaut d´Aurenga, und machte über ihn viele gute Kanzonen. 78 von 103 Zumeist sind diese Vidas tatsächlich Dreiecksgeschichten, wirklich den Tatsachen entsprechen, wissen wir natürlich nicht. Beatriz de Dia (geb. 1160): Die Comtessa de Dia ist sicherlich die berühmteste und bedeutendste unter den altprovenzialischen Dichterinnen. Wir wissen wenig bis gar nichts über ihre historische Identität. Vielleicht war sie Mitglied des Hochadels, da sie einige der Gedichte dem Adelshaus widmete. Sie hat auch zu ihrer Zeit bereits einiges an Berühmtheit erlang, da sie die männlichen Kollegen durchaus lobend erwähnen. Das heißt, dass es tatsächlich eine Art Community der Lyriker gegeben hat und dass sie gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen an den Höfen vorgetragen hat. Das folgende Lied ist das einzige Trobairitz-Lied, wo die Melodie erhalten ist. Dieses Lied ist ein Liedvortrag und sehr modelliert ist. Das Lied hat 5 Strophen und dann eine Sentenz am Ende. Es hat eine sehr schlichte formale Komposition. 1. Ich muss singen, worüber ich nicht singen möchte, so sehr bekümmert mich der, dessen Freundin ich bin, denn ich liebe ihn mehr als alles auf der Welt. Bei ihm nützen mir weder Entgegenkommen noch höfische Art, noch meine Schönheit, mein Ansehen und meine Klugheit, denn ich bin ebenso betrogen und verraten, wie wenn ich unfreundlich wäre. 2. Ich tröste mich damit, dass ich nie in irgendeiner Weise, Freund, gegen Euch gefehlt habe, vielmehr liebe ich Euch mehr als Segius Valensa, und es freut mich sehr, dass ich Euch im Lieben besiege, mein Freund, denn Ihr seid unvergleichlich an Wert. Kühl zeigt Ihr Euch mir mit Wort und Miene, während Ihr zu allen anderen Leuten freundlich seid. 3. Es wundert mich, dass Ihr so abweisend zu mir seid, Freund, darum habe ich Grund, traurig zu sein. Es ist nicht recht, dass eine andere Liebe mir Euch raube, wie immer sie zu Euch sprechen und Euch empfangen mag. Erinnert Euch doch, wie es am Anfang unserer Liebe war! Verhüte Gott, dass ich Schuld an der Trennung trage! 4. Die außergewöhnliche Tüchtigkeit, die in Euch wohnt, und das hohe Ansehen, das Ihr habt, beunruhigen mich, denn nicht eine kenne ich, ob nah oder fern, die, wenn sie wünschte zu lieben, Euch nicht geneigt wäre. Aber Ihr, Freund, seid gewiss so sicher im Urteil, dass Ihr die Beste wohl kennen müsst. Und denkt an unsere Abmachung! 5. Nützen sollten mir mein Ansehen und mein Adel und meine Schönheit und mehr noch mein edles Herz. Deshalb sende ich Euch dieses Lied dorthin, wo Euer Aufenthalt ist, damit es mir als Bote diene. Und ich möchte wissen, mein schöner, lieber Freund, warum Ihr so stolz und grausam zu mir seid, ich weiß nicht, ob aus Hochmut oder bösem Willen. 6. Aber um so mehr will ich, Bote, dass du ihm sagst, dass viele Leute sich durch zuviel Stolz oft sehr schaden. Es geht um eine Minneklage, das Motiv der unerwiderten Liebe, aber interessant ist, wie sie dieses weiter kontextualisiert. Es geht darum, dass der Ami ein abweisender ist, er zeigt sich ihr gegenüber unfreundlich und voll Hochmut. Was in der 3. Strophe entscheidend ist, ist, dass sie sich an die gemeinsame Liebe erinnert, die schon da war und offensichtlich getrennt wurde. Der Ami ist so großartig, dass sich alle in ihn verlieben wollen - das ist ein häufiges Motiv: man verliebt sich in jemanden und ist der Meinung, alle müssten sich in ihn verlieben. Dieser Aspekt der Eifersucht ist in der 79 von 103 Liebeskonzeption selbst vorhanden. In der 5. Strophe soll er ihr erneut erklären, warum er sie ablehnt. Die 6. Strophe ist das Conclusio, sie sagt, Hochmut kommt vor dem Fall. Wir haben hier eine Vermischung der Hohenminne und des Frauenliedes, in der sich etwas ganz eigenes ergibt. Die Frau ist zwar in der Position der Sehnenden, aber gleichzeitig in der Position der Dame. Sie beschreibt sich mindestens mit den gleichen Attributen wie ihren Ami. Sie bezeichnet sich als schön, höfisch und klug, Eigenschaften, die ihr Ami auch hat. Im Grunde genommen inszeniert sie sich als Sehnende, aber sie ist gleichzeitig auf einer Stufe mit ihm. Damit wird der Grund des Verlassenseins nicht einsichtig. Mittelalterliche Literatur und Heiratspolitik ist auf Gleichwertigkeit abgezielt, und wenn diese da ist, was ist dann der Grund für die Trennung? Noch dazu, wenn die dann noch betont, dass es eine gemeinsame Liebe gegeben hat und auch gleichzeitig eine Abmachung. Die Trennungssituation ist Ursache für ihre Klage, aber sie kann sich nicht erklären, warum es dazu gekommen ist. Das Eigenlob ermöglicht es ihr, in der Position der Herrin zu verharren. Ihre Position der Minneherrin zeigt sich vor allem im letzten Absatz: sie ist nicht die Betrogene, klagende Bittstellerin, sondern sie produziert hier einen Rollentausch. Sie stellt sich selbst als Ideal dar, was sich auch in der Strophe zeigt, in der sie auf die anderen Frauen verweist, weil sie gleichzeitig auch sagt, dass sie die Beste ist. Sie ist sozusagen genauso makellos wie ihr Geliebter, sie übertrifft ihn sogar in ihrem Liebesvermögen. Es wird als eine Fähigkeit zu einer grenzenlosen Liebe dargestellt. Das heißt also, dass Beatriz de Dia eine Umdrehung der Positionen in den Gattungen macht, aber gleichzeitig innerhalb dieser Positionen bleibt. Sie kombiniert sie neu, sie macht eine Klitterung verschiedenster Gattungskonventionen, und verändert so die Position der liebenden Frau. Die Liebende Frau ist zwar die Sehnsüchtige, die Verlassene, aber dennoch die Starke. Sie sagt auch ganz bewusst, dass sie an der Trennung keine Schuld hat. Sie formuliert diese als Unrecht und begibt sich in gewisser Weise in eine Rechtsposition. Der Satz der Abmachung könnte also auch eine rechtliche sein - sie ist für die Liebesdame verbindlich. Sie wehrt damit etwas ab, was immer ein Problem war, um die Ehre zu bewahren. Wenn eine Frau eine Affäre beginnt, so ist nach mittelalterlichem Verständnis immer die Frau im Nachteil, wenn der Geliebte sie verlässt. Interessant ist auch der dreimal erhobene Vorwurf des Hochmuts, eine Todsünde, sie wirft ihm diesen vor und sagt gleichzeitig auch, dass der Hochmütige nicht lieben kann. Wir wissen nicht genau, welche literarischen Vorbilder sie herangezogen hat, ihre poetische Ausdrucksweise ist aber einzigartig, obwohl sie alle Konventionen des Sprachgebrauchs ihrer männlichen Kollegen übernimmt. Wenn man genau hinsieht, ist das Liebesgedicht keinesfalls konventionell, es geht um wesentlich mehr. 1. Ich hatte große Sorge und Kummer eines Ritters wegen, der eins mein war, und ich will, dass man für alle Zeiten weiß, wie übermäßig ich ihn geliebt habe. Nun sehe ich, dass ich verraten bin, weil ich ihm nicht meine Liebe schenkte. Deshalb habe ich schwer gelitten, Tag und Nacht. 2. Ich wünschte wohl, meinen Ritter einen Abend nackt in meinen Armen zu halten, und ich wollte, dass er sich glücklich schätzte, allein darum, dass ich ihm als Kissen diente. Denn ich bin verliebter in ihn, als Floris in Blanchefleur, ich schenke ihm mein Herz und meine Liebe, meinen Sinn, meine Augen und mein Leben. 80 von 103 3. Schöner, höfischer, lieber Freund, wann werde ich über Euch verfügen können? Wenn ich doch einen Abend bei Euch liegen und Euch einen zärtlichen Kuss geben könnte! Glaubt mir, ich hätte große Lust, Euch anstelle des Ehemannes zu haben vorausgesetzt, dass ihr mir geschworen hättet, alles zu tun, was ich wünschte. Dieses Gedicht der Comtessa de Dia gilt als das schönste Liebesgedicht im Rahmen der Trobairitz, aber auch des frühen französischen Mittelalters. Bei diesem Gedicht ist die Melodie nicht überliefert, es wurde dennoch vertont. Es hat 3 Strophen und gilt als eines der schönsten Liebesgedichte, da es eine der wenigen Gedichte ist, das eine Art Innerlichkeit ausdrückt. Es ist relativ offen. Es geht darum, dass sich eine Frau vorstellt, dass sich ihr Geliebter von ihr entfernt hat, weil sie sich geweigert hat, mit ihm zu schlafen. Das ist der Grund dafür, dass sie die erotische Begegnung mit ihm imaginiert und das als beglückende Form wahrnimmt. Was interessant ist, ist dass der Ami zwar die angesprochene Person ist, er aber dann kaum mehr vorkommt. Das grammatikalische Objekt ist auf jeden Fall die Frau. Es ist eine poetische Selbstinszenierung der Gefühle der Frau. Es geht um Projektionen, es geht um das Ich und das Begehren des Ichs. Es geht um die körperliche Liebe als positive Wunschvorstellung. Wir haben hier zwar erneut eine Minneklage, aber im Gegensatz zum vorigen Lied geht es hier um die Imagination von seelischer und körperlicher Hingabe. Sie begibt sich in dieser Sehnsucht in die männliche Perspektive. Sie schlüpft als literarische Gestalt in die poetische Gestalt eines jungen Mannes, dennoch ist das lyrische Ich eine Frau. Es ist ein Rollenspiel. In den Männerkanzonen ist der Kuss das höchst der Erfüllung, er ist das erste Liebesversprechen, diesen haben wir in der 3. Strophe. Es geht auch darum, dass die Liebe des Geliebten anders vorgestellt wird, als die zum Ehemann, denn die Liebe zum Geliebten ist eine freie und keine arrangierte. Der letzte Satz zeigt wieder die Position der Minneherrin, es geht aber auch um einen Schwur und eine Form des Liebesvertrags. Wenn die Dame sich hingibt, muss der Mann auch ewige Treue gewährleisten. Es wird hier versucht, neben den Konventionen der Ehe so etwas wie eine Liebesverbindlichkeit zwischen Mann und Frau zu erzeugen, die nicht zur Trennung führt. Dieses Lied ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich, das hat auch die Forschung so gesehen - es werden Gedanken einer Frau ausgedrückt, die so sonst nicht vorkommen. Clara d'Anduzza Sie hat nur dieses Gedicht überliefert, wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es ist vermutlich das jüngste Trobairitz-Gedicht, das wir haben und das konventionellste. Interessant ist hier, wie versucht wurde, das Gedicht zu umfassen: 81 von 103 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Schwer Ungemach und schweres Herzeleid Hat über mich, damit der Verwirrung Nacht, Der Kläffer und Verleumder Schaar gebracht, Der Gegner jugendlicher Freudigkeit. Ihr floht, verließet mich! Wenn sie nicht wären, Ihr, Theuerster, gehöret mir noch an. Jetzt, da mein Aug’ Euch nicht erschauen kann, Sterb’ ich vor Schmerz, vor Mismut, vor Begehren 17. O nie, mein schöner Freund, in Sorgen seid 18. Als hätt’ ich an Untreu je mein Herz gedacht; 19. Nie wird’s für einen Anderen entfacht 20. Trotz hundertfältiger Fraungeschäftigkeit. 21. Euch soll mein Herz ich hüten und bewähren, 22. So will’s die Lieb, und ihr gehör’ ich an; 23. Das will auch ich, und gäb’ ich’s anderm Mann, 24. Es wär ein Irrthum, wär’ ein falsch Begehren. 