- Universität Wien

Ältere deutsche Literatur:
Gender und mittelalterliche Literatur
WS 2015/16
Ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit und Vollständigkeit
der folgenden Informationen. Weiters hat Univ.-Prof. Mag. Dr. Lydia
Miklautsch in der Vorlesung mehrmals darauf hingewiesen, dass für
die Prüfung die vollständige Lektüre der behandelten Texte
Voraussetzung ist. Diese sind auf Moodle zu finden. In dieser
Mitschrift finden sich lediglich die Ausschnitte der Lektüre, die in den
Präsentationen angeführt waren.
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Gender und mittelalterliche Literatur
1. Vorlesung
8. Oktober 2015
Einführung
1.1 Was ist Gender?
Der Genderbegriff ist in den deutschsprachigen Ländern seit 20/25 Jahren etabliert und damit ein
sehr umfassender Bereich. Seit den 90er Jahren hat sie sich in der Forschung mit ihren
verschiedenen Bereichen (also sowohl die Geistes- als auch die Literaturwissenschaften) als
Analysekategorie etabliert. Gender ist somit eine Analysekategorie, die nicht mit Thema eines
bestimmten Forschungsgegenstands, sondern ganz allgemein eine Rolle spielt.
Das Wort Gender kann ins Deutsche nicht adäquat übersetzt werden, auch die englische und
amerikanische Unterscheidung von sex und gender, im Sinne des biologischen und sozialen
Geschlechts hat im deutschen keine Entsprechung und ist also nicht eins zu eins übertragbar.
Eine auf einen Satz reduzierte Definition von Gender kann keinesfalls geleistet werden, man
könnte sagen, man kann im Wesentlichen unter dem Begriff Gender soziale Zuschreibungen von
Geschlechterrollen sehen, und unter sex biologische, wobei auch diese Unterscheidung zwischen
biologischen und sozialen Geschlecht keinesfalls eine entweder/oder-Entscheidung sein kann, es
sind alles Zugangsweisen und Analyseweisen zum Thema Geschlecht und Sexualität.
Ganz allgemein kann gesagt werden, dass der Begriff Gender kulturelle Determinationen
von Geschlechterrollen umfasst und als Analysekategorie in unterschiedlichen
wissenschaftlichen Disziplinen dient.
Gender ist somit die kulturelle, soziale Dimension von Geschlecht.
Grammatische Bedeutung von Genus (im sprachlichen System)
Hier muss dazu gesagt werden, dass die feministische Literaturwissenschaft und
Sprachwissenschaft schon längst erkannt hat, dass die Formulierungen von Genus keinesfalls
neutral zu sehen sind! Es gibt, wenn man so will, keine "unschuldigen" Verwendungen von
Geschlechterbegriffen, warum das so ist, zeigt ein altes Beispiel und zwar:
Grimmsches Wörterbuch: unter dem Begriff "Genus" bzw. dem Eintrag "Genera" folgendes steht:
„Das maskulinum scheint das frühere, größere, festere, sprödere, raschere, das thätige, bewegliche,
zeugende; das femininum das spätere, kleinere, weichere, stillere, das leidende, empfangende; das neutrum
das erzeugte, gewirkte, stoffartige, generelle, unentwickelte, collective, das stumpfere, leblose." (1831)
Man kann sagen, dass Reflexe dieser Vorstellung (maskulin/feminin) noch immer in diesem
Sprachgebrauch vorhanden sind. Es ist klar, dass diese These oder die Vorstellung von Jakob
Grimm, dem Zeitgeist des 18. und auch des 19. Jahrhunderts entspricht, durchaus analog zu dem
damals vorherrschenden Geschlechtervorstellungen. Dieses Beispiel soll auch zeigen, dass
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Sprache und Sprachgebrauch, und das ist wichtig, deutliche Reflexe patriarchaler
Machtverhältnisse. Sprache ist etwa, dass natürlich zunächst einmal unbewusst bestimmte
Geschlechtszuweisungen erst über die sprachliche Formulierung normiert.
Neben diesen grammatischen Kategorien gibt es auch soziale und kulturelle und psychologische
Referenzebenen. Jedenfalls kann man sagen, dass dieser Genderbegriff als Analysekategorie
auch immer wieder neu definiert werden und auch immer wieder neu für das jeweilige Fach
thematisiert und definiert werden muss. Es muss ein Unterschied sein, ob ich den Genderbegriff in
der Naturwissenschaft oder in der Literaturwissenschaft anwende. Entscheidend ist aber, dass
Gender auch als Metakategorie fungieren kann, das heißt diese Analysekategorie hat auch die
Kraft und das Potenzial quasi fächerübergreifend zu arbeiten und in gewisser Weise Arbeitsfelder
zu verbinden, die zunächst einmal nichts miteinander zutun haben, wie zB Mathematik- und
Literaturunterricht: wer unterrichtet? Wie wird es rezipiert, etc. Wichtig ist es, dass es immer
wieder, egal welcher Zugang gewählt wird, es immer auch um Identität, Sprache und sogenannte
symbolische Ordnung (=kulturelles System, das nicht naturgegeben, sondern hergestellt ist).
Grammatik der Geschlechter (Ranate Hof):
es geht hierbei darum über Gender verdeckte Machtstrukturen und biologische Strukturen, sowie
ihre sozialen und kulturellen Auswirkungen, die durch Gendermarkierungen entstehen, zu
untersuchen. Wie weit werden Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft aufrecht erhalten oder
immer wieder neu formuliert, die quasi zu einer Unterdrückung führen. Eines ist in der
gendertheorie eine wichtige theoretische Voraussetzung, dass die Unterscheidung zwischen
Männern und Frauen keine naturgegebene ist, sondern eine ist, die kulturell hergestellt ist.
Gender ist „eine grundlegende wissenschaftliche Analysekategorie“, mit der „die fragwürdig gewordene
Opposition zwischen Männern und Frauen“ dekonstruiert, gleichzeitig aber die in der Praxis weiterbestehende
Opposition zwischen männlich und weiblich „in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Realität als
Mechanismus der Hierarchisierung“ ernstgenommen werden kann. (1995)
Bei Definitionen von Gender wird immer etwas aufgebrochen. Man muss immer wieder einen Blick
auf die gesellschaftlichen Verhältnisse haben, in denen ein Text oder eine Aussage entsteht. Es
muss (als LiteraturwissenschaftlerIn) immer überprüft werden: Wie ist der Kontext? inwieweit
urteile ich durch meine Sozialisation und durch meine kulturelle Zuschreibung als Frau/als Mann/
als StudentIn in unterschiedlichen sozialen Kategorien? Es geht immer auch um das Ich, das sich
mit der Thematik auseinandersetzt und dieses Ich über diese Analyseergebnisse neu zu definieren
und auch zu reflektieren.
Judith Butler:
Ohne Judith Butler ist die feministische Debatte nicht denkbar. Ohne sie gäbe es nicht diese
sprachanalytischen Zugänge, die wir haben. Es kann gesagt werden, dass ihre Bücher nach wie
vor grundlegend sind für eine Auseinandersetzung mit Gender.
Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies:
wichtig bei Judith Butler ist, dass sie diese fragwürdige Opposition zwischen sex und gender
aufhebt, insofern, dass sie sagt, auch das biologische Geschlecht ist sozial hergestellt. Sie ist der
Meinung, dass es nichts vor der kulturellen Zuschreibung gibt.
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"Die Beziehung der Geschlechter zueinander kann nicht als Ausdruck oder Repräsentation einer statischen,
naturgegebenen Ordnung verstanden werden. Geschlechterbeziehungen sind Repräsentationen von
kulturellen Regelsystemen."
Diese Grundaussage Butlers weist darauf hin, dass Geschlechterbeziehungen kulturelle
Repräsentationen von kulturellen Regelsystemen. Man kann die Kategorie Gender keinesfalls auf
dem soziologischen Bereich herausheben. Wir haben es mit Mechanismen zutun, die sehr
langwierig sind.
In der Literatur geht es nie um Fakten, aber sehr wohl um Imaginationen. Diese Imaginationen, die
in der Literatur formuliert werden, sowohl von Männerbildern wie auch von Frauenbildern, sind
sehr wichtig für eine Forschung von kulturellen Zusammenhängen. Je nach Disziplin spielt die
kulturelle Dimension immer wieder eine ganz elementare Rolle. Hier geht es darum, die Sichtweise
zu schärfen und von Mustern abzusehen. Es ist klar, dass die Dekonstruktion hier eine große Rolle
spielt und man versucht sozusagen "die Katze gegen den strich zu bürsten" und durch radikale
und ungewöhnliche Fragestellungen Neuerkenntnisse zu gewinnen. In den frühen 70er Jahren hat
die Aussage Butlers zu einem Aufschrei geführt, auch innerhalb der feministischen Forschung.
Grundsätzlich festzuhalten ist, dass der Begriff Gender darauf verweist, das Geschlechtsidentität
nicht angeboren, sondern soziokulturell durch diskursive, also durch gesellschaftliche Praktiken
hergestellt bzw. erworben werden. (zB in der Werbung: wie geschlechtsspezifisch wird für
Kinderspielzeug geworben? Ebenso in der Modewerbung. Kulturell könnte man wieder von einer
radikalen Trennung der Geschlechter sprechen, das zeigt sich schon, ganz stark an den Medien.
Zum vergleich: die 70er Jahre waren so gesehen viel moderner, als es heute der Fall ist.) Der
Begriff ist somit Ausdruck der Einsicht, dass Weiblichkeit und Männlichkeit historisch
zeitgebundene Konstruktionen sind. Es gibt Zuschreibungsformen an die Geschlechter, die
historisch über Jahrhunderte hinweg gewachsen sind. Entscheidend dabei ist, dass
geschlechtliche Identität nicht als unveränderliche anthropologische Konstante verstanden wird,
sondern als historische veränderbare Variable. Als Frau und als Mann macht man diese
Veränderbarkeit immer wieder mit, was wiederum wieder zu verschiedenen Identitäten führt. nach
Judith Butler ist diese Form der Identitätsfindung nicht abgeschlossen, außer man bleibt
sozusagen bei einer Variante, die die einem kulturell am plausibelsten erscheint. Somit gibt es
keine biologischen Muster und keine biologischen Konstanten, die unveränderbar sind. Soziale
Geschlechterrollen haben eine Konsequenz auf biologische Geschlechterrollen. Die Tendenz zum
Mainstream ist immer mit Machtverhältnissen verbunden.
1.2 Wichtige Themenbereiche der Gender-Forschung
• Körper - Sinne (Butler)
Butler siedelt hier ihre Theorien an. Der geschlechtlich markierte Körper bzw. das biologische
Geschlecht ist noch keine kulturelle Identität. Wenn man als männliches Kind geboren wird, heißt
das noch lange nicht, dass man heterosexuell und männlich ist. dasselbe gilt für ein Kind mit
weiblichem Geschlecht, es heißt nicht, dass dieses Kind die Identität Frau und heterosexuell hat.
Das, was letztendlich als Identität gesehen wird, ist ein Kulturationsprozess, und keine objektive
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Tatsache. Die grundsätzliche kulturelle Differenz zwischen Mann und Frau ist nach Butler nicht
biologisch, sondern entspricht einem kulturellen Bedürfnis.
Die Debatte über die Sinne hat auch mit Mündlichkeit und Visualität zutun. Die Lenkung des
Blickes, was soll gesehen werden und wie soll gesehen werden. Ein modernes Beispiel hierfür
wären Modelshows, die den männlichen und weiblichen Blick auf ein bestimmtes Modell von
Weiblichkeit
und von Frau lenkt. Kategorien wie Intelligenz oder Wissen werden hierbei
ausgeblendet.
Im Mittelalter hat man sich die Frau mehr oder weniger als Statuen vorgestellt, die ein extrem
beschränktes Rollenverhalten der Frau begründet. Die Frau sollte möglichst unbeweglich, statisch
und schön dastehen, um bewundert und betrachtet werden zu können, tut sie das nicht und wird
aktiv, wird dieses Bild zerstört.
Ein Beispiel aus den antiken Mythen ist die Lenkung des Blickes, zB Medusa - der böse Blick - Sie
muss von Perseus getötet werden, damit dieser böse Blick gebrochen wird. Auch bei Narziss, mit
dem selbstverliebten Blick: er sieht sich als Mann und verliebt sich in sein Spiegelbild, stirbt dann
aber aufgrund dieser Verliebtheit (eine Verliebtheit ins gleiche Geschlecht). Die
Sinneswahrnehmung ist nicht etwas, was ich als freie Entscheidung mache, sie ist kulturell
unterlegt.
• Wissen (Foucault)
Der Wille zum Wissen - Wissen ist Macht. Diejenigen, die Zugang zu Wissen haben, werden auch
diejenigen sein, die dann die Gesellschaft stärker lenken, als die, die es nicht wissen. Es geht um
Wissen, das kulturelles Wissen ist und deren Einsicht, und somit die Einsicht in Machtprozesse.
Genesis: Letztendlich werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, weil angeblich Eva
etwas wissen wollte. Diese mächtige Erzählung über den Sündenfall hat dazu geführt, dass über
sehr viele Jahrhunderte hinweg der Wille der Frau zum Wissen, als sündig und gefährlich galt.
Wissensverbot und -einschränkung sind zwei wichtige Elemente der Unterdrückung und sind an
Geschlechtervorstellungen gekoppelt. Es gab auch Verbote für Männer, meist soziale Verbote.
Auch innerhalb der Männergruppen gibt es starke Hierarchien, die aufrecht erhalten werden
müssen. Die Randgruppen waren prinzipiell die, die sexuell anders orientiert waren.
• Natur - Kultur (Zitat Adorno / Horkheimer: Dialektik der Aufklärung)
Die Opposition Natur - Kultur ist immer eine Position, die verwendet wird zur
Geschlechterhierarchisierung. Das hat man am Beispiel Jakob Grimm gesehen: das Femininum
als das naturhafte, das Maskulinum als das kulturelle. Das sind Elemente, die im
Zivilisationsprozess und in der Kulturellen Zivilisation immer wieder eine rolle gespielt haben - vor
allem um eine bestimmte Arbeitsteilung zu schaffen. Was damit zusammenhängt ist eine
bestimmte Vorstellung der Geschlechterbeurteilung.
Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden, ein lebendiges Denkmal
längst entschwundener Zeiten der geschlossenen Hauswirtschaft. Ihr war die vom Mann erzwungene
Arbeitsteilung wenig günstig. Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in
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deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den
Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war
die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt. Das war der Sinn der Vernunft, mit der er sich
brüstete. Die Frau war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie
nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste, Erniedrigendste, was in
der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt
biologischeUnterlegenheit des Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat
herausforderndes Mal. (Adorno/Horkmeier 1947)
Das zeigt, dass es auch Männer gegeben hat, die sich mit der Thematik auseinandergesetzt
haben und versucht haben, diese aus einer anderen Sichtweise zu sehen. Die Gleichsetzung mit
Natur, die Fähigkeit der Frau zu gebären und zum Mutter sein, wurde immer schon als Argument
genutzt, in dem man gesagt hat, das sei eine wunderbare Fähigkeit, dabei soll es auch bleiben
nach Möglichkeit - "das ist die Rolle der Frau".
Odysseus-Exkurs (Link?)
Es wird gezeigt, wie diese Unterdrückung funktioniert und welchen Preis sie hat. Ein schlagendes
Beispiel aus dem Mythos: die Szene, in der Odysseus dem Gesang der Sirenen zuhören will. Er
lässt sich deshalb von seinen Gefährten an den Mast festbinden und lässt gleichzeitig die Ohren
seiner Untergebenen mit Wachs verschließen. Er kann sich durch diese List zwar retten, der
Gesang der Sirene bietet ihm jedoch nicht die Lust, die er erhofft hatte. Er ist relativ enttäuscht,
man kann sagen, er ist Betrüger und Betrogener zugleich. Die Frau verheißt lustvolle Entgrenzung,
der Mann sehnt sich nach dieser Erfahrung, schreckt aber zugleich davor zurück. Die Natur wird
auch als Bedrohung gesehen, und muss deshalb auch domestiziert und unterworfen werden.
• Sexualität (Laqueur)
Thomas Laqueur ist ein Medizinhistoriker und -wissenschaftler, er hat medizinische Modelle bis in
die Neuzeit (von der Antike bis Freud) untersucht und festgestellt, dass zumindest bis ins 18.
Jahrhundert das sogenannte One-Sex-Modell vorgeherrscht hat. Es wurde nicht getrennt zwischen
männlicher und weiblicher Medizin: Die Frau sei nichts anderes, als ein nach innen gestülpter
Mann. Erst im 18. Jahrhundert wurde das durch ein Zwei-Geschlechter-Modell ersetzt, wo man
gesehen hat, dass diese Analogien so nicht funktionieren.
In der mittelalterlichen Medizin hat man Unterschiede innerhalb der Säftezusammensetzung
festgestellt - der Mann der Heiße und Trockene, die Frau schleimig und feucht. Allein durch die
Formulierung der Oppositionen werden hier Wertigkeiten mit transportiert. Laqueur schließt aus
seinen Untersuchungen: dem Geschlechtsunterschied sind vom Faktischen sind keine Fesseln
angelegt.
1.3 Gender und Literaturwissenschaft
Einführung in die Gender Studies (Franziska Schößler): Frage Autor / Autorin und literarischer
Kanon, Gattung und Geschlecht, welche Themen sind fruchtbar und interessant, Motive, Imagines
Metzler Lexikon: Gender Studies. Geschlechterforschung
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Zentrale Felder:
1. Autorin/ Autor - literarischer Kanon
2. Gattung - Themen - Motive: gibt es so etwas wie beliebte Motive weiblicher/männlicher
Autoren? Wie funktionieren diese Zuschreibungen, was kann ich daraus gewinnen?
3. Bilder von Weiblichkeit / Männlichkeit - Imagines: es zeigt sich hier, dass die Zuschreibungen
von Gender und Sex sich in der Schwebe befinden und nicht einfach über Stereotypen
sprechen kann - es gibt genug Materialien, die bestimmten Stereotypen widersprechen.
4. Methodendiskussion
1.4 Gender und mittelalterliche Literatur
Das, was für die Mediävistik entscheidend ist, ist ein stärkerer historischer Hintergrund. Diesen
historischen Blick darf man in diesem Zusammenhang nie aus dem Auge verlieren. Moderne
Texte und Theorien lassen sich natürlich auf mittelalterliche Texte anwenden. Mittelalterliche
Literatur reflektiert genauso wie moderne Literatur kulturelle Ordnungsmuster. Diese gilt es zu
sehen und auch zu analysieren, es gilt zu schauen, was wird über die Kategorien männlich/
weiblich und möglicherweise auch sächlich (das, was dazwischen liegen könnte) ausgesagt. Es
bleibt jedoch immer eine gewisse Fremdheit da, da und mittelalterliche Kultur eine fremde Kultur
ist. Man kann nicht bestreiten, dass mittelalterliche Texte einen heterosexuellen, normativen und
misogynen, also frauenfeindlichen Diskurs haben. Aber es werden dort Körper- und
Geschlechterdiskurse repräsentiert, die sozusagen zwischen den Zeilen quergelesen doch etwas
zeigen, das erstaunlich nah ist.
Themenfelder:
• Gender, Identität, Subjekt und Subjektivität
• Sexualität und Begehren
• Körperdiskurse
• Kulturelle Muster und Strukturen
• Geschlechterrollen und Gattung
2. Vorlesung
15. Oktober 2015
Der Sündenfall: Eva - Ave Maria
1. Eva, Mutter aller Menschen
Für die Definition der Geschlechter und deren Rollen war für das europäische Mittelalter und weit
darüber hinaus zweifellos die Bibel der einflussreichste und wichtigste Text. Das erste Buch der
Bibel, das Buch Moses, in der die Schöpfungsgeschichte aufgeschrieben ist, und dessen
Auslegung durch die Kirchenväter hat entscheidend zur Ausbildung der Genderrollen (zumindest
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fürs Mittelalter) beigetragen. In der Genesis (die Erzählung der Entstehung der Menschheit) ist Eva
Heldin einer Geschichte, die vom Ursprung der Menschheit erzählt von der Grundlegung sowohl
moralischer als auch gesellschaftlicher Ordnung. Es geht nicht nur um die Erschaffung der
Menschen, sondern auch um eine gesellschaftliche und moralische Ordnung. In wenigen Sätzen
wird eine globale Erklärung des Menschseins geliefert. Eine globale Erklärung, die unablässig und
unabweislich in das Denken der Zeitgenossen und des christlichen Abendlandes eingegangen ist.
Die Geschichte gibt Antwort, bzw. tut zumindest so, auf drei Fragen:
1. Warum ist die Menschheit geschlechtlich?
2. Warum ist die Menschheit schuldig?
3. Warum ist die Menschheit unglücklich?
Das sind 3 Fragen, die auch in der theologischen Interpretation und Auseinandersetzung eine
Rolle gespielt haben.
Die Erzählung:
Es gibt keine einheitliche Erzählung. Das Alte Testament setzt sich aus verschiedenen
Erzählungen und zeitlichen Schichten zusammen, das gilt auch für die Genesis. Es gibt eine
jüngere Erzählung, das sogenannte 6-Tage-Werk Gottes, hier ist von Adam und Eva als
geschlechtsbestimmte Individuen zunächst noch nicht wirklich die Rede.
Genesis 1:
Gen. 1,26: Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen
über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des
Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum
Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.
28 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet
sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das
Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriechet.
Hier ist zwar von einer Geschlechtlichkeit die Rede, aber in einer gleichwertigen Form. Die Frau ist
nach dieser Version Gott ebenbildlich geschaffen (wie der Mann) und erhält den gleichen Auftrag.
Es gibt kein herrschen über Menschen nach dieser Version, sondern nur ein gemeinsames
Verwalten der Schöpfung. In diesem Text ist, so wie es schient, volle Gleichheit der Geschlechter
angesagt.
Doch dieser Bericht wurde, zumindest in der Theologie des Mittelalters, vollständig durch das
zweite und dritte Buch der Genesis überlagert. Die beiden stammen von einer anderen Quelle, die
ein Jahrhundert älter ist, als die Genesis 1. Auch diese Quelle ist keine einheitliche, sondern setzt
sich aus unterschiedlichen Schichten zusammen. Das, was wir im Alten Testament lesen ist
kanonisch, das bedeutet, die Kirchenmächtigen haben sich auf diesen Text geeinigt. Wichtig ist,
dass der Name Adam zunächst kein Eigenname, sondern bedeutet nichts anderes als Ackererde/
-boden. ("Der, der aus dem Ackerboden entstanden ist")
Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in die
Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.
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Das zweite Kapitel der Genesis spricht über Adam zunächst als ein unbestimmtes Wesen - das ist
allerdings nur kurz der Fall. In dieser Version wird danach gleich die Entstehung der Frau aus
Adam nachgeliefert:
Genesis 2:
Gen 2,20: ...aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. 21 Da ließ Gott der HERR
einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner rippen und schloß
die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm,
und brachte sie zu ihm. 23 Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von
meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24 Darum wird ein Mann
seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. 25
Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.
Der Mann hat hier die Erkenntnis, dass die Frau aus ihm heraus entstanden ist. Die Frau ist
zunächst einmal die "Männin" - bei der Erschaffung der Frau handelt der Schöpfer Gott allein, sie
ist eine Schöpfung Gottes - Adam liegt passiv im Tiefschlaf. Dass die Frau aus einem Bauelement
(aus der Rippe des Adam) geschaffen wird, sieht man das, was man als Verwandtschaftsformel
nennen kann: die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit beider Geschlechter. Erst hier fallen im
hebräischen Text die zwei Worte von Mann und Frau. Gott ist also auch bei der Frau direkt als
Schöpfer tätig. Dennoch führt die Erschaffung der Frau zur Hilfe für Adam, wie es heißt, zum
Sündenfall.
Genesis 3:
Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu
dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach das
Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten. Aber von den Früchten des Baums
mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, daß ihr nicht sterbet! Da sprach
die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr
davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
Und das Weib sah, da´vom Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend,
weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon,
und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und sie
flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im
Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht
Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten. Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist
du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich
mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem
ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da sprach Ada: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von
dem Baum, und ich aß. Da sprach Gott der Herr zum Weibe: Warum hast du das getan? Das Weib sprach:
Die Schlange betrog mich, so daß ich aß.
Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem
Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben
lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und
ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zum Weibe
sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären.
Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Manne sprach er:
Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und
sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von
ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde
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essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du
genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.
Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Gott der HERR machte
Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. Und Gott der HERR sprach: Siehe, der
Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nur nicht ausstrecke
seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der
HERR aus dem Garten Eden, daß er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb den
Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden
Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.
Wir haben hier die Verbindung von Sehen und Wissen. Nachdem beide vom Baum der Erkenntnis
gegessen haben, bedecken sie ihrer beider Geschlecht - sie sind sich jetzt ihrer Nacktheit
bewusst. Gott bedeckt die Nacktheit beider Menschen. Es gibt zwei Bäume im Paradies: den
Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens, der ebenfalls verboten ist, denn er würde ewiges
Leben erzeugen. Damit nun der Mensch nicht die Möglichkeit hat, das ewige Leben zu erlangen,
wird er aus dem Paradies verwiesen. Das bedeutet aber auch, dass in dem Moment, wo der
Mensch vom Baum der Erkenntnis isst, er auch sterblich wird. Daher ist Eva ist nicht nur die
Urmutter aller Lebenden, sondern auch aller Toten. Hier ist schon deutlich eine Hierarchisierung
der Geschlechter angelegt.
Hauptperson ist zunächst die Schlange im Gespräch mit der Frau, die in der weiteren Tradition
dann der Teufel geworden ist - sie ist eine Personifikation, sie ist das einzige Tier, das im Paradies
spricht. Im biblischen Text ist die Schlange männlichen Geschlechts, aber keineswegs identisch
mit Satan - dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Die Erzählung von Genesis 3, die die Motive von
Baum-Frau-Schlange vereint, hat mit der daraus später gefolgten Verbindung von Frau-SexualitätSünde nichts zutun. Man kann sagen, dass dieses Dreieck Baum-Frau-Schlange zu dem Dreieck
Frau-Sexualität-Sünde umgedeutet wurde.
Interessant ist, dass in der Genesis 3 von Sexualität kein Wort steht, sondern es geht tatsächlich
um das Sehen und die Erkenntnis. Also zunächst nicht um Geschlechtlichkeit - es ist der Wunsch
zur Erkenntnis, der Eva dazu bewegt, vom Baum zu essen. Wir haben es hier auch mit einem
Zerstören des Vertrauens zwischen Tier und Mensch, zwischen Frau und Mann und auch
zwischen Mensch und Gott zutun. Man könnte sagen, man habe es mit einem tiefgreifenden
Konflikt zutun, der hier entstanden ist. Gott sagt zwar, dass Mann und Frau jetzt eine Einsicht von
gut und böse haben - was das Böse genau ist, wird im Text nicht ausgeführt. Es gibt zwei Strafen:
einerseits wird die Schlange verurteilt, die Frau wird mit den Mühen der Schwangerschaft und
Geburt und der Mann mit den Mühen der Arbeit bestraft. Die Frau wird zwar verflucht, aber nicht
anders als der Mann auch. Es gibt hier allerdings einen beitragenden Satz, der bei den
Kirchenvätern eine große Rolle gespielt hat: "...dein Mann soll dein Herr sein", den die
Kirchenväter verwendet haben, um die Hierarchisierung der Geschlechter, also die Unterordnung
von der Frau unter den Mann zu begründen.
Genesiskommentare in der Bibel:
Was haben diese Texte in der theologischen Auslegung eigentlich für Konsequenzen gehabt? Man
kann sagen, dass das Christentum - das Urchristentum, aber dann auch das Frühchristentum - zu
mittelalterlicher Zeit, ein großes Interesse daran hatte, die Texte der Bibel auszulegen. Das war die
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Zeit vor Luther, wo keinesfalls davon ausgegangen wurde, dass die Texte der Bibel für sich
sprechen, sondern die Kirchenväter waren davon überzeugt, das die Sätze der Bibel nicht einfach
als Wort-für-Wort-Tatsachen gelten, sondern das diese Sätze so etwas waren wie Voraussagen
oder Realprophetien in Hinblick auf die Ordnung der Gesellschaft und letztendlich die Ordnung der
Geschlechter. Deshalb hat man immer wieder versucht durch den vierfachen Schriftsinn, also
hinter die vierfache Bedeutungszusammenhänge der Schrift zu kommen und durch Typologien,
also durch Entsprechungen die Texte der Bibel zu deuten und quasi die Wahrheit des Bibelwortes
sehen zu können. Man hat also versucht den Sinn der Bibel zu ergründen, und das immer wieder
unter den Intellektuellen dieser Zeit diskutiert, hat dann gültige Wahrheiten abgesegnet und diese
dann Predigern mitgeteilt, die diese dann vereinfacht unters Volk gebracht haben. Die dominante
moralische Instanz über das gesamte Mittelalter hinweg war also tatsächlich die Kirche.
Jesus Sirach (2. und 3. Jhdt vor Christus):
Eines der älteren Texte und hier wird das erste Mal die Frau mit Sünde gleichgesetzt.
25,24: Von der Frau nahm die Sünde ihren Anfang / ihretwegen müssen alle sterben.
Tim 2,9ff: Eine Frau soll in der Stille lernen, in aller Unterordnung. Ich erlaube aber einer Frau nicht, zu lehren,
auch nicht, daß sie über den Mann herrscht, sondern sie soll sich still verhalten. Denn Adam wurde zuerst
gebildet, danach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, die Frau aber wurde verführt und geriet in Übertretung;
sie soll aber [davor] bewahrt werden durch das Kindergebären, wenn sie bleiben im Glauben und in der Liebe
und in der Heiligung samt der Zucht
Hier wird sofort daraus geschlossen, dass die Frau nicht nur untergeordnet sein soll, sondern auch
still sein soll. Eine Rolle ist somit schon festgelegt, die der Frau. Des Weiteren ist sie Garant für
das Fortbestehen der Menschheit, diese Rolle wird positiv gesehen, vorausgesetzt sie bleibt
besonnen und im Glauben. Es wird also auch damit eine passive Rolle damit verbunden. Mit
diesem Text wird das Lehrgebot der Frau wird unterschrieben und ihre Unterordnung sanktioniert weil sie sich als erste verführen hat lassen ist sie zweitrangig.
Paulus Kor 11,7: Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau
aber ist des Mannes Abglanz. Denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann. Und
der Mann ist nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen.
Auch hier wird eine Hierarchisierung herausgelesen: das Bedecken des Hauptes, also das Tragen
eines Tuches, das im Frühchristentum noch üblich war. Die feministischen Theologinnen sehen
"zur Hilfe des Mannes" tatsächlich als quasi Begleitung, also tatsächlich als Einheit der zwei
Geschlechter - das Eine könne nicht ohne das Andere sein.
2. Eva, die Bibel und die Kirchenväter
Augustinus von Hippo (354 - 430):
Mann und Frau sind gottesebenbildlich, doch die aus Adam geschaffene Frau ist mit der Natur gleichzusetzen
- die Natur ist der Vernunft (dem Mann) unterlegen.
Er hat mehrere Genesiskommentare geschrieben, unter anderen einen ganz eigenen Text, wo er
sich mit dem Text auseinandersetzt. Seine Lesart der Genesis 2 und 3 ist zunächst nicht so wie bei
den späteren Kirchenvätern, denn dass Gott Mann und Frau geschaffen hat, bedeutet für ihn, dass
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in jedem menschlichen Geschlecht männliches und weibliches erhalten ist. Allerdings geht er
natürlich weiter in der Deutung, denn er meint, die Frau hat eindeutig die helfende, dienende
Funktion und ist dem Mann untertan, "wie der Arbeiter dem Werkmeister". Er geht also auch von
einer hierarchischen Ordnung der Geschlechter aus, wobei er (das erste Mal) zwischen Körper
und Seele trennt. Nach seiner Deutung besteht der Mensch aus einem fleischlichen Teil (dem
Körper, weiblich) und einem geistigen Teil (der Seele, männlich). Er ist überzeugt, dass sich der
Mensch für eine Seite entscheiden kann, aber lässt außer Zweifel, dass die Vernunft (ratio) ein
männliches Prinzip ist, während das weibliche eher de, apetitus, also der Begierde gleicht.
Ein weiterer Aspekt ist die sogenannte Gottesebenbildlichkeit - es wird gesagt, dass die Frau erst
in zweiter Linie Gott ebenbildlich ist, der Mann in erster Linie. Die Seele wiederum ist
geschlechtsneutral, also weder männlich, noch weiblich. Bei Genesis 3 nennt er drei Agierende:
• Der Teufel (die Schlange) hat sich zum Attackieren den Schwächeren ausgesucht: die Frau, weil
die Schlange sich an den Mann nicht herangetraut hat.
• Die Frau, versteht sich so gut aufs Verführen, und das hat die Schlange erkannt.
• Adam hätte das Angebot nur angenommen, um die Frau nicht alleine verloren gehen zu lassen.
Man kann sagen, dass Augustinus keinesfalls die Hierarchisierung der Geschlechter auf die Spitze
treibt, er erwähnt in seinen Genesiskommentaren sehr wohl die Rolle der Sexualität, wenn auch
nicht massiv. Die Gleichsetzung von Sexualität der Frau führt Augustinus nicht so aus, dass die
Frau gleichzustellen sei mit Natur UND Sexualität. Man könnte sagen, dass die Frau die
Triebhaftere ist und dass sie dieser Begehrlichkeit auch nachgeht, aber es kommt nicht so sehr die
Fleischeslust zur Erwähnung.
Man sieht, dass im Laufe der Jahrhunderte die Sexualität (der Frau) zunehmend eine Rolle spielt
und stärker mit der Genesis verkoppelt und gleichzeitig verteufelt, weil sie zu diesem Sündenfall
führt. Eine direkte Verschiebung zu dem Thema Sexualität gibt es also 300 Jahre später:
Beda Venerabilis (672/73 - 735):
Die Schlange rät zur Lust, die Sinnlichkeit des animalischen Leibes - das Weibliche in uns - gehorcht, und die
Vernunft willigt ein.
Er sagt von vornherein, dass Eva eine lüsterne Verführerin ist, die Frau ist also gefährlich für den
Mann, deshalb müsse sie weggesperrt oder verschleiert werden.
In der mittelalterlichen Gesellschaft durften Frauen keinesfalls geradeaus schauen, sie mussten
den Blick niederschlagen. Der direkte Blickkontakt wurde ihr also verboten, und das wurde
natürlich mit Genesis begründet. Eva wäre dem Baum ferngeblieben, hätte sie ihn nicht
unvorsichtigerweise lange betrachtet. Durch ihre Augen ist sie dem Tod einhergefallen. Für den
Mann ist ganz klar die Frau etwas Verbotenes. Die Verführungen, und damit die sexuellen Reize
und die Wollust sind das Problem, und in den klösterlichen Welt des 9. Jahrhunderts hat sich die
Meinung durchgesetzt, die Frau ist die leibhaftige Sünde und die verbotene Frucht ist das
weibliche Geschlecht, oder wenn man so will, die Geschlechtlichkeit.
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Die Kirche musste zugestehen, dass zum Zwecke der Zeugung ein Zeugungsakt, also ein
geschlechtlicher Akt stattfinden muss. Wichtig ist also, dass diese Verbindung von Sexualität und
Sünde, immer auch eine Verbindung von Sexualität und Frau ist und darüber hinaus eine
Verbindung von Sexualität, Sünde, Körper der Frau und Natur. Im 12. Jahrhundert hat sich die
theologische Ansicht durchgesetzt, begründet auf den Texten 2 und 3 der Genesis, dass Eva
letztendlich die Ursache für den Sündenfall ist, der die gesamte Menschheit betrifft und dazu
geführt hat, dass die Menschheit sterblich geworden ist. Man hat die Frau also systematisch dafür
verantwortlich gemacht, eine Verantwortlichkeit, die so in dem Text der Genesis nicht zu sehen ist.
Die Todsünde ist eine Sünde des Fleisches - das gilt für Männer und für Frauen.
Die Theologie war damals das Gebäude der Lehre überhaupt und war gleichzusetzen mit der
Philosophie. Nicht nur an den Universitäten war diese Ausdeutung der Bibel enorm wichtig: Man
könnte sagen, die gesamte europäische Gesellschaft (das christliche Abendland) ist geprägt durch
die Kirche und die Theologie und ihre Lehren und damit natürlich auch durch die von den
christlichen Lehren verbreiteten Vorstellungen und Einschätzungen der Geschlechter. Es hat kaum
ein umfassenderes gesellschaftsrelevanteres Modell gegeben, als das, was die Kirche zu den
Geschlechtern gesagt hat. Deshalb hat das auch eine weitreichende Konsequenz auf die
mittelalterliche Gesellschaft. Für die Hierarchisierung und Einschätzung der Geschlechter, ist das,
was die Kirchenväter verbreitet haben, von enormer Wichtigkeit. Die Kirchenväter wussten das
auch, beziehungsweise die Rom-Kirche, die damals das wichtigste Zentrum der moralischen und
damit auch gesellschaftlichen Zuschreibungen war, hat eine "Propagandamaschine" eingesetzt,
die außerhalb der schriftlichen Zeit funktioniert und als Multiplikator gewirkt hat, so dass Männer
und Frauen diese Lehren verbreitet haben. Diesen Multiplikatoreffekt hat man versucht zu
erzeugen, indem man hergegangen ist und hat relativ schnell, einfache Übersetzungen ins
Deutsche in Auftrag gegeben, damit das nicht lateinkundige Publikum in den Predigen diese
Ansicht und diese Sichtweise und Interpretation mitbekam. Diese war natürlich streng zensuriert,
das bedeutet bestimmte Kirchenväter, die die Autoritäten waren, deren Auslegungen der Bibel
wurden weiter verbreitet.
3. Textbesprechung: Die altdeutsche Genesis (oder auch "Wiener
Genesis")
Das ist ein frühes Zeugnis dafür, wie man sich das vorzustellen hat, also wie versucht wurde, diese
Lehren zu beschreiben. Sie ist in vielerlei Hinsicht hochinteressant, sie folgt einerseits dem Text
der Bibel sehr genau, andererseits die moralischen Deutungen mit hineinbringt.
Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts:
Dieser altdeutsche Text ist ein äußerst wichtiges Zeugnis frühmittelalterlicher Frömmigkeit. In
diesem Text sind die Deutungen schon miteingebaut:
Gen 3,16: Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen
sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und
zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von
dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit
Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das
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Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde
werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden
Adam sin wib erchande,
so chom si in unmaht,
so noch site ist in dem lande.
so was churz ire chraft,
er hete mit ir minne,
so was si fur tot,
so man noch spulget (pflegen, gewohnt sein) hinnen unt ennen
daz nebenam ire frost noh hunger
daz was ein michel not.
daz treip salle
sine wurde eines chindes swanger.
neun manode volle,
ê si den gebaere,
so nie nehein tach
so ward ire ofto sware.
maniges si geluste,
churtzer noh langer gelach,
sine wante wenegez wib
swelihiz si dere verwiskte (verwirken)
daz si begeben (aufgeben) muose den lip.
daz tet ire vile we,
daz muose so sin,
also got ire fore sagete ê.
want ir daz zuo drote unser trehten.
Der Kommentar stammt von einem anonymen Verfasser zu dieser Textstelle. Er ist sehr
aufschlussreich, weil er genau die Kirchenlehre wiedergibt, die seit Augustinus weiter ausgebaut
wurden. Es wird eine Entsprechung zwischen dem Bibeltext und der Gegenwart gemacht, es wird
sozusagen von der Wirklichkeit des Textes auf die Wirklichkeit des 11. Jahrhunderts geschlossen.
Schon die Tatsache der Schwangerschaft wird moralisch aufgeladen, als Mühsal, als Konsequenz
des Beischlafs gewertet und damit als Schwächung der Frau. man muss hierbei erwähnen, dass
aufgrund des medizinischen Standes im Frühmittelalter viele Frauen im Kindbett gestorben sind auch die Lebenserwartung war nicht besonders hoch. Viele Frauen haben aus diesem Grund von
vornherein den geistlichen Weg gewählt.
4. Ave Maria
Ave: das umgekehrte Eva, hier wird ein Spiegelbild geschaffen. Maria ist quasi die Gegenfigur zu
Eva. Das ist ein Spezifikum der christlichen oder katholischen Kirche des Mittelalters, es gibt kaum
eine vergleichbare monotheistische Religion, wo eine Frauenrolle eine derartig wichtige Rolle
spielt. Man könnte sagen, dass das tatsächlich dem Mittelalter zu verdanken ist, wo die
Marienverehrung sehr stark propagiert wurde, das mit der speziellen Konstruktion dieser Religion
zusammenhängt. Die Marienverehrung wurde ebenfalls von der Kirche als Propagandamittel
eingesetzt und war eng verbunden mit religiösen und gesellschaftlichen Machtprozessen. Sie war
also nicht etwas, was spontan entstanden ist, sondern durchaus vom hohen Klerus gelenkt und
durchaus gewollt und provoziert wurde. Denn trotz der negativen Bewertung der Eva, hatte die
Kirche wenig Interesse daran, einen Großteil der Gesellschaft zu verurteilen und zu verteufeln.
Man hat also versucht, dem weiblichen Anteil der mittelalterlichen Gesellschaft ein Modell, eine
Rolle zu bieten, die aber gleichzeitig kontrollierbar ist. Die Marienverehrung, die von Männern und
Frauen gleichermaßen getätigt wurde, war hier also ein wichtiger Aspekt. Die Strömung war sehr
unterschiedlich, vor allem was die Regionen anbelangte. Dieses uneinheitliche Marienbild hängt
zusammen mit den Mariendogmen, die enorm wichtig für gesellschaftliche Rollenzuweisungen was
die Frauen anbelangt, waren.
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4 Mariendogmen
• Maria Theotokus: Maria darf "Gottes-Gebärerin" und "Mutter Gottes" genannt werden, weil das
Menschenskind, das sie geboren hat, zugleich Sohn Gottes ist.
Maria als die Gottesgebärerin: Die Zeugung Jesus erfolgt nicht über das Geschlecht, sondern über
das Wort, durch die Verkündung durch einen Boten, letztendlich erfolgt die erzeugende
Befruchtung durch den Heiligen Geist, der geschlechtslos, aber vor allem körperlos ist. Auf Marias
Körper wird nicht verzichtet - sie dient als menschlich-körperliches Gefäß. Entscheidend ist hier
der Begriff der Mutter, ein Angebot an die Frau, die rolle positiv zu sehen.
• Virgo Maria (Jungfrau-Mutter): Jesus kommt von Gott. Er ist wahrer Mensch, aber kein
"Erzeugnis" menschlichen Könnens und Wollens.
Sie ist auch nach der Geburt jungfräulich geblieben, damit wurde auch der Vorgang der Geburt
entkörperlicht. Bei Maria erkennt man zwar an, dass ihr Uterus, ihr Leib, Jesus enthalten kann, der
Vorgang selbst aber wird mystifiziert. Auch hier wird die Fleischlichkeit, also die Körperlichkeit
zurückgedrängt.
• Maria immaculata (Makellose): Gott erwählt und heiligt Maria schon im Mutterleib - in
Vorausschau auf Christus. Er rettet sie vom ersten Augenblick ihres Lebens an vor der Macht
des Bösen ("Erbsünde", persönliche Sünden) und befähigt sie, ihre Aufgabe als Mutter Jesu zu
erfüllen.
Sie selbst wurde von ihrer Mutter ohne Erbsünde empfangen. (Maria Empfängnis!) sie ist also frei
von der Erbsünde.
• Maria assumpta (in den Himmel aufgenommene): Gott lässt Maria nach Ablauf ihres
Erdenlebens "mit Leib und Seele", d.h. voll und ganz, an der Osterherrlichkeit ihres Sohns
teilhaben.
Das bedeutet, ohne auf das jüngste Gericht warten zu müssen.
Virgo-Maria:
Laut Genesis und laut Deutung der Kirchenväter überträgt sich die Erbsünde durch die Zeugung
eines Kindes, von den Eltern auf das Kind und zwar schon im Moment der Zeugung. Was passiert
jetzt mit Jesus im Leib Marias? Hier wurde viel innerhalb der Theologie diskutiert, und man ist
dann zu dem Schluss gekommen, dass Maria vollkommen passiv in ihrem Empfangen war,
deshalb handelt es sich um eine unbefleckte Empfängnis - damit war auch Jesus frei von der
Erbsünde. Das was für die Frauenbevölkerung konsequent war, war die wichtige und fast schon
religiös aufgeladene Vorstellung von Jungfräulichkeit. Der verschlossene weibliche Körper, war der
reinere Körper, als der nicht-jungfräuliche, was für die Sexualität der Frau bedeutet, dass eine
Frau, die jungfräulich geblieben ist, nach theologischer Vorstellung wertvoller ist - es sei denn, die
nichtjungfräuliche Frau wurde Mutter. Es wurden also in der Figur der Maria beide
Identifikationsangebote vereint: die Jungfrau und die Mutter. Es wurden gleichzeitig zwei ganz
elementare Frauenrollen festgelegt:
• Jungfrau
• Mutter
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Auch bei der Mutterrolle wurde weitgehend die Sexualität ausgeschlossen, außer zum Zwecke der
Zeugung und Empfängnis. Maria und die Marienverehrung haben zu einem sehr positiven
Frauenbild und zu einem Ausgleich zu der Verteufelung der Eva geführt.
Gottfried von Vendome (1093 - 1129):
Mariengebet:
Maria, die Gütige, hat Christus geboren und in Christus gebar sie die Christen. Und so ist die Mutter Christi
die Mutter aller Christen. Wenn aber die Mutter Christi die Mutter aller Christen ist, sind Christus und die
Christen offenbar Brüder. Christus ist nicht nur Bruder aller Christen, sondern er ist der Vater aller Menschen,
vor allem der Christen. Er ist der Vater und der Bräutigam der Jungfrau und er ist ihr Sohn. Maria ist auch die
Schwester, Braut und Magd des Herrn, sie ist aus Gnade Mutter aller Lebendigen im Gegensatz zu Eva, von
der Natur aus Mutter aller Sterbenden.
Die Figur der Maria in mehreren Rollen führt dazu, dass Verwandtschaftshierarchien vollkommen
ausgetauscht werden können. Alle Verwandtschaftshierarchien, die im Sinne einer
Geschlechtlichkeit betrachtet werden können, können außerhalb davon gesehen werden. Es steht:
Maria ist auch die Schwester und die Braut Christi, das soll nicht als inzestuöse Verstrickung
gesehen werden, sondern das, was rollenhaft von Maria möglich ist. Die Kirche bedient sich
bestimmter Kategorien, die durchaus auch im Bereich der Liebeslyrik zu finden sind, und
verwendet diese Kategorien in ganz eigenen Zusammenhängen.
Religiöse Marienverehrung dient auch dazu, den Frauen des Mittelalters aufzuzeigen, was eine
mögliche positive Rolle des Weiblichen sein kann. Vor allem der geschlossene weibliche Körper
spielt hier eine Rolle, jegliche Form der Sexualität wird kanalisiert. Maria wird in ihrer Verehrung
gewisser Weise verkörperlicht, ein menschlicher, weiblicher Körper wird quasi in Allegorien und in
Deutungen aufgelöst. Wie diese Auflösung zu denken ist, zeigt uns das Melker Marienlied:
5. Textbesprechung: Das Melker Marienlied
Es zeigt, in welche Richtung die Marienverehrung gehen kann, und wie ein sinnlicher, fleischlicher,
weiblicher Körper literarisch vollkommen aufgelöst werden kann.
1
2
1 Ju in erde
2 leit Aaron eine gerte.
3 diu gebar mandalon,
4 nuzze also edile:
5 die süezze hast du fure braht
6 muoter ane mannes rat,
7 Sancta Maria.
8 Ju in deme gespreidach
9 Moyses ein fiur gesach.
10 daz holz niene bran,
11 den louch sah er obenan,
12 der was lanch unde breit:
13 daz bezeichint dine magetheit,
14 Sancta Maria.
3
4
15 Gedeon, dux Israel,
16 nider spreit er ein lamphel;
17 daz himeltou die wolle
18 betouwete almitalle:
19 also chom dir diu magenchraft,
20 daz du wurde berehaft,
21 Sancta Maria.
22 Mersterne, morgenrot,
23 anger ungebrachot,
24 dar ane stat ein bluome,
25 diu iuhtet also scone:
26 si ist under den anderen
27 so lilium undern dornen,
28 Sancta Maria.
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5
6
29 Ein angelsnuor geflohtin ist,
30 dannen du geborn bist:
31 daz was diu din chunnescaft.
32 der angel was diu gotes chraft,
33 da der tot wart ane irworgen,
34 der von dir wart verborgen,
35 Sancta Maria.
36 Ysayas, der wissage,
37 der habet din gewage;
38 der quot, wie vone Jesses stame
39 wüehse ein gerten imme,
40 da vone scol ein bluome varen:
41 diu bezeichint dich unde din barn,
42 Sancta Maria.
7
8
43 Do gehit ime so werde
44 der himel zuo der erde,
45 da der esil unde daz rint
46 wole irchanten daz vronechint:
47 do was diu din wambe
48 ein chrippe deme lambe,
49 Sancta Maria.
50 Do gebære du daz gotes chint,
51 der unsih alle irloste sint
52 mit sinem heiligen bluote
53 von der ewigen noete;
54 des scol er iemmer gelobet sin;
55 vile wole gniezze wir din,
56 Sancta Maria.
9
10
57 Du bist ein beslozzeniu borte,
58 entaniu deme gotes worte,
59 du waba triefendiu,
60 pigmenten so volliu,
61 du bist ane gallen
62 glich der turtiltuben,
63 Sancta Maria.
64 Brunne besigelter,
65 garte beslozzener,
66 dar inne fliuzzit balsamum,
67 der wæzzit so cinamomum,
68 du bist sam der cederboum,
69 den da fliuhet der wurm,
70 Sancta Maria.
11
12
71 Cedrus in Libano,
72 rosa in Jericho,
73 du irwelte mirre,
74 du der wæzzest also verre:
75 du bist uber engil al,
76 du besuontest den Even val,
77 Sancta Maria.
78 Eva braht uns zwiscen tot,
79 der eine ie noch richsenot;
80 du bist daz ander wib,
81 diu uns brahte den lib.
82 der tiufel geriet daz mort:
83 Gabrihel chunte dir daz gotes wort,
84 Sancta Maria.
13
14
85 Chint gebære du magedin,
86 aller werlte edilin;
87 du bist glich deme sunnen,
88 von Nazareth irrunnen,
89 Hierusalem gloria,
90 Israhel leticia,
91 Sancta Maria.
92 Chuniginne des himeles,
93 porte des paradyses,
94 du irweltez gotes hus,
95 sacrarium sancti spiritus,
96 du wis uns allen wegunte
97 ze jungiste an dem ente,
98 Sancta Maria.
Dass es um Maria geht, erfahren wir erst in der 7. Zeile mit „Sancta Maria“, was sich bis zum Ende
wiederholt. Es geht um die jungfräuliche Empfängnis, aber möglicherweise auch um die
jungfräuliche Geburt („muoter ane mannes rat“). Die Mandel ist innen süß und außen bitter: innen
ist der süße Kern Jesus, außen die bittere Schale des Menschen bzw. des weiblichen Körpers. Die
Wendung in der zweiten Strophe „daz holz niene bran“ bedeutet, dass die tatsächliche
Unversehrtheit der Gottesmutter, denn sie hat nie das Feuer der Lust verspürt. Das heißt, Maria
hat ohne jegliches Begehren empfangen, und damit ohne Sexualität, ohne sinnliche, fleischliche
und leibliche Begierde. Es kommen immer wieder Elemente aus dem Alten Testament vor (Moses,
Aaron, Gideon,…), wir haben hier eine typische Deutung im Sinne einer Weissagung. Auch in der
dritten Strophe haben wir wieder die Empfängnisszene, es geht hier um das Lammfell, das König
Gideon ausgebreitet hat und vom Himmel betaut wurde - das Lammfell als weibliches Geschlecht
und der Himmelstau als göttlicher Samen. Erneut haben wir die Betonung auf jungfräuliche
Empfängnis. Die vierte Strophe ist insofern interessant, da wie hier eine vollständige
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Allegorisierung haben, keinen Vergleich mehr: „merstern“ (Element Wasser und Frau;
=Morgenstern) und „morgenrot“ sind Bezeichnungen für Maria. Die vierte Strophe bezeichnet
Maria als Licht. In der fünften Strophe spielt die Zurückweisung des Teufels eine Rolle: der Tod,
der durch den Sündenfall entstanden ist, ist von Maria wieder aufgehoben. In der sechsten
Strophe ist Maria eine Knospe, eine Blume. In der siebten und achten Strophe wird von der
Geburt Gottes gesprochen, wobei sie hier überhaupt nicht als schmerzhafte dargestellt wird. In der
neunten Strophe - eine erneute Allegorisierung - wird Maria als „beslozzeniu borte“ beschrieben,
als eine nicht aufgebrochene Tür, womit natürlich wiederum die immerwährende Jungfräulichkeit
Marias gemeint ist. Gleichzeitig ist die Turteltaube ein Sinnbild für Keuschheit. Ähnlich in der
zehnten Strophe: ein besiegelter Brunnen, ein geschlossener Garten. Auch das ist wieder ein
Ziechen für die Jungfräulichkeit. Letztendlich könnte man sagen, dass das ganze Melker
Marienlied genau diese Funktion hat: ein Verweis auf die immerwährende Jungfräulichkeit Marias.
Ganz wichtig ist hier die zwölfte Strophe: man kann hier sehr schön sehen, wie diese Opposition
zwischen Eva und Maria läuft und wie das aufgefasst wurde.
Das Melker Marienlied nennt in sehr konventioneller Weise in den 12 Strophen die wichtigsten
Sinnbilder oder Allegorien Mariens und zeigt sehr gut, wie sich die irdische Frau Maria gleichsam
ästhetisch sinnbildlich auflöst, er wird durchwegs allegorisiert. Das heißt, hier findet eine
vollkommene Allegorisierung der Figur und damit gleichzeitig eine Auslöschung des Körpers. Maria
die Himmelskönigin ist für normalsterbliche Frauen in unerreichbare Sphären gerückt, letztendlich
kann die menschliche Frau diesem Vorbild zwar immer wieder nacheifern, letztlich aber nie
gänzlich entsprechen. Menschliche Frauen bleiben also eher Töchter Evas und weniger Töchter
Marias.
3. Vorlesung
22. Oktober 2015
Die Erlösung - Heilige Frauen
Maria Magdalena und Katharina
1. Heiligenlegende als literarische Gattung
ist vor allem wichtig für Genderfragen.
Legende: das zu Lesende oder das zu Vorlesende, was einiges über die ursprüngliche Funktion
und Bedeutung von Legenden aus. Legenden wurden an Jahrestagen, bei Predigten, und in den
Klöstern vorgelesen. Sie waren jene Erzählungen, die auch dem Laien bekannt waren. Auch in den
heutigen Kalendern finden sich oft bestimmte Namen, bei denen es sich um Heilige und
Namenspatronen handelt.
Miniatur (Folie): ein paar Heilige fehlen, die im Laufe der Jahrhunderte meist aufgefüllt werden.
Man spricht hier von Heiligensammlungen, sogenannten Legendaren, in denen im Jahreskreis
diese Geschichten gesammelt werden. Diese Sammlungen wurden im deutschsprachigen Raum
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im 8. und 9. Jahrhundert angefertigt und haben sich dann verbreitet. Sie waren zunächst in
lateinischer Sprache, im 13. Jhdt. hat man sie dann in der Volkssprache verfasst.
Die wichtigsten volkssprachlichen Legendare:
• Elsässische Legende Aurea (1275)
• Passional (gereimt - Mitte 13. Jhdt.)
• Väterbuch (um 1290)
• Märterbuch (gereimt - Ende 13. Jhdt.)
Dem Inhalt nach gibt es verschiedene Untergattungen:
• Vita: nicht im sinne einer Biografie zu verstehen, sondern es werden Elemente des Heiligenwegs
beschrieben, zB die asketische Lebensweise oder die Bedrohung des Glaubens.
• Passio: einer der häufigsten Formen, die Erzählung des Märtyriums.
• Visio: Erzählungen von Visionen und Jenseitsreisen in andere Sphären, die imaginiert werden.
• Translatio: es geht um Erzählungen über Reliquien, der Reliquien-Kult war spätestens im 13.
Jhdt. sehr ausgeprägt. Reliquie = ein Stück (Körperteil, Knochen, etc.) eines Heiligen.
• Mirakel: Erzählungen von Wundern, die durch oder nach dem Tod des Heiligen geschehen sind.
Alle diese Untergattungen können auch in einer Legende vereint sein, wie es zB bei Maria
Magdalena der Fall ist.
Die Legende aus literaturwissenschaftlicher Sicht:
Nach Andre Jolles zählt sie zu den einfachen Formen (= Texte wie Sagen,...), sie ist also nicht
hochkomplex. Er sagt allerdings, dass die Legende auch innerhalb der Texte, die er als einfache
Formen behandelt, eine Sonderstellung einnimmt. Die Legende ist mehr als ein literarischer Text also nicht als fiktionaler Text aufzufassen, sondern es geht auch um die Vita eines Heiligen
Menschen, und sie postuliert zumindest vom Ansatz her einen historischen Wahrheitsanspruch.
Wir haben es also mit einem Text zutun, der zwischen Wahrheit und Fiktion oszilliert. Entscheidend
ist, dass die Legende elementar in religiöse und soziale Praktiken eigen ist. Sie zeichnen sich
anhand einer enormen Wirkkraft aus, sie sind jene Texte, die am meisten und auch am längsten
gewirkt haben.
Grubrecht (Literaturwissenschaftler) hat Legenden als Faszinationstypen bezeichnet. Es sind
Texte, die immer wieder Erstaunen hervorrufen und nicht vollkommen unberührt lassen.
Wichtig ist, dass eine Legende hat zwar historischen Anspruch für sich postuliert, sie ist aber
dennoch deutlich konstruiert, es ist eine fast paradoxe Situation. Legenden erschaffen den
Heiligen quasi durch den Text. Wir haben es also einerseits mit einem Text zutun, der konstruiert
ist, aber andererseits mit einem Text, der so tut, als wäre er historische Wahrheit. Entscheidend ist
nach Jolles, dass die Figur des Heiligen so dargestellt wird, dass die Umgebung zu einem Imitatio
aufgerufen wird - es geht also um den Aspekt des Nachahmens. Bei Jolles bedeutet dass, dass die
Heiligenlegende zu einem "heiligenmäßigen" Leben, also zu einer bestimmten Form des Glaubens
führen kann, allerdings zu einem Leben, dass gleichzeitig auch auf das jeweilige Geschlecht
normiert wird.
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Die abendländisch-katholische Legende [...] gibt das Leben des Heiligen, oberflächlich gesagt seine
Geschichte - sie ist eine Vita. Diese Vita als eine sprachliche Form hat aber so zu verlaufen, [...] daß sich in
ihr dieses Leben noch einmal vollzieht. Es ist nicht damit getan, daß sie Ereignisse, Handlungen unparteiisch
protokolliert, sondern sie muß diese in sich zu der Form werden lassen, die sie von sich aus noch einmal
verwirklicht. (Andre Jolles: Einfache Formen: S.39)
Die Heiligenlegende ist nicht nur ein Bericht, oder eine Biografie, sondern sie ist von ihrer Form her
so angelegt, dass mit jedem Absatz so viel mehr an Aufforderung und Information da ist, dass die
Hörenden einfach nicht unbeteiligt und unparteiisch bleiben können.
Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das >Historische< in seine Bestandteile, sie erfüllt diese
Bestandteile von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten
Reihenfolge wieder auf. Die Legende kennt das >Historische< in diesem Sinne überhaupt nicht, sie kennt und
erkennt nur Tugend und Wunder (ebd. S.40)
Das Historische ist da, zB bei Biografien oder Informationen, wo gesagt wird, dass der Heilige aus
einem bestimmten Ort stammt, aber diese historische Information ist nur der Beginn einer
Information, die auf etwas anderes abzielt - auf die Glaubensfestigkeit. Das Historische verändert
sich in Richtung Wunder- und Glaubensgeschichte: Die Legenden arbeiten immer wieder mit
Wiederholungen, sie werden als (möglicherweise) nachahmbar bezeichnet. Es ist ein suggestives
Element, das mit transportiert wird.
Wichtig ist also, dass die Legenden über das gesamte Kirchenjahr gehört und gelesen wurden,
und dass diese Legenden weniger auf einen historischen Wahrheitsgehalt abgezielt haben.