9. Daß meine Liebe boshaft man beschreit, 10. Hat Aendrung nicht bei mir hervorgebracht, 11. Geschwächt nicht, noch vermehrt der Neigung Macht 12. Der Sehnsucht und der Leidenschaftlichkeit. 13. Ich muß mich gegen Jeden feindlich kehren, 14. Hör’ ich ihn tadeln, den geliebten Mann; 15. Doch fängt ihn Jemand zu vertheidigen an, 16. Des Wort und That scheint mir hochzuverehren. 25. Ich seh’ euch nicht, mein Freund, und mich verzehren 26. Mismut und Schmerz. Fang’ ich zu singen an, 27. So seufz’ und schluchz’ ich; nicht ausdrücken kann 28. Mein Lied des Herzens innigstes Begehren. Nachgedichtet von Karl Ludwig Kannegießer (1781-1861) Aus: Gedichte der Troubadours im Versmaaß der Urschrift übersetzt von Karl Ludwig Kannegießer. Tübingen 1852 (S.295-296). Nach dem dritten Lied merkt man, wie die Thematiken sich ähneln: wir haben es wieder mit einer Klage, einer Trennungssituation und der Sehnsucht der Frau zutun. Man sieht schon, dass es so etwas wie eine feste Gattung und Gattungskonventionen gibt. gesellschaftliche Schicht (in der zweiten Strophe, dritte Zeile), es Gesellschaft, die die Liebe argwöhnisch betrachten und die Ursache werden. Auch bei Tristan und Isolde sind die Neider die Ursache, Neu hinzu kommt die geht um die Neider der sind, warum sie getrennt dass die geheime Liebe aufgedeckt wurde. Clara d’Anduzza übernimmt die rhetorische Figur des Polysyndetons. Dieses Zusammenbinden von Wörtern, die alle das selbe bedeuten, zieht sich durch das gesamte Gedicht durch und sie beschreibt fast jedes Signifikat mit mehreren Signifikanten. In der ersten Zeile wird zB der Kummer mit mehreren Begriffen ausgedrückt, man kann sehr gut sehen, wie mit Synonymen gearbeitet wird. Das ist eine spezielle Ornatus-Technik, die auch konventionell ist. Interessant ist hier durch diese Allegorisierung und die rhetorische Kunst des Ornatus, dass sich einerseits eine symbolhafte Auflösung des lyrischen Ich in verschiedene Metaphern haben (das Herz, die Sehnsucht etc.), andererseits die ganze Handlung auf einer real-physischen Ebene bleibt. Es gibt eine Dissoziation zwischen dem poetischen und realen Subjekt, das durch die Ornatus-Technik hervorgetrieben wird. Gleichzeitig bleibt aber das reale Subjekt bestehen. Wenn man sagt, mittelalterliche Liebeslyrik ist Rollenlyrik, so könnte es auch heißen, dass das, was in der mittelalterlichen Liebeslyrik formuliert wird, nichts mit der Realität und auch nicht mit der Person zutun hat, die das Gedicht vorträgt. Im Fall von Clara d’Anduzza und auch von Beatriz de Dia wird die Rollenlyrik immer wieder auch auf ein reales Subjekt hin gerichtet. Man hat hier einerseits eine Nachahmung der Konventionen, andererseits ganz stark gesetzte subjektive Elemente - eine vox femini. Das heißt, man hat mehrere Sprechebenen, die durchaus von einander getrennt werden können: einerseits die historische Person der Sängerin, die Rolle der Dichterin und die Rolle, die das lyrische Ich jeweils einnimmt. In dieser Trennung der Rollen wird eine Rolle ganz stark gemacht: die der sprechenden Frau. Zusammenfassung Die Dichterinnen spielen mit Interferenzen zwischen eigenem Geschlecht, literarischem Frauenbild (das in den Frauengedichten entsteht) und literarischer Frauenstimme (das lyrische Ich der Frau). 82 von 103 Damit wird ein verwirrendes, schillerndes Agglomerat aus realen und fiktiven Bezugselementen. Es geht letztendlich auch um dieses Oszillieren, dem Hin und Her zwischen den einzelnen Rollen und zwischen weiblicher und männlicher Stimme. Das lyrische Ich kann mehrere Rollen übernehmen, es ist nicht einfach nur weiblich oder männlich, es kann im Gedicht selbst die Rolle der Frau UND des Mannes übernehmen, es ist nicht schizophren, sondern mehrgliedrig. Das reale Ich ist aber, in unserem Fall, das Ich einer Frau. Die Autorinnen machen damit eine Umdrehung dessen, was die Männer in den Frauenstrophen machen, denn in den Frauenstrophen spricht eine reale männliche Person über ein weibliches Ich, das verschiedene Funktionen hat, aber nie zu einem männlichen wird. Lyrisches Ich ist also im selben Gedicht in verschiedenen Rollenfunktionen denkbar. 1. Die Gedichte sind von der Thematik her komplett konventionell. 2. Sie sind auch von der Form, der Kanzone her, komplett konventionell. 3. Auch die Wortwahl ist komplett konventionell Sie sind jedoch nicht konventionell, wenn man das lyrische Ich und dessen Aussagen untersucht, die eben auf ganz andere Zusammenhänge verweisen. Es verweist auf die reale Person, was aber nicht heißt, dass es mit der realen Person identisch ist. 10. Vorlesung 7. Jänner 2015 Sonderform des "Schreibens": die Schriften der mittelalterlichen Mystikerinnen Wir haben es hier mit den Texten zutun, die am meisten überliefert wurden. Es gibt unendlich viele Schriften von Frauen. Man kann nicht einmal mit gutem Recht sagen, dass diese Texte mit literarischen Kriterien zu messen sind. Mystische Texte sind in jeder Hinsicht etwas besonderes sie sind Texte der Mystik. An diesen Texten ist besonders interessant, dass wir relativ viel Informationen über die Aurorinnen haben, das liegt daran, dass in der mystischen Erfahrung sehr viele persönliche Erfahrungen in die Texte einfließen, ganz anders als bei weltlichen Autorinnen. Es gab auch viele Biografen, die das Leben dieser oft heiliggesprochenen Frauen beschreiben. Bevor man sich jedoch mit Mystik befassen kann, muss man sich noch mit der Geschichte des 12. Jhdts., vor allem mit der religiösen Geschichte, auseinandersetzen. Die Entwicklungen der Kirche im 12. Jhdt. sicherlich eine wichtige Voraussetzung dafür waren, dass solche Texte überhaupt entstehen konnten. 1. Anfänge im 12. Jahrhundert: Geschichtlicher Überblick Im 12. Jahrhundert kommt es zu großen Veränderungen innerhalb des Klerus, sowohl was die Klöster anbelangt, als auch was das Papsttum anbelangt. Es kommt zu großen 83 von 103 Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und weltlicher Gerichtsbarkeit. Es ist also ein Zeitalter der Konflikte und Umbrüche. Im 11. Jahrhundert hat es mehrere kirchliche Reformen gegeben. Warum waren kirchliche Reformen notwendig? Das hing vor allem damit zusammen, dass die Klöster als Zentren der Macht und auch der Bildung sehr groß geworden waren. Hier sind vor allem die Benediktiner gemeint. Der Benediktinerorden ist der älteste klösterliche Orden und auch einer der wichtigsten. Von den Benediktinern geht die berühmte Klosterregel aus, die besagt, nach welchen Kriterien sich die Insassen des Klosters zu richten haben. Zu diesen Ordensregeln von Benedikt von Nursia gehört Gehorsamkeit, Streben nach Vollkommenheit aber Arbeit war ebenso wichtig. Damit ist nicht nur tätige körperliche Arbeit, sondern auch Kontakt zu den Laien und zur Außenwelt. Die Benediktinerklöster waren zu großen Machtzentren geworden und unendlich reich. Hinzu kam, dass die Benediktinerklöster auch sehr exklusiv waren - nicht jeder durfte dort eintreten, die wichtigsten Klöster waren den Adligen vorbehalten. Das hat zu großer Kritik nicht nur im Bereich der Laien, sondern auch im Bereich der Kirche geführt. Die Kirche sollte nicht an den weltlichen Gütern teilhaben. Es gab mehrere Versuche der Amtskirche, dies über Konzile festzuschreiben erfolglos. Mittelalterliche Orden: um 529: Benediktiner 1060: die Gründung der Augustiner Chorherren: es handelt sich hier um eine klösterliche Gemeinschaft, die sich nicht nur den Schriften des Augustinus zuwendet, sie verstand sich vor allem als abgeschlossene exklusive Gemeinschaft zum Studium theologischer Schriften. 1084: Kartäuser: Gründer ist Bruno von Köln. Es ist eine Form von kontemplativer Einkehr, verbunden mit einem gewissen Armutsideal. Es geht um persönliche Widmung und Kontemplation des Glaubens. Auch hier ist eine Wirkung nach außen eher nicht der Fall. 1098: Zisterzienser: Sie leben zwar nach den Regeln der Benediktiner, aber sie sind diejenigen, die sich einer kontemplativen Vereinigung mit Gott verschrieben haben. Wichtig hier ist vor allem Bernhard von Clairvaux, einer der führenden Persönlichkeiten des 12. Jhdts., der der erste Liebesmystiker war. Er hat das hohe Lied ausgelegt und im Sinne einer Vereinigung von Gott und Kirche gedeutet. Hier haben wir erstmals einen Gedanken der unio mystica formuliert, die bestimmte Praktiken des Glaubens erfordert (Betübungen, Formen der Kasteiung etc.). Er hat sich auch ganz im Sinne der Frühkirche der Landwirtschaft und Seelsorge zugewandt. 1156: Karmeliter: Ein Einsiedlerorden und eher abgeschlossen gegenüber einer großen Öffentlichkeit. Einsiedlerorden sind eher eine Demonstration des Glaubens. 1209: Franziskaner: Franz von Assisi, ein aus dem Reichbürgertum stammender Mann, der sich ganz massiv dem Armutsideal verschrieben hat, viel radikaler als die Zisterzienser. Hier geht es auch um Seelsorge, aber auch um Armut und Askese. Dieses Armutsideal ist mit einer Art Naturmystik verbunden, dem Versuch eines harmonischen Beisammen- und Miteinanderseins mit der göttlichen Schöpfung. 84 von 103 1216: Dominikaner: Sie sind ein Predigerorden, was bedeutet, dass sie nicht statisch bei einem Kloster bleiben, sondern in die Welt hinausziehen, als sogenannte Bettelmönche. Sie waren, wenn man so will, die andere Seite der Franziskaner. Während Franziskus sich nicht mit den Schriften auseinandergesetzt hat, waren die Dominikaner stark auf das Studium der Schriften und auf das Studium der Kirchenväter konzentriert. Deswegen sind aus ihnen auch bedeutende Kirchenlehrer herausgegangen. Im 12. Jahrhundert wurde das Predigen selbst wichtiger - jenen Orden, die sich der Armut verschrieben haben. Im Zuge der Unzufriedenheit mit der immer reicher gewordenen Kirche sind auch andere Bewegungen entstanden, die von der Kirche nicht akzeptiert und als Ketzer verschrien wurden: die Katharer und Waldenser. Die Katharer hatten großen Zuspruch von der Bevölkerung, weil sie keinen ständischen Unterschied zwischen den Mitgliedern gemacht haben. Sie wurden richtig verfolgt und nicht zugelassen. Auch die Waldenser predigten ein Armutsideal und waren nicht an Ständen orientiert. Sie hatten durchaus Lehren, die auf eine mystische Vereinigung mit Gott abzielten. Es gab also große religiöse Bewegungen, die eigentlich die herkömmlichen Praktiken der Amtskirche kritisierten, aber trotzdem im Rahmen der Amtskirche blieben. Die Amtskirche ist daraufhin hergegangen und hat jene religiöse Bewegungen, die sie gut einordnen konnte, zugelassen - zB die Franziskaner, denen die Ordensgründung aufgezwungen wurde. Die Position der Frauen innerhalb der kirchlichen Welt: Die Benediktiner hatten von Anfang an auch Frauenklöster, sie waren aber immer an Männerklöster angeschlossen. Es gab sozusagen Doppelklöster und die Frauen konnten innerhalb ihres Klosters eine hierarchische Ordnung haben, aber der