Entscheidend war ihre erbauende die Indoktrinierende und Appellative. Man kann also sagen, dass
es sich um eine Textsorte handelt, die sich nicht damit begnügt eine Vita zu erzählen. Man kann
also sagen, dass die Legende keine einfache Form ist, sondern äußerst raffiniert sprachlich
konstruiert ist. Raffiniert insofern, das die Legende das wichtigste Propagandainstrument der
Kirche war, um die Gesellschaft moralisch in eine bestimmte Richtung zu bringen. Es liegt also
nahe, die Legenden auf Kodierungen von Geschlechterrollen zu befragen.
Die zwei folgenden Legenden berichten vom Leben zweier unterschiedlicher Frauen, allerdings
gibt es viele Parallelen in der Darstellung der Heiligenfrau:
2. Maria Magdalena
Maria Magdalena ist keine Unbekannte, sie kommt in den Evangelien, also im Neuen Testament
vor, und ist eine äußerst prominente Frauenfigur - sie wird öfter erwähnt, als Maria die Mutter von
Jesus. (18 mal)
2.1 Im neuen Testament
Maria hat die Kreuzigung verfolgt, ist also eine Zeugin derselben. Als der Lichnam Christi vom
Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt wurde, gedachten die Frauen, den Leichnam nach dem
Brauch der Zeit zu salben, finden den Leichnam aber nicht vor. Die anderen Frauen laufen
erschreckt davon, nur Maria Magdalena hat dort gewartet. Jesus offenbart sich ihr und sagt, sie
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solle zu den Jüngern gehen und verkündigen, dass er auferstanden sei. Sie ist also die erste
Zeugin der Auferstehung (apostola apostulorum).
Es gibt aber im Neuen Testament zwei andere Erzählungen von Maria Magdalena, die eindeutig
von den neutestamentarischen Studien zwei andere Frauen sind, aber es sind Geschichten, die
überlagert wurden.
Wir haben zunächst einmal jene Geschichte (Evangelium nach Matthäus und Lukas), wo eine
Prostituierte die Füße von Jesus salbt (im Hause Lukas). Die Gäste empören sich, dass Jesus das
zulässt, sich von einer Prostituierten die Füße waschen zu lassen und Jesus sagt dann, sie sollen
sie lassen, da sie seinen Leib im Voraus gesalbt hat zu seinem Begräbnis. Genau an dieser Stelle
kommt es zu dieser Verwechslung, man ist davon ausgegangen, dass die Sünderin, also die
Prostituierte Maria Magdalena sei.
Johannes erzählt die gleiche Episode, allerdings sagt er, dass diese Frau mit dem Salböl Maria ist,
meint aber damit nicht, Maria Magdalena, sondern sagt: "Diese Maria war die Schwester von
Martha und von Lazarus", enge Freunde von Jesu, sie sitzt zu Füßen Jesus und lauscht seinen
Worten.
Wir haben es also mit 3 Personen zu tun: die erste Person ist Maria Magdalena als Zeugin der
Auferstehung, die zweite Person ist die Prostituierte, die Jesus die Füße salbt und die dritte person
ist die Schwester von Martha und von Lazarus, die Jesus zu Füßen sitzt und seinen Worten
lauscht. Drei Frauen, die aber alle mit dem Leib Jesu zutun hatten und in seiner Nähe waren. Zwei
davon werden auf den Knien dargestellt, also zu Füßen des Herrn - in bestaunlicher Haltung, in
Bewunderung und Demut.
Man kann sagen, wir haben hier 3 Frauen, und das wurde zunächst einmal bis ins 9. Jhdt. so
gesehen, ab dann hat Papst Gregor der Große im 19. Jhdt. festgestellt, dass die Frau, die von
Lukas als Sünderin bezeichnet und von Johannes Maria genannt wird, dieselbe ist, über die
Markus sagt, ihr seien böse Geister ausgetrieben worden, alle drei Frauen seien also als eine
Person zu sehen.
Seit dem 9. Jhdt. gilt das für die lateinische Christenheit. In der griechischen wurde das noch nicht
so gesehen, sie wurde als eigene Person verehrt und es gab einen sehr ausgeprägten
Magdalenenkult. Diese kurdische Verehrung der Heiligen ist dann nach Europa gelangt, zuerst
nach England, von dort über die Missionare nach Frankreich. Der älteste Text einer Marien
Magdalenen-Verehrung stammt aus Frankreich:
"In veneratione Sanctae Mariae Magdalaene" (10.Jhdt.):
Der Text zeigt sehr schön, wie man sich die Entstehung von Heiligenlegenden vorzustellen hat. Es
war ein Sermon, der auch dazu bestimmt war, vorgelesen zu werden - zunächst in Klöstern aber
auch in Kirchen. Beim Inhalt kommen Elemente dazu, die nicht in der Bibel stehen:
Wir erfahren, dass Maria Magdalena vermögend, freigiebig und von vornehmer Geburt war. Maria
Magdalena verfügt über ihre eigenen Bücher. Es wird hier also offensichtlich eine Vita konstruiert.
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Dieser Aspekt, dass Maria Magdalena möglicherweise auch die Prostituierte ist, wird überhaupt
nicht erwähnt, sondern es werden 2 Dinge betont. Einerseits hat Maria Magdalena ihre weibliche
Schwäche überwunden, und zwar ihre Furcht und ihre Angst, indem sie nicht davongelaufen ist
wie die anderen Frauen, sondern beim offenen Grab stehengeblieben ist. Das wird mit ihrer
Überwindung der Schwäche und mit ihrem zweiten Wesenszug, der Fähigkeit zu großer Liebe
erklärt. Ihre große Liebe zu Jesus hat sie dazu bewogen, eben nicht wegzugehen, was wiederum
ihre Standhaftigkeit zeigt. Maria Magdalena wird als eine Frau dargestellt, die Jesus über alles
liebt. man könnte sagen, dass dieser Text aus dem 10. Jahrhundert Maria Magdalenas sehr
positive Aspekte behandelt. Es wird nichts über ihr lasterhaftes Leben in der Jugend erwähnt, was
ihr später widerfahren ist.
Maria Magdalena steht damit mit diesem ersten Verehrungstext zwischen Eva und Maria. Sie ist
zwar eine Sünderin, aber sie ist nicht so wie Eva und kann natürlich auch nicht so sein wie Maria.
Durch ihren Glauben und ihre Liebe zu Gott nimmt sie aber eine Zwischenposition ein und man
kann sagen, sie hat ein Identifikationsangebot für Frauen, das zwischen diesen beiden Extremen
liegt. Es ist also etwas, das nachahmenswert ist.
Dieser lateinische Sermon hat letztendlich zu einer Maria Magdalena-Verehrung geführt, die über
das gesamte Mittelalter angedauert hat. Gegen Mitte des 11. Jhdts. verbreitet sich das Gerücht,
das Maria Magdalena in Burgund war und sich ihr Leichnam dort befindet, was dazu geführt hat,
dass der sich Kult dort besonders verstärkt hat. Das heißt, das mittelalterliche Frankreich hat für
sich die Position in Anspruch genommen, dass Maria Magdalena dort war. Dazu wird natürlich eine
Erzählung benötigt, die dann nachgeliefert wurde.
Diese Erzählung, wie Maria Magdalena tatsächlich nach Frankreich gekommen ist, finden wir dann
in der Legenda aurea. Die Frage, die sich hier stellt ist folgende:
Was war in der Zeit zwischen der Erscheinung des auferstandenen Christus und ihrem eigenen
Tod?
Alles, das nicht in der Bibel stand, musst irgendwie aufgefüllt werden. Diese Klitterung der drei
Frauenfiguren hat man aber ebenfalls übernommen. Wie ist also eine Frau, die eigentlich in Medea
gewohnt hat, nach Frankreich gekommen? Es ist wieder eine Klitterung von mehreren Legenden,
die kursiert haben. Die Legenda aurea gibt also Erklärungen dafür, wie Maria Magdalena nach
Frankreich gekommen ist.
Eine Erzählung ist hier besonders interessant, eine Erzählung aus dem ägyptischen Bereich: Maria
Aegyptiaca: Maria und das Einsiedlerleben. Diese Figur ist nicht Maria Magdalena, sondern Maria
Aegyptiaca, die in der Wüste ihr Büßerleben durchgeführt hat. Es gibt hier zwei Parallelen zu Maria
Magdalena: auch Maria Aegyptiaca war in ihrer Jugend eine Prostituierte, ist dann aber zum
christlichen Glauben übergetreten und zur Buße in die Wüste gegangen. In der Wüste wird ihr
Körper entweiblicht, sie hat keine Brüste mehr und auch die Haare sind in der Darstellung
zurückgedrängt, in der Wüste ist der weibliche Körper also verdorrt. Ihre Geschlechtlichkeit spielt
keine Rolle mehr, sie ist letztendlich fast schon tierhaft. Diese Geschichte wurde nicht nur aufgrund
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der Namensgleichheit, sonder eben auch aufgrund der Parallelen in der Biografie auf Maria
Magdalena übertragen.
In der Übersetzung der lateinischen Vorlage der elsischen Legenda aurea heißt es:
In der Zwischenzeit begehrte Maria Magdalena nach höherer Betrachtung; sie ging in die rauheste
Wildnis und lebte dort dreißig Jahre lang unerkannt an einem Ort, den die Hände von Engeln für sie
geschaffen hatten. An diesem Ort gab es weder ein Bächlein noch Bäume oder Gras als Trost. Daran wird
deutlich, daß unser Herr sie nicht mit irdischer Nahrung, sondern mit himmlischer Speise sättigen wollte.
Jeden Tag aber wurde sie zu den sieben Gebetsstunden von Engeln in die Lüfte gehoben und hörte mit
ihren leiblichen Ohren den Gesang der himmlischen Heerscharen. So wurde sie alle Tage mit dieser
süßen Kost gespeist und dann von denselben Engeln wieder an ihren Platz auf die Erde zurückgebracht,
so daß sie keiner irdischen Nahrung bedurfte. (ELA: S.436, Z.12-19)
Es wird zwar das Leben einer irdischen Frau geschildert, die dieses in der Wüste verbringt, aber
die Erzählung zeigt deutliche Züge einer Heiligung der Person. Sie braucht keine irdische Nahrung
mehr, sie muss sich nicht mehr den täglichen Mühen einer Nahrungssuche widmen, sondern sie ist
quasi von den Menschen entrückt. Die "süße Kost" ist sozusagen die Belohnung für ihr
Eremitenleben. Das ist insofern interessant, da es im 13. und 14. Jahrhundert relativ viele
Bewegungen gegeben hat, wo Gläubige, Männer und Frauen, ein Eremitenleben gewählt haben völlige Verleugnung und Kasteiung des Körpers hängt damit zusammen. Diese Schilderungen, die
nicht nur in dieser Legende vorkommen, haben real dazu geführt, dass sehr viele Frauen, wie
auch Männer sich dazu entschieden haben, dieses asketische Leben (die körperlichen Bedürfnisse
betreffend) auf sich zunehmen. Es wurde kein Wert mehr auf Hygiene gelegt, nur das allernötigste
gegessen bis hin zu einer Bewegung, bei der sich manche haben einmauern haben lassen.
Es ist ein sehr gutes Beispiel für Imitatio, was diese Geschichte auch als Wundergeschichte
erscheinen lässt. Man erfährt, dass Maria Magdalena von Engeln in den Himmel getragen wurde.
Das, was hier wiederum nachahmenswert ist, ist tatsächlich die Tatsache der Askese und der
Eremitage.
In der Wüste wird sie dann von einem Priester entdeckt, der den Körper nicht mehr als
Frauenkörper wahrgenommen hat und sich deswegen sogar gefürchtet hat, da er nicht recht
wusste, was denn das für ein Körper sei. Der Priester ist dann zu einem Bischof gegangen, hat ihn
informiert, der dann mit Maria Magdalena gesprochen hat. Sie wurde dann mitgenommen und
stirbt dann:
[…] dann empfing die selige Maria Magdalena den Leib und das Blut des Herrn unter vielen Tränen aus
der Hand des Bischofs, streckte ihren Körper vor den Stufen des Altars weit aus und verschied. Nach
ihrem Tod verblieb in der Kirche ein solch süßer Duft, daß er noch sieben Tage lang von allen, die in die
Kirche kamen, wahrgenommen wurde. Ihren heiligen Leib salbte der selige Maximinus mit vielen
Wohlgerüchen und bestattete ihn mit allen Ehren. (ELA S.437, Z.26-31)
Der heilige Körper ist ein besonderer Körper, er ist weder männlich noch weiblich und er entspricht
nicht den irdischen Kriterien. Es ist auch ein Körper, der nicht verwest - es gibt sogar Wohlgeruch.
Der heilige Körper ist auch unzerstörbar, wie man später bei Katharina sehen kann. Damit liefert
der heilige Körper ein Indentifaktionsangebot sowohl für Männer als auch und für Frauen.
Eine andere Geschichte ist ebenfalls sehr interessant, die sich an Erzählungen aus der Bibel sehr
wohl anlehnt, denn Maria Magdalena ist Verkünderin und Apostolin, sie ist aber auch Bekehrerin
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und Predigerin nach dieser Legende, man nennt es ihr apostolisches Leben. Es betrifft also ihr
Leben vor allem nach dem Tod Jesus. Hier kommt Maria Magdalena nach Marseilles, Frankreich.
"[…] durch göttliche Fügung gelangten sie aber nach Massilia. Dort fanden sie niemanden, der ihnen
Unterschlupf gewähren wollte und blieben deshalb in der Vorhalle eines heidnischen Tempels. Als Maria
Magdalena sah, wie das Volk zu dem Heiligtum strömte, um den Götzen zu opfern, stand sie auf und
begann mit sanfter Miene, heiterem Gesicht und milden Worten die Leute vom Götzenkult abzukehren
und predigte ihnen ohne Unterlaß vom christlichen Glauben. Da wunderten sich alle Leute über ihre
Schönheit, ihre Beredsamkeit und ihre süßen Worte. Und tatsächlich ist es kein Wunder, daß die Lippen,
die die Füße unseres Erlösers mit so frommen und so süßen Küssen bedeckten, besser als alle anderen
den Duft von Gottes Wort verströmten." (ELA S.436, Z.5-11)
Sie ist Predigerin mit milden Worten, hier sieht man also, dass die geschlechtsspezifischen
Merkmale hier doch eine Rolle spielen. Auch ihre Schönheit ist hier ein wichtiger Aspekt. Die
Geschichte der Prostituierten wird zunächst außen vor gelassen. Was hier wiederum betont wird,
ist die Tatsache, der Fußsalbung und auch, dass die Jesus körperlich so nahe war, dass sie ihm
die Füße geküsst hat. Aus diesem Kuss entsteht nicht ein "erotisches Verhältnis", sondern der
Kuss bewirkt, dass Maria Magdalena quasi süße Worte formulieren kann und damit auch zu einer
Missionarin wird. Das heißt, ihr Predigen ist ein Predigen aufgrund ihres Kontaktes zu Jesus. Was
in dieser kleinen Textstelle auffällt, ist, dass auch hier diese Tatsache, dass eine Frau von sich aus
das Wort ergreift und predigt, sehr positiv gesehen und nicht als ein Problem gesehen wird verwunderlich, wenn man an die Stelle in der Bibel denkt, in der steht, dass die Frau eigentlich
lieber überhaupt nichts sagen sollte. Das heißt, wenn eine Frau spricht und das im Glauben tut,
wird es positiv vermerkt
In der elsischen Legenda aurea ist dieser Text in lateinischer Fassung so nicht zu finden. Im 14.
Jahrhundert ist genau diese Funktion des Predigens zurückgedrängt worden. Es wird zwar gesagt,
dass Maria Magdalena dort bekehrt, aber ihre süße Rede wird mit keinem Wort erwähnt - es wurde
gestrichen. Offensichtlich war es dem Verfasser bzw. dem Übersetzer doch zu positiv.
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt, sind Maria Magdalena und ihre Tränen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Legenda aurea eine Komposition verschiedener
Geschichten ist. Drei verschiedene Frauenfiguren wurden hierbei in die Legenden aufgenommen
und zu einer Person kombiniert. Dann gibt es Zusatzerzählungen, die die Kindheit und Jugend,
also quasi die "Frühzeit" der Maria Magdalena und dann auch die "Spätzeit", also nach dem Tod
Jesus betreffen. Damit haben wir eine abgerundete Vita. Anhand dieser verschiedenen Elemente
der Legende zeigt sich eine sehr starke Veränderung der Bewertung der Maria Magdalena, die
zumindest im 12. Jahrhundert eingesetzt hat. Ihre Rolle der Bibel, also die der Verkünderin wurde
zurückgedrängt. Maria Magdalena wurde weniger als Zeugin der Auferstehung, sondern als
Büßerin gesehen. Ab dem 12. Jhdt. hat die Kirche versucht, über das Bußsakrament ihre
Gläubigen stärker in den Griff zu bekommen. Man sollte seine Sünden nicht nur beichten, sondern
auch bereuen, um dann eine Tilgung der Sündenschuld zu erfahren. Dieser sogenannte
Ablasshandel hat dann auch zur Spaltung der Kirche geführt, und hat die Reformbewegung
ausgelöst. Maria Magdalena hat für diese Aufforderung der Buße hergehalten. Sie wurde als die
reuige Sündige bezeichnet, was alle anderen Aspekte zurückgedrängt hat.
Zunächst war Maria Magdalena die reuige Sünderin, da aber vor allem auch die Weinende. Der
Aspekt der Liebe, der besonders im Johannes-Evangelium steht, wurde dadurch zusätzlich betont.
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Das heißt also, aus Liebe zu Jesus hat Maria Magdalena große Reue empfunden. Gerade in der
Renaissance-Malerei wurde Maria Magdalena als die Weinende und so als die im Übermaß
Liebende dargestellt. Das war ebenfalls ein wichtiges Identifikationsangebot für die Frau zu dieser
Zeit, denn diese blühende Liebe zu Jesus hat tatsächlich zu einer Frauenbewegung geführt, zu
den sogenannten Beginen, die anfangs nicht in einer klösterlichen Gemeinschaft gelebt haben und
diese Beginen haben vor allem diesen Aspekt betont. das sind dann jene Frauen, die Texte
verfasst haben, die letztendlich nichts anderes sind, als sehr sprachlich interessante
Liebeserklärungen an Jesus.
Andererseits wird sie aber als Sündige und als reuige Sündige bezeichnet, was streng genau ein
Fehler ist, da Maria Magdalena nicht mit der Prostituierten zutun hat. Die elsische Legenda aurea
formuliert es folgendermaßen:
Weil Maria Magdalena Reichtum im Übermaß besaß und die Wollust sich gerne großem Besitz zugesellt,
gab sie sich in gleichem Maße der Lust hin, wie sie reich und schön war, und man nannte sie deshalb
schon nicht mehr bei ihrem richtigen Namen, sondern nur noch "die Sünderin". Als Christus predigend
durch das ganze Land zog, kam sie durch göttliche Fügung ins Haus des Pharisäers Simon, denn sie
hörte, daß Christus dort essen wollte. Weil sie eine Sünderin war, wagte sie jedoch nicht, unter den
Gerechten Platz zu nehmen; so blieb sie hinter dem Herrn zu seinen Füßen und wusch sie mit ihren
Tränen, trocknete sie mit ihrem Haar und salbte sie mit einer köstlichen Salbe. Die Leute dieser Gegend
hatten nämlich wegen der sengenden Hitze die Gewohnheit, sich oft zu baden und zu salben. Da dachte
der Pharisäer Simon bei sich: "Wäre dieser Mann ein Prophet, dann ließe er sich nicht von einer Sünderin
berühren." Der Herr zürnte ihm jedoch sehr wegen seines überheblichen Gerechtigkeitssinns und vergab
der Frau all ihre Sünden. (ELA S.431, Z.16-31)
Hier ist auch die Verbindung von Schönheit und Wollust zu sehen, was auch von der
Kirchenpropaganda oft hervorgehoben wurde - dass die Schönheit der Frau gefährlich
verführerisch ist. Das heißt also, dass Maria Magdalena hier als reuige Sünderin verstanden wird.
Weiter heißt es in der elsischen Legenda aurea:
Weil sie den besten Teil der Buße erwählte, heißt sie das bittere Meer, denn sie hatte davon viel Bitternis;
das erkennen wir daran, daß sie genug Tränen vergoß, um damit dem Herrn die Füße zu waschen. (ELA
S.430, Z.10-12)
Maria Magdalena wird ab dem 12. Jahrhundert immer stärker zur Prostituierten, aber damit
gleichzeitig auch zu einer gefährlichen Frau. Maria Magdalena geht immer mehr in Richtung dieser
kirchlichen Propaganda und wird zum Beispiel einer Frau, die ihre Sinnigkeit lebt, die dann aber
letztendlich ihr Leben in Buße verbringt. Maria Magdalena wird als Schönheit beschrieben und
damit aber auch als gefährlich, denn sie hatte Männer in Versuchung geführt - sie hat Parfum
verwendet, sie hat ihr Haar offen getragen. Es war typisch für die späteren Darstellungen von
Maria Magdalena sie zunehmend als nackte Verführerin zu zeigen. es gibt ab der Renaissance
unzählige Darstellungen der Maria, wo sie als verführerische Frau dargestellt wird.
Sie ist als Heilige ambivalent. Die Kirche hat an die Frau, die Maria Magdalena verehrt, ein
Angebot gerichtet, dass der Aspekt der Liebe zwar wichtig ist, dieser aber auf Jesus gerichtet sein
muss. Damit ist das Potenzial der Sinnlichkeit und der Erotik im Keim erstickt worden.
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3. Katharina von Alexandrien:
Sie ist neben Maria Magdalena eine der populärsten Heiligen des Mittelalters. Es gibt viele
Parallelen zu Maria Magdalena, aber auch ganz entscheidende Unterschiede:
Marthabuch: ein gereimter Text, wo Katharina als reine Frau, als Frau ohne Wandel, eine züchtige
und weise Frau und im Unterschied zu Maria Magdalena von Anfang an:
die rain magt
aller wandels frey
czuchtig und weis
dienen Got was ir gir
Der Inhalt der Legende:
Katharina ist eine Königstochter und wie Maria Magdalena von außerordentlicher Schönheit. Als
Königstochter hat sie das Privileg zur Bildung und sie erweist sich als hochbegabt. Mit 18 ist sie
eine berühmte Gelehrte. Sie bekennt sich zum Christentum von vornherein und versteht sich als
Braut Christi. Damit haben wir einen wesentlichen Unterschied zu Maria Magdalena - sie ist
Jungfrau und bleibt es auch. Eines Tages zwingt der römische Kaiser Maxentius, der sich gerade
in Alexandrien befindet, die ortsansässigen Christen dazu, den heidnischen Göttern zu opfern. Das
hört Katharina, stürmt in den Palast und stellt den Kaiser zur Rede, indem sie in sofort in ein
Religionsgespräch verwickelt und erklärt ihm, dass das nicht ginge und dass er aufhören solle den
heidnischen Göttern zu opfern. Der Kaiser ist nicht nur von ihrer Schönheit beeindruckt, sondern
auch von ihrerFähigkeit zur Argumentation beeindruckt und schlägt ihr vor, mit 50 Gelehrten, die er
kommen lässt, über ihren Glauben zu diskutieren. Wenn sie diese 50 Gelehrten überzeugt, dann
würde er es dabei belassen. Allerdings können die 50 Gelehrten Katharina nichts entgegnen, denn
sie ist in ihrer Argumentation so gut, dass die 50 Gelehrten verzweifelt sind und sich zum
Christentum bekehren. Der Kaiser ist erzürnt, da er dies nicht erwartet hatte und lässt alle
verbrenne. Er meint, damit wäre das Problem gelöst, wäre da nicht die Kaiserin, seine Frau, die so
beeindruckt ist, dass sie ebenfalls zum christlichen Glauben wechselt. Nun will der Kaiser
Katharina als Frau, sie aber verweigert das verweist dabei auf Jesus. Das lässt der Kaiser
natürlich nicht auf sich sitzen, sondern er lässt Katharina foltern und in den Kerker geworfen. Sie
wird ausgepeitscht, auf das Rad gespannt und vieles mehr. Sogar im Kerker gelingt es ihr noch,
Menschen zu bekehren. Katharina bleibt also standhaft und der Kaiser weiß keinen Ausweg mehr,
denn auch die Folter bewirkt nichts - ein Spezifikum des Heiligen Körpers - er kann dank Gott nicht
zerstört werden. Zum Schluss lässt der Kaiser sie köpfen und aus ihrem geköpften Leib fließen
Blut und Milch, als Zeichen ihrer Heiligkeit und sie wird von den Engeln in den Himmel getragen.
Wir haben hier also eine ganz typische Märtyrergeschichte. Katharina ist also reich und schön,
aber anders als bei Maria Magdalena führt dieser Reichtum nicht zur Sünde. Sie tritt ebenfalls als
Predigerin auf und sie wird sogar als Gelehrte bezeichnet. Wie ist es nun möglich, dass tatsächlich
eine Heilige als Gelehrte erscheint? Das ist nur deshalb möglich, weil Jesus das so bestimmt. So
heißt es zunächst:
"Der engel Sprach: V.24874: Got macht dich so chünstreich/ und geit dir sinne also vil,/ daz an desselben
tages zil/ dich niemand mag ueberredenn."
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Die Klugheit ist jedoch nicht weiblich konotiert, denn diese Klugheit kommt ausschließlich von Gott.
Das heißt, die Klugheit ist männlich, ganz entsprechend den Bibelstellen im Zusammenhang mit
Eva. Klugheit ist die ratio und die ratio ist etwas männliches. Sie wird auch von Gott "eingeimpft" Katharina ist nichts anderes als das Medium Gottes, sie ist sozusagen seine Stimme.
V. 24931: Solcher red der rett sy vil/ mit Gottes hilf auf daz czil/ daz die meister gar erchamenn/ und all sy
wunder namenn/ von wan sy het so grozzen sin./ ir chainer was under in/der ir antwurten chünde.
Es wird von den Gelehrten als großes Wunder begriffen, dass Katharina in der Lage ist, sie in der
Konfrontation zu übertreffen.
Katharinas Schönheit ist, anders als bei Maria Magdalena, Teil der Heiligkeit, sie löst sich in der
Heiligkeit gleichsam auf. Im Text wird die Schönheit als ein göttliches Leuchten beschrieben. Der
Körper leuchtet von sich heraus und der weibliche Körper löst sich im Glanz auf - damit löst sich
auch das Geschlecht.
V. 25067: "und sahen sitzen engel da
pey der maid Kahterina
und salbten andenn stündenn
der maid ir grozze wündenn
die ir warn vor denn tagenn
jemerlich durch Got geslagenn
und wo die salb hin wart gestrichen,
da was die wünde sa entwichen
und wart davonn schöne gar,
daz sy jahen des für war
ez müst nür vonn Gotte sein."
Die Schönheit ist somit eine gottgegebene, also eine andere Schönheit, als die der verführerischen
Frau. Katharinas Schönheit ist spirituell gesehen und nicht erotisch kodiert. Das zeigt sich auch in
ihrem Tod:
V. 25519 und do sy den tod enphie,
für plüet milich von ir gie.
auch warn die engel da
und namen den leichnam sa
und fürten in sichtichleich
dahin Got von himelreich
gab Moysi die zehen gebot,
Der heilige Körper ist der Körper, der auch in den Himmel kommt. Er ist nicht mehr menschlich, er
ist nicht mehr weiblich oder männlich, er ist geschlechtslos. Er hat quasi eine andere Dimension.
Die Schönheit ist also nicht mehr die Schönheit des irdischen Körpers, sondern die Schönheit des
heiligen Körpers und damit nicht mehr in irdischen Kategorien messbar. In der Zerstückelung und
Folter des Körpers entsteht ein neuer, unzerstörbarer, spiritueller, virtueller und verklärter Körper.
Diese Kodierung von Männlichkeit und Weiblichkeit lösen sich scheinbar darin auf.
Entscheidend ist bei Katharina ihre Jungfräulichkeit. Das heißt, der jungfräuliche Körper ist
zumindest in der Lesart dahinter geeigneter für diese Art der Heiligung als bei Maria Magdalena.
Man könnte sagen, der jungfräuliche weibliche Körper ist, wenn man verschiedene Legenden
miteinander vergleicht, tatsächlich dem nicht jungfräulichen Körper überlegen. Er erfährt in diesen
Legenden auch eine Aufwertung. Das hat durchaus auch für die reale Lebensweise der Frauen im
Mittelalter Konsequenzen.
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Einerseits haben wir bei Maria Magdalena die Kodierung der Schönheit, die gefährlich ist,
andererseits jungfräuliche Schönheit, die spirituell umgedeutet wird.
Obwohl die Legenden einander gleichen, gibt es in der Geschichte selbst sehr wohl immer wieder
Kodierungen von Geschlechterdifferenzen. Es ist tatsächlich so, dass hier eine Hierarchie
eingesetzt wird, die besagt, dass der jungfräuliche Körper dennoch wertvoller ist, als der nichtjungfräuliche und dass der mütterliche Körper einer ganz anderen Kategorie zuzuteilen ist. Es gibt
nur wenige Legenden, wo Mütter zu Heiligen werden. Ein typischer Legendenzug ist, dass
Prostituierte keine Kinder haben, es ist auch ein literarischer Topos. Die Reproduktion wird (in
beiden Fällen) gewisserweise außen vor gelassen.
Es ist sehr selten, dass Katharina als Studierende oder Lesende dargestellt wird, wie es bei Onorio
Marinari der Fall ist.
Wie keine andere Gattung hat die Legende dazu beigetragen geschlechtsspezifische Hierarchien
zu verankern. In allen Legenden wird der Gegensatz von Körperlichkeit und Spiritualität betont,
außer bei den Tränen bei Maria Magdalena, die aber ein Ausdruck der Liebe zu Jesus sind. Man
könnte sagen, im christlichen Abendland sind eigentlich die weiblichen Heiligen die einzigen
weiblichen heroischen Figuren, die es gibt. Die Legenden zeigen sehr schön, wie
Geschlechterkonstruktionen aussehen und wie sie letztendlich gemacht werden. Um wieder auf
Jolles zurückzukommen: Legenden sind Texte, die als Propagandamittel unendlich klug eingesetzt
werden und das mit vor allem literarischen Mitteln.
4. Vorlesung
5. November 2015
Der Körper der Frau
Der weibliche Körper mit Imaginationen ist ein wichtiges Forschungsfeld innerhalb der
Genderforschung, da vor allem mit den Vorstellungen des schönen Körpers und des hässlichen
Körpers anhand verschiedener Textvorstellungen.
„sex“ bezeichnet in der Genderforschung das biologische Geschlecht, also den biologischen
Geschlechtsunterschied, der körperlich sichtbar ist. Der biologische Unterschied zwischen
Männern und Frauen ist so offensichtlich, dass es sich nur schwer vorstellen lässt, dass auch
dieser einem historischen Wandel unterworfen ist. Diese biologische Teilung der Geschlechter in
männlich und weiblich, die bis heute als unumstößlich gilt, ist eine Erfindung der letzten 200 Jahre.
1. Der medizinische Diskurs:
Galenos von Pergamon (ca. 129 - ca. 199):
Für Galenos von Pergamon, einer der bedeutendsten und einflussreichsten Ärzte in der Antike,
war eine Trennung und Unterscheidung der Geschlechter nach ihren spezifisch organisch-
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anatomischen Besonderheiten wenig bis gar nicht sinnvoll. In den antiken Vorstellungen ähnelten
sich Mann und Frau mehr, als sie sich unterschieden. Er gilt als Humoralpathologe.
„Anatomie von Mann und Frau ist im Prinzip gleich."
Thomas Laqueur (*1945):
Der auf der Universität Berkeley lehrende Historiker Thomas Laqueur hat für diese antike
Vorstellung den Begriff „one-sex-model“ geprägt. Demnach lag der altertümlichen und damit auch
mittelalterlichen Wahrnehmung von Mann und Frau nur ein einziges Geschlecht zugrunde, dem
sogenannten vollkommenen Geschlecht. Reale Frauen und Männer waren letztendlich nichts
anderes als Abwandlungen dieses einen perfekten Geschlechts, das am männlichen orientiert war.
Der Mann stand der Vollkommenheit näher als die Frau. Auch die Philosophie, unter anderen zB
Aristoteles, hat sich mit diesem Aspekt auseinandergesetzt. Aristoteles behauptete, die Frau sei
nichts anderes als eine minderwertigere Ausführung des Menschen. Das Männliche bildete das
Maß aller Dinge, das galt immerhin bis 1800.
Der herrschenden anatomischen Meinung befand sich beim Mann draußen, was bei der Frau
aufgrund ihrer größeren Unvollkommenheit und geringeren Hitze (4-Säfte-Modell) im Inneren
verborgen blieb. Der Unterschied zwischen Penis und Vagina, so lehrte Galenos seine Schüler, sei
rein topologischer Art. Stülpe man das gesamte männliche Geschlechtsorgan um - wie einen
umgedrehten Handschuh, so Galenos, verwandle sich dieses in weibliche Genitalien. Der Penis
würde zur Vagina, der Hodensack zur Gebärmutter und die Hoden zu den Eierstöcken. Bis ins
späte 18. Jahrhundert sprachen die Ärzte im Englischen von männlichen und weiblichen Testikeln.
Dasselbe wäre auch umgekehrt bei der Frau möglich. Nichts komme dazu, nichts gehe verloren.
Diese Vorstellung kann man auch bei DaVincis Zeichnungen sehen, seine Zeichnungen waren
eine lange Zeit sehr wichtig für die Anatomie und die medizinische Forschung.
Körper und Kosmos - die Elementenlehre:
Physiologisch galt die Frau als die kühlere Variante des Mannes, aber keinesfalls als sein
Gegensatz. Aus dieser Elementenlehre erklärte man sich alle biologischen Unterschiede, zB
warum Frauen menstruieren, und Männer nicht. Die Erklärung war folgende: die heißere Hälfte
der Menschheit - der Mann - verbrannte das überschüssige Blut im Körper. Die Körperflüssigkeiten
waren bei beiden Geschlechtern austauschbar. Das Gleichgewicht der Frau war die kühlere
Variante, das des Mannes die heißere. Hatte der Mann zB mehr Kälte im Körper, bekam er
Hämorrhoiden. Menstruation war somit nichts typisch weibliches, sondern ein Blutfluß, der aus den
Mischungen der Säfte erklärt wurde, und nicht wie heute aufgrund bestimmter hormoneller Fakten.
Die Körperflüssigkeiten (Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle) können sich ineinander
verwandeln. Der männliche Samen wurde als eine Form von veredelten Blut verstanden. Man
glaubte auch, dass ein Kind aus männlichen und weiblichen Samen entstanden. Der männliche
Samen wurde als stärker und dicker verstanden, der weibliche als dünner.
Damals also sahen unsere Vorfahren der klassischen Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein nur ein
einziges Geschlecht mit zwei unterschiedlichen Ausformungen - einer vollkommenen und einer
weniger vollkommenen, einer heißeren und einer kälteren, einer männlichen und einer weiblichen.
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Die Grundlagen des Geschlechtsunterschieds lagen nicht im und am Körper, sondern in der
gestuften Ordnung des Universums, also in der Verbindung von Körper und Kosmos. Diese
Eingeschlechtlichkeit hat allerdings nicht zu einer Gleichheit geführt. Als das perfekte Geschlecht
wurde der Mann gesehen, das weniger perfekte war die Frau.
Im 18. Jahrhundert begann sich diese Auffassung zu ändern, natürlich auch aufgrund der
medizinischen Erkenntnisse, allerdings hat man dann versucht in einer umgekehrten Regelung
diese biologischen Tatsachen immer wieder auch auf eine Schwäche zurückzuführen. Alles das,
was spezifisch weiblich ist, zB Menstruation, Schwangerschaft und der weibliche Orgasmus
wurden als Schwächen verstanden, während beim Mann wiederum die biologischen Tatsachen als
Stärke gedeutet wurden. Die zwei Geschlechter wurden nun in der Deutung als ein Gegensatz
verstanden.
Das Zweigeschlechtsmodell hat nicht nur aus biologischen Gründen den Siegeszug
davongetragen, sondern vor allem aus philosophischen und gesellschaftlichen Gründen. Die
Biologie hat die Metaphysik ersetzt - das was man metaphysisch glaubte wurde in der Neuzeit
immer seltener. Die Biologie hatte ab dem 19. Jhdt. eher die Tendenz das Trennende zu betonen,
als das Gemeinsame von Mann und Frau. Bei beiden Modellen wurde zu Mechanismen gegriffen,
um den weiblichen Körper abzuwerten, wenn es auch beim Eingeschlechtsmodell keine
biologische Abwertung gab. Im Eingeschlechtsmodell geht es um eine kosmische Ordnung und
eine metaphysische Erklärung, während die Biologie so tut, als gäbe es unumstößliche
naturwissenschaftliche Beweise für die Ungleichheit der Geschlechter und in weiterer Folge - subtil
- für die Abwertung des weiblichen Körpers. Beide Modelle zeigen sehr gut, dass die
Unterscheidung der Geschlechter nicht nur eine Unterscheidung ist, um etwas zu wissen, sondern
dass sie auch einem sozialen und politischen Zweck dient - ein Machtmittel zur Unterdrückung des
Weiblichen.
Die Unterschiede sind eng verknüpft mit kulturellen Zuschreibungen und Machtprozessen. Die
Theologen haben sich mit den anatomischen Modellen, die damals kursierten, auseinandergesetzt
und sind hergegangen und haben dieses in ihrem Sinne gedeutet, was eine Verknüpfung von
Theologie und Biologie schaffte, etwas, das in der heutigen Zeit undenkbar ist.
2. sex und Theologie
Thomas von Aquin (1225 - 1274):
Summa Theologica: Ein Werk, das einen enormen Einfluss auf das gesamte Mittelalter bis weit ins
15./16. Jahrhundert hatte. Interessant ist, dass er den medizinischen Diskurs aufgreift und diesen
theologisch ausdeutet:
„Es war notwendig, dass das Weib ins Dasein trat, wie die Schrift sagt, als Gehilfin des Mannes; zwar
nicht als Gehilfin zu einem anderen Werke als dem der Zeugung, wie einige behaupten, da ja der Mann
zu jedem sonstigen Werke eine bessere Hilfe im anderen Manne findet als im Weibe sondern es war
notwendig als Gehilfin im Werke der Zeugung.“
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Er sagt also, dass Frauen vollkommen entbehrlich sind. Sie werden auf die biologische Funktion
des Kindergebährens reduziert. Er geht noch weiter: Für Thomas von Aquin entsteht die Frau
durch einen biologischen Wandel. Der Samen des Mannes wäre auf die Zeugung eines Jungen
angelegt. Dass ein Mädchen gezeugt wird, ist das Ergebnis einer Schwäche. Nach dieser
theologischen Begründung ist die Geburt eines Mädchens ein Fehler, quasi eine Schwäche des
Samens. Die Frau sei ein verhinderter Mann und etwas mangelhaftes. Er geht als auch vom
Eingeschlechts-Modell aus. Innerhalb der Spezies Mensch wäre der Mann das Vollkommene
(Perfektum). Die Frau ist die Schwächere (Imperfectum), das könne man an ihrer Körperlichkeit
bemessen und ist dem kälteren und feuchten Bereich zuzuweisen. Nach Aquin muss die Frau dem
Mann unterworfen sein, schon allein, weil die Frau von Natur aus schwächer sei, als der Mann.
Er verknüpft die Begründung für die untergeordnete Stellung der Frau also mit theologischen
Argumenten. Der männliche Samen ist das Aktive/Zeugende, während der Uterus das Passive/
Materielle ist, nichts anderes als ein Gefäß für den männlichen Samen und idealerweise für das
männliche Kind. Aus diesen Tatsachen, die einerseits biologisch und auch aus der Elementenlehre
kommen, werden die Geschlechterhierarchien gesponnen.
Es gibt allerdings eine interessante „Gegenposition“, die tatsächlich von einer Frau kommt - rund
100 Jahre vor den Thesen Thomas von Aquins:
Hildegard von Bingen (1098 - 1179):
Sie war eine hochgebildete Klosterfrau, der auch in männlichen Kreisen ein enormer Zuspruch und
Respekt entgegengebracht wurde. Sie ist auf die Unterscheidung der Geschlechter in ihren
Schriften immer wieder eingegangen. Sie hat sehr wohl die theologischen Schriften dieser Zeit
gekannt und auch aufgenommen, hat aber dennoch eine andere Sichtweise formuliert. Hildegard
von Bingen weicht von der Grundeinstellung ab, dass der Mann stärker ist als die Frau, auch die
Machtverhältnisse
zwischen den Geschlechtern sind für sie eindeutig geregelt. Allerdings
versuchte sie ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau zu finden - sie spielt eine
Gegenseitigkeit an. Sie vergleicht Mann und Frau mit Sonne und Mond und erstellt damit eine Art
Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden, da das eine nicht ohne das andere existieren kann.
Sonne und Mond ist auch gewissermaßen eine Metapher - die Sonne, die für die Hitze steht
(Mann) bescheint den kälteren Mond (Frau) und bringt ihn zum leuchten. Gleichzeitig sagt sie,
dass die Frau nicht nur zum Zwecke der Zeugung da ist, sondern dass beide Geschlechter
aufeinander angewiesen sind:
„Gott hat ja das Weib dem Manne mit dem Eidesschwur der Treue verbunden und zwar so, dass diese
Treue ihnen niemals gebrochen werden sollte , dass sie vielmehr in eins miteinander übereinstimmten,
ganz wie Seele und Leib, die Gott zu einer Einheit verband.“
Man kann hier eine ganz andere Betonung erkennen. Das „eins“ ist die Verbindung, auch die
sexuelle. Sie wird in ihren Schriften durchaus konkret. Bemerkenswert sind ihre Ausführungen zur
männlichen und weiblichen Sexualität. Auch bei Hildegard von Bingen ist der Mann die Seele und
die Frau der Leib, aber beide, also die vier Elemente, können nur in einer harmonischen
Entsprechung zusammen wirken. Wenn also die Frau feucht und kalt sei und der Mann trocken
und heiß, so käme es erst durch die Verbindung aller vier Elemente zur gottgewollten Einheit der
Geschlechter. Die Zeugung ist für sie also nicht nur eine Notwendigkeit zum Fortbestand der
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Menschheit - sie macht auch keinerlei Unterscheidung zwischen der Zeugung eines Mädchen oder
eines Jungen, sondern sie sagt, dass die Harmonien aufeinander einwirken.
„Die weibliche Lust kann man mit der Sonne vergleichen, welche die Erde mit ihrer Wärme sanft, langsam
und fortwährend durchdringt, damit sie Früchte hervorbringe. Würde sie stärker und ständig auf die Erde
herabbrennen, würde sie die Früchte eher schädigen als hervorbringen. So hat auch die weibliche Lust
eine sanfte, milde aber dennoch ständige Wärme um Nachwuchs zu empfangen und zu gebären.“
Entscheidend bei ihr ist, dass auch bei Hildegard von Bingen die Vorstellung der Geschlechter
völlig unabhängig ist von den primären körperlichen Geschlechtsteilen. Auch bei ist der Körper sowohl der männliche, als auch der weibliche - eine Folge der Ordnung des Kosmos.
Geschlechtsmerkmale und Charaktereigenschaften sind nichts anderes als eine Mischung von
Körpersäften unter Einfluss der Elemente. Der sichtbare Geschlechtsunterschied spielt in diesen
Überlegungen keine Rolle.
3. Imaginationen: Der schöne Körper
Das Bild der Frau in der Dichtung ist von diesen Sichtweisen nicht unberührt geblieben. Es gibt
aber unzählig mehr Spielarten und Varianten in der Dichtung. Eine erstaunliche Variante gerade
des 12. und 13. Jahrhunderts ist zB das Bild der hohen Frau im Minnesang. Das Bild der hohen
Frau ist etwas, das vordergründig die Hierarchie der Geschlechter vollkommen umkehrt, denn im
Minnesang wird die Frau als das Höchste verehrt und der Mann bzw. der Sänger unterwirft sich ihr
vollkommen. Es wird ein Frauenbild geschaffen, dass vollkommen im Gegensatz zum medizinischbiologischen Diskurs steht. Der Sänger sieht sich als Dienender, als hoffnungslos Sehnender und
unterwirft sich der Frau bedingungslos. Seine unerfüllte Liebe führt zu Schmerz.
Walther von der Vogelweide:
Er ist ein berühmter Lyriker des deutschen Hochmittelalters und hat viele Lieder geschrieben, unter
andern auch des hohen Sangs. Das folgende Lied ist die erste Schönheitsbeschreibung des
Frauenkörpers.
Si wunderwol gemachet wîp,
daz mir noch werde ir habedanc!
Ich setze ir minneclîchen lîp
vil werde in mînen hôhen sanc.
Gern ich in allen dienen sol,
doch hân ich mir dise ûz erkorm.
ein ander weiz die sînen wol:
die lob er âne mînen Zorn;
hab ime wîs unde wort
mit mir gemeine: lob ich hie, sô lob er dort.
Sie hât ein küssen, daz ist rôt.
gewünne ich daz für mînen munt,
Sô stüende ich ûf von dirre nôt
unt waere ouch iemer mê gesunt.
Swâ si daz an ir wengel legt,
dâ waere ich gerne nâhen bî:
ez smecket, sô manz iender regt,
alsam ez vollez balsmen sî:
daz sol si lîhen mir.
swie dicke sô siz wider wil, sô gibe ichz ir.
Ir houbet ist sô wünnenrîch,
als ez mîn himel welle sîn.
Wem solde ez anders sîn gelîch?
es hât ouch himeleschen schîn:
Dâ liuhtent zwêne sternen abe,
dâ müeze ich mich noch inne ersehen,
daz si mirs alsô nâhen habe!
sô mac ein wunder wol geschehen:
ich junge, und tuot si daz,
und wirt mir gernden siechen seneder sühte baz.
Ir kel, ir hende, ietweder fuoz,
daz ist ze wunsche wol getân.
Ob ich da enzwischen loben muoz,
sô waene ich mê beschouwet hân.
Ich hete ungerne> decke blôz!<
gerüefet, do ich sî nacket sach.
si sach mich niht, dô si mich schôz,
daz mich noch sticht als ez dô stach,
swann ich der lieben stat
gedenke, dâ si reine ûz einem bade trat.
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Got hât ir wengel hôhen flîz,
er streich sô tiure varwe dar,
Sô reine rôt, sô reine wîz,
hie roeseloht, dort liljenvar.
Ob ichz vor sünden tar gesagen,
sô saehe ichs iemer gerner an
dan himel oder himelwagen.
owê waz lob ich tumber man?
mach ich si mir ze hêr,
vil lîhte wirt mîns mundes lop mîns herzen sêr.
Es geht hier ganz eindeutig um eine schöne Frau. Die Deskriptio beginnt von oben nach unten,
beginnt also beim Kopf und endet bei den Füßen. Das männliche Ich stilisiert sich in der zweiten
Strophe als ein krankes Ich. Lilien und Rosen (dritte Strophe) sind sehr wichtige Attribute der
weiblichen Schönheit, sie kommen auch bei Mariendarstellungen vor. Die weiße Haut war ein
Schönheitsideal, genau wie das Rot der Lippen. Die Farben rot und weiß finden hier eine
wunderbare Harmonie. Diese Schönheitsbeschreibung hat durchaus (gewollte) Anklänge an einen
religiösen Diskurs, hier an Maria, was in der fünften Zeile deutlich wird. In der vierten Strophe
kippt das Ganze, die Dame wird wieder in den "realen Raum" zurückgeholt. Auch der Duft der
Dame ist Teil der Schönheitsbeschreibung, es geht also nicht nur um das Aussehen, der Sänger
bedient sich auch seiner restlichen Sinne. In der fünften und letzten Strophe erfahren wir, dass er
sie ungesehen beobachtet, während sie badet.
Wir haben also eine klassische Schönheitsbeschreibung, die mit dem nackten Frauenkörper endet.
Die Dame ist nicht nur wunderschön, sondern auch voller Liebreiz. Das Lied zielt auf eine
erotische Schlusspointe ab, die offen lässt, ob es zu einer sexuellen Erfüllung kommt, oder nicht.
Der Sänger stilisiert sich dreimal als Verwundeter (Strophe 2, 4, 5), hier wird die
Geschlechterordnung also umgekehrt. Entscheidend aber ist, dass der Schönheitspreis der Frau
ironisch gebrochen ist, denn man muss dieses Gedicht poetologisch lesen. In der ersten Strophe
wird klar, dass die Dame Muse ist - sie inspiriert den Sänger zu seiner Dichtung. Er betont aber
gleichzeitig, dass sie ohne sein Lob letztendlich nichts wäre, was in der dritten Strophe gut zu
beobachten ist. Die Schönheit würde unerkannt bleiben. Wir haben immer den Blickwinkel des
Sängers - in literaturwissenschaftlichen Analysen ist es sehr wichtig, wer wen sieht. Die Lenkung
des Blickes ist für die Geschlechterhierarchie sehr bedeutend - wer darf schauen, wer muss den
Blick senken. Er gibt eine Kostprobe seiner Kunst, indem er die Schönheit preist und sie ausstellt.
Er entrückt die Schönheit der Frau in himmlische Sphären, um sie dann gleich wieder vom Himmel
herunterzuholen (ab Strophe 4). Der Blick des Sängers richtet sich sofort ins Voyeuristische. Der
Blick des Mannes wird von der passiven Demutshaltung zu einem aktiven begehrlichen Blick. Man
könnte auch sagen, als reale Frau ist sie dem realen Begehren des Mannes ausgesetzt. Das, was
als ein selbstloser Traum aussieht, ist letztendlich nichts anderes, als die Spiegelung des Mannes,
dessen Kunst in der Schönheit der Frau zu finden ist - man könnte fast sagen, ihre Schönheit ist
seine Kunst.
Die erste Deskriptio der körperlichen Schönheit der Dame ist nichts anderes als ein Lob des
Sängers auf seine Kunst, wenn man es poetologisch liest.
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Die Vorstellung, dass die Liebe durch die Schönheit entsteht und damit auch die Vollkommenheit
des Mannes bewirkt begegnet uns in der Literatur immer wieder. Es gibt in der Literatur eine starke
Entsprechung von Schönheit und Vollkommenheit, allerdings eine Entsprechung, die natürlich
immer wieder gebrochen ist. Hier gibt es keinerlei Hierarchien - Sowohl die Männer als auch die
Frauen sind in der Literatur schön. Schönheit ist nichts geschlechtsgebundenes, sie ist etwas
objektives, etwas das menscheneigen sein kann. Das wird damit erklärt, dass Schönheit als
Eigenschaft Gottes angesehen wurde, Gott selbst gilt als Inbegriff der Schönheit, wobei sie etwas
körperloses ist. Die Schöpfung wird ebenfalls als schön bezeichnet, aber nur in dem Moment, wo
Gott wirkt. Hier gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten.
Interessant ist aber dann, dass diese Schönheit gebrochen wird und zwar durch den Körper der
Frau. Die Schönheit der Frau ist nicht nur die ideale Schönheit, sie kann auch eine hässliche Seele
verbergen.
4. Imaginationen: Der hässliche Körper
„Parzifal": Wolfram von Eschenbach:
Parzifal war ein sehr berühmter Roman des Hochmittelalters. Es gibt darin eine sehr markante
Szene: die Szene des Auftritts der Kundrie, der Gralsbotin, die an den Artushof kommt um Parsifal
und dem gesamten Artushof sein Fehlverhalten vorzuwerfen (er hat nämlich im ersten Teil des
Romans die Mitleidsfrage gestellt, ohne es zu wollen). Kundrie bricht in die Feststimmung hinein,
um allen mitzuteilen, dass er nicht der edle Ritter ist, den sie glauben vor sich zu haben. Parzifal
selbst wird als wunderschön beschrieben. Interessant ist hier aber die Beschreibung der Kundrie:
nu hœrt wie diu juncfrouwe reit.
ein mûl hôch als ein kastelân,
val, und dennoch sus getân,
nassnitec unt verbrant,
als ungerschiu marc erkant.
ir zoum und ir gereite
was geworht mit arbeite,
tiwer unde rîche.
ir mûl gienc volleclîche.
si was niht frouwenlîch gevar.
wê waz solt ir komen dar?
„si was nicht frouwenlîch gevar“ kann übersetzt werden als „sie sah nicht wie eine Dame aus“.
Kundrie ist nicht nur ungewöhnlich hässlich, sondern auch außerordentlich gelehrt und eine
Zauberin. Sie spricht mehrere Sprachen, besitzt vorzügliche Kenntnisse in den Wissenschaften der
freien Künste und ist darüber hinaus auch noch in der Astronomie bewandert. Ihrer Hässlichkeit
zum Trotz ist sie nach der neuesten Mode gekleidet - ein Hut aus Frankreich, einen schönen
Mantel, also ein großes Kontrastprogramm. Sie hat Haare wie Schweineborsten, Zähne wie Hauer
von einem Eber, Ohren wie ein Bär, Hände wie Affenhaut und Fingernägel wie die Krallen eines
Löwen. Sie entspricht der höfischen Norm, und dann wieder nicht. Der höfischen Norm entspricht
sie durch ihre Kleidung, aber sonst keineswegs. Sie ist eine moralische Instanz. Es kommt ihr eine
Schlüsselfunktion im Werk zu, da sie den Artushof und Parzifal auf sein Fehlverhalten hinweist.
Welche Funktion hat aber nun ihre Hässlichkeit? Sie ist eine Abgrenzung und Ausgrenzung
gegenüber der Norm, das betrifft nicht nur ihre Hässlichkeit, sondern auch ihre Gelehrsamkeit.Die
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gelehrte Frau ist außerhalb der Norm und wird als etwas nicht Weibliches qualifiziert wird. Mit
dieser Figur wird eine Unvereinbarkeit von weiblicher Schönheit und Intelligenz. Kundrie ist auch
eine moralische Instanz, weshalb man ihre Hässlichkeit auch als eine Art äußere Entsprechung der
inneren Zustände Parzifals verstehen kann. In dem Moment, in dem Kundrie kommt, ist er innerlich
zerfressen und entspricht nicht seinem Äußeren. Kundrie dient als Spiegel und Verbildlichung
seines inneren Zustands. Sie bleibt aber die Außenseiterin, und unbrauchbar für Männer, wie der
Erzähler anmerken lässt. Er distanziert sich von dieser Art der weiblichen Darstellung.
„Eneide“: Heinrich von Veldeke
Sybille ist die Seherin im Eneasroman und sie ist hässlich. Sie ist Vermittlerin zwischen zwei
Welten - zwischen der Welt der Götter und der der Menschen. Sybille ist gelehrt und hat die Gabe
der Vorsehung. Sie lebt in einer Höhle abseits der Gesellschaft. Nur mit ihrer Hilfe kann Eneas in
das Totenreich gelangen.
Der mittelhochdeutsche Roman geht auf eine französischste Vorlage zurück, die wiederum auf die
Antike zurückgeht.
Auch in der Antike ist Sybille Seherin und weiße Priesterin. Es gibt jedoch ein Problem - alle
Figuren in der Antike sind Heiden. Um diese Geschichten in das christliche Mittelalter zu
übertragen, musste man sich etwas einfallen lassen. Die Gabe des Sehens wurde somit auf ihre
Bildung zurückgeführt und nicht auf den Einfluss der Götter.
In der bildenden Kunst - es gibt nur wenige Darstellungen von Sybille als hässliche Frau - wird sie
vorwiegend als schöne Frau dargestellt. Offensichtlich ist der Zusammenhang von Hässlichkeit
und Weisheit in der bildenden Kunst ein anderer.
Sybille wird auch im Eneasroman als hässliche Figur bezeichnet. Interessant ist, dass in der
mittelalterlichen Version die intellektuellen Fähigkeiten stärker zurückgedrängt werden, während
die Hässlichkeit wiederum betont wird. Gleichzeitig wird die Hässlichkeit bei Heinrich von Veldeke
als komischer Effekt genutzt. Wo bei Wolfram von Eschenbach die Gelehrsamkeit der Kundrie
unhinterfragt bleibt, wird sie bei Veldeke als komisch und leicht lächerlich dargestellt, obwohl sie
Eneas zu Hilfe kommt:
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84,21 Dô fûr der hêre Ênêas
dâ frouwe Sibille was.
dô her quam dâ her si vant,
dô hete der wîgant
25 angest dô her sie gesach
umb daz ich û sagen mach:
si was vil freislîche getân.
iedoch gienk her vor si stân,
her begonde si ane schouwen:
30 sine was einer frouwen
niht gelîch noch einem wîbe.
hern hete in allem sîme lîbe
nie solhes gesehen,
des wil ich an die lûte jehen,
35 die daz bûch hânt gelesen.
sie ne mohte niht wesen
egeslîcher dan si was.
diu frouwe saz antvas
in einem betehûs,
40 als uns saget Virgiliûs
85 von ir al vor wâr.
grôz und grâ was ir daz hâr
und harde verworren,
daz wir wol sprechen torren,
5 als eines pharîdes mane.
und diu frouwe hete ane
vil unfrouwelîch gewant.
ein bûch hete si an ir hant,
dar ane saz si unde las.
10 dô gesach si Ênêas.
Her markte sie rehte.
mies lokkehte
hieng ir ûz den ôren.
sine mohte niht gehôren,
15 ezn wâre ob man ir riefe.
ir ougen stunden tiefe
under den ouchbrâwen
langen unde grâwen,
die dâr vore hiengen
20 und ir zû der nasen giengen.
grûwelîch was ir lîb.
ime enwart nie dehein wîb
also wunderlîche kunt.
swarz und kalt was ir der munt.
25 si saz in der gebâre,
alse ir leben wâre
ân aller slahte wunne.
die zene stunden ir dunne
und wâren ir lank unde gele.
30 ir was der hals und diu kele
swarz unde gerumphen.
si selbe was gescrumphen
in bôseme gewande.
ir arme unde ir hande
35 wâren âdern unde vel.
dô sie der helt snel
vil rehte besach,
dô bôt her ir gûten tach.
Der Held verspürt Angst, als er sie erblickt - ihre Hässlichkeit ist abschreckend. Im Unterschied zur
Darstellung von Wolfram von Eschenbach wird hier die Hässlichkeit als etwas negatives
bezeichnet. Es wird hier aber auch klar, dass ihre Hässlichkeit abstoßend und angsterregend ist,
sie ist ins Groteske gesteigert. Bei beiden Hässlichkeitsbeschreibungen, wenn auch bei Wolfram
von Eschenbach weniger, gibt es durchaus Anklänge an die Texte der Heiligenlegenden, bei denen
der weibliche Körper nach einer Reise in die Wüste vertrocknet. Das scheint einen
Zusammenhang mit der Tatsache zu haben, dass beide hässlichen Frauen als intelligent gelten.
Es gibt im Mittelalter kaum dezidierte Beschreibungen von sehr gelehrten Frauen, die auch
gleichzeitig sehr schön sind. Es gibt natürlich Beschreibungen von geschulten Frauen, zB Isolde,
aber nicht gelehrte Frauen. Beide Autoren machen klar, dass diese Art von Frauengestalten sie
nicht erotisch interessieren. Diese Art von Frauen war literarisch „konsumierbarer", wenn sie
gleichzeitig hässlich ist. Wenn eine Frau gelehrsam ist, wird sie in Räume außerhalb der
Gesellschaft verbannt und als Bedrohung empfunden. Der hässliche Körper ist asexuell und wenn
er gelehrt ist angsterregend.
5. Vorlesung
12. November 2015
Mutterrollen:
Ein Thema, worüber man gut und gerne eine eigene Vorlesung halten könnte, die wichtigsten
Aspekte werden hier zusammengefasst.
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1. Mutter Maria
Mutterrollen im Mittelalter wären ohne der Figur Marias nicht zu denken. Das Christentum hat
sicherlich die raffinierteste symbolische Konstruktion geschaffen, in der Weiblichkeit als
Mütterlichkeit aufbewahrt wird. Man kann sagen, dass letztendlich die Menschwerdung des Gottes
nur durch die Mutter, also durch Maria möglich war. Doch die Menschlichkeit der jungfräulichen
Mutter wurde von der Kirche zunehmend konterkariert, und es wurde versucht diese
Menschlichkeit abzuschwächen, unter anderen indem man Maria zB als Mensch dargestellt hat,
die nicht der Sünde ausgeliefert ist und sich ihr entzieht.