geistliche Führer war immer der Abt des Männerklosters. Das lag daran, dass Frauen viele der religiösen Praktiken nicht durchführen durften. Wenn es um das Studium und die Auslegung der Schriften ging, hatten Frauen keinen Platz. Bei Spiritualität und Frömmigkeit wurden sie von den männlichen Orden aufgenommen und organisiert. Es gab auch die Beichtväter, die ins Frauenklöster gekommen sind. Viele Männer haben aber die Mystikerinnen in ihren Schriften unterstützt. Mittelalterliche Frauenorden: um 529: Benediktinerinnen um 1180: Beginen: eine sehr lose Vereinigung von Frauen, unter ihnen sind die meisten Mystikerinnen zu finden. um 1100 Zisterzienserinnen um 1214 Klarissen: Franziskanischer Frauenorden 1219: Dominikanerinnen Es gab also zu den männlichen Orden immer wieder auch parallel Frauenorden, aber immer dem männlichen Kloster unterworfen. Sie waren aber für die mittelalterlichen Frauen enorm wichtige Zulaufstellen, nicht nur um dem herkömmlichen Schicksal einer Frau zu entgehen. Es war für die Frau des Mittelalters - und nicht für wenige - mögliche eine Lebensform, die ihnen erlaubte mehr 85 von 103 oder weniger autonom als Frau selbstbestimmend leben zu können. Das Kloster bot den Frauen einen geschützten Raum, wo sie weitgehend vom Zugriff der Männer befreit waren. Die Beichtväter und Seelsorger wurden nicht als Bedrohung gesehen, sondern als Hilfe. Man kann sehr wohl sagen, dass das mittelalterliche Kloster ein Ort für Frauen war, wo sie ihre Frömmigkeit ausleben konnten, in einer Form, in der es ihnen in männlicher Gesellschaft nicht möglich war. Es ist eine sehr ketzerische, lebendige Zeit und es ist auch die Zeit des 2., 3. und 4. Kreuzzugs, die eine Geschichte des Scheiterns waren. Diese großen politischen Umwälzungen, neben den Streitereien zwischen Papst und Kaiser, haben zu diesen Armutsbewegungen geführt, aber auch zur Einsicht, dass die kriegerische Form des Christentums eigentlich nicht dem Christentum gemäß ist. Es geht eigentlich um eine eigene Form der Frömmigkeit, die einen Weg zu Gott eröffnet, der eben nicht ständisch abhängig ist. Warum war der Wunsch so groß, überhaupt einen Weg zu Gott zu finden? Auch das hat mit kirchlicher Propaganda zutun: es gab damals zwei dominante kirchliche Predigtinhalte, einerseits den drohenden Weltuntergang (=das jüngste Gericht, wo für jeden Christen entschieden wird, ob er in den Himmel kommt oder nicht.). Das hat nun zu Überlegungen geführt, wie es möglich ist, "auf die gute Seite zu kommen". Es gab dafür die Idee des sogenannten Fegefeuers, das eine Art Zwischenstation darstellen sollte, die Buße für ungesühnte Sünden. Der Druck auf die Gläubigen war somit sehr groß. 2. Was ist Mystik? Man hat deshalb persönliche Erfahrungen von Gläubigen geduldet, um sie nicht an ketzerische Gruppen zu verlieren. Hier spielt die Mystik eine entscheidende Rolle, weil sie etwas ist, dass nicht erst im 12. Jhdt. entstanden ist, sondern im Grunde genommen seit dem Frühchristentum ein Thema ist. Spirituelle und religiöse Mystik ist nicht etwas, das auf das Christentum beschränkt ist, sie ist in vielen Religionen zu finden. Mystische Erfahrung ist etwas Spezielles innerhalb eines frommen Lebens. Das Wort „Mystik“ hängt mit dem griechischen Wort myein zusammen und heißt soviel wie „Augen und Mund schließen“. Es geht um eine Art Innerlichkeit, etwas das sich im Inneren abspielt, aber schwer zu beschreiben ist. Das Adjektiv mystikos bedeutet auch „geheimnisvoll“ und Mysterium ist letztendlich das Wort für Geheimnis. Wichtig ist, dass die mystische Grundhaltung die der Einkehr und die des Innehaltens ist. Es geht darum, eine Technik zu finden, die eine Innenschau ermöglicht. Es hat nichts mit Zauberei zutun, sondern es geht um eine Form, die eine Einheit mit Gott erzeugen soll und von jedem anders erlebt wird. Mystische Erfahrung ist ein am Mysterium orientiertes, nicht leicht mitteilbares, letztlich unsagbares Erkenntnisund/oder Liebesgeschehen zwischen Mensch und Gott, das vom Menschen als gnadenhafte, ohne Anstrengung empfangene Einigung mit Gott erfahren wird. (Alois Haas, Gottleiden - Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter. Frankfurt 1989, S. 42f.). Es geht um die individuelle Erfahrung. Wir wissen aber von mystischen Erlebnissen nur über Texte. Wenn man Gott mit einem religiösen Wesen oder einer religiösen Grenzerfahrung gleichsetzt, die über das menschliche Maß hinausgehen, so ist klar, dass Mystik ein generelles Phänomen ist, das nicht nur auf das Christentum beschränkt bleibt. Die mystischen Texte sind nicht leicht zu verstehen, weil sie sich kausalen, logischen Zusammenhängen entziehen (müssen). 86 von 103 Die Mystik ist eigentlich von Anfang an elementar für das Christentum, hier sind vor allem die Neuplatoniker gemeint - einer ist besonders wichtig: Pseudo-Dionysos Aeropgita: Eines seiner Werke heißt „Die mystische Theologie“. Er baut das mystische Denken an eine Textstelle im Alten Testament auf - auf den Traum Daniels (Gen.28,12). In diesem Traum wird die sogenannte Himmelstreppe erwähnt, ein ganz wichtiges Bild: sie ist ein Kontakt zwischen Erde und Himmel. Der Traum weist somit auf die Möglichkeit des Menschen hin, zu Gott aufzusteigen. Jede Stufe bedeutet eine Abstrahierung, die das eigene Sein betrifft. Es erfordert auch eine extreme körperliche Kasteiung, um dorthin zu kommen. Pseudo-Dionysos hat es über die Sprache versucht, über negative Theologie (Gott ist etwas und Gott ist nichts). Diese Treppen, die man gehen kann, haben ein Ziel: eine mystische Einheit mit Gott. Bernhard von Clairvaux (1090 - 1153): Unser Lager ist mit Blumen geschmückt. Aus Zedern sind die Balken unseres Hauses, aus Zypressen unsere Täfelung. ... Nun wollen wir untersuchen, was dies im geistlichen Sinne bedeutet. Auch in der Kirche gibt es meiner Meinung nach sozusagen ein Bett, in dem man ruht: die Abgeschiedenheit der Klöster, wo man ruhig lebt, fern von den Sorgen der Welt und der Unruhe des Lebens. Auslegung des Hohenlieds. Wichtig ist hier „das Bett, in dem man ruht“, es sind hier Anklänge einer Brautmystik, wobei das Bett die Kirche ist. Wilhelm von St. Thierry (1075 - 1148): Er war ebenfalls Mystiker, ein Zisterzienser, der folgendes zur Klosterzelle sagt: Die Zelle ist eine heilige Stätte, an der der Herr und sein Diener oft miteinander sprechen wie ein Mann mit seinem Freund; an der die glaubende Seele sich mit dem Wort Gottes vereinigt, sich die Braut dem Bräutigam zugesellt, das Himmlische mit dem Irdischen, das Göttliche mit dem Menschlichen vereinigt wird. Es geht tatsächlich um eine Vereinigung, wie sie bei Braut und Bräutigam gedacht ist, wenn auch auf einer abstrakten Ebene. Warum gibt es nun innerhalb der Mystik so viele Texte von Frauen? Hier muss erwähnt werden, dass das Christentum die einzige Religion ist, in der es Frauenmystik gibt. Zunächst ist es eines der einzigen Religionen, die eine Frau quasi göttlich verehrt. Außerdem spielen im Neuen Testament Frauen eine ganz wichtige Rolle (in Begegnungen mit Jesus), die sonst in religiösen Schriften kaum bis gar nicht vorkommen. Frauen haben also einerseits einen Platz im Christentum, sind aber in ihren Möglichkeiten beschränkt. Mystische Erfahrung ist aber etwas, das außerhalb dieses Männergeschäftes liegt, es betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. Die einzige Möglichkeit einen Beitrag zur Theologie zu leisten, war in einer religiösen Offenbarung bzw. dem Niederschrieben einer visionären Schrift. Es gab gerade im 12. Jhdt. zwei Frauen, die die Gabe der Vision hatten und von den männlichen Autoritären auch als Prophetinnen akzeptiert wurden. Zusammen mit den religiösen Bewegungen des 12. Jhdts. hat dies zu ganz spezifischen Frauenbewegungen geführt, die sich einer bestimmten Form der Spiritualität gewidmet haben. Die Mystikerinnen, aber auch die Mystiker, mussten ihr Texte immer wieder durch die kirchlichen Institutionen überprüfen lassen, was nicht ganz ungefährlich war. Viele Frauen wurden aufgrund 87 von 103 ihrer Schriften verurteilt und auch verbrannt. Es gab auch sehr viele Betrügerinnen und Betrüger, die von der Kirche verfolgt wurden. 3. Die Benediktinerinnen Hildegard von Bingen (1098 - 1179): Ihre Texte sind eine Art Visionenliteratur, sie erwähnt zwar keine unio mystika, sie hat aber die Gabe der Vision: Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmlisches Gesicht. Zitternd und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen. Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmlische Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: „Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst! Nur weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage und beschreibe es nicht nach der Redeweise des Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher Erfindung noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe heraus, die dir in den himmlischen Geschichten zuteil wird: wie du es in den Wundern Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer, der die Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es meint und will, wie er es zeigt und vorschreibt, weitergibt. So tu auch du, o Mensch! Sage, was du siehst und hörst und schreibe es, nicht wie es dir noch irgendeinem anderen Menschen gefällt, sondern schreibe es nach dem Willen dessen, der alles weiß, alles sieht, alles ordnet in den verborgenen Tiefen seiner geheimen Ratschlüsse. Gleich mit der Vision ist die körperliche Reaktion („zitternd und mit großer Furcht“) verbunden. Es folgt ein mehrfacher Befehl, ein Auftrag der göttlichen Stimme zur Niederschrift dieser Visionen. Es geht um eine Erkenntnis, um etwas, das Gott will. Die Stimme spricht Hildegard nicht als Frau, sondern als Mensch an. Das einzige, was sie als Frau spezifisch durchaus klar macht, ist zB der Satz "nur weil du zu schüchtern bis zum Reden,...". Es zeigt auch ihre Rolle als Frau innerhalb des Kirchenapparats - Frauen sind eben nicht die Gelehrten und dürfen es auch gar nicht sein. Man könnte sagen, im Gegensatz zu den weltlichen Autorinnen, denen die Bildung immens wichtig war, wird bei den geistlichen Autorinnen, auch bei den Männern, diese Ungebildetheit betont wird. Nur dadurch kann der Mensch ein Medium Gottes sein. Hildegard muss vollkommen zurücktreten - als Körper, nicht aber als Stimme. Sie beschreibt ihre Vision weiter: Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Geschichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern seit meinem Kindesalter, das heißt seit meinem fünften Lebensjahr, so wie auch heute noch. Doch tat ich es keinem Menschen kund, außer einigen wenigen, die wie ich im Ordensstand lebten. Ich deckte alles mit Schweigen zu bis zu der Zeit, da Gott es durch seine Gnade offenbaren wollte. (Wisse die Wege, Übertragen und bearbeitet von M. Böckeler. Salzburg 1975, 6. Aufl., S. 89). Hildegard entscheidet sich also erst nach diesem Auftrag die Texte niederzuschreiben, gibt aber die Schriften sofort ihren Mitbrüdern zu lesen. Klosterbruder Volmar erscheint hier immer wieder als derjenige, der ihre Texte überarbeitet, aber sie schreibt selbst. Ihre Tätigkeit ist von Schmerz und Krankheit begleitet. Im Zuge ihres Schreibens wird sie aber immer wieder gesund, was von den männlichen Kollegen bemerkt wird und so werden ihre Schriften weitergeleitet - letztendlich gibt es ein päpstliches Dekret, was ihr den Status der Prophetin zuerkennt. 