Was also ist nun menschlich an der Mutter Christi? Die Frage führt zu den Evangelien des Neuen
Testaments, und man muss feststellen, dass diese sehr wenig über Maria erfahren. Die meisten
Informationen sind im Lukasevangelium. Wir erfahren, dass Maria eine junge Verlobte ist - sie ist
mit Josef verlobt - und sehr gottesfürchtig ist. Wir erfahren auch, dass sie während einer Andacht
von einem Engel heimgesucht wird, der ihr verkündet, dass sie den Messias und Gottessohn zur
Welt bringen wird. In einem Lukasevangelium enthaltenen berühmten Gebetenmagnificat erfährt
Maria sie demütig ihr Schicksal. Diese Demut und Gottesunterwürfigkeit ist dann auch ein
wesentlicher Aspekt der Marienverehrung. Weiters wird im Lukasevenagelium dann nur noch kurz
von der Schwangerschaft berichtet, von der Geburt und deren Umständen wir nichts erzählt. Es
wird nur noch erzählt, dass, als Jesus 12 Jahre alt ist, er in den Tempel geht und sich von seinen
Eltern abwendet und Maria das sorgenvoll betrachtet. Maria ist während des öffentlichen Wirkens
ihres Sohnes kaum präsent. Die nächste Präsenz Marias zeigt sich dann am Kreuz - sie steht
davor, sieht ihren Sohn sterben und ist dementsprechend von Leiden erfüllt. Diese Szene bei der
Kreuzigung ist sehr berühmt. Zum letzten Mal wird Maria im Lukasevangelium im Kreise der
Jünger Jesus dargestellt, wo sie auf die Sendung des Heiligen Geistes wartet.
Johannes, jener Jünger, dem Jesus seine Mutter überantwortet hat zwei zusätzliche Einträge zu
Maria verfasst, zunächst über ihre Rolle bei der Hochzeit zu Kana und dann wiederum die Rolle
während der Kreuzigung von Jesus. Die Beziehung zwischen Maria und Jesus ist in den
Evangelien eher ein universelles, als ein personales Prinzip.
Bei der Darstellung aus dem Hortus Deliciarum „Die Geburt Jesu Christi“ von Herrad von
Landsberg (12. Jahrhundert) wird in der Schrift rundherum um das Bild ganze drei Mal erwähnt,
dass Maria Jungfrau ist. Was ebenfalls auffällt ist, dass eigentlich keine Beziehung zwischen
Mutter und Kind dargestellt wird, auch der Blick der beiden ist noch aufeinander gerichtet, als auf
die Heiligen drei Könige.
Die Beziehung ist also ein universelles Prinzip, das heißt Mutter ist nicht etwas, das als
Nutzverwandtschaft zu sehen ist, dass Jesus das ablehnt, liegt auf der Hand. Berühmt sind
folgende Sätze:
Joh. 19,26-27: Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er lieb hatte, spricht er zu
seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter und
von dieser Stunde nahm der Jünger sie an sich.
Mit dem Jünger in der ersten Zeile ist Johannes gemeint. Jesus erwähnt seine Mutter kein einziges
Mal mit der Bezeichnung „Mutter“, er sagt entweder „Weib“ oder „Frau“. Auch von Jesus’ Seite wird
die Beziehung nicht als Mutter-Sohn-Verhältnis verstanden.
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2. Mutterbild und Marienverehrung
Dennoch hat die Kirche aus diesen wenigen Quellen, die wir in den Evangelien haben, ein
interessantes Profil der Maria, einzigartig in den monotheistischen Religionen, entwickelt. Wir
haben kaum, abgesehen von archaischen Muttergöttinnen, mütterliche Gottheiten. Die Ambivalenz
zwischen menschlich und spirituell ist immer ein Problem gewesen. Man musste Maria dann an
der Marienverehrung aufwerten, da sie immerhin einen Gott geboren hat. Das heißt, man hat
Mutter und Sohn einander gleichgestellt. Insofern als auch Maria ohne Sünde empfangen wurde
und auch die Maria Himmelfahrt. Wir haben eine Spiritualisierung und auch eine Allegorisierung,
der menschliche Körper Marias löst sich in der Allegorie auf und wir haben dazu passend auch das
Bild der Himmelskönigin. Doch obwohl es im Neuen Testament keinerlei Zeugnis dafür gibt, ist es
allmählich zu einem Sinnbild einer Liebesbeziehung zwischen Mutter und Kind gekommen, also zu
einer Form von Mütterlichkeit, mit speziellen Aspekten: Verlust, Demut und Askese. Der dritte
Aspekt - Askese - ist so etwas wie eine Humanisierung der Maria. Man versucht über diese Rolle
eine Vermenschlichung Marias zu leisten, die eben auch als Vorbild dienen kann. genau diese
Aspekte der Mütterlichkeit werden eine elementare Rolle spielen, auch in der Bewertung der
„Nicht-Maria“.
Die Ikonen von Maria sind in ihrer Bildzeichnung sehr konservativ, beide, Maria und Jesus werden
erwachsen dargestellt, wenn auch Jesus kleiner ist, als Maria.
In der Renaissance kommt es zu einem Wandel im Mutterbild, es wird ein Aspekt der Mütterlichkeit
dargestellt, der eine Art Liebesaspekt ist, der in der Betrachtungsweise von Mutterrollen eine Rolle
spielen wird. Es bildet sich damit ein Darstellungsmuster aus: Jesus wird als Baby dargestellt und
es gibt einen körperlichen Kontakt zwischen Maria und Jesus, der in der Hochzeit der
Marienverehrung zumindest in der Ikonographie und im Neuen Testament überhaupt nicht der Fall
ist.
Man sieht hier also, was mit Humanisierung gemeint ist. Es ist dieser Schritt einer sehr
Endpersonalisierten Betrachtung von Mutter und Kind, hin zu einer sehr persönlichen. Man könnte
sagen, der menschliche Aspekt Marias ist neben ihrer passiven Haltung gegenüber ihrem Sohn
letztendlich auch diese Art der Zärtlichkeit. Ganz entscheidend ist aber, dass das Christentum die
Mutterschaft und Jungfräulichkeit miteinander verkoppelt hat.
Es gibt verschiedene Varianten von Muttergöttinnen: jungfräuliche Göttinnen, die jungfräulich
bleiben und es gibt Muttergöttinnen, die jedes Jahr gebären - eine Art Fantasie des Verschlingens
und Gebärens. Aber die Kombination innerhalb des weiblich-göttlichen zwischen Mutterschaft und
Jungfräulichkeit ist tatsächlich etwas spezifisch christliches. Was bedeutet diese Kombination? Sie
bedeutet letztendlich ein Weggehen von jeglicher Art von Sexualität, was bei der
Verkündigungsszene ganz deutlich. Was man aus dem mütterlichen Körper verbannt ist Sexualität,
diese Art von Zärtlichkeit, die dargestellt wird, wird kanalisiert in eine Zärtlichkeit gegenüber dem
Kind. Was körperlich immer wieder betont wird, sind zwei Aspekte beim menschlichen Körper
Marias und das sind Milch und Tränen. Das sind diese Flüssigkeiten par excellence, die die
Imagination der Maria im 11. und 12. Jahrhundert bestimmt. Sie ist jene Mutter, die aufgrund des
Schicksals ihres Sohnes weint und Milch ist natürlich jene berühmte Form, die im 12. Jahrhundert
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schon vorkommt: Maria lactans, die nährende Mutter. Gleichzeitig ist aber Milch auch eine
Metapher für die Quelle der Liebe. Die Milch hat aber nicht nur eine nährende Funktion, sondern
auch eine spirituelle. Milch und Tränen sind zwei Hervorbringungen des Körpers, die gleichzeitig
nichtsprachlich sind. Letztendlich könnte man sagen, dass wir hier auch eine schweigende und
stumme Maria, sie ist immer diejenige, die nicht spricht. Eine Ausnahme hierzu ist im
Johannesevangelium zu finden, wo sie bei der Hochzeit zu Kana tatsächlich spricht. Wenn sie
spricht, dann ist es ein Glaubensbekenntnis.
Bei der Vorstellung der Maria lactans haben wir schon die ersten Spuren einer Vorstellung der
sogenannten Mutterliebe, die mit der Mutterrolle verbunden ist, wobei das, was wir heutzutage als
Mutterliebe verstehen, wird im Mittelalter nicht als solches gesehen. Mutterliebe im Mittelalter ist
nicht naturhaft gegeben. Mit dem Aspekt der Demut, der Askese und des Leidens, aber auch den
Aspekt des Liebens haben wir die Grundeigenschaften des Mutterbilds, das sich sehr wohl auf
gesellschaftliche Muttermuster und -strukturen ausgewirkt hat, nämlich einer Vorstellung einer
bestimmten Mütterlichkeit, das sich als soziologisches Konzept allmählich weiterentwickelt hat.
Erst im 18. Jahrhundert ist von einer spezifischen Form von Mutterliebe, die auch biologisch
begründet wird, parallel zum medizinischen Diskurs von einer „angeborenen Mutterliebe“ die Rede.
Die Mater dolorosa ist die leidende Mutter.
Mit diesem Aspekt der Marienverehrung ist letztendlich auch die gesellschaftliche Stellung der
Frau als Mutter in das gesellschaftliche Bewusstsein hineingekommen, natürlich mit den jeweiligen
Normvorstellungen, die damit zusammenhingen. Man kann sagen, Mutterschaft ist ein nicht zu
unterschätzender Faktor weiblicher Identität in der Geschichte, egal ob die Frau nun Mutter ist
oder nicht.
3. Kulturhistorische Konsequenzen
Soziologische Studien, auch im Bereich der Genderforschung, legen Vermutungen nahe, dass die
Vorstellungen der fürsorglichen und nährenden und auch entbehrenden Mutter (die Mutter, die ihre
Kinder gehen lässt) auch in der heutigen Gesellschaft dominanter sind, als es den Anschein hat.
Bei der Vorstellung, dass die Bildung von Mutter und Kind nach wie vor sehr stark aufgeladen ist,
haben wir es mit einer Ideologie zutun, je nach Gesellschaftsgruppe wird diese immer wieder
herangezogen, leider auch, um Frauen von der Arbeitswelt und von Machtpositionen fernzuhalten.
Entscheidend ist, dass dieses Modell von Mutterschaft und die Gesellschaft in der Relevanz von
Mutterschaft mit Erziehung und Obhut der Kinder immer auch mit moralischen und sentimentalen
Kategorien aufgeladen ist. Das lässt sich zB sehr wohl an Berichterstattungen über Kindermorde
sehen: wenn eine Mutter ihr Kind ermordet, dann ist die Berichterstattung aggressiver und
hysterischer, als wenn ein Vater sein Kind ermordet.
Barbara Vinken: „Die deutsche Mutter“ (2001):
Die Autorin hat festgestellt, dass es, was die Bewertung von Müttern anbelangt, nach wie vor eine
Vermischung institutioneller, ethischer und pseudobiologischer Kategorien gibt, die hartnäckig an
einem Modell der Mutterschaft festhalten, die eine Gleichbehandlung der Geschlechter über
Generationen nach wie vor unmöglich machen.
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Dass Frauen weiterhin von Machtpositionen ferngehalten werden liegt auch daran, dass den
Müttern, und hier kommt die Psychoanalyse zum tragen, dass der Mutter nach wie vor sehr sehr
große Verantwortung in den ersten Lebensjahren zugesprochen wird. Heute löst sich das ein
wenig auf, aber wirklich nur bei 1 oder 2% der Fälle.
4. Die Mutter im feudalen System
Ausflug in die Realgeschichte, was die Rolle der Frau oder Mutter im föderalistischen System
anbelangt: Wir wissen, dass das feudale System sehr stark patriarchalisch geordnet ist. Das heißt,
Frau und Kinder waren Eigentum des Mannes, was mit den Ehegesetzen der Zeit
zusammenhängt. Die Kirche des Mittelalters hat versucht von dieser Abhängigkeitsehe hin zu einer
Konsenzehe zu kommen, wo Männer und Frauen zumindest das Jawort gleichberechtigt geben
können. Dass die Kinder dem Mann gehörten, und nicht der Frau, hatte mit der adligen Erbfolge
zutun. Wichtig war es hier, dass diese Erbfolge klar und geregelt war, ohne dass es irgendwelche
Ausrisse gab. Nicht die Frau als Mutter, sondern die Frau als Gebärende stand im Mittelpunkt. Wir
haben kaum mittelalterliche Quellen über Mütter, aber wir wissen, dass die Frau des Mittelalters
sehr wenig mit ihren Kindern zutun hatte, zumindest in den adligen Kreisen. Außerdem zeichnen
die Aufzeichnungen, die zur Verfügung stehen, ein sehr düsteres Bild der Mütter:
Dauerschwangerschaften waren natürlich ein Thema, genauso wie viele Todesfälle - die
Sterberate bei der Geburt war außerordentlich hoch. Das hat dazu geführt, dass sehr viele Frauen
spätestens nach der Geburt des zweiten oder dritten Kinds ins Kloster gingen. Die adligen Frauen
hatten bei der Aufzucht ihrer Kinder nicht viel Einfluss, sie wurden sehr früh in Erziehung gegeben,
denn das Ammenwesen war sehr weit verbreitet. Das selbstständige Stillen des Kindes war nicht
üblig, auch wenn es im Zuge der Marienverehrung auch immer stärker Bestrebungen gab, die
Kinder selbst zu stillen. Allerdings nicht, weil es eine besonders liebesvolle Geste ist und nicht, um
die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken, sondern um dem Kind keine minderwertige
Milch einer Amme zu geben. Es gab, wenn man so will, zumindest in adligen Kreisen keine enge
emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind, wir sie heute unter Mutter-Kind-Bindung verstehen.
Unter dem Einfluss der Marienverehrung ist so etwas wie eine neue Vorstellung von Mütterlichkeit
entstanden, sie man aus den mittelalterlichen Zeugnissen aber nicht herauslesen kann. Wohl aber,
aus den literarischen Zeugnisse.
Auch der Begriff der Mutterliebe als spezifische Form der Liebe, nämlich eine entbehrungsreiche,
asketische, bedingungslose Liebe, hat erst im 18. Jahrhundert diese Facetten, wie wir sie heute
kennen, erlangt.
Elisabeth Badinter: „Der Konflikt“:
Die Autorin hat sich mit dem Begriff der Mutterliebe auseinandergesetzt.
Die Maria-lactans-Vorstellungen waren vermutlich die ersten, die zu einer Umkehrung eines
Mutterbildes geführt und die den menschlichen Aspekt hervorgebracht haben. Das war tatsächlich
auch jene Maria, die die Frauen sehr gut als Vorbild und Identifikationsvorlage annehmen konnten.
Inwieweit diese bildnerischen und literarischen Beispiel dann tatsächlich in die gesellschaftliche
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Realität des Mittelalters hineingegangen sind, so dass sich das Bild verändert hat, kann nur über
Jahrzehnte und Jahrhunderte festgestellt werden.
Wir wissen, dass mit den Städten im 14. und 15. Jahrhundert die Frauen tatsächlich eine neue
Aufgabe bekommen haben und mit dieser auch gleichzeitig eine Aufwertung, nämlich tatsächlich
das Sich-kümmern um die Kinder. Das war eine soziale Rolle, die der Frau zugestanden wurde, in
der sie auch Autonomie und Macht hatten, allerdings das, was dann mit den Kindern in weiterer
Folge passierte, war Sache des Mannes.
5. Mutterrollen in der Dichtung
Interessant ist, dass es in der mittelalterlichen Literatur gar nicht so wenige Mutterfiguren und
Mutterrollen gibt und sicherlich eines der spannendsten und herausragendsten Mutterfiguren der
mittelalterlichen Literatur insgesamt ist die Mutter Parzifals:
5.1 Herzeloyde in Wolframs „Parzifal“ (Reader Text 12)
Sie ist Parzifals Mutter - Parzifal ist der berühmte und große Roman Wolframs von Eschenbach wird im Roman aber nicht als solche eingeführt, sondern als eine sehr selbstbewusste erotisch
aktive Landesherrin. Eine Landesherrin, die ein Tournier ausschreibt, weil ihr voriger Mann
gestorben ist. Sie ist noch jungfräulich, denn ihr Mann war zu krank, um die Ehe zu vollziehen.
Herzeloyde schreibt das Tournier aus, um den besten der Männer zu finden, den sie dann heiraten
will: Gahmuret, der spätere Vater Parzifals. Er will zunächst gar nicht heiraten, doch Herzeloyde
zwingt ihn dazu, und es wird daraus dann doch noch eine glückliche Ehe, die, wie Wolfram von
Eschenbach betont, erotisch äußerst anspruchsvoll ist. Gahmuret ist ein Ritter, wie es sich gehört,
weshalb er nicht bei seiner Frau bleibt, sondern sofort wieder auf Ritterschaft zieht. Während
dieser Ritterschaft empfängt er eine tödliche Wunde, was Herzeloyde in einem grauenhaften
Visionstraum vorausahnt. In diesem Traum träumt sie, dass sie durch eine Geburt zerrissen wird
durch einen Drachen, den sie gebiert, der ihren Unterleib zerreisst und an ihren Brüsten saugt - ein
Bild, das durchaus in Zusammenhang mit Maria stehen könnte. Man könnte sagen, sie hat einen
Geburtstraum, der grauenhafter nicht sein könnte, denn dieser Drache zerreisst ihr auch das Herz.
Wolfram von Eschenbach verwendet in der Darstellung der Herzeloyde - und gerade in dieser
Darstellung - sehr drastische Bilder, die auch für uns heute noch außergewöhnlich wirken.
Herzeloyde erfährt unmittelbar nach diesem Angsttraum, dass Gahmuret tatsächlich im Kampf
gestorben ist. Herzeloyde ist zu diesem Zeitpunkt schon mit Parzifal schwanger. Das Leid, dass sie
aufgrund dieser Nachricht empfindet, sucht auch in der Darstellung der mittelalterlichen Literatur
ihresgleichen. Sie überlegt kurz nach der Nachricht, sich umzubringen, im letzten Moment sieht sie
aber davon ab, da sie eben ein Kind von ihrem Mann erwartet:
Herzeloydes Gattenklage:
(110,14ff)
si sprach «mir sol got senden
die werden fruht von Gahmurete.
daz ist mînes herzen bete.
got wende mich sô tumber nôt:
daz wær Gahmurets ander tôt,
ob ich mich selben slüege,
die wîle ich bî mir trüege
daz ich von sîner minne enphienc,
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der mannes triwe an mir begienc.»
Es ist eine öffentliche Rede, eine schwangere Herzeloyde spricht also vor dem Boten und vor dem
Hof, die alle zusammen diese Schreckensnachricht hören. Es geht darum, dass sie letztendlich vo,
Sterben absieht, weil sie das Kind Gahmurets trägt. In dem Moment, wo wir von ihrer
Schwangerschaft im Roman erfahren, ist sie bereits eine leidende Frau. Das erste
Mutterschaftsbild hier ist das einer leidenden Mutter. Was Herzeloyde aber entscheidend von
Maria unterscheidet, ist die erotische Komponente, die hier eine Rolle spielt, nämlich, dass es die
Frucht von Gahmuret ist.
In der nächsten Stelle der Gattenklage steht sie vor versammelten Publikum, entblößt ihre Brüste
und Milch aus ihnen presst (Maria lactans!) und sie spricht zu dieser Milch:
(111,3ff.)
si sprach «du bist von triwen komn.
het ich des toufes niht genomn
du wærest wol mîns toufes zil.
ich sol mich begiezen vil
mit dir und mit den ougen,
offenlîch und tougen:
wande ich wil Gahmureten klagn.»
Milch und Tränen - auch das sind zwei elementare Komponenten von Mutterschaft. Hier wird Milch
mit der Taufe gleichgesetzt, es ist der reine Saft, deshalb ist diese drastische Szene mystisch
überhüllt. Das, was Wolfram von Eschenbach hier zeigt, ist wie eine Frau in ihrem Leid allmählich
zu einem Frauenkörper wird, der zwar erotisch konnotiert werden kann, aber nicht mehr erotisch
funktioniert, sie wird quasi mystifiziert. Milch und Tränen verweisen auf die Sakramente der Kirche
und kirchliche Rituale, was durchaus beabsichtigt ist.
Nach der Geburt Parzifals, die sehr schwer war - insofern bewahrheitet sich der Traum, denn
Herzeloyde stirbt fast daran - kommt es tatsächlich auch zu einer Maria-lactans-Szene, die erste in
der mittelalterlichen Literatur überhaupt: sie stillt ihr Kind selbst. In feudalen Kreisen zu Wolfram
von Eschenbachs Zeit war das nicht üblich:
(113,5ff.)
Diu küngîn nam dô sunder twâl
diu rôten välwelohten mâl:
ich meine ir tüttels gränsel:
daz schoup sim in sîn vlänsel.
selbe was sîn amme
diu in truoc in ir wamme:
an ir brüste si in zôch,
die wîbes missewende vlôch.
si dûht, si hete Gahmureten
wider an ir arm erbeten.
si kêrt sich niht an lôsheit:
diemuot was ir bereit.
Sie stillt Parzifal selbst und vergleicht sich in diesem Stillvorgang mit Maria - also eine klare
Parallelsetzung zwischen Maria und Herzeloyde, allerdings wird er bei Herzeloyde wieder um den
erotischen Aspekt ergänzt - es erscheint ihr nämlich, als hätte sie wieder Gahmuret, ihren
Geliebten, im Arm. Wolfram von Eschenbach verwendet hier scheinbar die religiöse Vorstellung
der Austauschbarkeit von Kind und Mann. Es gibt also eine Gleichsetzung von Mutter und Geliebte
des Sohnes, die eben nicht psychoanalytisch im Sinne Freuds, sondern es ist eine religiöse
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marianische Topik. Diese erotische Ebene wird gleichsam sakralisiert und gleichzeitig auch
entkörperlicht, im Sinne einer Erotik zwischen Mann und Frau. Das bedeutet, dass auch bei
Wolfram von Eschenbach Herzeloyde letztendlich eine Mutter ohne Erotik zu einem Mann. Alles,
was sie an Empfinden hat, wendet sie an ihren Sohn und es ist auch klassisch, dass er sich in der
Szene zu Wort wendet, dass sie sich mit Demut an ihre Bestimmung wandte. Sie ist aber an sich
überhaupt nicht jene Mutter, die sich demütig ihrem Schicksal fügt, denn sie will Parzifal für sich
alleine haben.
Herzloyde als mater dolorosa:
(113,27ff.)
sich begôz des landes frouwe
mit ir herzen jâmers touwe:
ir ougen regenden ûf den knabn.
si kunde wîbes triwe habn.
beidiu siufzen und lachen
kunde ir munt vil wol gemachen.
si vreute sich ir suns geburt:
ir schimph ertranc in riwen furt.
In dieser Szene übergießt Herzeloyde ihren Sohn mit ihren Tränen.
Herzeloyde beschließt also das Kind für sich zu behalten mit der Begründung, dass nicht so ein
Schicksal passieren solle, wie ihrem Mann Gahmuret. Sie will das Objekt ihrer Liebe isolieren und
zieht in eine Art Einöde, die gleichzeitig Naturparadies und Wüste ist. Sie sieht mit einem Gefolge
dorthin und verbietet diesem, Parzifal irgendetwas von Ritterschaft zu erzählen - sie will nicht, dass
ihr Sohn etwas von dieser männliche Wert erfährt. In ihren Augen ist die männliche Welt
familienzerstörend - ein Aspekt, der die gesamte mittelalterliche Literatur prägt. Die Verbindung
Väter - Söhne ist eine sehr reduzierte. Herzeloyde identifiziert sich so sehr mit ihrem Liebesobjekt bei ihr wird tatsächlich etwas wie Mutterliebe dargestellt - dass sie alles zerstören will, was dem im
Wege steht.
Wie Parzifal als kleinerer Knabe jagt - der Jagdtrieb ist dem kleinen Parzifal nämlich nicht
auszutreiben - wird in folgender Szene beschrieben:
Parzifals Kindheit:
(117,30ff.)
der knappe alsus verborgen wart
zer waste in Soltâne erzogn,
an küneclîcher fuore betrogn;
ez enmöht an eime site sîn:
bogen unde bölzelîn
die sneit er mit sîn selbes hant,
und schôz vil vogele die er vant.
Swenne abr er den vogel erschôz,
des schal von sange ê was sô grôz,
sô weinder unde roufte sich,
an sîn hâr kêrt er gerich.
(117,30ff.)
sîn lîp was clâr unde fier:
ûf dem plân am rivier
twuog er sich alle morgen.
erne kunde niht gesorgen,
ez enwære ob im der vogelsanc,
die süeze in sîn herze dranc:
daz erstracte im sîniu brüstelîn.
al weinde er lief zer künegîn.
sô sprach si «wer hât dir getân?
du wære hin ûz ûf den plân.»
ern kunde es ir gesagen niht,
als kinden lîhte noch geschiht.
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(118,29ff.)
frou Herzeloyde kêrt ir haz
an die vogele, sine wesse um waz:
si wolt ir schal verkrenken.
ir bûliute unde ir enken
die hiez si vaste gâhen,
vogele würgn und vâhen.
die vogele wâren baz geriten:
etslîches sterben wart vermiten:
der bleip dâ lebendic ein teil,
die sît mit sange wurden geil.
(119,13ff.)
Der knappe sprach zer künegîn
«waz wîzet man den vogelîn?»
er gert in frides sâ zestunt.
sîn muoter kust in an den munt:
diu sprach «wes wende ich sîn gebot,
der doch ist der hœhste got?
suln vogele durch mich freude lân?»
Das Kind Parzifal tötet die Vögel, weil er einem Trieb folgt, aber er weint, weil die Vögel dann nicht
mehr singen. Als Herzeloyde das sieht, will sie die Vögel vernichten, um ihrem Kind das Leid zu
ersparen, sie will in die Schöpfung eingreifen, was natürlich nicht geht. Sie erkennt, dass sie gegen
Gottes Gebot frevelhaft gehandelt hat. Parzifal hat naturgegeben das Männliche in sich und im
Grunde genommen wird hier auch demonstriert, dass sie dem gegenüber machtlos ist. Parzifal
geht seinen Weg und es kommt, wie es kommen muss: er begegnet dem Ritter Karnachkarnanz in
voller Rüstung und wunderschön und Parzifal ist vollkommen hin und weg. Er macht den
entscheidenden Fehler, dass er diesen Ritter für Gott hält. In einer früheren Szene fragt er seine
Mutter nach Gott und sie sagt Gott sei heller als der Tag, worauf Parzifal vermutet, dass alles was
strahlt gottähnlich ist. Er kehrt zu seiner Mutter zurück, um ihr von der Erscheinung zu berichten,
die ihm dann sagt, dass es sich dabei um einen Ritter gehandelt hat. Daraufhin entschließt er,
dass auch er Ritter werden will. Herzeloyde erkennt in diesem Moment, dass sie nichts dagegen
tun kann, da das Bestreben des Knaben zu stark ist. Sie versucht dennoch weiter in gewisser
Weise den Lebensweg zum Ritter zu verhindern, indem sie den Knaben in die Narrenkleider steckt
und ihm ein altersschwaches Pferd gibt. Kurz vor seinem Ausritt gibt sie ihm noch ein paar
Ratschläge mit, die sehr elementär sind:
Herzeloydes „Lehre“ (127,13ff.):
«dune solt niht hinnen kêren,
ich wil dich list ê lêren.
an ungebanten strâzen
soltu tunkel fürte lâzen:
die sîhte und lûter sîn,
dâ solte al balde rîten în.
du solt dich site nieten,
der werlde grüezen bieten.
Op dich ein grâ wîse man
zuht wil lêrn als er wol kan,
dem soltu gerne volgen,
und wis im niht erbolgen.
sun, lâ dir bevolhen sîn,
swâ du guotes wîbes vingerlîn
mügest erwerben unt ir gruoz,
daz nim: ez tuot dir kumbers buoz.
du solt zir kusse gâhen
und ir lîp vast umbevâhen:
daz gît gelücke und hôhen muot,
op si kiusche ist unde guot.
du solt och wizzen, sun mîn,
der stolze küene Lähelîn
dînen fürsten ab ervaht zwei lant,
diu solten dienen dîner hant,
Wâleis und Norgâls.
ein dîn fürste Turkentâls
den tôt von sîner hende enphienc:
dîn volc er sluoc unde vienc.»
«diz rich ich, muoter, ruocht es got:
in verwundet noch mîn gabylôt.»
(Ratschläge sind in verschiedenen Farben gekennzeichnet):
1. Meide dunkle Wege und bevorzuge die übersichtlichen (grün)
2. Grüße alle Leute (blau)
3. Wenn du einem weisen Mann begegnest, der dich etwas lehren will, so folge ihm. (violett)
4. Wenn du Ring und Kuss einer Frau erwerben kannst, dann nimm sie (rot)
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Das Letzte, was sie ihm auf den Weg mitgibt, betrifft seine Herkunft, von der Parzifal nichts weiß nach mittelalterlichen Vorstellung hat er keine Identität (orange): sie sagt ihm, er solle Lähelin
rächen, weil der seine Ländereien genommen hätte. Da weiß er plötzlich, dass er Erbe von
Ländereien ist, es sind natürlich die Ländereien seines Vaters. Er ist tatsächlich fast eine Tabula
Rasa und der weitere Lebensweg Parzifals wird zunächst von diesen Falschinformationen seiner
Suche nach Identität geprägt sein.
Herzeloyde stirbt schließlich - sie hat keinen Lebenszweck mehr und auch in ihrer Identität als
Mutter hat sie keine Funktion mehr:
Herzeloydes Tod (128,16ff):
[frou] Herzeloyde in kuste und lief im
nâch.
der werlde riwe aldâ geschach.
dô si ir sun niht langer sach
(der reit enwec), wemst deste baz?
dô viel diu frouwe valsches laz
ûf die erde, aldâ si jâmer sneit
sô daz se ein sterben niht vermeit.
ir vil getriulîcher tôt
der frouwen wert die hellenôt.
ôwol si daz se ie muoter wart!
sus fuor die lônes bernden vart
ein wurzel der güete
und ein stam der diemüete.
ôwê daz wir nu niht enhân
ir sippe unz an den eilften spân!
des wirt gevelschet manec lîp.
doch solten nu getriwiu wîp
heiles wünschen disem knabn,
der sich hie von ir hât erhabn.
Die zweite Spalte ist eine Art Seligsprechung des Autors. Obwohl diese Zeit zwischen Mutter und
Sohn für Parzifal sehr problematisch war, richtet der Erzähler nicht darüber - ganz im Gegenteil.
Parzifal selbst ist zu diesem Zeitpunkt doppelt belastet. Er ist einerseits vollkommen unwissend,
andererseits wird ihm dann später im Roman der Tod der Mutter als Schuld angerechnet. Neben
der „Seligsprechung“ der Mutter zerbricht sich die Forschung auch über diese Schuldzuweisung in
den Kopf, denn letztendlich ist es ja etwas, das er von seiner Art her tun muss. Dennoch wird
Parzifals Onkel Trevrizent, der Bruder seiner Mutter, dann sagen, dass er diese Sünde hat. Genau
genommen hat Parzifal zwei Sünden, die Erschlagung des Ithar kommt noch hinzu. In der
französischen Vorlage ist es verständlicher, da er sich dort nochmal umdreht und seine Mutter
fallen sieht, aber dennoch weiter reitet. Bei Wolfram von Eschenbach ist dies nicht der Fall.
Wolfram von Eschenbach schafft Herzeloyde ein äußerst religiös stilisiertes Bild der stillenden
Mutter und bewirkt so etwas wie eine Erhöhung der Mutterliebe. Man kann sagen, dass man hier
eine Mutterfigur vor sich hat, von wahrlich epochaler Bedeutung. Es ist nämlich ganz eindeutig in
diesem Roman zu erkennen, dass Wolfram von Eschenbach hier eine ganz eigene Form von
Gefühlskultur entwickelt hat. Interessant ist auch die hohe Affektivität: die Beziehung von
Herzeloyde zu ihrem Mann, aber auch ihre Beziehung zu Parzifal, etwas, was in der
mittelhochdeutschen Literatur so in dieser Form nicht mehr vorkommt. Es ist also eine Art der
Darstellung, die als erste Mystifizierung von Mutterschaft gesehen werden kann und die sehr wohl
mir der irdischen Körperlichkeit der Frau arbeitet, in jenen Aspekten der Darstellung, in denen die
erotischen Komponenten eine Rolle spielen. Das, was Wolfram von Eschenbach versucht, ist die
Topoi der Marienverehrung letztendlich auf eine irdische Frau zu übertragen, deren Handlungen
zwar mystisch erklärt werden, die aber dennoch menschlich sind. Eine menschliche Maria mit all
ihren Fehlern und Fehlentscheidungen, die dann letztendlich für den Sohn eine große Rolle
spielen werden.
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5.2 Mütter und Töchter in Neidharts Sommerliedern (Reader Text 13)
Neidhart hat ungefähr 20 Jahre nach Wolfram von Eschenbach gedichtet (zwischen 1210 und
1240) und ist ebenfalls ein Klassiker. Er ist ein äußerst produktiver Minnedichter, der so etas wie
eine neue Gattung innerhalb des Minnesangs geschaffen hat, nämlich die Gattung der
sogenannten höfischen Dorfpoesie. Heutzutage würde man sagen, dass seine Lieder vor allem
Parodien auf höfisches Leben sind. Er überträgt die Ideale der feudalen adligen Gesellschaft auf
bäuerliches Umfeld und dreht es um. Die Bauern sind natürlich nicht in der Lage, diese höfische
Lebensart zu übernehmen, aber indem er die ganze Gesellschaft in das bäuerliche Umfeld
transferiert, hält er natürlich der höfischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Es wurden mehr als 200
Lieder von ihm überliefert - was enorm viel ist. Heute glaubt man, dass nicht alle Lieder von ihm
selbst stammen, sondern dass er viele Nachahmer gefunden hat.
Wichtig für unseren Zusammengang ist, dass es Sommerlieder und Winterlieder gibt.
Sommerlieder sind nichts anderes als einfache Tanzlieder zum Thema Minne: Ein ritterlicher
Liebhaber kommt zu einem Dorffest und die Dorfmädchen finden ihn sehr anziehend. Der Ritter
prügelt sich mit den Bauern, denen es überhaupt nicht gefällt, dass ein Ritter die Bauernmädchen
verführen will.
Warum sind nun diese Sommerlieder für unseren Zusammenhang interessant?
In den Sommerliedern ist das Gespräch zwischen Mutter und Tochter konstitutiv. Es geht um die
Gefahren, die es gibt, wenn die Tochter zum Tanz geht. Es findet nicht statt, zwischen Mutter und
Kind, sondern zwischen Mutter und pubertierender Tochter. Es geht hier um eine sehr
konfliktreiche Beziehung. Im Grunde genommen wird Mutterliebe hier nicht thematisiert, aber sehr
wohl das Konkurrenzverhältnis zwischen Mutter und Tochter. Denn die Mutter ist die personale
Instanz der Aufsicht über ihre Tochter und sie hat zunächst einmal die Merkmale einer rationalen
Aktiven und die Tochter einer emotional Passiven. Allerdings wird das Ganze durcheinander
gewirbelt, sonst wäre es nicht Neid. Grundsätzlich hat also die Mutter für das gesellschaftliche
Gleichgewicht zu sorgen. Sie will die Tochter vor Unheil bewahren und somit die Aufgabe, die
Tochter vor dem verführenden Mann zu bewahren. Aber es passiert dann ein Normbruch: im
Gespräch zwischen Mutter und Tochter geht es nicht nur darum, dass die Mutter ihre Tochter
warnt, sondern dass die Mutter ihre Tochter nicht zum Tanz schicken will, weil sie selbst dorthin
will. Plötzlich wird die Mutter erotisiert, sie liebt den Ritter also selbst und natürlich wird auch klar,
dass die Tochter die Konsequenz eines Fehltritts der Mutter ist. Dieser Versuch der Mutter, die
Tochter am Tanz zu hindern, wird sehr grob geschildert, es geht bis zur Prügelstrafe. Das heißt
also, die Ordnung, die die Mutter scheinbar herstellt will, wird durch sie selbst unterlaufen, weil die
Mutter nicht als Ordnungshüterin taugt, sobald sie selbst erotische Fantasien entwickelt. Sobald
also eine Mutter wiederum als Frau agiert, ist sie nicht mehr gesellschaftsrelevant und taugt nichts,
um irgendwelche ethischen Verhaltensnormen aufrecht zu halten.
Anders gesagt: Mütter, die nicht in ihrer Rolle aufgehen, sind triebhaft und nicht liebevoll, sondern
gewalttätig. Die sexuell orientierte Mutter verliert somit jegliche mütterlichen Eigenschaften.
Das kommt in vielen Liedern Neidharts vor und da sieht man, dass es auch sehr viele negative
Mutterrollen gibt, nicht nur im Zusammengang mit Mutter-Tochter-Darstellungen, sondern auch
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Mutter-Sohn-Darstellungen - Herzeloyde ist tatsächlich eine Ausnahme. In der mittelalterlichen
Literatur gibt es viele Beschreibungen von Müttern, die unerlässlich in das Leben der Söhne
eingreifen wollen und mit diesem Eingreifen mit dem Tod bezahlen. Dieses Eingreifen passiert oft
im Zusammenhang mit der Partnerwahl des Sohnes, wo die Mutter die Frau nicht als ebenbürtig
oder nicht als gut genug für den Sohn bezeichnet. Die Mutter muss deshalb eliminiert werden. Man
kann auch sagen, dass die negativen Mutterrollen in der mittelalterlichen Literatur eher überwiegen
und dass jene Mütter, die als emotional und liebevoll geschildert werden, eher die Ausnahme sind.
Es gibt allerdings auch noch ein paar positive Mutterdarstellungen, erstaunlicherweise vor allem im
Bereich der Ziehmutterschaft. Die Figur der Amme ist in der Literatur ambivalent, sehr oft aber ist
sie emotional stark hervorgehoben, was ein Aspekt aus der antiken Literatur ist.
Zusammenfassung:
Die Mutterrolle zeichnet tatsächlich so was aus wie eine jahrtausendelange oder
jahrhundertelange Einübung in bestimmte Rollenmuster. Das sind vor allem gesellschaftliche
Funktionen, die der Frau damit zugesprochen werden. Mutterschaft ist etwas, das nach wie vor
sehr deutlich als Identifikationsangebot da ist und noch immer sehr stark aus verschiedenen
Bereichen emotional belastet ist. Wichtig ist, dass Mutterschaft in unserem Zusammenhang keine
authentische, keine naturgegebene, keine mit der Natur bestehende Form ist, sondern letztendlich
eine hergestellte, immer auch kulturell definierte Form, die letztendlich auch weibliche Identität
nach wie vor ganz elementar prägt und bestimmt. Mit dieser Aufwertung der Mutterrolle geht nicht
unbedingt eine Aufwertung der Frau einher, mit dieser Aufwertung geht aber auch eine zunehmend
wachsende Belastung einher. In dem Moment, wo mütterliche Eigenschaften, Haus und Kinder
zum Aufgabenbereich der Frau geworden sind, wurden sie systematisch erweitert, so sehr, dass
es dann unmöglich war, etwas anderes zu tun. Mit dieser Erweiterung des Aufgabenbereichs, hat
man die Frau von anderen Zuständigkeitsbereichen, wie von den Machtpositionen innerhalb der
Gesellschaft ferngehalten. Das ist sehr stark mit biologischen Argumenten einhergegangen.
Eigenschaften, die den Müttern zugesprochen werden wurden dann auch zu weiblichen
Eigenschaften per se. Die gute weibliche Natur ist also jene Natur, die alle Eigenschaften einer
guten Mutter in sich vereint. Die Kirche hat damit einen Grundstein gelegt was Mütterlichkeit
anbelangt, aber auch was Vorstellungen von Weiblichkeit ist. Diese im Zusammenhang mit dem
Bereich der Mutterschaft sind Demut, Hingabe, Opferbereitschaft und in gewisser Weise Trauer auf keinen Fall selbstbestimmte Sexualität.
6. Vorlesung
19. November 2015
Herrscherinnen, Königinnen, Landesherrinnen
Frauen und Macht
1. Herrscherinnen in der mittelalterlichen Gesellschaft
Hier geht es um jene Frauen, die eine wichtige und vor allem gesellschaftlich-politische Position
ausübte. Es gab sowohl in der Literatur, als auch in der Realität mächtige Frauen, die eine
männliche Position inne hatten - gemeint sind Künstlerinnen, Mäzeninnen, Herrscherinnen und
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damit auch Politikerinnen. Die dünne Schicht der mächtigen Frauen beschränkt sich auf adelige
Frauen, die nicht nur eine wichtige Funktion in der Repräsentation des Hofes hatten, sondern sie
übernahmen auch durchaus männliche Rollen in der Abwesenheit des Mannes. Das passierte in
der kriegerischen Zeit relativ oft - sie übernahmen also die Verteidigung und Verwaltung der Burg.
Es gab auch Frauen, die an Kriegszügen teilnahmen, nicht nur als Begleitung, sondern durchaus
auch als aktiv Kämpfende. Dieser Eindruck wird allerdings in männlichen Domänen (Krieg und
Politik) nur in Ausnahmefällen und Notsituationen akzeptiert. Nicht selten kam es vor, dass eine
Frau für ihr Engagement entweder ausgeschlossen, oder sogar mit ihrem Tod bezahlen musste
(zB. Johanna von Orleans).
Das Frühmittelalter, (8. bis 11. Jhdt.), war durch viele Frauenfiguren ausgezeichnet, die eine
wichtige Rolle inne hatten. Erst ab dem 12. Jhdt. ist das zurückgedrängt worden, was damit
zusammenhängt, dass die staatlichen Mechanismen auf ab diesem Zeitpunkt auf stärkeren Regeln
beruhten. Wir wissen von diesen politisch tätigen Frauen durch Berichte von Chronisten, die
durchaus positiv ausfallen.
Chronik von Dietmar von Merseburg (975 - 1018):
Er war ein Bischof, der die berühmte Chronik über die Zeit der Ottonen geschrieben hat. Er hat
über Theophanu (die Gattin Ottos II.) folgendes geschrieben:
Obwohl sie [Theophanu] dem schwachen Geschlecht angehörte, zeichnete sie sich durch Disziplin und Stärke
und einen trefflichen Lebenswandel aus. … Sie bewahrte ihres Sohnes Herrschaft mit männlicher Wachsamkeit
und in ständiger Freundlichkeit gegenüber Rechtschaffenen sowie in furchtgebietender Überlegenheit gegenüber
Aufsässigen.
Otto II. wurde mit einer Griechin (Theophanu) verheiratet worden, die, nach dem frühen Tod des
Gatten, gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Adelheid die Herrschaft übernommen und
gegenüber Heinrich verteidigt hat, der Erbansprüche gestellt hat. Wir haben hier also zwei
Frauengestalten, die in einer Allianz für Otto III. regiert haben. Diese Regentschaft der Frauen
wurde schon damals von den Historikern sehr positiv bewertet. Entscheidend ist hier die
Formulierung - es geht um den trefflichen Lebenswandel, obwohl sie dem schwachen Geschlecht
angehören. Trefflicher Lebenswandel bedeutet hier, dass die Frau im Zeitpunkt ihrer alleinigen
Regentschaft zumeist Witwe blieb und somit gewisserweise den Status einer nicht verheirateten
Frau hat.
In der Forschung wird hier oft einerseits der Begriff mater regnorum verwendet, ein Mutterbegriff,
der auf die Königin übertragen wird - ein interessanter Aspekt: die Verbindung von Mütterlichkeit
und Politik und der Begriff virago (oder vir ago) im Sinne von „handeln wie ein Mann“.
Man kann also sagen, dass es für die politische Teilhabe von Frauen eine Art Verbindung zwischen
männlichen Eigenschaften (zB Herrschereigenschaften oder kluge Reden etc.) und weiblichen
Eigenschaften (Freigebigkeit echt.) gab. Das kann im Zitat von Dietmar von Merseburg sehr gut
beobachtet werden, da Freundlichkeit keine (eindeutig) männliche Eigenschaft ist.
Weibliche Herrscherinnen, Königinnen und Landesherrinnen haben durchaus eine positive Presse
von Männern dieser Zeit bekommen, die Eigenschaften werden aber immer als männlich kodiert.
Wir haben immer eine Bezugssetzung von männlichen Zuschreibungen und weiblichen
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Stereotypen, die in diesen Chronikberichten aufscheinen, wobei zu den männlichen Tugenden
Disziplin, Stärke, Wachsamkeit und Klugheit und zu den weiblichen Tugenden Freundlichkeit und
Gottesfurcht gezählt wird.
Die Möglichkeit einer weiblichen Erb- bzw. Nachfolge ist erst im 13. Jhdt. eine rechtliche
Möglichkeit, davor waren Frauen in Machtpositionen zumeist Platzhalter für Männer. Jene Frauen,
die dem Adel angehörten, waren relativ autonom, was die Verwaltung ihrer Ländereien und Gelder
anbelangte.
2. Ein Beispiel aus der mittelalterlichen Literatur: Giburc in Wolfram von
Eschenbachs “Willehalm“
Eschenbach ist ein Meister der Erschaffung herausragender Frauenfiguren. „Willehalm“ ist fast
schon unheimlich zeitgemäß, denn er beruht auf einer chanson de geste (zu deutsch
„Heldentaten“), dem Chanson d’Aliscans und behandelt Ereignisse aus der Zeit Karls des Großen.
Es geht in erster Linie um einen Kampf zwischen Christen und Heiden, also einem Glaubenskampf
zwischen Muslimen und Christen. In der mittelalterlichen Literatur werden Muslime generell als
Heiden bezeichnet, sie werden mit den antiken Göttern gleichgesetzt. Wider besseres Wissen hat
man in der Literatur propagiert, dass Muslime Polytheisten seien. Der Glaubenskampf ist im
Mittelalter omnipräsent, mit einem eindeutigen Kräfteverhältnis - das europäische Mittelalter war
bis auf wenige Gebiete vollständig christialisiert. Der Roman setzt zu dieser Zeit an: Es geht um
reale Kämpfe - wir befinden uns in der Zeit Ludwigs I., dem Sohn Karls des Großen und König von
Frankreich. Damals gab es Auseinandersetzungen in Frankreich und Spanien und er wurde von
Wilhelm von Toulouse, einem Heerführer und Fürsten, unterstützt.
2.1 Inhalt:
Willehalm ist jener historischer Wilhelm von Toulouse, die Geschichte, die dann erzählt wird, hat
aber nichts mehr mit historischen Tatsachen zutun.
http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/wp-content/uploads/2015/10/Eschenbach_Willehalm.pdf
(In diesem Link werden die wichtigsten Aspekte genannt, es steht auch eine Inhaltsangabe zur Verfügung!)
Der Dichtung ist ein sogenannter Gebetsprolog vorangestellt, in dem etwas entwickelt wird, das in
der Glaubensauseinandersetzung zwischen Christen und Heiden eine wichtige Rolle gespielt hat.
Der Roman wird um 1220 angesetzt - er gilt als Spätroman Wolfram von Eschenbachs - und ist
fragmentarisch, also nicht vollständig ausgedichtet.
Im Prolog geht es um die Frage, was Gott eigentlich mit seiner Schöpfung gemacht hat. Nach
mittelalterlichem Verständnis wird man durch die Taufe nicht nur Christ, sondern auch Kind Gottes
und der Mensch wird somit in die (privilegierte) Verwandtschaft des Gottes gegeben. Andererseits
ist Gott nicht nur ein Schöpfer von Christen, sondern ein Schöpfer von allen Menschen. Es wird
gesagt, dass alle, die nicht getauft sind, Heiden und somit verdammt sind. Nur die, die getauft sind,
haben die Chance in den Himmel zu kommen. Andere Stimmen sagen aber, dass Gott unmöglich
Menschen geschaffen haben kann, die nur weil sie nicht- oder andersgläubig sind, für die ewige
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Verdammnis bestimmt sind. Das ist die Grundfrage, die im Prolog gestellt wird - was passiert mit
Gottes Schöpfung?
Das Werk beginnt mit einer kriegerischen Auseinandersetzung, die in der Provence stattfindet. Der
Großkönig Terramer fällt mit einer riesigen Streitmacht ein, um Willehalm zu bekämpfen. Terramer
macht das aber nicht etwa um die Christen zu bekämpfen, er macht es, um seine Tochter Giburc,
die auch Arabel heißt, zurückzuholen. Das also, was wie ein Glaubensstreit aussieht, ist zunächst
ein Familienstreit. Willehalm war in Arabien edler Gefangener von Terramer, während dieser
Gefangenschaft hat er mit Arabel Schach gespielt und sie hat sich in ihn verliebt. Die ehemalige
Arabel ist daraufhin zum Christentum übergetreten und hat ihn geheiratet. Giburc war zu diesem
Zeitpunkt bereits mit einem heidnischen Mann verheiratet (mit Tybald) und hat Kinder. Sie verlässt
also ihre ganze Familie und Verwandtschaft. Willehalm ist von diesem Kriegszug zwar nicht
überrascht, aber sehr wohl von der gewaltigen Streitmacht, die in die Provence einfällt, und er
verliert die erste Schlacht bei Aliscans. Er ist der einzige Überlebende, es kommt also zu
tausenden von Toten. Die Schlachtschilderungen suchen zu dieser Zeit ihresgleichen - es wird
präzise zwischen Massenschlachten und Einzelkämpfen gewechselt. Bemerkenswert ist, dass
beide Kämpfer werden absolut gleichwertig geschildert, es gibt also sowohl auf der Seite der
Heiden als auch bei den Christen mutige und gleichwertige Kämpfer. Wolfram von Eschenbach
geht sogar so weit, dass er einzelne Kämpfer den Christen in jeglicher Hinsicht, auch in der
inneren Einstellung und in der Ehre, überlegen sieht. Wolfram von Eschenbach ist zwar tief
religiös, aber darum bemüht, einen Ausgleich zu schaffen.
Willehalm kann sich auf seine Stammburg auf Orange flüchten. Hier wird es jetzt für unseren
Zusammenhang interessant: Giburc wird hier als eine Landesherrin geschildert, die in einer
Rüstung kämpft. Das Ehepaar, das als Herrscher- und Liebespaar betrachtet wird, beraten sich
miteinander - entscheidend ist hier, dass eine völlige Gleichwertigkeit im Gespräch vorherrscht.
Beide beraten mit gleichwertigen Redeanteilen, was nun zu tun sei. Willehalm beschließt
gemeinsam mit Giburc zum französischen König Lois (König Ludwig I.) zu reisen und um Hilfe zu
bitten. Hier bekommt die Familienauseinandersetzung erstmals eine „Weltkriegsdimension“, weil
hier der herrschende König zur Hilfe gebeten werden soll. Giburc verspricht Willehalm die Burg
nach bestem Wissen zu verteidigen, sie übernimmt nicht nur die Landesherrschaft, sondern auch
eine Art Kriegsherrschaft über die Burg. Willehalm kommt zum französischen König, dort findet ein
festlicher Hoftag statt. Mitten in die Feierstimmung kommt Willehalm, der bewusst seine
zerschlissene blutige Rüstung nicht ausgezogen hat. König Lois ist mit der (namenlosen)
Schwester von Willehalm verheiratet, es befinden sich alle Verwandten Willehalms am Hofe. Der
König will zuerst nicht helfen, er muss erst überredet werden. Nach längerer Zeit erklärt er sich
bereit, die gesamte Familie und somit auch das gesamte christliche Reich im Kampf zu
unterstützen. Daraufhin wird die Burg von Terramer und seinen Heeren belagert, der Vater belagert
somit die Tochter.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist eine höchstinteressante Facette des Werkes: Auf dem Königshof
befindet sich ein muslimischer Knabe, der nicht zum Christentum übertreten will und deshalb
Küchendienst leisten muss. Rennewart ist der jüngste Sohn Terramers und somit Giburcs Bruder.
Weder Giburc noch Willehalm wissen von seiner Identität. Rennewart bleibt ganz bewusst Heide,
aber er tritt in den Dienst Willehalms. Wir haben hier also die paradoxe Konstellation, dass
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Willehalm, ein christlicher Heerführer, unterstützt wird durch einen muslimischen heidnischen
Kämpfer - er wird entscheidend dazu beitragen, dass die zweite Schlacht gewonnen wird. Zum
Christentum konvertiert er jedoch nie.
Ein gewaltiges Heer wird einberufen von Lois, alle verfügbaren Heerführer reiten gemeinsam nach
Orange zur Stammburg. Giburc wird von ihrer Aufgabe entlastet und es kommt zu einem großen
Empfang, an dem Giburc wieder in ihre weibliche Rolle schlüpft - als Repräsentantin des Hofes. Es
kommt zu einer großen Rede Giburcs.
Es kommt zur zweiten Schlacht, hier gewinnen die Christen. Die Christen feiern, mitten in dieser
Feier wird Willehalm aber bewusst, dass Rennewart verschwunden ist. Hier bricht die Dichtung ab.
Man weiß nicht, wie Eschenbach diese Dichtung hätte fortführen wollen, da er sehr viele Aspekte
eingebaut hat, die einen einfachen Schluss gewisserweise nicht zulassen.
2.2 Giburc: manlîch - wîblich
Giburc wird mit folgenden Worten eingeführt:
Ei Gîburc, heilic vrouwe,
dîn saelde mir die schouwe
noch füege, daz ich dich gesehe
aldâ mîn sêle ruowe jehe.
durh dînen prîs den süezen
wil ich noch fürbaz grüezen
dich selbn und die dich werten
sô daz si wol ernerten
ir sêl vors tiuvels banden
mit ellenthaften handen. (403,1-10)
Sie wird wie eine Heilige angerufen, ähnlich einer Marienpreisung. Man kann von dieser ersten
Anrufung des Erzähler davon ausgehen, dass sie eine eindimensionale Figur ist. Ihre einengende
Charakterisierung als überzeugte Christin funktioniert aber nicht. Giburc wird im Roman als eine
Figur dargestellt, die sich durch den ganzen Text hindurch in einem politischen und persönlichen
Dilemma befindet. Sie ist so etwas wie eine andere Helena, die wegen wegen ihrer Ehe mit
Willehalm nicht nur den Streit zweier Männer um sie auslöst, sondern der Krieg ist durch ihre
Blutsverwandtschaft an die Feinde auch ein Familienkrieg, ein Religionskrieg und letztendlich
durch die Aufbietung aller Streitkräfte auch ein Weltkrieg. Nach der Anrufung heißt es gleich
einschränkend, dass wegen ihr alles passiert ist. Sie hat also nicht nur durch ihre zwei Namen eine
Zwischenstellung.
Wie weit wird diese Zwischenstellung nun vom Autor für politische Aussagen genutzt?
Eine der politischen Aussagen zu Wolfram von Eschenbachs Zeit ist, dass gesagt wird, man muss
die heidnischen Mitgeschöpfe schonen und man darf sie nicht töten. Das ist durchaus ein
hetzerischer Gedanke, modern könnte man sagen, dass es ein Toleranzgedanke ist, so etwas wie
„das Recht des Anderen“. Das Erstaunliche ist, dass dieses Recht des Anderen von einer Frau,
durchaus in einer politischen Funktion, formuliert wird.
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Giburc tritt im Roman in verschiedensten Rollen auf:
Ihr erster Auftritt zeigt sie in einer männlich-weiblichen Ambivalenz (manlîch-wîblich): in ihrer
Funktion als Landesherrin und Verteidigerin der Burg. Sie steht hinter den verschlossenen Toren
und zunächst will sie nicht mal Willehalm einlassen, weil sie ihn nicht erkennt, da seine Rüstung im
Kampf zerstört wurde und er nun die eines Heiden trägt. Als sie in schließlich erkennt, gewährt sie
im Einlass. Was sie dann von Willehalm hört, erschüttert sie zutiefst, nämlih dass nicht nur ihre
früheren, sondern auch ihre neuen christlichen Verwandten gestorben sind. In ihrer ersten
Reaktion ruft sie zur Rache auf, dieser Ruf wird vom Erzähler lobend kommentiert:
manlîche sprach daz wip, / als ob si manlîchen lîp / und mannes herze trüege. (95,3)
Sie stellt sich somit gegen die eigene Verwandtschaft und Familie und stellt ihre neue Familie und
ihren neuen Glauben dem zunächst gegenüber. Diese manlîche Rede ist allerdings nicht so
eindeutig zu sehen, denn sie hat mehrere Gespräche mit männlichen Verwandten, unter anderen
auch mit ihrem Vater Terramer während der Belagerungszeit. Da wird klar, dass sie nicht will, dass
ihr ehemaliger Mann und ihre Kinder getötet werden.
Giburc wird auch als liebende Frau gezeigt, in dem Moment, als sie Willehalm die Wunden
verbindet und mit ihm schläft - sie ist eine Art Seelenpflaster für Willehalm. Kontrastreicher könnte
die Darstellung nicht sein. Willehalm schläft dann ein und Giburc hält ihren ersten Monolog, in dem
sie die Verluste und auch den Tod ihrer eigenen Verwandten beweint. Sie sieht keinen Ausweg in
eine Versöhnung, sondern das einzige, das hier unübergehbar ist, ist der Krieg und der Kampf.
Sie weiß auch, dass sie hier selbst im Mittelpunkt steht und nicht heraus kann.
manlîch, ninder als ein wip/ diu künegin gebarte (226,30f.)
Sie wird also weiblich in dem Moment, in dem sie sich mit ihrem Mann vereint, wird aber wieder
männlich, als sie wieder die Rolle der Landesherrin übernimmt.
In dem Moment, wo Willehalm mit Hilfe in die Burg zurückkommt, wechselt Giburc sofort die Rolle bewusst: jetzt wo alle Männer wieder da sind, ist es Zeit, wieder in die weibliche Rolle und in die
schönen Kleider zu schlüpfen, um die Männer mit ihrer Schönheit zum Kampf anzutreiben. Sie
wird wieder zur höfischen Repräsentantin. Der Erzähler macht sich ein wenig darüber lustig, vor
allem als sie ihre Rüstung zur Verteidigung der Burg trägt, er sagt, er würde sich vor solchen
Frauen fürchten - die Frau als Kämpferin ist also auch hier gut für misogyne Witze. Aber es ist
nicht der einzige Zugang dazu.
2.3 Giburcs (politische) Reden:
Durch ihre Reden wird deutlich, dass Giburcs Handeln durch drei Pole bestimmt wird, die sie
verzweifelt versucht zu trennen: Politik, Verwandtschaft und Religion. Das führt uns zur einer
Frauenfigur der Antike, wo ähnliches der Fall ist: Antigone. Auch sie ist zwischen Verwandtschaft
und Politik hin und hergerissen - Religion spielt bei ihr eine geringere Rolle. Wichtig ist in diesem
Zusammenhang, dass es offensichtlich starke Parallelen gibt, die sich über die Rolle der Frau in
einem politischen staatlichen Diskurs ergeben. Die Rede der Frau im politischen Diskurs wird als
gefährlich eingestuft - eine politische Rede vor Männern ist keine übliche Tatsache. Bei Antigone
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führt das politische Sprechen zu ihrem Tod, es muss ausgemerzt werden. Auch bei Giburc haben
wir politische Reden - zwei persönliche Reden (mit ihrem Vater Terramer) und eine, die vor dem
Fürstenrat stattfindet und besonders wichtig ist.
Wie wird nun Giburcs politisches Sprechen im Roman bewertet? Wird es als gefährlich eingestuft
oder spielt ihr Sprechen eine Rolle?
Auffällig ist, dass Giburc alle Gespräche und Reden nur mit Männern durchführt. Die Reden
bewegen sich alle zunächst im verwandtschaftlichen Feld: zwei Gespräche mit ihrem Vater
Terramer, die während der Belagerungszeit stattfinden, ein Gespräch mit dem Halbbruder
Rennewart, von dem sie aber nicht weiß, dass er ihr Bruder ist und dann noch ein Gespräch mit
Willehalms Vater Heinrich und mehrere mit dem Ehemann.
Die Gespräche zwischen Vater und Tochter beschäftigen
Verwandtschaft und Religion. Terramer fragt seine Tochter,
Ehebrecherin und Abtrünnigen aus seiner Sicht geworden
interessant, da es sehr sachlich und unemotional geschildert
sich zunächst mit den Polen
warum sie zu einer Verräterin,
ist. Dieses Gespräch insofern
ist - fast als Religionsgespräch.
Terramer unterstellt dem Christentun auch Polytheismus durch die Trinität, was Giburc
zurückweist. Im Grunde könnte man sagen, dass beide aneinander vorbei reden was die religiösen
Themen angeht. Das Berührende an diesem Gespräch ist aber die Betonung der Verwandtschaft.
Terramer sagt zwar, dass er seine Tochter bestrafen will, letztendlich führt aber die Betonung der
Verwandtschaft zu einer offensichtlichen Trauer bei beiden. Beide sind also betroffen von den
Geschehnissen, ohne etwas davon zurücknehmen zu können. Terramer ist zur Rache seiner
Tochter verpflichtet, die für die muslimische Gesellschaft den größten Frevel begangen hat, er
möchte es aber nicht. Giburc, die ihren Vater als Vater anspricht, kann nicht verstehen, warum er
ihre Konversion nicht versteht. Die Gespräche führen also zu nichts. Die Trauer und die Tränen
werden allmählich zum Topos der Figur - sie sind eine Metapher des Nichtsprechens. Giburc
spricht aber, und allmählich kommen die Tränen.