1147 wird sie also als Prophetin anerkannt und sie schreibt ihr erstes Personenwerk. Sie hört diese Stimme immer wieder, aber nicht in einem Zustand der Geistesverwirrung, was sie immer wieder betont. Ihre Visionen sind also klar. Nach ihrer Anerkennung hat sie eine unglaubliche Tätigkeit entwickelt, sie hat die Aufgabe bekommen, ein weiteres Kloster zu gründen, sie war somit die erste Frau, der dies erlaubt wurde. Zwar war es trotzdem unter männlicher Aufsicht, die sie aber selbst wählen durfte. Hinzu kommt, dass sie sogar architektonisch in den Plan des Klosters eingreifen durfte. Zusätzlich war sie eminent politisch tätig. Sie pflegt nicht nur einen Briefwechsel mit den größten 88 von 103 Kirchenautoritäten ihrer Zeit, wo sie ihnen auch durchaus ein Fehlverhalten vorwirft, sie geht auch als Nonne nach draußen und predigt - vor allem gegen Katharer - und ist somit vor allem für die Kirche äußerst nützlich. Sie ist über 80 geworden. Wir haben es also mit einer sehr außergewöhnlichen Biografie zutun, auch wenn sie selbst immer wieder betont, dass sie nichts anderes ist, als ein Medium Gottes, ein Gefäß für die Stimme Gottes. Ungewöhnlich für eine Mystikerin sind ihre exegetischen Schriften, hier vor allem ihr Buch zu Natur- und Heilkunde, sie hat also ihre Visionen kosmologisch ausgeweitet und hat so etwas wie Lehrbücher geschrieben. Sie war zudem auch noch Komponistin, von ihren Liedern wurden sogar die Noten überliefert. Allerdings wurde das von den Kirchenautoritäten kritisch beäugt. Es ist erstaunlich, dass sie nach ihrem Tod kaum rezipiert wurde, auch ihre Heiligsprechung erfolgte erst sehr spät (2012 durch Papst Benedikt). Elisabeth von Schönau (1129 - 1164): Sie wurde früher heiliggesprochen, nämlich im 16. Jhdt. Sie ist ebenfalls Benediktinerin und dem Doppelkloster von Schönau schon als Kind beigetreten, sie ist nur 32 Jahre alt geworden. Beide Frauen standen miteinander in Kontakt, Elisabeth von Schönau hat aber eine andere Form der Vision erfahren als Hildegard. Schon von Kind an war sie sehr kränklich und litt an Schwermut, der mittelalterlichen Depression. Sie selbst hat die Visionen nicht niedergeschrieben, sondern ihren Bruder gebeten dem Kloster beizutreten das für sie zu tun. Es geschah in der Nacht zum ersten Sonntag nach dem Fest des heiligen Jakobus; ich war am ganzen Körper ermattet, mein Puls schlug schwach, und es begann zuerst mit starken Zittern meiner Hände und Füße. Darauf ergriff es meinen ganzen Körper, aus allen Gliedern brach mir der Schweiß. Darauf war es mir, als würde mein Herz mit einem Schwert in zwei Teile zerschnitten. (…) Als ich das alles deutlich vor Augen sah, brachen aus mir die Worte hervor: „Hebt die Augen eures Herzens empor zu dem von Gott geschaffenen heiligen Licht! Seid wachsam und seht den Ruhm und die Glorie und die Majestät des Herrn.!“ Am Morgen danach bin ich in der dritten Stunde schwerer krank geworden, noch schwerer als am Abend zuvor. Einer kam von den Brüdern zum Fenster und ich habe ihn gebeten, er solle die Messe für die Heilige Trinität zelebrieren und er stimmte zu. Sobald aber die Messe feierlich begonnen hat, habe ich, in Ekstase schauend, geweissagt. Und wiederum schaute ich die vorhin beschriebene Vision, aber viel klarer, deutlicher und handgreiflicher. Die Verbindung von Krankheit und Vision ist bei Elisabeth von Schönau sehr stark. Sie erfährt ihre Visionen in einem ekstatischen Zustand, zumeist während der Messen. Es ist hier eine Form der Frömmigkeit, die sich von der Hildegards elementar unterscheidet. Sie ist unmittelbarer und kontemplativer und, wenn man so will, individueller. Durch die Anleitung ihres Bruders Eckbert entsteht ein sehr großes Visionenwerk, auch bei ihr lässt sich eine politische Richtung feststellen, auch wenn Experten die ihren Bruder dahinter vermuten der sie dahingehend angeleitet hat. Bei Elisabeth spricht ein Engel in ihren Visionen - wir haben es also mit einer anderen Form der Kommunikation zutun - der sie anleitet zu predigen, auch gegen bestimmte Bischöfe. Auch Elisabeth wird der Status einer Prophetin zuerkannt, wenn auch nicht so offiziell wie bei Hildegard von Bingen. Man versucht sogar, sie zu denunzieren - es sind falsche Briefe in ihrem Namen im Umlauf, aber die Amtskirche ist in diesem Umfeld zu schwach. Sie erfährt eine unglaubliche Autorität durch ihre Visionen, ein Ruf, der weit über ihre Klosterschwestern hinaus geht. Es gehen sehr viele Mitglieder des kleineren Klerus zu ihr, um Rat und auch die Zukunft zu 89 von 103 erfahren. Während sie sich vollkommen in den Dienst dieser Visionen übergibt, sieht sie sich selbst als nicht vorhanden. Ihr Körper wird beinahe dazu gezwungen, etwas hervorzusagen, es bricht geradewegs aus ihr heraus und sie kann es nicht kontrollieren. Bei Elisabeth haben wir eine individuelle und suggestive Gotteserfahrung, die sich demütig am Kirchenjahr und dessen Feierlichkeiten orientiert und diese ekstatisch über durchaus interessante Bilder überhöht. Beiden Frauen gemeinsam ist, dass sie sich in ihrer Tätigkeiten, in ihrem Schreiben und Aufschreiben, selbst als Frauen vollkommen zurücknehmen. Es geht hier nicht um weibliches Schreiben, es geht um Schreiben und um eine Stimme, die trotzdem weiblich vermittelnd ist. Dass sich Gott auf diese Weise einer Frau zeigt, ist durchaus außergewöhnlich und geht nur über eine ganz radikale Demutshaltung. Beide Frauen sind auch sehr stark an den religiösen Schriften der Zeit orientiert. 11. Vorlesung 14. Jänner 2016 Mittelalterliche Frauenmystik II. Die erste abendländische Frauenbewegung von sehr großem Ausmaß hat im Mittelalter stattgefunden. 1. Die Beginen als erste abendländische Frauenbewegung Wie bereits in der vorigen Vorlesung erwähnt wurde, sind im 12. Jhdt. aufgrund von verschiedener kirchlicher Entwicklungen Laienbewegungen entstanden, die in gewisser Weise auch autonom agiert haben und teilweise die von der Kirche vertretenen Glaubensgrundsätze abgelehnt haben. Die Katharer und Waldenser wurden deswegen stark von der Amtskirche verfolgt. Eine andere Bewegung, die auch im 12. Jhdt. entstand, war eine Bewegung von Frauen, die sogenannten Beginen. Sie sind tatsächlich Zusammenkünfte von Frauen unter bestimmten Bedingungen. Warum es diese Gruppierung gegeben hat und deren Ursachen sind in der Forschung umstritten. Eine Ursache kann sein, dass die Franziskaner- und Dominikanerklöster, also die Neugründungen, überlaufen waren und die Tore für Frauen gesperrt haben. Daraufhin haben sich Frauen zusammengeschlossen - ohne Bindung an einen Orden. Diese Selbstverwaltung und Frauengemeinschaften hat man Beginen genannt. Woher der Name kommt und dessen Bedeutung ist bis heute nicht geklärt. Es handelt sich auf jeden Fall um autonome und reine Frauengemeinschaften, die nach jeweils eigenen Regeln gelebt haben. Sie haben „demokratisch“ agiert, sie hatten hierarchische Strukturen und es wurde zumeist eine Meisterin bzw. Grand Dame gewählt, die diesen Beginenhof und Siedlung geführt hat. Allerdings haben diese Frauen oft einen Habit getragen - eine Art Nonnengewand - um ihre Nähe zu den Geistlichen und Ordensfrauen zu zeigen, denn war eines der Hauptelemente der Gemeinschaften: die Frömmigkeit und die Liebe zu Gott. Die Anzahl war der Frauen war sehr groß. (In der Stadt Köln gab es beispielsweise 169 komplette Beginenhöfe). Ab dem 14. Jhdt. gab es dann Verfolgungen und die Beginen konnten nur überleben, wenn sie sich wiederum in einen von der Kirche akzeptierten Orden eingegliedert 90 von 103 hatten. Man könnte diese Bewegung fast als „urkommunistisch“ bezeichnen: die einzelnen Konvente hatten bestimmte Regeln des Zusammenlebens. Bei einem Konvent heißt es zB, dass jede aufgenommene Schwester zum Lebensunterhalt Rente oder Vermögen besitzen oder eine Kunst verstehen, um sich Existenzmittel zu erwerben. Die Frauen haben also ihr eigenes Vermögen, Ländereien und handwerkliche Kenntnisse eingebracht. Es gab schon die Referenz des zölibatären Lebens, aber sie durften sich frei bewegen und durchaus den Stand der Ehe eingehen, was allerdings die wenigsten gemacht haben. Die Erwerbstätigkeit der Frauen diente sozialen caritativen Zwecken - sie haben sich vor allem der Krankenpflege gewidmet. Sie waren so innerhalb der Bevölkerung sehr beliebt. Was ihre handwerklichen Tätigkeiten anbelangt, so haben sie sich vor allem der Fertigung hochwertiger Tuchwaren gewidmet und standen damit in Konkurrent mit den Zünften und mussten dann per Gesetz diese Art von Produktion unterlassen, da sie den Kaufleuten im Weg waren. Die Beginen haben sich dann zunehmend den caritativen Tätigkeiten gewidmet - der Kranken- und Altenpflege und dann letztendlich auch der Totenpflege. Aus dem Kreis der Beginen stammen die wichtigsten und eindrucksvollsten mystischen Schriften. Innerhalb dieser Frauengemeinschaften wurde eine ganz eigene Form der Spiritualität und Frömmigkeit zur Sprache gebracht. Ein Beispiel dafür wäre ein französisches Lehrgedicht einer französischen Begine: Wisst Ihr, was ich unter dem Beginentum verstehe? Ein weites Gewissen, ein frommes und andächtiges Gemüt, ein Herz, frei von Unkraut, denn die Seele erleidet sonst großen Schaden, an Gott denken im Gebet. Zwei Tränen aus Reue und drei aus großem Mitleid sind genügend Reichtum für den, der über das Meer fährt. Aber diese Art Frömmigkeit kann niemand verachten, häufig führt sie Gott den Haushalt. Wir sind hier bei einer wichtigen Variante dieser Schriften, die aus dem Beginenumfeld kommen. Die Sprache der Texte ist stark geprägt von weiblichen Vorstellungen, die den Hausstand und dessen Pflege betreffen, die Vorstellungen von Ehe und Brautschaft auf einer spirituellen Ebene haben und erotische Vorstellungen einer spirituellen Vereinigung mit Gott, die bei den Frauen stark körperlich gedacht sind. Es ist also zunächst notwendig zu wissen, dass die Spiritualität und auch die Schriften der frommen Frauen aus dem Kreis der Beginen nicht ohne extreme Körpererfahrungen zu denken sind. Die Rolle des Körpers im Zusammenhang des Glaubens ist für uns relativ schwer zu denken. Der mittelalterliche Gläubige hat versucht über dieses körperliche Gefangensein herauszukommen, den Körper zu kontrollieren und zu züchtigen und etwas Geistliches herauszutreiben. Das hat mit einer memento-mori-Vorstellung zutun - man hat den Körper ohnehin als etwas Verfallenes, Vergängliches und als Material des Irdischen gesehen. Man hat also den Körper zu religiösen Zwecken manipuliert, das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Nur die Art der Manipulation unterscheidet sich wesentlich zwischen Männern und Frauen. Formen der Selbstkasteiung: Es kommt alles an Qualen vor, natürlich auch im Imitatio der wichtigsten Schriften. Sie trieben sich Messer und Nägel ins Fleisch, geißelten sich, ahmten die Leiden Christi nach, sprangen in eiskalte Gewässer. Dazu zählt auch die Form der Stigmata: Franz von Assisi war einer der Heiligen, der die 91 von 103 Stigmata Jesus’ empfangen hat, die im Beten entstanden sein sollen. Eine wichtige Rolle bei diesen Praktiken sind die Messrituale, die Rituale des christlichen Ritus, hier vor allem die Eucharistie, wo die Hostie gereicht wird, als unblutige Vergegenwärtigung des Kreuzopfers und des Todes Christi, die zu elementaren mystischen Erfahrungen geführt haben - zB die Hostie wird im Mund zu Fleisch etc. Bei den männlichen Mystikern werden diese Erfahrungen sehr drastisch und so beschildert, dass über die Erfahrungen bereits in einem theologischen Sinn reflektiert wird. Bei den Frauen wird die mystische Erfahrung als etwas beschrieben, das unmittelbar und direkt erlebt wird und noch nie da gewesen ist. Etwas lässt sich ganz deutlich sagen: Frauen beschreiben ihre Manipulation des Körpers eher als eine Manipulation von innen, während es bei den Männern eine von außen ist (Schnittwunden, Gürtel aus Eisenstacheln, die getragen werden, etc.). Bei den Frauen gibt s eine Art innere mystische Erfahrung, die sich auf innere Phänomene bezieht, zB süßer Schleim, der zu Erstickungsanfällen führt, die Unfähigkeit, etwas anderes als die Hostie zu sich zu nehmen, Blutungen, etc. Viele dieser sind Körpererfahrungen der Frau, die dann in eine mystische Erfahrung umgewandelt werden. Es ist auch eine andere Form der Sprache zu erkenne, vor allem, wenn es um die Brautmystik geht. Es geht um das Erleben Jesus als Bräutigam, das Erleben einer mystischen Vereinigung von Seele und Gott, die in einer sehr erotischen Sprache beschrieben wird. 2. Beginen und Mystik Aus den Kreisen der Beginen stammen die bedeutendsten Schriften der Mystikerinnen, die ganz elementar von den Schriften abweichen, die in der vorigen Vorlesung behandelt wurden. Maria von Oignies (1177 - 1213): Sie ist eine der ersten Mystikerinnen und eine Begine, die in der Nähe von Lüttich geboren wurde. Als Kind adliger Eltern hat sie Lesen und Schreiben gelernt und wurde mit 14 Jahren verheiratet. Es gelang ihr, ihren Gatten zur Keuschheit zu überreden und das Paar widmete sich den von der Gesellschaft Verstoßenen, den Aussätzigen und somit der Krankenpflege. Sie hat in dieser Tätigkeit hohes Ansehen erlangt, aber auch in ihren mystischen Visionen, die sehr heftig waren, und sich sehr stark körperlich vollzogen haben. Sie hat ihre mystischen Aussagen "herausgeschrien wie eine Gebärende“, heißt es von ihrem Biografen Jakob von Vitry. Wir haben von ihm so etwas wie eine Vita von ihr, in der beschrieben wird, wie sie gelebt hat: Getrieben von der Leidenschaft des Geistes - gleichsam berauscht von der Süßigkeit des Passahlamms schneidet sie sich voller Ekel mit einem Messer nicht geringe Fleischstücke ab, was sie aus Furcht auf Erden verborgen hat, und - zu sehr von Liebesleidenschaft entflammt - überwand sie den Schmerz des Fleisches, dabei einen der Seraphime in der Ekstase des Geistes vor sich sehend. Die Wundstellen sahen Frauen, als ihr Leichnam gewaschen wurde, und sie bewunderten sie... Wer Simeons Würmer, die aus den Wunden hervorkrochen, wer des Heiligen Antonius Feuer, mit welchem er sich die Füße verbrannte, schauervoll verehrt, warum sollte der nicht auch im schwachen Geschlecht die Unerschrockenheit solch einer Frau bewundern, welche - von Liebe verwundet und von den Wunden Christi erschüttert - sich nicht vor den Verletzungen des eigenen Körpers scheute. (Vita Mariae, S. 641) Er beschreibt das Herausschneiden von Körperstücken als Liebesleidenschaft. Man sieht, dass sie in diesem Text mit den Heiligen, der Legenda Aurea, gleichgestellt wird. Er bewundert diese Form und hebt Maria in gewisser Weise hervor und sagt, das schwache Geschlecht in der Lage ist, auch so zu agieren. 92 von 103 Zum Schluss hat sie sich in ein Kloster begeben und sich vom Andrang der Bevölkerung befreit. Betrijs von Nazareth („Die sieben Arten des Liebens“) und Hadewijch von Antwerpen (Briefe in Reimform, Visionen, Gedichte): Beide haben eigenständig wunderschöne Gedichte geschrieben. Wir haben bei ihnen eine Art von Minne- und Brautmystik, die ganz elementar mit der weltlichen Liebeslyrik dieser Zeit zusammenhängt und Bildgeber und -spender ist. Bei beiden spielt die Minne und somit auch erotische Sprache eine große Rolle. Die Schriften der Mystikerinnen waren fast ausschließlich in der Volkssprache und damit auch eine, die wesentlich stärker rezipiert von der Laienbevölkerung wurde. Der Fall der Maguerite Porete („Spiegel der einfachen Seelen“): Wir haben es hier mit einer Beginne zutun, die aufgrund ihres Buches - von dem sie nicht abschwören wollte - als Ketzerin verurteilt und in Paris am Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sie hat eine radikale Personifikation der mystischen Erfahrung propagiert, indem sie sagt, jede gläubige Seele könne diese auch ohne die Kirche erfahren. Überhaupt hat die Kirche begonnen, als sie merkte, dass der Einfluss der Schriften dieser Frauen immer größer wurde, die Frauen stark verfolgt und ihnen geraten in ein von der Kirche akzeptiertes Kloster zu gehen. Im 16. Jhdt. hat die Frauenbewegung diese Dimension verloren. 3. Mechthild von Magdeburg: „Das fließende Licht der Gottheit“ (1207 1282): Mechthild, aus Magdeburg stammend, hat ein niederdeutsches mystisches Buch geschrieben, das sich "Das fließende Licht der Gottheit" nennt, das in sieben Bücher aufgegliedert ist. Sie ist berühmt, weil sie eine Art von literarischer Sprache entwickelt hat, die bislang so nicht der Fall war, zumindest nicht bei einer ihrer Vorgängerinnen. Man spricht bei ihr von einer erotischen Mystik. Weil sie so müde, erschöpft und von Krankheit gezeichnet war, trat sie letztendlich in ein Kloster ein und hat erst spät begonnen - mit weit über 50 - ihre mystischen Erfahrungen aufzuschreiben. Ihre Brautmystik ist stark inspiriert von den Hohenlied von Clairvaux, auch wenn der sprachliche Zugang ein anderer ist. Es geht bei Mechthild von Magdeburg vor allem um eine mystische Vereinigung zwischen dem göttlichen Bräutigam und der irdischen Seele, die als Braut bezeichnet wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese Begehren nicht als einseitig gesehen wird, sondern als wechselseitig: auch Gott begehrt die liebende Seele. Ihre Mystik wird stark von der Brautmystik dominiert. Sie spricht von einer Vereinigung im Bett, in einem geheimen Raum, es kommt bei ihr also tatsächlich zu einer Vereinigung, sie ist aber eine spirituelle, die - und das ist paradox - über Körpermetaphern funktioniert. Sie hat in diesem Kloster etwas wie eine eigene Form der Mystik ausgelöst. Nach ihrem Tod gab es mehrere Nonnen, die in diesem Duktus geschrieben haben. Das Buch wechselt zwischen Minnegedichten mit Dialogen zu eigenen Beschreibungen, es ist eine ganz merkwürdige Gattung, die schwer einzuordnen ist. 93 von 103 Mechthild von Magdeburg über ihr eigenes Schreiben: Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den ougen miner sele und hoere es mit den oren mines ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichamen die kraft des heiligen geistes (IV 13,3-5). Dis buoch ist von gotte komen. (IV, 2,1). Es sind die Augen der Seele und die Ohren des unsterblichen Geistes - es sind körperliche Bilder, die quasi spirituell aufgelöst sind. Es geht um eine geistige Form des Sprechens. Es geht um eine Lichterfahrung, die gleichzeitig eine Erfahrung des Sprechens und des Schreibens ist. In ihrem ersten mystischen Erlebnis - sie war ungefähr 12 - wird sie vom heiligen Geist gegrüßt, den sie ab da jeden Tag empfängt: Ich unwirdigú súnderin wart gegruesset von dem heligen geiste in minem zwoelften jare also vliessende sere, do ich was alleine, das ich das niemer mere moehte erliden, das ich mich zuo einer grossen teglichen súnde nie mohte erbieten. Der vil liebe gruos was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte suessekeit und er wahset noch alle tage. (IV 2, 8-13) Sie wird in eine Art sündenfreien Zustand versetzt. Das Leid ist eine Süßigkeit, die Passion ist eine der größten Liebesleistungen, die Jesus dem Menschen gegenüber jemals getan hat. Dieser Gruß war vermutlich Anlass ihrer Weltflucht und sie ist dann tatsächlich allmählich in den Bereich der Klöstertätigkeit gegangen, wo der Dominikaner Heinrich von Halle eine große Rolle spielt. Er war so etwas wie ihr Seelenberater und, wie man heute sagen würde, conscriptor - eine Art Antrieb für Mechthild, ihr Buch zu aufzuschreiben. Eine Möglichkeit besteht darin, dass Mechthild ihre Visionen diktiert hat, da er sich sich selbst in dem Buch zu Wort meldet: Dise schrift, die in disem buoche stat, die ist gevlossen us von der lebenden gotheit in swester Mehtilden herze und ist also getrúwelich hie gesetzet, alse si us von irme herzen gegeben ist von gotte und geschriben mit iren henden. (VI 43,2-4) Es ist die Bestätigung und Legitimation des männlichen Mönchs. Heinrich von Halle will betonen, dass das Buch tatsächlich höchste Authentizität hat. Mechthild von Magdeburg hat eine eigene Form der Sprache gewählt und ist eine der ersten Vertreterinnen der Brautmystik: Beispiel für einen Dialog: Die sele kam zuo der minne und gruoste si mit tieffen sinnen und sprach: „Gott gruesse úch, vro minne.“ „Got lone úch, [liebú] vro kúneginne.“ „Vro minne, ir sint sere vollekomen“. „Vro kúneginne, des bin ich allen dingen oben.“ „Vro minne, ir hant manig jar gerungen, e ir habint die hohen drivaltekeit dar zuo betwungen, das sú sich alzemale hat gegossen in Marien demuetigen magetuom.“ „Frouwe kúneginne, das ist úwer ere und vrome.“ „Frou minne, nu sint ir har zuo mir komen und ir hant mir alles benomen, das ich in ertrich ie gewan.“ „Frouwe kúnegin, ir hant einen seligen wehsel getan.“ „Frouwe minne, ir hant mir benomen mine kintheit.“ „Frouwe kúneginne, da wider han ich úch gegeben himelsche vriheit.“ „Frouwe minne, ir hant mir benomen alle mine jugent.