Gespräch mit dem Schwiegervater Heinrich:
Hier ist Giburc in ihrer Rolle der Repräsentantin, es geht um das große Begrüßungsmahl der
ankommenden Heere, wo sie, wie es sich als Landesherrin gehört, neben ihrem Schwiegervater
sitzt. Es kommt zu einem Gespräch zwischen den beiden. Hier spielen die Tränen Giburcs eine
Rolle. Sie erzählt ihm ihr innerliches Leid und beginnt öffentlich zu weinen, was er ihr sofort
verbietet. Sie darf also nicht öffentlich trauern, weil das die Kampfkraft der männlichen Krieger
mindert. Es bleibt nicht bei diesem Verbot der öffentlichen Trauer Heinrichs, denn es gibt nach
diesem Festmahl einen Fürstenrat:
Giburcs Rede vor dem Fürstenrat:
Giburc geht von sich aus zu dieser Männerberatungsrunde und bittet um Aufmerksamkeit und
bittet, das Wort ergreifen zu können. Das ist das radikal politische Umfeld - ein stärker männlich
dominiertes Umfeld als den Fürstenrat könnte es gar nicht geben - in das sie mit ihrer Rede
kommt. (WICHTIG!!!) Diese Rede hat in der Forschung höchste Aufmerksamkeit errungen, denn
sie hat es inhaltlich in sich.
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Entscheidend ist für viele Forscher folgende Sequenz: sie spricht in ihrer Rede von ihrem Leid,
aber auch von ihrer Schuld - es ist gewissermaßen ein Schuldbekenntnis. Sie versucht aber ihr
Handeln zu rechtfertigen und führt auch einen kleinen Religionsdiskurs:
dem sældehaften tuot vil we,
ob von dem vater siniu kint
hin zer vlust benennet sint:
er mac sich erbarmen über sie,
der rehte erbarmekeit truoc ie. (307,26-30)
[dem, dem die Erlösung zugesprochen ist (gemeint ist Gott), schmerzt es sehr, wenn dem Vater seine Kinder
zur Verdammnis bestimmt sein sollen. Er, der schon immer die wahre Barmherzigkeit in sich trägt, soll sich ihrer
erbarmen]
Auffällig ist hier "dem Vater seine Kinder“. Die Forschung hat hier darüber gestritten, was damit
gemeint ist. Spricht sie hier allen Menschen den Status der Gotteskindschaft zu? Im Prolog gibt es
schließlich die Unterscheidung zwischen Gottesgeschöpflichkeit, das wären alle Menschen, und
Gotteskindschaft, das wären nur die Christen. Hier sind aber eigentlich alle gemeint und es spricht
nichts dafür, dass nur die Christen gemeint sind. Hier scheint Giburc also den Heiden in ihrer Rede
den Status der Gotteskindschaft und damit die potentielle Erlösbarkeit zuzusprechen. Es ist ein
sehr radikaler Gedanke, der zu Wolfram von Eschenbachs Zeiten durchaus als ketzerisch
anzuerkennen ist. Hier muss man sich den Kontext ansehen, in dem die Rede stattfindet: sie ist
öffentlich und findet im politischen Umfeld statt. Dass die Rede von enormer Wichtigkeit ist, liegt
auch daran, dass sie die längste im ganzen Werk ist und auch aus Giburcs Mund ist.
Aufbau der Rede:
Sie kommt in den Fürstenrat und bittet um Aufmerksamkeit. Sie bekennt ihre Schuld und nennt
zwei Argumente, die widersprüchlich sind: Rache und Schonung, die sich nicht miteinander
vereinbaren lassen.
rechet den jungen Vivianz / an mînen mâgen und ir her (V. 306,22f.)
hoeret eines tumben wîbes rât / schonet der gotes hantgetât (v. 306,27f.)
Das was sie in ihrer Argumentation sagt ist, dass in dem Moment, in dem sich ein Kind im
Mutterleib befindet, es auf jeden Fall ein Geschöpf Gottes ist, wenn auch nicht christlich. Die
Schonung begründet sie durchaus theologisch, einerseits mit den Umständen und den
theologischen Kenntnissen dieser Zeit, sie argumentiert aber auch mit einem
Barmherzigkeitsgedanken, was dem Christentum eigentlich immanent ist. Sie beteuert, dass wenn
man Christ ist, muss man auch an Barmherzigkeit glauben. Letztendlich sind Ansätze da, dass
man die Heiden zwar bekämpfen muss, aber nicht aufgrund ihrer Religion und weil sie ohnehin für
die Verdammnis bestimmt seien.
Am Ende der Rede weint Giburc - sie verstummt und man erfährt nichts mehr. Sie ist sozusagen
die Weinende zum Schluss und so aus dem Roman ausgeblendet.
Ihre Rede hat aber keine Konsequenz für den Roman - es gibt kein Pardon und keine Schonung
der Andersgläubigen, die Schlacht findet blutiger als die davor statt. Ein Indiz gibt es, dass sie
möglicherweise etwas bewirkt haben könnte: Willehalm lässt nach dem Sieg alle Leichen der
heidnischen Fürsten sammeln und in einem Zelt aufbewahren. Die Überlebenden sollen sie
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mitnehmen und nach ihren Ritualen begraben. Das ist etwas neues, das in der altfranzösischen
Vorlage nicht vorkommt. Es wäre ein Indiz dafür, dass Giburcs Rede doch Einfluss hatte.
Die Person der Sprechenden ist mit ihren verschiedenen Rollen so problematisch, man könnte
sagen Giburc ist von vornherein als Sprecherin mit negativen Vorzeichen besetzt. Sie ist eine
Figur, die im politischen und kriegerischen Handeln zwar aufscheint, letztendlich aber nichts zu
sagen hat, insofern, als ihr Sprechen zu keiner Konsequenz führt. Der Aufruf zur Schonung hat
beim Kriegsrat nichts bewirkt, die Rede bleibt vollkommen unkommentiert, auch vom Erzähler, der
sonst eigentlich immer wieder eingereift. Giburc ist als politische Person zu diesem Zeitpunkt nicht
stark genug, aber allein von der Aussage des Roman ist es trotzdem entscheidend, dass diese
Rede von einer weiblichen Hauptperson gesprochen wird. Denn welche Figur wäre geeigneter
einen Gedanken zu formulieren, der zu Wolfram von Eschenbachs Zeit ein politisch gefährlicher
war? Es ist eine Doppeldeutigkeit in dieser Funktion: denn die Tatsache, dass sich eine Frau in
einem Fürstenrat zu Wort meldet und auch der Inhalt ihrer Rede sind beide ein scandalum.
Dennoch ist es eine hoch aufgewertete Rede, zwar nicht auf der Handlungsebene, sondern auf der
Inhaltsebene. Der Autor gibt einen radikalen Gedanken einer Frauenfigur in den Mund, was auf der
Handlungsebene zu keinen Konsequenzen führt, aber dennoch ausgesprochen wird. Es soll
verdeckt werden, dass die Rede nicht unmöglich ist, sondern etwas formuliert, das radikal und
möglich wäre. Giburc ist also auf der Handlungsebene mit ihrer Rede zum Scheitern verurteilt. Es
wäre undenkbar, dass eine männliche Person diese Rede gehalten hätte. Da die Frau hier aber
zwischen all diesen Polen steht kann sie diesen Gedanken formulieren. Sie ist in dieser Szene
also eine Schweigende und gleichzeitig eine Sprechende, was die ambivalente Zeichnung der
Figur erklären würde. Sie ist Handelnde und Nicht-Handelnde, sie ist jemand, die durch diese
Rede durch den Roman entrückt und entfernt wird. Auch als die Schlacht gewonnen ist, wird sie
nicht mehr erwähnt. Vielleicht ist liegt da der Grund darin, warum Wolfram von Eschenbach die
Figur mit einer Anrufung eingeführt - um den humanitätsgeschichtlich neuen Gedanken subtil in
Szene zu setzen.
7. Vorlesung
3. Dezember 2015
Frauen schreiben:
Hrotsvit von Gandersheim
935 - ca. 973
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit Stimmen von Frauen - mit Zeugnissen (zumeist
literarisch) von Frauen. Das sind zwar wenige, aber sie sind von herausragender Bedeutung. Es
sind Werke, die unbekannt sind und kaum im Kanon erscheinen. Wir befinden uns in der Frühzeit
der deutschen Literatur.
1. Schreibende Frauen im Mittelalter
Man kann über das gesamte Mittelalter hinweg davon sprechen, dass schreibende Tätigkeit von
Frauen mit enormen Schwierigkeiten verbunden war. Das gilt auch für jene Frauen, die bereits zu
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Lebzeiten berühmt waren und Frauen, deren schriftstellerische Tätigkeiten durchaus anerkannt
wurde - auch von männlichem Publikum (im Sinne von Schriftlichkeit).
Hildegard von Bingens Schriften wurden von der männlichen „Community“ anerkannt, aber auch
sie musste ihr Schreiben rechtfertigen, genau wie Roswitha von Gandersheim, aber auch Christine
de Pizan, die sich ebenfalls einige Rechtfertigungsstrategien überlegen mussten, um ihr Schreiben
zu rechtfertigen.
Dieses Schreiben und die Rechtfertigung des Schreibens hängt immer auch mit der Tatsache des
Geschlechts zusammen, also mit der Tatsache des Frauseins.
2. Die Rhetorik der Demut
Eine sehr schöne Beschreibung von diesem Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und dem
Willen zum Schreiben stammt aus dem 8. Jahrhundert von einer angelsächsischen Nonne:
Hugeburc von Heidenheim. Sie hat zwei Viten über Willibald und Wunibald geschrieben, Bewohner
und Heiliggesprochene des Bistums Eichstätt. Auch wenn der Originaltext in lateinischer Sprache
geschrieben wurde, zählt er trotzdem zur deutschsprachigen Literatur - sie ist im Frühmittelalter
auch lateinische Literatur. Das ist das, was das 9. und 10. Jhdt. zu einer faszinierenden Epoche
macht, weil wir hier eine Zweisprachigkeit haben, teilweise sogar eine Dreisprachigkeit, die zu
einer eigenen Atmosphäre des Schriftlichen geführt haben. Lateinisch war die Sprache der
Gelehrten.
Hugeburc von Heidenheim (geb. 730/740):
Von all denen, die hier vom Heiligen Geist geführt leben, bin ich, unwürdig wie ich bin, aus dem
angelsächsischen Geschlecht stammend, die letzte, die ankam, nicht nur wegen des Alters, auch wegen
meines bisherigen Lebens. Trotzdem beschloss ich, die ich im Vergleich mit den anderen Christen eine
schwache Kreatur bin, einige Anmerkungen in Form einer Einleitung zu machen, die sich auf den Beginn des
Lebens des heiligen Willibald beziehen, und schreibe sie hier nieder, damit sie nicht vergessen werden.
Ganz wichtig ist hier, dass die Rhetorik der Frau als schwache Kreatur übernommen wird. Aber die
Memoria ist ebenso wichtig. Entscheidend hierbei ist aber, dass nicht nur der heilige Willibald und
dessen Vita nicht vergessen wird, sondern auch die, die es aufgeschrieben hat. Das wäre
sozusagen die Ebene, die dahinter steckt.
Trotz allem möchte gerade ich, die ich durch die zerbrechliche weibliche Einfachheit meines Geschlechts
beeinflussbar bin und mich nicht auf das Vorrecht der Weisheit oder einer großen Kraft, die mich beseelt,
stütze, wie ein unwissendes Wesen, das vom Scharfsinn des Herzens und von den vielen dichtbelaubten
Bäumen voller Blüten einige Gedanken gewinnt, damit beginnen, ein paar dieser Gedanken zu sammeln und
darzulegen, mit einer schwachen Kunst von den untersten Zweigen zusammengetragen, damit ihr sie in eurer
Erinnerung bewahrt. Und jetzt sage ich mit erneuter Stimme und wiederhole, ohne in das Erwachen meines
eigenen Stolzes zu vertrauen, ohne meiner vermessenen Kühnheit zur vertrauen, dass ich (oder vielleicht fast
nicht) wage anzufangen. Viten über Willibald und Wunibald (Bistum Eichstätt).
Wir haben hier wieder die Kombination schwache Kunst und Memoria. Diese Rhetorik ist eine
bekannte, es ist eine Rhetorik des Empfehlungsschreibens, die im 8. und 9. Jahrhundert üblich ist:
die sogenannte Demutstopik, die nicht nur auf weibliches Schreiben beschränkt ist, sondern zum
rhetorischen Allgemeingut. Ein männliches Beispiel hierfür wäre die Vita Karoli Magni von Einhard
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(770 - 840) über Karl den Großen. In seiner Einleitung schreibt er folgendes über ein eigenes
Schreiben:
So nimm hin dies Buch, das die Erinnerung an den ausgezeichneten und großen Mann enthält! Du wirst darin
nichts finden, was du bewundern kannst, als seine Taten und höchstens noch, daß ich, ein Barbar, der nur
wenig Übung in der lateinischen Sprache hat, glaube, gefällig und angenehm Latein schreiben zu können; und
daß ich mich unverschämt über einen Satz des Cicero hinwegsetzen zu dürfen wähne. Er schreibt nämlich im
ersten Buche seiner Tuskulanen, da er von den lateinischen Schriftstellern spricht, also: ... Dieser Gedanke des
vortrefflichen Redners hätte mich wohl vom Schreiben abgeschreckt, wenn ich nicht von vornherein
entschlossen gewesen wäre, mich lieber jeglichem Urteil der Welt auszusetzen und durch diese Schrift den Ruf
meines unbedeutenden Talentes zu gefährden, als aus Rücksicht auf mich die Lebensgeschichte eines solchen
Mannes nicht zu schreiben.
Auch hier haben wir die Demutsrhetorik, der Unterschied ist aber, dass er glaubt, es dennoch zu
können. Was hier wiederum passiert, ist die Berufung auf eine männliche Tradition, die mit der
Schreibkultur vertraut ist. Trotz aller Demutstopik bewegt er sich wesentlich virtuoser in der
Balance zwischen Demut und eigenem Vermögen.
Man kann also feststellen, dass das Bestehen der Frauen auf ihre eigene Unwissenheit,
Unfähigkeit und Schwäche, mehr ist, als nur rhetorische Formen. Es ist eine Art Initiationsritual,
das ihnen überhaupt erlaubt, die Schwelle zur dominanten männlichen Schriftkultur zu übertreten.
Sie zeigen sich in der Demutsform geübt, variieren sie aber mit eigenen Bildern und indem sie die
Demutstopik eins zu eins übernehmen (von der rhetorischen Tradition her), zeigen sie aber
gleichzeitig auch, dass sie in der Lage sind, daran teilzuhaben.
3. Hrotsvit von Gandersheim (935 - ca. 973):
In ihren Vorreden versichert sie, dass Gott beim Schreiben an ihrer Seite sei, dass sie schwach
und unwissend sei, aber dennoch ihre Stimme erheben wollen, weil diese gehört werden wolle.
Wenn sie spricht, wäre ihre Stimme eine männliche, was sie immer wieder betont. Wenn eine Frau
im Geiste stark ist, wird dieser von Theologen dieser Zeit als männlich verstanden. Wenn Frauen
männliche Rhetorik übernehme, bedeutet das nun, dass sie quasi ein männliches Ich annehmen,
weil sie die erlaubten Schranken des weiblichen Geschlechts überschreiten.
Versuchen sie, so wäre eine mögliche Frage, ohne Identität auszukommen, um so am Spiel des
dominanten männlichen Geschlechts teilzunehmen? Wenn man die Texte dieser Frauen isoliert
betrachtet und nicht in einem Gesamtzusammenhang, dann könnte man diesen Eindruck durchaus
kriegen. Wenn man die Texte von Frauen liest, akzeptieren diese den patriarchalen Diskurs
teilweise noch radikaler und noch nachhaltiger, als die Männer selbst. Es fällt auf, dass die
Schriftstellerinnen die Einstellungen der Männer zu den Frauen teilweise ganz radikal
übernehmen. Wir finden das tatsächlich, dass Frauen viel strenger im Urteilen gegenüber Frauen
sind, auch Themen wie die Schuld Evas, den Stellenwert der Jungfräulichkeit und andere
betreffend. Sie verlangen genauso radikal Strafen für Fehlverhalten. Allerdings ist dieses Bestehen
der schreibenden Frauen auf die Stärke der patriarchalen Ideologie widersprüchlich und durchaus
brüchig.Teilweise sieht man, dass diese Argumente ins Treffen gebracht werden, dieses Insistieren
auf den patriarchalen Diskurs ist letztendlich ein Schutzschuld für die Stärke der eigenen Stille. Es
ist eine Art Maskerade, um in einer männlichen Welt zu bestehen und um die eigenen Interessen
stärker umsetzen zu können.
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Dass Frauen ihre Stimme erheben, dass sie aus dieser Stille, die ihnen auferlegt ist, austreten
verlangte viel Mut. Die Schriftstellerinnen übernehmen nicht nur den Diskurs der männlichen
Wissenschaft. Es gibt durchaus Tendenzen, ihre eigenen Räume einzunehmen. Diese eigenen
Räume sind überwiegend symbolische Räume. Deshalb ist es für LiteraturwissenschaftlerInnen so
wichtig, sich diese Texte genau anzusehen, um zu sehen, wie diese genutzt und aufgebaut
werden. Diese symbolischen Räume können sich sowohl in weiblichen
bestimmte weibliche Themen diskutiert werden, eben wie die Verteidigung
oder Mutterschaft und Themen der Kindstötung. Sie können aber auch
betreffen, die von einer weiblichen Sichtweise aufgeladen werden -
Figuren auftun, wo
der Jungfräulichkeit,
bestimmte Themen
zB die Frage der
Beweglichkeit, des Ruhms, der öffentlichen Anerkennung, des Lachens oder die Macht an sich.
4. Leben und Werke
Hrotsvit von Ganderheim laut Verfasserlexikon:
Hrotsvit von Gandersheim ist nicht nur die erste deutsche Dichterin und Geschichtsschreiberin, sondern
überhaupt die erste bedeutende lateinische Autorin seit der Antike und die erste Dramatikerin der christlichen
Welt. Wichtiger ist, dass sie, fast auf sich allein gestellt, ein Werk geschaffen hat, dem sie bei aller stofflichen,
formalen und weltanschaulichen Determiniertheit das unverwechselbare Gepräge ihrer Person geben konnte.
(Fidem Rädle, VL, Sp. 208)
Was die Bedeutung angelangt, ist sie nicht wirklich im Kanon der GermanistInnen. Ihr
dichterisches Werk ist vielgestaltet, es sind also nicht nur Dramen sondern auch acht Legenden
und zwei historische Epen, die sie verfasst hat. Man sieht, auch an ihrem Beispiel, dass eines bei
den schreibenden Frauen funktioniert hat, dass das Schreiben auch eine Form der Memoria ist.
Hätte sie nicht geschrieben, wüssten wir nichts über sie. Das war den Frauen des Mittelalters
durchaus bewusst. Je mehr Schrift verschriftlicht wurde und je mehr man von einer oralen Kultur
zu einer skripturalen Kultur gekommen ist, desto stärker war den kulturell tätigen Personen klar,
dass Memoria nur über Schrift funktionieren kann.
Wir wissen weder das genaue Jahr ihrer Geburt, noch den Ort. Wir wissen nicht einmal, ob
Hrotsvit ihr richtiger Taufname ist, weil man oft beim Eintritt in das Stift seinen Namen ändert. Er ist
aber nicht ohne Bedeutung. Sie selbst hat ihn in ihrer Vorrede zu Dramen gedeutet und will ihn so
verstanden haben, dass er „starker Klang“ oder „helltönende Stimme“ bedeutet. Es könnte
durchaus sein, dass sie ihn für sich ihn Anspruch genommen hat, um etwas in ihrem Namen zu
zeigen, was ihr wichtig wahr. Aus ihren Dichtungen und vor allem ihren Vorreden, gibt es ein paar
Anhaltspunkte.
Es steht fest, dass sie zur Zeit der Äbtissin Gerberg lebte, die von 940 bis 1001 lebte. Bei Klöstern
hat man vor allem Aufzeichnungen, da sie die Zentren der Schriftkulturen waren und die führenden
Persönlichkeiten wurden dort immer verzeichnet. Hrotsvit erzählt in einer ihrer Vorreden, dass
diese Äbtissin ihre Lehrerin war und sie in den Wissenschaften unterwiesen hat, wobei Gerberg
etwas jünger war, als sie selbst. Außerdem sagt sie, dass sie nach dem Tod Herzog Ottos geboren
sei - er ist 912 gestorben -, wenn man das zusammenbringt, kann man davon ausgehen, dass sie
zwischen 930 und 940 geboren wurde. Was das Todesjahr angeht, fehlt uns jeder Anhaltspunkt,
vermutlich ist sie in den 970er Jahren gestorben, wenn man bedenkt, wie alt die Bevölkerung
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damals wurde. Man weiß, dass die Frauen in den Klöstern älter wurden, als die Frauen, die nicht in
den Klöstern waren, was vor allem an den Lebensumständen lag.
Wir wissen auch wenig über ihre Herkunft, aber Historiker haben wahrscheinlich recht, dass sie
einer sächsischen Adelsfamilie angehörte, da dieses Kloster in Gandersheim ein sehr exklusives
Kloster war, das eng mit dem sächsischem Kaiserhaus verbunden war. Wir wissen nichts über ihr
Leben vor dem Eintritt ins Kloster, geschweige denn, wann und warum sie ihm beitrat, sie war aber
keine Nonne im vollen Sinne war, sondern Kanonisse. Das bedeutet, dass sie von drei Gelübden
nur zwei abgelegt hat: das Gelübde der Keuschheit und das des Gehorsams, nicht aber das
Gelübde der Armut, weil sie offensichtlich über ein Vermögen verfügt haben muss. Was auch noch
sonderbar bei Kanonissen im Gegensatz zu Nonnen ist, ist dass sie mehr Bewegungsfreiheit
haben. Sie dürfen aus und ein gehen, sind also nicht in ständiger Klausur, und es scheint, dass
Hrotsvit öfters am ottonischen Hof zugange war.
Wann sie dem Kloster beigetreten ist, ist in der Forschung deshalb eine Frage, die immer wieder
gestellt wird, weil sie erstaunlich freizügig und informiert agiert und spricht, wenn es um Sexualität
ist. Sie macht sich über männliche Sexualität lustig und spricht weibliche Sexualität durchaus in
einer sehr freizügigen Art und Weise an. Forscher vermuten, dass sie längere Zeit ein weltliches
Leben geführt hat. Jetzt ist man eher der Meinung, dass sie als junges Mädchen eingetreten ist, da
ihr Werk von einer umfassenden Bildung zeugt, was die meisten Autorinnen des Mittelalters
auszeichnet. Damals war Bildung sehr umfassend und beinhaltet nicht nur geistliche Literatur,
sondern durchaus auch antike weltliche Literatur. Diese Gelehrtenbildung wurde von einer Frau als
extrem hoher Wert angesehen, sie eigentlich den Männern vorbehalten war. Wissenschaftliches
Schreiben und Dichten war eine Einheit. Hrotsvit war der Meinung, dass Dichten selbst nur aus
einer wissenschaftlichen Kenntnis und der Beschäftigung von wissenschaftlichen Werken
entstehen kann - also nicht intuitiv, sondern die Auseinandersetzung mit der damaligen Form des
Wissens als Voraussetzung, was sie in ihren Vorreden immer wieder betont. Sie orientiert sich in
ihrer literarischen Produktion an den lateinischen Dichtern.
Ihr Werk ist aber mehr als nur eine Synthese männlicher Autoren - es ist äußerst komplex. Sie
versteht es vorhandene Räume durch spezifische weibliche Begriffe zu besetzen.
Ihre Werke:
6 Dramen:
1.
Die Bekehrung des Feldherrn Gallcanus
2.
Dulcitus
3.
Die Wiedererweckung der Drusiana und des Calimachus
4.
5.
Fall und Bekehrung der Maria, der Nichte des Eremiten Abraham
Die Bekehrung der Buhlerin Thais
6.
Sapientia
Es sind relativ kurz Dramen und die Forschung hat sich lange überlegt, was man mit diesen im
Kloster gemacht hatte - hat man sie sich angehört, haben andere Nonnen sie gelesen, oder
wurden sie aufgeführt? Eines ist sicher, sie wollte unbedingt, dass ihre Werke aus dem
klösterlichen Umfeld herauskommen. Sie hat es nicht nur für ein weibliches Publikum geschrieben.
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8 Legenden:
1. Die Geschichte von der Geburt und dem
ruhmreichen Lebenswandel
der unbefleckten Mutter Gottes
2. Die Himmelfahrt des Herrn
4. Pelagius
5. Theophilus
6. Basilius
7. Dionysius
3. Gongolf
8. Agnes
Hier orientiert sie sich an der Legenda aurea. Ein Vergleich ist unglaublich aufschlussreich, wenn
man sieht, wie Hrotsvit die Legenden zum Vergleich mit den Legendaren dieser Zeit erzählt - mit
kleinen Wendungen, wie sie die weibliche Sichtweise hineinbringt und perspektiviert.
2 historische Dichtungen:
1. Biografie Kaiser Ottos des Großen: Gesta Ottonis
2. Geschichte des Stifts Gandersheim
Auch diese haben unendlich viel mit Memoria und Selbstverhältnis zutun, denn dass sie sich auch
als Historikerin betätigt, ist überhaupt die Domäne der Männer. Dass sie es wagt, als Frau eine
Biografie des Kaisers zu schreiben, ist sehr mutig. Sie wagt sich also wirklich in Bereiche vor, die
absolute Männerdomänen sind und schafft hier größte Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie
wurde weder als Hexe verteufelt, noch wurde sie auf den Scheiterhaufen geworfen - es gibt keine
einzige negative Stimme über sie von ihren Zeitgenossen und auch darüber hinaus.
Die Werke sind natürlich religiösen Inhalts, was die einzige Form war, um überhaupt gehört zu
werden.
In ihren Dramen entwickelt sie sehr positive Modelle weiblicher Tugendhaftigkeit und Keuschheit.
Aber sie entwirft nicht Modelle, die bei Nichtbefolgung Bestrafung mit sich ziehen würden, sondern
positive Modelle, im Sinne einer sehr freudigen Sichtweise. Alle Protagonistinnen sind willensstark,
redegewandt und standhaft, was sehr stark betont wird. Die männlichen Protagonistinnen sind bis
auf wenige Ausnahmen triebhaft, weniger redegewandt und dumm, was sehr deutlich zu
beobachten ist. Man kann also sagen, dass Hrotsvit Frauenrollen in den Mittelpunkt gestellt hat. Es
sind soziale Tendenzstücke, sie hat eine Sichtweise der Welt entwickelt, die ganz männerzentriert
war. Was sie nun macht, ist, dass sie zumindest eine Frauenzentriertheit hineinbringt, das
allerdings ganz klar im konventionellen Rahmen der damaligen Sichtweise der Geschlechter. Sie
ist durchaus mit dieser Sichtweise auch für die Rechte, das gesehen werden und für das Recht auf
Memoria bei den Frauen eintrat.
Selbstzeugnisse:
Sie hat die Bücher selbst zusammengestellt - sie hat es als Opos verstanden und herausgegeben,
indem sie die Dramen als ein Buch zusammengefasst und dazu eine Vorrede geschrieben hat. Sie
hat zu diesem Buch auch Briefe und Widmungsschreiben hinzugefügt. Weil das Material so teuer
war, gab es immer nur ein Buch, dieses hat sie Otto I. gewidmet. Einige Forscher vermuten, dass
sie deshalb nicht das dritte Gelübde abgelegt hat, um die Geldmittel für die Buchproduktion zu
haben. Aus diesen Begleitbriefen und Widmungen wissen wir, warum sie geschrieben hat. Sie sagt
einiges Über ihre Antriebe und Zielsetzungen ihres Dichtens. Ein Aspekt ist besonders interessant:
das, was sie zum Schreiben bewegt, war nichts anderes als der Wunsch, ihr Talent nicht ungenützt
zu lassen - zum Zwecke des Gotteslobs und der Gottesverherrlichung. Das setzt schon mal ein
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Bewusstsein von Talent voraus. Sie sagt, dass die Quellen auf die Bibel bezogen sind, aber auch
auf apokryphe Quellen und auf die antike Literatur, die als heidnisch galt. Sie sagt, sie habe zwar
diese Texte herangezogen, was sich irgendwann als richtig herausstellen würde, und bittet die
gelehrten Leser um Nachsicht, aber auch um Aufmerksamkeit. Danach folgt die übliche Rhetorik,
wie der Hinweis auf stilistische und metrische Fehler. Sie widmet ihr Werk ganz dezidiert den
gelehrten Lesern (das waren zu dieser Zeit Männer), das heißt, sie will sich ganz elementar mit
ihren männlichen Kollegen auf eine Stufe gestellt wissen - sie will gehört werden.
Ein weiterer Aspekt ist, dass sie ihr weibliches Geschlecht miteinbezieht und dies gleichzeitig als
Begründung ihres Schreibens nimmt. Hrotsvit versteht ihr Dasein als Nonne und Mitglied eines
Frauenklosters als Kraftquelle für ihr Schreiben und betont somit, wie wichtig es für sie ist, ihren
eigenen Bereich und Raum zu haben. Das ist nur möglich innerhalb eines Frauenklosters und in
einer Gemeinschaft, in der Schriftlichkeit vorkommt. Für die Frauen im Mittelalter war das Kloster
ein unglaublicher Schutzraum, der ihnen ermöglicht hat etwas zu tun, was ihnen in der
Öffentlichkeit verwehrt blieb - sich mit der Wissenschaft auseinanderzusetzen und ganz bei sich zu
sein. Fast alle schreibenden Frauen von großer Bedeutung hatten etwas mit Kloster zutun.
Sie schreibt Dramen, die zu dieser Zeit auch Komödien waren und so sind auch ihre zu lesen.
Hrotsvit hat sich vor allem mit den Komödien des Terenz auseinandergesetzt, die manchmal von
recht schlüpfrigen Inhalts sind. Das war ihr durchaus bewusst. Sie sagt, Terenz schreibt so
wunderbar, aber die Inhalte seien sündig. Ihre Aufgabe wäre es nun, genau diesen Missstand zu
beheben, sodass die süße literarische Rede nicht sündig, sondern christlich und moralisch
vertretbar ist. Was sie beabsichtigt, ist eine inhaltliche Widerlegung des Terenz und ein Sieg über
ihn auf seinem eigenen Feld, in Bewusstsein ihrer moralischen Stärke und ihrer christlichen
Position. Die Stärke ihrer Position erreicht sie, indem sie diesen moralischen Anspruch ihrer
Gesellschaft übernimmt. Sie bleibt also vollkommen in diesem Rahmen, sprengt ihn aber insofern,
als sie als Frau ihren Anspruch "ziemlich vermessen" formuliert, auch wenn sie es immer wieder
abschwächt. Die Subversion befindet sich tatsächlich in ihren Selbstaussagen.