“ „Frouwe kúnegin, da wider han ich úch gegeben manig helige tugent.“ „Frouwe minne, ir hant mir benomen guot, frúnde und mage.“ „Eya frouwe kúnegin, das ist ein snoedú klage.“ „Frouwe minne, ir hant mir benomen die welt, weltlich ere und allen weltlichen richtuom.“ „Frouwe kúnegin, das wil ich úch in einer stunde mit dem heiligen geiste nach allem úwerm willen in ertrich gelten.“ Frouwe minne, ir hant mich also sere betwungen, das min licham ist komen in sunderlich krankheit.“ „Frouwe kúnegin, da wider han ich úch gegeben manig hohe bekantheit.“ „Frouwe minne, ir hant verzert min fleisch und min bluot.“ „Frouwe kúnegin, da mitte sint ir gelútert und gezogen in got.“ „Frouwe minne, ir sint ein rouberinne, dennoch sont ir mir gelten.“ „Frouwe kúnegin, so nement reht mich selben.“ „Frouwe minne, nu hant ir mir vergolten hundertvalt in ertriche.“ „Frou kúnegin, noch hant ir ze vordernde got und alles sin riche.“ (I 1) Die Seele ist das, was von ihr kommt, „Frouwe minne“ steht hier für Gott. (Gott wurde damals oft weiblich gedacht.) Es ist in einem höfischen literarischen Schrift in einem metaphorischen Ausdruck geschrieben. In diesem Gespräch entsteht ein gleichwertiges dialogisches Verhältnis, es ist eine Dialektik des Gebens und Nehmens, was in dieser Form völlig neu ist. Jede Form von Spiritualität wird ihr in einem unglaublich freundlichen Ton vergolten, ganz anders als bei 94 von 103 Katharina, bei der die Stimme eine bedrohende ist. Es ist eine mystische Erfahrung, die auf eine Liebesbeziehung abzielt. Dass Gott mit weiblichen Metaphern gedacht wird, kommt nicht nur bei Mechthild, sondern auch bei anderen Mystikerinnen vor. Mann und Frau sind hier vollkommen austauschbar. Wichtig bei diesem Gegenseitigen ist auch die Spiegelmetapher: die Seele spiegelt die Minne wieder und umgekehrt. Das ist ein Wesen der weltlichen Liebe nach den Autoren des Mittelalters. „Du bist min spiegelberg, min ougenweide, ein verlust min selbes, ein sturm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min hoehste sicherheit“ (I 20,1f.). Besonders interessant ist die Antwort, die Gott darauf gibt. Die Seele und Gott gehen an einen geheimen Ort und treiben ein Spiel miteinander. Dieses Spiel dauert nicht ewig und endet, woraufhin die Seele zu weinen beginnt. Gott tröstet sie mit folgenden Worten: „Eya du liebú tube, din stimme ist ein seitenspil minen oren, dinú wort sint wurtzen minem munde, dine gerunge sint die miltekeit miner gabe“ (I 2, 26f.). Man kann hier sagen, dass die Sprache des Hohenliedes noch immanent ist. Wir haben den merkwürdigen Fall, dass das Lied erst 50/60 Jahre später in einer alemannischen Übersetzung entdeckt wurde. Das spricht dafür, dass es tatsächlich zumindest unterdrückt und die Verbreitung nicht gebilligt wurde. Es ist ein Spiel mit dem göttlichen Geliebten, was den neuzeitlichen Leser befremden kann. Es ist auf jeden Fall die erotische Sprache der weltlichen Liebeslyrik dieser Zeit, was aber ihre Zeitgenossen keinesfalls gestört haben. Das Begehren Gottes ist ebenfalls ein Begehren. Man hätte hier die Sehnsucht des Göttlichen nach der Kirche und nach den Gläubigen. Das wird hier aber produktiv gewendet: Die "hovereise der sele" Hier wird beschrieben, wie die Seele an Gottes Hof kommt und Gott fröhlich betrachtet: So wiset er ir mit grosser gerunge sin goetlich herze. Das ist gelich roten golde, das da brinnet in einem grossen kolefúre. So tuot er si in sin gluegendes herze. Alse sich der hohe fúrste und die kleine dirne alsust behalsent und vereinet sint als wasser und win, so wirt si ze nihte und kumet von ir selben. Alse si nút mere moegi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zuo noch abe. So sprichet si: „Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.“ (I 4, 4-11) Wir haben hier erneut die Spiegelmetapher. Man kann gut erkennen, dass es sich um eine eigene Form der Sprache handelt, die nicht immer leicht zu verstehen ist. Die Vermischung von Wasser und Wein steht für die mystische Vereinigung von Seele und Gott. „Du bist min senftest legerkússin, min minneklichest bette, min heimlichestú ruowe, min tiefeste gerunge, min hoehste ere! Du bist ein lust miner gotheit, ein turst miner moenschheit, ein bach miner hitze!“ (I 19, 2-4) Die Minne legt sich mit der Seele in das Bett und sie küssen und liebkosen einander und es kommt zu innigen Umarmungen. Es ist Gott der hier spricht. Für diese Zeit war es durchaus eine Sprache, die akzeptiert wurde und als mystische Erfahrung wahrgenommen wurde. Auch das Licht ist etwas, dass sich verströmen und verteilen kann. Ungefähr so kann man sich die Fantasien von Mechthild vorstellen. 95 von 103 Zusammenfassung: Als eigene Gattung kann man das Buch nicht sehen, es ist eine Klitterung aus verschiedenen Bereichen der sowohl spirituellen, geistlichen als auch weltlichen Literatur. Mechthild behauptet immer wieder, dass diese Sprache eine unmittelbare ist und mit anderen nicht in Berührung kommt. Es ist eine neue Sprache mit neuen Wörtern (im Sinne von Kombinationen). Wir sind in einem Umfeld, dass anders als bei Hildegard von Bingen funktioniert. Wir haben Frauengemeinschaften, die in ihren Lebensformen freier sind, als in den strengen Klöstern. Man hat eine ganz andere Akzeptanz gegenüber von spirituellen Formen, die von der Kirche nicht sanktioniert sind. Auch bei Mechthild spielt der Körper eine Rolle, aber nicht mehr in einer Form der Fragmentierung und Zerstückelung. Sie war oft krank, aber nicht in der Form, wie wir es bei der ersten Begine hatten. Die Vermischung der Geschlechter bei Mechthild ist für unseren Zusammenhang sehr entscheidend. Auch wenn es den Eindruck hat, als ginge es um Mann und Frau, spielt diese Vorstellung kaum eine Rolle. Gott als Bräutigam verwendet die gleichen Wörter, wie die Braut, weshalb erneut eine Art Spiegeleffekt in ihrem Werk existiert. Man könnte also sagen, ihr Werk zeigt auch inwieweit Postionen von Männlichkeit und Weiblichkeit aufgelöst werden können und wie sehr sich erotische Liebessprache auflösen kann und inwieweit Mystik literarisch wird in einem ganz positiven Sinn. Es ist ihr Anliegen ihre Spiritualität in eigener Sprache zu formulieren, was ihre eindeutig gelungen ist. 12. Vorlesung 21. Jänner 2016 Christine de Pizan (*1364) Der Vorlesungszyklus wird mit einem Beispiel aus dem Bereich der weltlichen Literatur beendet. Christine de Pizan ist die erste in Europa lebende Schriftstellerin der Welt, die von ihrer Literatur leben konnte - eine Berufsschriftstellerin. Die meisten männlichen Autoren der mittelhochdeutschen Zeit waren Berufsdichter. Sie war auch Philosophin und Frauenrechtlerin. Es besteht leider keine greifbare Übersetzung des Werkes „Das Buch von der Stadt der Frauen“ auf dem Markt. Es gibt durchaus Anklänge an Stimmen aus der Frauenbewegung, an Argumenten, die sie in ihren Werken bringt. Auch hier haben wir eine Frau, die gattungsbestimmend ist. Da wir uns bereits im späten 14. Jhdt./Anfang des 15. Jhdts. befinden, wissen wir sehr viel über ihre Person, auch aufgrund ihrer eigenen Angaben. Sie hat nicht nur mehrere Bücher und philosophische Abhandlungen hinterlassen, sondern auch einen regen Briefwechsel und eine Art Biografie. Sie wird 1364 in Venedig geboren, ihr Vater Tommaso di Benvenuto da Pizzano (Thomas de Pizan), lehrt an der Universität Bologna, wo er Astrologie unterrichtet. Der Ruf ihres Vaters war so groß, dass er an den Hof Karls V. (1338 - 1380) als eine Art Hofwissenschaftler gerufen wurde, weshalb sie mit drei Jahren an den Hof Karls V. gekommen ist, wo sie aufwuchs. Ihr Vater hat ihr auch immer wieder Zugang zur königlichen Bibliothek gewährt, dort waren nicht nur die kostbarsten Bücher dieser Zeit aufbewahrt, sie war auch eine Stätte der Buchproduktion. Dort dürfte sie einiges gelernt haben, denn sie hat ihre Bücher später selbst illustriert. Wichtig war, dass sie dort die wichtigsten Klassiker kennengelernt hat, unter andere die Übersetzungen von Boccaccio. 96 von 103 Werke: Cent Ballades. 1399 Le Livre de la Cité des Dames. 1405 Epistre au Dieu d’amours. 1399 Le Livre des Trois Vertus oder Le Trésor de la Cité des Dames. 1405 Le Debat de deux amants. 1400 Le Livre des trois jugements amoureux. 1400 Le Dit de Poissy. 1400 Epistre a la Royne. 1405 Le Livre de l’advision Cristine. 1405 L’Epistre Othéa. 1400 Le Livre de Prudence oder Le Livre de la prod’homie de l’homme. 1405 Lettres sur le Roman de la Rose. 1401 Le Livre du corps de policie. 1407 Oraison Nostre Dame. 1402 Le Livre des fais d’armes et de chevalerie. 1410 Le Livre du Chemin de longue estude. 1402 La Lamentacion sur les maux de la France. 1410 Le Dit de la Pastoure. 1403 Le Livre de la Paix. 1413 Le Livre de la Mutacion de Fortune. 1403 Epistre sur la prison de la vie humaine. 1418 Epistre a Eustache Morel (=E. Deschamps). 1404 Les Heures de contemplacion sur la Passion de Nostre Seigneur. 1420 Le Livre des faits et bonnes meurs du sage roy Charles V. 1404 Le Livre du duc des vrais amans. 1404 Dictié en l’honneur de la Pucelle oder Le Dictié de Jehanne d’Arc. 1429 Im Buch „Le Livre de la Mutacion de Fortune“ erzählt sie über ihre ersten Lebensjahre, bezeichnet sie als sorglos und glücklich. Ihre Beziehung zum Vater scheint eine gute gewesen zu sein. Sie sagt, dass sie relativ bald ihre Begabung und Intellektualität erkannt hat und dass er ihr, ohne ihr Geschlecht zu benachteiligen, den Zugang zur Bibliothek uns damit auch zum Wissen geschafft hat. Sie formuliert es folgendermaßen: Aber da ich nun einmal als Mädchen das Licht der Welt erblickt hatte, war es nicht vorgesehen, mich von den Wissensschätzen meines Vaters profitieren zu lassen. Wenn ich dieses Erbe nicht antreten konnte, so hatte dies weniger mit Recht als mit einem alten Brauch zu tun. Wenn das Recht regierte, so verlöre das Mädchen ebenso wenig wie der Junge. [...] Und obgleich mir als Frau dies alles nicht zustand, ging meine Neigung doch in diese Richtung, weil ich ebenso veranlagt war und ich meinem Vater nacheifern wollte. Ich konnte also nicht umhin, winzige Teilchen, Hälmchen, Pfennige und kleine Münzen zu stehlen, die für mich von seinem unermesslichen Reichtum abfielen, über den er im Übermaß, verfügte. Und obwohl ich im Verhältnis zu meinem Heißhunger nur weniges und alles nur durch Diebstahl bekam und auf diese Weise ein bescheidenes Gut erwarb, so zeigt doch mein Werk deutliche Spuren davon. Man sieht hier schon die Töne, die sie anspricht. Sie bedauern als Mädchen geboren zu sein und bezeichnet die Tatsache, dass Mädchen nach wie vor von der universitärer Bildung ausgeschlossen werden, als Unrecht. Ihre Forschungen bezeichnet sie als Diebstahl bezeichnet, als ein Eindringen in einen Bereich, der eigentlich den Frauen nicht erlaubt war. Christine heiratet 1379 im Alter von 14 Jahren einen königlichen Notar. Diese Ehe bezeichnet sie als äußerst glücklich - aus ihr gehen drei Kinder: zwei Jungen und ein Mädchen, wovon eines früh stirbt. Sie erwähnt ihren Ehemann stets mit lobenden Worten, daraus können wir schließen, dass es sich hierbei um eine der wenigen Liebesheiraten gehandelt hat. 1385 verändert sich ihr Leben grundlegend: das beginnt mit dem Tod Karls V. und gleich darauf mit dem Tod ihres Vaters. Vier Jahre danach verliert sie auch ihren Ehemann. Aufgrund des Tods Karl V. ist die Familie in gewisser Weise in der Achtung und Hierarchie abgesunken. Die finanzielle Notlage ist durch den Tod ihres Mannes umso stärker. Hinzu kommt, dass Witwen in der Gesellschaft als sehr ambivalent galten. Gewöhnlich versuchte man junge Witwen möglichst 97 von 103 schnell wieder zu verheiraten, was Christine verweigert hat. Witwen, die nicht erneut heirateten wurden sie von den Klerikern als äußerst gefahrvoll eingestuft, da sie gewisse sexuelle Erfahrungen hatten. Viele Witwen sind deshalb auch in Frauenklöster eingetreten. Bei Christine de Pizan ging das nicht, da sie kleine Kinder und keine direkten männlichen Verwandten hatte. Sie musste für ihre Mutter, ihre zwei minderjährigen Brüder und ihre Kinder sorgen. Über diese Zeit schreibt sie selbst, dass sie zunächst als Kopistin tätig war. Wir wissen, dass sie ihre Bücher selbst geschrieben und ausgeschmückt hat - sie hat also das Handwerk der Buchherstellung ebenfalls sehr gut beherrscht. Sie hat erst um 1400 begonnen zu schreiben. Sie war einfach stark bemüht war, ihre Familie zunächst vor dem finanziellen Ruin zu retten. Ihren Witwenstand beschreibt sie folgendermaßen: Schmalhans war Küchenmeister, wie das bei einer allein stehenden Witwe so üblich ist. Gott allein weiß, wie sehr ich litt, wenn in meinem Hause Zwangsvollstreckungen durchgeführt wurden und mir die Schergen der Justiz mein jämmerliches Hab und Gut davontrugen. Das war an sich schon schlimm genug, aber noch mehr machte mir meine Scham zu schaffen, wenn es darum ging, mir von jemandem Geld zu leihen, um noch größerem Ungemach zu entgehen. [...] Ach mein Gott, wenn ich daran denke, wie viele Morgen ich im königlichen Gericht vergeudet habe und wie ich dabei im Winter vor Kälte fast starb - das alles nur, um meinen Gönnern aufzulauern, sie an meine Anliegen zu erinnern und um Unterstützung zu bitten. Wie oft vernahm ich dort Beschlüsse, die mir die Tränen in die Augen trieben, und wie viele höchst befremdliche Antworten musste ich mir anhören! 0 Gott, wie viele Belästigungen und widerliche Blicke, wie viel Spott aus dem Munde angetrunkener Männer, die selbst im Überfluss lebten, musste ich mir dort gefallen lassen! Christine hat nämlich versucht, um ihr Erbe ihres Mannes zu kämpfen. Sie hat nicht akzeptiert, dass sie mittellose Witwe blieb. Für sie ist auch kaum ein Erbe abgefallen, aber als rechtmäßige Ehefrau hätte sie zumindest einen Anspruch auf Tantiemen gehabt - auch das wurde ihr verweigert. Etwa ab 1394 beginnt sie zu schreiben, denn sie schreibt einen Zyklus von 100 Balladen - ihr erstes Balladenbuch - dass sie der französischen Königin Isabeau de Bavière überreicht, in der Hoffnung, in ihr eine Gönnerin zu finden. Auch wenn wir wissen, dass das Buch der Balladen sehr gern gelesen wurde und Isabeau ihr einiges an Geldern und Gütern zugewendet hat, war sie immer der Ansicht, dass Autorschaft nur mit Bildung einhergeht. Frauen schreiben nicht einfach aus sich heraus, sondern es entsteht erst aus einer Bildung. Was sie dann aber auch sagt, ist, dass der schwere Stand der Witwenschaft, ihr diesen Schritt zur Autorin erst ermöglicht hat. Sie bedauert zwar den Tod ihres Mannes, aber im Grunde genommen war ihr Bestehen auf Witwenschaft Glück, um überhaupt intellektuell bleiben und sein zu können. In der „Stadt der Frauen“ kommt es immer zu Gesprächen zwischen den Allegorien, die bei ihr weiblich sind, und Christine, hier zum Beispiel ein Gespräch mit der Philosophie: Lebte dein Ehemann noch, dann hättest du dich zweifellos nicht in so hohem Maße wie jetzt deinen Studien widmen können, denn die Beschäftigung mit Haushaltsdingen hätte dies verhindert. Du kannst dich also beim besten Willen nicht als eine unglückliche Frau bezeichnen, verfügst du doch neben den anderen Gaben zusätzlich über eine weitere, deren Besitz dich in höchstem Maße entzückt: über die süße Lust des Wissens und Lernens. Die süße Lust des Wissens und Lernens ersetzt bei Christine sämtliche anderen Formen von Lüsten und somit auch der Sexualität. Sie führt ein Leben in Keuschheit, aufgrund der Überzeugung, dass diese Existenzform, die sie wählt, auf jegliche Form von Vergnügungen verzichten müsse. Interessant ist, wie sie diesen Wandel von der einen Existenzform der Gattin und Mutter zur Existenzform der Intellektuellen beschreibt - sie beschreibt den Wandel als einen Genderwechsel. Sie hätte sich von einer Frau zu einem Mann gewandelt. Diesen Wandel formuliert sie in einer allegorischen Erzählung, wo sie sich selbst als eine Lenkerin eines Schiffes 98 von 103 sieht, wo dieses Schiff von einem Sturm hin und herumgetrieben wird - gemeint ist hier natürlich Frau Fortuna: Eines Tages schlief ich [...] ein, müde und erstarrt vom langen Weinen. Da kam meine Herrin [Fortuna], die manch einem die Freude abschnürt, zu mir und berührte meinen gesamten Körper. […] Und da plötzlich unser schutzlos den Wellen des Meeres ausgesetztes Schiff mit großer Wucht gegen einen Felsen geworfen wurde, erwachte ich und bemerkte sofort, dass ich völlig verwandelt war! Ich spürte, wie meine Glieder viel kräftiger als zuvor waren, und die Verzweiflung und Trauer, die mich zuvor beherrscht hatten, waren verschwunden. Mit großer Verwunderung berührte ich mich. Fortuna hatte mich also nicht gehasst, wenn sie mich in dieser Weise verwandelte, denn auf einmal wichen jene große Angst und Furcht, die mich zuvor am Boden zerstört hatten. Ich fühlte mich sehr viel leichter und spürte, dass mein Gesicht sich verändert und an Festigkeit gewonnen hatte, meine Stimme viel lauter, der Körper widerstandsfähiger und behänder geworden waren. Aber von meinem Finger war der Ring gefallen, den Hymenaios [der griechische Gott der Ehe] mir geschenkt hatte, und ich hatte allen Grund, traurig zu sein, denn ich liebte ihn [ihren verstorbenen Mann] sehr. Dann erhob ich mich ohne jede Mühe, denn nichts hielt mich mehr in jener Trägheit des Weinens, die meine Verzweiflung nur gemehrt hatte. Ich spürte mein starkes und kühnes Herz, staunte darüber und merkte, dass ich wahrhaftig ein Mann geworden war. Die Personifikation der Fortuna hat sie berührt und sie ist völlig verwandelt. Die Verwandlung bezieht sich natürlich nicht auf einen Genderwechsel, der die Geschlechtsmerkmale bezieht, sondern auf ihre Haltung, die nun aufrechter, widerstandsfähiger, stärker und kühner ist. Sie schafft eine eigene Mythologie ihrer Person, mit deren Hilfe sie erklärt, wie es ihr gelingt in einer verzweifelten Lebenssituation zu überleben und den Zustand der Depressivität und Todessehnsucht zu überwinden. Die Depression, die sie überfällt ist hier aufgrund des Todes ihres Ehemannes, aber in weiterer Folge auch aufgrund der vielen Frauenfeindlichkeiten dieser Zeit. In ihren Bildern inszeniert sie sich auch immer als Lehrerin. Sie beschreibt diesen Genderwechsel als kraftbringend: Wenn ich dort nicht zugrunde gehen wollte, musste ich notgedrungen einfach so handeln, um mich und die Meinen zu retten. Nun wahrlich, also wahrhaftig ein Mann - das ist kein Lügenmärchen - unfähig, Schiffe zu steuern. Frau Fortuna lehrte mich dieses Handwerk und befähigte mich dazu. Wie ihr hört, bin ich noch immer ein Mann, schon seit geschlagenen dreizehn Jahren. Aber es wäre mir dreimal lieber, eine Frau zu sein, wie damals, als ich noch mit Hymenaios sprach. Da mich Fortuna jedoch von dort vertrieb, werde ich an diesem Ort nie mehr heimisch werden und ein Mann bleiben [ ...]. Ganz deutlich: es ist auch ein Ortswechsel und ein Wechsel der Lebensform, den sie hier auch beschreibt. Letztendlich ist das, was sie betreibt, männliche Tätigkeit, wie zB den Lebensunterhalt für die Familie zu bestreiten. Der maskuline Habitus ist sehr hilfreich für sie, denn es geht ums Überleben und Selbstbehauptung in einer Zeit, die damals sehr misogyn gestimmt war. Schreibt sie nun auch männliche Literatur? Das verneint sie natürlich massivst, denn ihre Stimme bleibt eine weibliche. Nur ihr Habitus ist ein männlicher, und da geht es vor allem darum, ihre Literatur mit einem bestimmten Auftreten unter das adlige Publikum zu bringen. Es ist ihr auch gelungen, denn sie ist nicht nur in ihrer Schreibstube geblieben, sondern hat sich in eine literarische Debatte des 15. Jhdts. eingemischt: dem sogenannten „Rosenroman“. 1405 hat sie mit der „Stadt der Frauen“ begonnen und sie genoss ein hohes Ansehen unter den männlichen Kollegen. Dieser „Rosenroman“, der aus dem 13. Jhdt. stammt, war zu dieser Zeit einer der beliebtesten Romane und wurde häufig gelesen. Christine hat ihn aber als Leserin massiv verurteilt. Guillaume de Lorris, Verfasser des ersten Teils, hat 4000 Verse geschrieben, in denen es um einen träumenden Mann geht, der aufbricht, um eine Rose zu erobern. Die Rose ist Inbegriff vollkommener Weiblichkeit und steht für die Geliebte und verheiratete Frau. Wir haben es also mit einer typischen Dreiecksgeschichte zutun: ein Mann liebt eine verheiratete Frau, die für ihn unerreichbar ist. Er trifft verschiedene Personifikationen wie zB den Liebesgott Amor. Es ist eine Traumreise, die das künstlerische Wissen dieser Zeit zusammenfasst. Es ist ein allegorisch überdeterminierter Roman. 99 von 103 1270 setzt Jean de Meung diesen Roman fort und erweitert ihn um 18.000 Verse, die jedoch von frauenfeindlichen Äusserungen durchsetzt und geprägt sind. Hier setzt Christine an und sagt, dass diese der Poetik ihren Abbruch tun und dass der zweite Teil der schlechtere sei. Letztendlich entsteht ein reger Briefwechsel zwischen ihr und anderen Autoren. Christine hat diesen zusammengefasst und ihn der Königin Isabeau übergeben, mit dem Argument, dass es nicht sein könne, dass so ein frauenfeindlicher Roman noch gelesen wurde: Obwohl ich eigentlich zu schwach bin für einen solchen Angriff gegen so überaus kluge Magister, bin ich doch bewegt von der Sorge um die Wahrheit und weiß mit aller Gewissheit, dass es die gute Sache der Frauen verdient, verteidigt zu werden. Und deshalb wollte und will mein schwacher Verstand sich dafür verwenden [...], ihre Gegner und Ankläger zu bekämpfen. Hier sieht man den frauenrechtlichen Bezug - sie möchte die Verteidigung der Frauen sein und sagt, dass der „Rosenroman“ die Prominenz nicht verdient. Sie steigt sie bei diesem Kampf tatsächlich gestärkt heraus, denn auch die Königin lässt von der Lektüre ab - Christine hat somit einen Erfolg zu verbuchen. Sie betont dabei, dass alle Magister der Universitäten und Kleriker männlichen Geschlechts sind und das versucht sie im nächsten Argument stark zu machen: Und da ich wirklich und wahrhaftig weiblichen Geschlechts bin, kann ich in dieser Angelegenheit mit größerer Berechtigung Zeugnis ablegen als jemand, dem es an eigener Erfahrung gebricht und der stattdessen auf der Grundlage von Vermutungen einfach aufs Geratewohl losredet. Wer sei geeigneter über Frauen zu sprechen, als die Frau selbst? Sie will einfach zeigen, dass das Urteil über Frauen letztendlich Sache auserwählter Frauen ist. Sie formuliert ihr Unbehagen sehr genau und geht damit auch in die Öffentlichkeit. Ihr Tun zielt tatsächlich auf eine politische Wirkung ab. Zwei Argumente tauchen immer wieder auf. Christine kritisiert die Vorstellung, dass Frauen von Natur aus böse sein sollen und sagt, dass es zwar böse Frauen gäbe, sie es aber aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse werden. Nicht die Natur sei entscheidend, sondern die Umgebung entscheidet, was aus einer Frau wird. Hätten mehr Frauen den Zugang zu Bildung, würden die Männer sehen, dass diese das gleiche tun und können würden, wie die Männer. Sie argumentiert dann aus der Geschichte heraus und sagt, dass es in der Geschichte so viele tugendhafte Frauen gäbe - daran sollten Männer Frauen messen. Sie sagt weiter, dass die Diffamierungen nicht aufhören würden und die einzige Möglichkeit tatsächlich eine Stadt der Frauen sei, eine Stadt, in der ausschließlich Angehörige des weiblichen Geschlechts leben und diese auch aufbauen. Das Männliche sei den Frauen immanent. Das Buch wurde 1404/05 beendet und von ihr selbst kostbar ausgestattet und illuminiert und dann Herzögen vermittelt, die dieses sehr lobend aufgenommen haben. „Die Stadt der Frauen“ Wichtig ist hier, dass die Frauen ihre Räume haben, also etwas, wo Männer keinen Zugang haben. Die drei Tugenden, die zu ihr kommen, sind gleichzeitig die drei Großkapitel. Sie sind alle gekrönt und gehören an die Spitze der Gesellschaftspyramide. Die Bausteine der Stadt sind weibliche Vorbilder. Der Titel und das Konzept verweist aber auch auf zwei große männliche Vorbilder: Augustinus Gottesstaat, den sie in einer französischen Übersetzung gelesen hat, und die auf französisch übersetzte Werksammlung von Boccaccio, der das Werk 1360 vollendet hat. Sie entwickelt eine Vorstellung einer idealen Stadt, die von der Vorstellung des Humanismus getragen wird. Die Stadt wird von Frauen bevölkert, die Schritt zu Schritt imaginäre Räume besiedeln. Besonders interessant ist das erste Kapitel - die Eingangsszene, in der sie sich selbst als lesende und studierende Frau in Szene setzt, die sich dann nach leichterer Lesekost sehnt: 100 von 103 Als ich eines Tages meiner Gewohnheit gemäß, die meinen Lebensrhythmus bestimmt, umgeben von zahlreichen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten, in meiner Klause saß und mich dem Studium der Schriften widmete, war mein Verstand es einigermaßen leid, die bedeutenden Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandergesetzt hatte, zu durchdenken. Ich blickte also von meinem Buch auf und beschloss, diese komplizierten Dinge eine Weile ruhen zu lassen [...] und mich statt dessen bei der Lektüre heiterer Dichtung zu zerstreuen. Ihr Griff in den Schrank nach heiterer Lektüre ist aber ein schlechter, denn sie zieht ein Buch heraus, das voll frauenfeindlicher Aussagen ist, und es liegt nahe, dass es sich hierbei um den „Rosenroman“ handelt. Die Lektüre dieses Romans führt zu tiefer Melancholie, so erschüttert ist sie. Doch die Rettung naht in der Gestalt dreier übernatürlicher Gestalten - die Allegorien der Vernunft, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Sie bezeichnen sie als Intellektuelle und Auserwählte und raten ihr ein außergewöhnliches Bauwerk zu erschaffen. Die drei Tugenden haben drei verschiedene Gegenstände, die Christine überreicht werden: Du aber, teure Freundin, verdienst es, in deiner Verwirrung und Traurigkeit von uns aufgesucht und getröstet zu werden. Dies verdankst du deiner leidenschaftlichen Liebe zur Ergründung der Wahrheit durch langes und beharrliches Studium, um dessentwillen du dich aus der Welt hierhin in die Einsamkeit zurückziehst. Es ist wiederum der Gedanke der Liebe und Leidenschaft, mit dem sie sich den Studien widmet, eine Art Ersatz der körperlichen Liebe ihres vorigen Lebens. Man sieht auch einen Übergang von dem zurückgezogenen Leben in der Stube (vita contemplativa) zur vita activa - erneut ein Wechsel der Existenz. Man verharrt nicht im Zustand der Depression, sondern geht zur Tätigkeit über - eine Stadt zu erbauen. Dieser Übergang wird mit einem neuen Frauenbild eingeleitet wird, mit der Frau Vernunft: Jetzt fang an, Tochter. Laß uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinausgehen aufs Feld der Literatur: dort soll die Stadt der Frauen auf einem fetten, fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art. Nimm die Spitzhacke deines Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo es mein Lot dir anzeigte..] Auch hier wiederum der Übergang, die Aufforderung zu handeln, eine Kanon-Revision. Gliederung des Werks: In jedem Buch geht es um eine durchgehende Argumentation, es ist literarisch und philosophisch zugleich. • Buch 1: Die Vernunft Hier wird die Frau als gleichwertiger Mensch hervorgehoben, genauso wie jede Form der Misogynie ein Verstoß gegen die Gesetze darstellt. Die Klugheit ist nach Christine ebenfalls weiblich. Es kommen auch Fürstinnen des Mittelalters vor und sie spricht auch die Amazonen an, die für sie ein Beweis sind, dass Frauenherrschaft möglich ist. Sie übernimmt dabei nur die positiven Aspekte. Sie sagt auch, dass die Amazonen vor allem wehrhaft waren, was die heutigen Frauen von ihnen lernen könnten. Sie sagt auch, dass das Amazonenreich untergegangen ist, ihre Stadt aber unzerstörbar sei und die Zeit überdauern wurde - sie spricht hierbei auch von ihrem Buch. - Der Mensch als moralisches Wesen - Die Frau als Herrscherin - Die Frau als Kämpferin - Die Frau als Künstlerin - Die vernünftige Ehefrau 101 von 103 • Buch 2: Die Rechtschaffenheit Hier geht es um die Rechtschaffenheit, dem ganzen Innenraum der Frauenstadt, es geht um die Frau als politischen Menschen. Es geht um moralische Handeln der Frauen und deren Tätigkeit als gesellschaftsstabilisierenden Faktor. Sie fordert mehr Bildung für Frauen: Nicht alle Männer, und am wenigsten die weisesten unter ihnen, sind also der [...] Meinung, daß Bildung den Frauen schadet. Eins steht jedoch fest: zahlreiche Männer, die selbst nicht sonderlich klug sind, verbreiten dies, weil es ihnen mißfiele, wenn Frauen ihnen an Wissen überlegen wären. Dein eigener Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das Erlernen einer Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große Freude, als er deine Neigung für das Studium der Literatur erkannte. - Die Phrophetinnen Die loyalen Töchter Die loyalen Ehefrauen Die Frau als Wohltäterin Die intelligente Frau - Die keusche Frau Die sittsame Frau Die beständige Frau Die treue Frau Die von der Fortuna begünstigte Frau Hier auch das Lob an ihren Vater, dem sie viel verdankt. In diesem zweiten Buch wird auch immer wieder die sexuelle Enthaltsamkeit betont. Christine betont immer wieder die Notwendigkeit der Enthaltsamkeit um diese Art des Lebens zu führen, weshalb ihr oft Prüderie unterstellt wurde. Buch 3: Die Gerechtigkeit: Gemeint ist hier das Dach, das das Gebäude vollendet, das auch mit Türmen ausgestattet ist. Es geht um die Frau als Heilswesen, ein Aspekt, der ihr wichtig ist. Im dritten Buch werden die weiblichen Heiligen genannt, auch Maria. Es kommt nicht von ungefähr, dass Katharina von Alexandria hier prominent erscheint, jene Heilige, die predigen durfte. Es gibt auch eine Namenspatronin - die Jungfrau Christina aus der Stadt Tyrus - die zu einer Art Spiegelfigur für Christine de Pizan wird. Frauen werden hier als ideale Gläubige dargestellt mit einer Idealsymbiose von Transzendenz und Immanenz. - Die Jungfrau Maria - Die heiligen Frauen - Die Dienerinnen Das Buch „Die Stadt der Frauen“ liest sich sehr vergnüglich und zwar deshalb, weil sie rhetorisch unglaublich brillant ist. Sie wusste schon immer von den Männern gewusste Wahrheiten durch eine kleine Wendung umzudrehen und einen positiven Aspekt hineinzubringen. Man könnte sagen, dass wir in dem Werk zwei große Themenbereiche haben: Die Lage der Frau, die sich nicht durch ihre Natur, sondern ihre Lage begründet und dass die Lage der Frau so ist, ist eine Folge der Unterdrückung zu der sie gezwungen werden. Sie nimmt das wahr, was wir als soziale Konstruktion des Geschlechts sehen. Sie sieht eine systematische Arbeit der Männer diese Hierarchie und die Vormacht des Männlichen aufrecht zu erhalten. Zu ihrer Zeit war diese Vorstellung der Stadt der Frauen der einzige Ausweg aus diesem Bereich, aber das entscheidende ist, dass sie hier eine räumliche Dimension hereinbringt, sowohl was den eigenen Raum, als auch was die Vorstellung eines Raumes in Form einer ganzen Stadt anbelangt. Das, was sie sich in dieser Gebäudefantasie vorstellt, ist ein utopischer Raum nur für Frauen, auch wenn Utopie eigentlich nicht Ort meint. Das will sie so nicht verstanden haben. Vielleicht kann man 102 von 103 es so fassen, dass es eine Art Gynäkotopie (Ort der Weiblichkeit – nur von Frauen bewohnt) mit eigener Wendung ist - eine Stadt mit typisch mittelalterlichen Kulturen. Was nicht vorkommt, so politisch sie auch war, ist so etwas wie eine Überlegung zur Lebensgestaltung des Zusammenlebens dieser Frauen und ist somit keine politisch soziale Überlegung. Vielleicht hat sie es auch nicht als notwendig befunden, in dieser idealen Stadt Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bestimmen, für sie ergibt sich das von selbst. Der Aspekt der Geschichtlichkeit ist hier ebenfalls entscheidend. Sie baut ihr Werk so auf, dass sowohl Figuren aus der Mytologie, als auch reale Figuren vorkommen und gibt den Frauen so eine eigene Geschichte, eine Frauengeschichte, die natürlich hierarchisch geordnet ist (an der höchsten Stelle steht Maria). In einem ihrer späteren Gedichte schreibt sie nochmal, wie wichtig es ist, einen eigenen Raum zu haben, und dann noch über das Alleinsein: „Ich bin ganz allein, und will es auch sein.“ 1429 schreibt sie über Jeanne d’Arc, deren Ende sie so massiv erschüttert, dass sie ihre Schrifttätigkeit endet und in ein Frauenkloster geht. 103 von 103
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