Auch die Vorreden zu ihren historischen Werken sind von Bescheidenheitstopoi und
Demutsformen durchsetzt, aber allein die Tatsache, dass sie sich als Frau an eine Biografie des
Kaisers heranwagt, ist schon bahnbrechend genug. Man kann also sagen, dass die Autorin
sämtliche rhetorischen Formen der Bescheidenheit beherrscht, sie aber einsetzt, um ganz deutlich
nicht außerhalb, sondern innerhalb der etablierten männlichen Literaturgeschichte einen Platz zu
finden. Es wäre für Hrotsvit chancenlos gewesen, gegen den männlichen Diskurs anzuschreiben ihre Schriften wären vernichtet und sie weggesperrt geworden. Die einzige Strategie also war,
möglichst in den männlichen Diskurs hineinzugehen und ihn vielleicht sogar überzubetonen, um
dann subtil im Text selbst eine ganz spezifisch weibliche Sichtweise der Dinge zu etablieren.
Die subversiven Elemente befinden sich in den vorkommenden Frauenfiguren:
5. Dulcitius - Exkurs: Geschlecht und Lachen
Dulcitius ist ein Werk, ein Drama, wo ein Aspekt wichtig ist: der Aspekt des Lachens. Ein Lachen,
das zu dieser Zeit weder erlaubt, noch typisch war. Frauen waren in ihren Ausdrucksformen
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extrem eingeschränkt. Sie durften nicht immer auf öffentlichen Plätzen sein, mussten strenge
Kleiderordnungen befolgen, den Blick senken und ihre Stimme dämpfen - sie durften nicht laut
lachen und mussten sich auf ein Lächeln beschränken. Heftiges Lachen wurde nämlich mit
sexueller Lust in Verbindung gebracht.
Leander von Sevilla (540 - 600):
Er sagt folgendes zum Thema Lachen:
ES IST EINE SÜNDE, DASS EINE JUNGFRAU AUSGELASSEN LACHT
1. Zeige, daß du dich an Gott erfreust, aber mit der heiteren und gezügelten Freude des Geistes, wie es der
Apostel empfiehlt ... Diese Freude verwirrt deinen Geist nicht mit dem beschämenden Schauspiel des Lachens,
sondern es löst in deiner Seele Sehnsüchte nach jener himmlischen Ruhe aus, in der du folgendes vernehmen
kannst: Nimm teil an der Freude des Herrn.
2. Beim Lachen zeigt sich normalerweise das Herz einer Jungfrau, denn sie wird nie ausgelassen lachen, wenn
sie ein keusches Herz hat. Das Gesicht ist der Spiegel des Herzens: Nur die Freizügige lacht wie verrückt.
Wovon wir zu viel in unserem Herzen haben, von dem spricht der Mund, sagt der Herr. Und das Lachen, das
sich des Gesichts einer Jungfrau bemächtigt, rührt von der Eitelkeit, die ihre Seele erfüllt.
3. Höre, was wir darüber lesen können: Das Lachen betrachte ich als Verrücktheit, und ich sagte zur Freude:
Warum betrügst du dich vergeblich?
4. Fliehe vor dem Lachen, Schwester, wie vor einer Verrücktheit, und verwandle die Freuden des Jahrhunderts
in Weinen, damit du erlöst wirst, denn du beweinst deine Verbannung auf dieser Welt, und die, die weinen, sind
glücklich und werden Trost finden.
Das ist die Atmosphäre, die auch noch zu Zeiten Hrotsvit bestand. Wenn man nun vor diesem
Hintergrund ihre Dramen ist, so merkt man, dass sie von einem eigenwilligen Humor durchdrungen
sind, auf den sie selbst in ihrer Vorrede eingeht, und als Grund dafür anführt, dass sie zunächst
heimlich schreibt:
... als es mir zu Beginn meiner Arbeit an Kraft fehlte und Sicherheit; war ich weder reif genug an Jahren, noch in
der Wissenschaft erfahren, auch wagte ich es nicht, ratsuchend meinen Plan vorzulegen den Gelehrten, damit
sie mir nicht wegen meines Späßemachens weiteres Schreiben verwehrten. So begann ich geheim und
verstohlen bald zu dichten, bald Misslungenes wieder zu vernichten, um mühte mich in hartem Ringen, einen
Text, sei er auch nur von kleinstem Nutzen, zustandezubringen. Aus der „Vorrede zu den Legenden“
Inhalt:
Im Dulcitius werden drei Schwestern mit den Namen Agape, Chionia und Irene vom
Christenverfolger Diocletian aufgefordert, sich wegen künftiger Verheiratung loszusagen. Die
Schwestern verweigern diesen Glaubensabfall vom Christentum und auch die Ehe und werden
vom Kaiser Diocletian als eigensinnig und starrköpfig bescholten und dem Gericht des Stadthalters
übergeben. Dulcitius weist seine Soldaten an, die Schwestern in den Innenraum des
Küchenhauses zu bringen, wo in einer daran anschließenden Kammer die Diener das
Küchengeschirr aufbewahren. Er hat natürlich die Absicht alle drei zu vergewaltigen und lässt sie
deshalb nicht ins Gefängnis einsperren, sondern in der Küche. Er weist seine Wächter an, vor der
Küchenhaus zu warten. Man hört die drei Jungfrauen Hymnen singen. Dulcitius will daraufhin
hinein, um sie zu vergewaltigen, doch durch eine göttliche Fügung wird ihm der Verstand verwirrt
und er fängt mit dem Küchengeschirr eine erotische Beziehung an, da er es für die Frauen hält.
Durch eine Ritze beobachten die drei Frauen das Spektakel und lachen. Dulcitius wird vollkommen
mit Ruß verschmutzt und verlässt das Haus, woraufhin seine Torwächter ihn nicht erkennen. Er
geht zu seiner Frau, die ihn fragt, was los ist und er kommt darauf, dass er offensichtlich durch
Zauberei so weit getrieben wurde. Die Rache ist natürlich fürchterlich. Er will sie nackt auf die
Straße treiben, die Kleider aber fallen von den Jungfrauen nicht ab. Als sie die Mädchen
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verbrennen sollen, funktioniert das ebenfalls nicht. Daraufhin werden zwei von den Frauen auf den
Berg Sinai entführt und werden zu heiligen Körpern und werden gerettet, indem sie in den Himmel
aufsteigen. Die Wächter werden nochmal lächerlich gemacht, da sie unbedingt den Berg erreichen
wollen, was ihnen aber auch nicht gelingen will. Sie schießen einen Pfeil ab, der abprallt und sie
selbst trifft. Somit sind die Männer als kämpfende Männer völlig lächerlich gemacht worden, da
quasi nichts funktioniert.
Abgesehen von der klassischen Legendenerzählung ist die Szene in der Küche:
Agape: Wer lärmt vor der Tür?
Irene: Der unselige Dulcitius kommt herein.
Chionia: Gott möge uns schützen.
Agape: Amen.
Chionia: Was soll dieses Zusammenschlagen der Töpfe, Kessel und Pfannen (collisio ollarum, caccaborum
et sarta-ginum) bedeuten?
Irene: Ich sehe nach. Kommt doch heran, bitte, schaut durch die Ritzen!
Agape: Was gibt’s?
Irene: Seht nur, dieser Dummkopf, der den Verstand verlor (stultus, mente alienatus), er glaubt, er läge in
unseren Armen.
Agape: Was macht er denn?
Irene: Jetzt wärmt er die Töpfe im weichen Schoß, jetzt umarmt er Pfannen und Kessel, er gibt ihnen milde
Küsse.
Chionia: Es ist Lachen erregend. (Nunc alias mollifovet gremio, nunc sartagines et caccabos amplecitur, mitia
libans oscula. Ridiculum.)
Irene: Sein Gesicht, die Hände und seine Kleidung sind so befleckt und so mit Schmutz bedeckt, daß die
Schwärze, die sich an ihm zeigt, der eines Mohren gleicht (ut nigredo, quae inhaesit, similitudinem Aethiopis
exprimat).
Agape: Recht so, daß er sich im Äußeren so stellt, wie sein Geist vom Teufel besessen ist (qualis a diabolo
possidetur in mente)."
Offensichtlich werden die Jungfrauen in diesem Stück von Gott geschützt, gleichzeitig aber zum
Verlachen des Vergewaltigers verführt. Der Blick durch die Ritzen ist im eigentlichen Sinn kein
voyeuristischer Blick, da Dulcitius eben gerade nicht ein Objekt der Begierde darstellt. Er wird
durch den Blick der Frauen in seiner geschwärzten Körperlichkeit als Vertreter der weltlich
heidnischen Macht desavouiert, gleichzeitig wird seine Sexualität und seine männliche
Triebhaftigkeit als fehlgesteuert und lächerlich abgetan und verlacht. Man kann hier radikal
andenken, dass Jungfräulichkeit ein Aspekt weiblicher Sexualität sein kann und nicht weiblicher
Nicht-Sexualität. Die männliche Sexualität wird nicht nur lächerlich, sondern auch öffentlich
gemacht, denn er wird sogar von seinen männlichen Kollegen ausgelacht. Die intendierten Opfer
des Dulcitius werden in dieser Szene, und das ist das Entscheidende, vorübergehend zum Subjekt
der Szene, die vor des Teufels Küche spielt. Dieses sehende Objekt stellt das Ebenbild des
allmächtigen Gottes dar, der alles sehen kann, aber selbst nicht zu sehen ist. Das stellt die drei
Jungfrauen tatsächlich auf eine sehr hohe Ebene. Die Frauen sind für einen Augenblick mächtiger
als des Teufels Koch, sogar mächtiger als der Teufel selbst, der wehrlos nicht nur allein seiner
sexuellen Gier, sondern auch den Blicken der Frauen ausgeliefert ist.
Die Szene ist beispiellos, es gibt keine Vorlage in ihren Quellen, die sie hätte heranziehen können.
Das heißt, die Definitionsmacht des einseitigen männlichen Blicks, der oft in die Gewalt der
Berührung übergeht, wird durch die Macht der Schwestern ausgerufen. Die Macht des männlichen
Blicks ist vorübergehend an die lachenden Frauen übergegangen. Das heißt also, das laute
Lachen der Frauen triumphiert über diese Geschichte, was erneut subversiv ist, da bewusst nicht
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vom Lächeln die Rede ist. Die metaphysische Instanz des Bösen, das von Dulcitius verkörpert
wird, wird von der Gegeninstanz, dem wunderwirkenden Gott und den Frauen, ins Lächerliche
gezogen.
Zusammenfassung: Im Dulcitius stehen drei Männer, die heidnisch, gierig und gewalttätig sind, drei
christlichen, starken, klugen und schönen Frauen gegenüber. Die männliche Welt konnotiert mit
Heidentum, die weibliche Welt wird christlich aufgewertet. Ehe wird negativ gesehen, zumindest vn
den drei Jungfrauen. Ehe wird bei Hrotsvits Drama als der Zugriff der Männer auf den weiblichen
Körper verstanden, dem die drei Frauen nicht nachgeben wollen. In diesem Stück ist der Zugriff
ein zerstörender, vergewaltigender. Wichtig ist, dass der Körper der Frau bewahrt ist, dass
Sexualität männlich konnotiert ist und diese männliche Sexualität und die Begehrlichkeit lächerlich
gemacht wird. Auch wenn hier die Männer die Heiden sind, ist es doch so, dass hier Männlichkeit
ganz allgemein behandelt wird. Wir haben hier eine Stimme einer Frau, die sich tatsächlich traut,
Männlichkeit und männliche Sexualität lächerlich zu machen, auch wenn sie es ganz geschickt mit
einer Handlung absichert.
Exkurs: Das Lachen der Frauen und die Macht:
Im europäischen Mittelalter das wurde das Lachen von Frauen und Männern und deren
gesellschaftlichen Bedeutung sowie deren Bedeutung für die Genderrollen kontrovers diskutiert.
Es ist ein affektiver Bereich, der Symbole auf unterschiedliche Bedeutungen erzeugt, je nachdem,
ob das Lachen von Männern oder von Frauen stammt. Wie überprüft man dieses Lachen? Wer
lacht in den Texten? Als LiteraturwissenschaftlerInnen bedient man sich hierbei an den
literarischen Figuren, die zur Verfügung stehen. Bei Hrotsvit kann man feststellen, dass ihre Texte
voll Ironie sind und sehr ironisch aufgeladen sind. Dieser Humor ist in viele Richtungen
ausdifferenziert. Er ist nicht nur komisch, sondern grotesk übertrieben und grausam. Dieser
Humor hat die Funktion letztendlich die Frauen in der Hierarchie einer Position der Macht
zuzusprechen und sie in der Hierarchie über die Männer zu stellen. Der Humor ist so, dass es
positiven Frauenfiguren möglich ist, auch über den Kaiser zu lachen, was eigentlich ein Tabu ist.
Das Lachen ist eindeutig ein Mittel der Macht, das immer wieder eingesetzt wird.
Helga Kotthoff: “Das Gelächter der Geschlechter“ (1996/2001):
Auch hier ist der Befund eindeutig, dass tatsächlich das exzessive Lachen von Frauen heutzutage
zwar nicht tabuisiert wird, aber eher ein negatives Bild auf Frauen wirft, während das exzessive
männliche Lachen anders begriffen wird. Man kann sagen, dass freies Lachen von Frauen sehr
stark als Übertretung aufgefasst und oft sexuell konnotiert ist.
Wenn man Hrotsvits Texte betrachtet, macht sie genau das Gegenteil: Sie macht das Lachen der
Frau nicht zu etwas Negativen, sie folgt also insofern nicht dem patriarchalen Diskurs, sondern
macht es zu einem Mittel der Macht.
6. Fall und Bekehrung der Maria, der Nichte des Eremiten Abraham:
Dieser Text funktioniert ganz anders, als Dulcitius.
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Inhalt:
Abraham ist ein Stück, das nicht nur gewagte Inhalte behandelt, sondern auch in der
Perspektivierung ziemlich ungewöhnlich ist, da es aus einer weiblichen Innenperspektive heraus
funktioniert. Das ist etwas, das generell nicht üblich in der damaligen Zeit war - es gibt kaum
Beispiele wo aus einer männlichen Innenperspektive heraus agiert wird. Es gibt zwei
Hauptpersonen: den Eremiten Abraham und seine Nichte Maria.
Abraham und sein Mitbauer Ephrem beschließen die 8-jährige Nichte vor dem männlichen Zugriff
zu bewahren - gemeint sind vor allem die Heiden - und ihre Jungfräulichkeit zu bewahren.
Abraham spricht mit Maria und sie stimmt zu. Daraufhin verbringt sie 20 Jahre in einer Klause.
Eines Tages kommt ein als Mönch verkleideter Mann, der ein Zuhälter ist, dorthin und es gelingt
ihm Maria zu entführen und in ein Bordell zu bringen. Sie wird auch von ihm verführt und sie wählt
dieses Leben im Bordell letztendlich freiwillig, weil sie sich in ihn verliebt hat. Abraham bemerkt ihr
Verschwinden und hört, dass sie sich dort befindet. Er verkleidet sich als Ritter, begibt sich in das
Bordell und verlangt nach Maria. Er gibt sich zu erkennen und erinnert sie an ihr früheres Leben.
Maria bricht zusammen und will wieder zurück. Sie bespricht mit ihm, was sie dafür tun müsse. Er
erklärt ihr, dass sie bereuen müsse. Sie verlässt daraufhin mit Abraham das Bordell und verbringt
ihr Leben in Einsamkeit und schwerer Buße.
Interessant sind hier die Augenblicke des inneren Umbruchs Marias, die immer aus der inneren
Perspektive beschrieben werden. Sie ist nicht eine Getriebene, sondern ihre Handlungen basieren
aus dem Inneren. Wichtig ist, dass in der Szene, wo Abraham Maria ihm Bordell trifft, die
Erinnerung sie zurückbringt. Eines der Hauptthemen ist nicht nur Bekehrung einer Sündigen,
sondern das Sich-Bekehren aufgrund der eigenen Memoria. Die Erinnerung erweist sich hier in
diesem Stück als vitale positive Kraft, die den Menschen vor dem Selbstverlust bewahrt.
Eine weitere Motivation des Schreiben lässt sich hier herauslesen: Schreiben, um sich selbst nicht
zu verlieren. Das ist ein sehr moderner Gedanke, den man durchaus zulassen kann, wenn man
an Hrotsvit denkt.
Erstaunlich sind hier die Männerrollen, da sie unsichere Rollen sind - es sind die Männer, die sich
verkleiden: ein Verführer, der sich als Mönch verkleidet und einen Eremiten, der sich als Freier
gebärdet. Allein die Tatsache, dass hier derartige Männerollen möglich sind, spricht für das
subversive Potential der Hrotsvit. Es ist ein literarischer Topos bei Hrotsvit, der hier sehr deutlich
formuliert ist, dass Mönche die lüsternsten Männer sind.
Zusammenfassung:
Verglichen mit Dulcitius wird in Abraham ein umgekehrter Weg des weiblichen Weges zu Gott
gezeigt. In der ersten Phase der Handlung entscheidet sich die Frau gegen den Willen des
christlichen Mannes und somit auch gegen die Ehe und für ein Eremitenleben. Dann kommt der
christliche Mann, ihr Onkel Abraham, gegen den sie sich wieder entscheidet, weil sie ihr Leben als
Prostituierte fristet, kommt aber dann wieder zurück, allerdings nicht, weil er sie holt, sondern weil
sie sich an einen Zustand ihres Körpers und ihrer Seele erinnert, der ihr erstrebenswerter
erscheint. Im Abraham gibt es auch Männer, die nicht heidnisch und gewalttätig sind, sondern
christlich und gebildet. Man muss aber sagen, dass hier ein Verhältnis auf Augenhöhe passiert.
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Abraham und seine Nichte werden tatsächlich als ein Paar auf Augenhöhe bezeichnet, er hat keine
große Moralpredigt im Sinn, sondern es geht um den inneren Antrieb. In beiden Dramen ist es aber
so, dass Ironie und Humor eine große Rolle spielen.
8. Vorlesung
10. Dezember 2015
Marie de France: „Die Lais“
Wir machen nun einen großen Schritt in das 12. Jahrhundert - zu einer Autorin, die in der
Volkssprache auf Französisch geschrieben hat: Marie de France. Eine Autorin, die schon in der
höfischen Zeit ihre Stimme erhoben hat:
Wem Gott Wissen und Beredsamkeit gegeben hat, darf das nicht verschweigen und verheimlichen, sondern
muß sich bereitwillig hervortun. Die Lais, »Prologue«, 1-4.
Diese Begründung für das Verfassen eines Werkes ist in diesem zitierten Prolog nicht ohne
Brisanz, da diese Rechtfertigung aus der Feder einer Frau stammt. Man sieht, dass hier ganz
bewusst allgemein gesprochen wird, es wird also nicht zwischen Männern und Frauen getrennt.
Man erkennt hier, dass Marie de France durchaus selbstbewusst agiert, auch wenn diese
Begründung für das Verfassen zunächst einmal klingt wie eine typische Begründung, der man
auch bei männlichen Autoren begegnet. Dieses Selbstbewusstsein begegnet uns auch im
nächstem Zitat:
Ich werde meinen Namen nennen, damit man sich an mich erinnert: Maria heiße ich, ich stamme aus
Frankreich. Mag sein, daß viele Schriftsteller behaupten werden, mein Werk sei das ihre. Aber ich will nicht, daß
irgendeiner es ihnen zuschreibt. Der handelt nämlich falsch, der nicht an sich selbst denkt. Äsop, »Epilogus«,
3-8.
Was in diesem Zitat unmissverständlich ausgesprochen wird ist ihr Insistieren auf die
Autorinnenschaft und sie legt auch Wert auf Nachruf, erhebt also Anspruch auf Memoria. So wie
ihr Selbstbewusstsein, so sind auch ihre Motive ungewöhnlich, die sie für ihr Dichten nennt:
»Wer dem Laster Widerstand leisten will, muß studieren und danach streben, ein schwieriges Werk zu
beginnen, denn dadurch kann man sich eher davon fernhalten und sich von einem großen Schmerz befreien.
Die Lais, »Prologue«, 23-27.
Laster bedeutet hier ganz allgemein "schlechtes Leben" Marie de France betont hier Schreiben als
eine Art Lebensstrategie/-entwurf. Müßiggang wäre beispielsweise so ein Laster. Schreiben ist
somit gegen jede Form schlechten Lebens gerichtet.
Was wissen wir nun über dieses Individuum, das hier spricht?
Nahezu nichts, was sie aber nicht von den männlichen Autoren dieser Zeit unterscheidet - auch
von diesen wissen wir nur sehr wenig. Das einzige, was man mit Sicherheit über sie weiß, ist, dass
sie zur Zeit Heinrich II. (1133 - 1189) lebte, einem der wichtigsten Förderer französischer und
lateinischer und höfischer Literatur. Auch am englischen Hofe wurde französisch gesprochen - eine
lange Tradition. König Heinrich II. ist deshalb auch als jemand festzumachen, der ein Zeitgenosse
Marie de France war, weil sie ihm wahrscheinlich eine Werkgruppe gewidmet hat.
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Das Anglonormannische:
Die anglonormannische Sprache (franceis, fraunceis oder romanz) ist eine romanische Sprache, die die
normannische Oberschicht nach der Eroberung Englands im Jahre 1066 aus Frankreich mitbrachte. Sie
unterschied sich von Anfang an von der Sprache der Île-de-France. Nach der Trennung zwischen den britischen
Inseln und der Normandie im frühen 13. Jahrhundert entfernte sich das Anglonormannische weiter vom
festländischen Französisch, was z. B. in Geoffrey Chaucers Beschreibung der Prioresse im Prolog der
Canterbury Tales zum Ausdruck kommt:
And Frensh she spak ful faire and fetisly
After the scole of Stratford atte Bowe
For Frensh of Paris was to hire unknowe (124 – 126).
Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts blieb Anglonormannisch (neben Latein) Sprache des englischen Hofs, der
Verwaltung und Justiz. In der Literatur wurde es seit Mitte des 13. Jahrhunderts vom Mittelenglischen abgelöst.
Eine Sprache der Oberschicht, der Adligen, aber auch eine der Literatur - neben dem Lateinischen.
Erst in der Mitte des 13. Jhdts. hat man in Britannien dann in Mittelenglisch gedichtet.
1. Ihre Werke:
1. Ysop (Sammlung von 102 Fabeln): die sie wahrscheinlich auf der Basis einer lateinischen
Vorlage gedichtet hat. Sie hat damit die volkssprachliche Ysoptradition eingeleitet.
2. Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii: Eine Fegefeuerexpedition eines irischen Ritters,
gestützt auf einen lateinischen Bericht. Marie de France hat hier eine Verifizierung des
Prosatextes durchgeführt und auch wiederum deutlich gemacht, dass sie auch kanonische
Texte angehen kann.
3. Die Lais (12 kurze Verserzählungen): man könnte hier fast schon von Novellenstrukturen
sprechen. Diese 12 beschäftigen sich mit keltischen Sagenstoffen, die wichtig für die Literatur
dieser Zeit waren. Die keltischen Sagenstoffe waren die modernsten Stoffe für
Literaturproduktion überhaupt.
• Guigemar oder Guingamor
• Equitan
• Le Fresne ('Die Esche')
• Bisclarvet
• Lanval
• Les deus amanz ('Die beiden Liebenden')
• Yonec
• Laüstic
• Milun
• Chaitivel
• Chievrefeuil (=Geißblatt)
• Elidu
Man hat in der Forschung immer wieder versucht mehr über Marie de France herauszufinden und
es gibt einige Indizien darauf, dass sie mit der Äbtissin Mary von Shaftesbury, eine Halbschwester
Heinrich II. und eine illegitime Tochter Graf Gottfried IV. von Anjou, gleichzusetzen ist. Wenn sie
aus diesem Königshaus stammt, so würde sie zum höchsten Adel gehören, was ihre umfassende
Ausbildung, die in ihren Werken erkennbar sind, erklären würde. Wir wissen auch, dass sie sehr
mit dem zeitgenössischen Gerichtswesen vertraut war, auch dem Kirchenrecht, was wiederum auf
eine weltliche Karriere schließen würde. Sie hat teilweise die Themen sehr frei verhandelt, vor
allem im Zusammenhang mit Liebesfragen. Das würde wiederum dafür sprechen, dass sie am
Hofe aufgewachsen ist. Wir können uns aber nur auf ihr schriftstellerisches Programm verlassen:
Deshalb dachte ich zuerst daran, irgendeine gute Geschichte zu verfassen und sie vom Lateinischen ins
Französische zu übertragen; aber das würde mir kaum Anerkennung einbringen: So viele andere haben sich
schon das zur Aufgabe gemacht! Ich dachte an die Lais, die ich gehört hatte. Ich hegte keinen Zweifel daran, ja
ich wußte es wohl, daß diejenigen, die sie zuerst begannen und die sie weiterverbreiteten, sie zur Erinnerung
an die abenteuerlichen Geschehnisse verfertigten, die sie vernommen hatten. Mehrere davon habe ich erzählen
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hören und ich will sie nicht auf sich beruhen lassen und vergessen. Ich habe einige davon in Reime gefaßt und
eine Dichtung daraus gemacht, oftmals bin ich deshalb wach geblieben. Die Lais, »Prolog, 28-42.
Sie reflektiert über ihre Beweggründe des Schreibens, und welche Stoffe dafür geeignet wären.
Die mittelalterliche Literatur muss sich immer auf bestimmte Stoffe berufen. Es gibt keine
Schöpfung allein aus einem Genie oder einem Gedächtnis heraus, sondern man berief sich auf
bereits vorhandene Geschichten und hat diese literarisiert. Es geht hier um eine mündliche
Literatur, die nicht immer schon verschriftlicht war. Sie stellt sich in eine historische Erzähltradition
und übernimmt einen Gestus, den wir beim berühmten Erfinder des Artusromans Chrétien de
Troyes finden: sie sagt, dass sie mündliche Erzählungen aufgreift und in Dichtung bringt, damit sie
nicht vergessen wird.
Die Form der Lais ist ähnlich der gebundenen Rede, sie verwendet 8-silbige Paarreime, in der sie
die Geschichte verfasst.
Sie will die mündliche Poesie verschriftlichen und damit die bessere Bewahrbarkeit gewährleisten.
Matière de Bretagne - keltische Sagenstoffe:
Hier gab es vor ihrer Zeit zwei wichtige männliche Autoren: Geoffrey von Monmouth und Wace,
das sind jene zwei Autoren, die als erstes die mittelalterliche keltische Sagentradition - vor allem
die Artusgeschichte - verschriftlicht haben, wobei sie es eher als Chronik des britannischen Volkes
und Erzählguts aufgefasst haben. All das wurde also nicht als Fantasie, sondern als tatsächliche
Ereignisse in heroischer Vorzeit bezeichnet. Chrétien de Troyes ist derjenige, der einen Schritt hin
zur halbfiktionalen Erzählweise durchgeführt hat, indem er gesagt hat, dass der Sinn der
Geschichte weniger in der historischen Wahrheit, als in dem moralischen und idealen Gehalt, der
in dieser Geschichte von König Artus uns der Tafelrunde steckt.
Marie de France macht mit ihrer Lais noch eine andere Wendung, weil sie die Stoffe in gewisser
Weise in eine andere Sichtweise umkehrt. Sowohl bei Geoffrey von Monmouth, als auch bei Wace
und Chrétien de Troyes sind die Geschichten sehr männerbezogen - es geht also vor allem um die
ritterliche Bekehrung, um Kampf und um heroische Bewährung - was bei Marie de France nicht so
ist. Sie errichtet mit ihren Geschichten einen ganz eigenen poetischen Raum, wo vor allem die
Frauen im Mittelpunkt der Geschehnisse liegen, auch wenn sie nicht titelgebend sind.
2. Minnekultur des Mittelalters:
Sie entwickelt und betont noch deutlicher als Chrétien de Troyes die Minnekultur der höfischen
Gesellschaft und die Frage der Liebe in diesen Texten. Das hat mit der Minnekultur des Mittelalter
zutun, die in Frankreich früher an den Höfen gepflegt wurde. An den französischen Höfen wurde
so etwas wie ein Gesellschaftsspiel betrieben, das zum Thema die höfische Liebe hatte. Dichtung
und Gesellschaftsspiel wurden miteinander verknüpft. An den hochadligen Höfen wurde über Liebe
diskutiert, es wurden Liebesgedichte vorgetragen, es fand Minnereflektionen statt, es wurden
Traktate vorgelesen. Liebe wurde nach allen Richtungen auf ihren Gehalt hin befragt, es wurde die
psychische Befindlichkeit der Liebe analysiert, es wurde gefragt welchen Stellenwert die Liebe in
der Gesellschaft hat, es wurde über das Rechteverhalten in der Liebe resümiert und dieses Spiel
wurde sehr ernst genommen - es war DAS dominante Thema des höfischen Adels.
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Warum hat gerade das Liebesthema einen derartigen „Boom“ ab dem 12. Jhdt. erlebt? Denn
letztendlich war die Gesellschaft, zumindest was die Realität anbelangt, längst nicht soweit. Die
Gründe dafür liegen wahrscheinlich in der adligen Praxis selbst, vor allem in der adligen
Eheschließungspraxis, denn die adligen Ehen waren keinesfalls Liebesehen, sondern zu 95%
arrangiert - Liebe spielte kaum eine Rolle und Sexualität wenn überhaupt nur als Form der
Fortpflanzung. Vor- und außereheliche Sexualbeziehungen von Männern waren Gang und Gäbe
und auch selbstverständlich. Zumeist waren diese zu niedergestellten Frauen. Liebe und Ehe
waren an sich unvereinbar, was auch die Liebeslehre („De Amore“) von Andreas Capellanus
besagt. Diese besagt, dass wahre Liebe in der Ehe nicht möglich ist. Wenn nicht in der Ehe, wo
dann? Die Antwort darauf ist: nur in außerehelichen Beziehungen. Das war vor allem für Frauen
äußerst gefährlich, da außereheliche Beziehungen von Frauen wesentlich strenger verurteilt
wurden, als die von Männern.
Ein berühmter Roman, der diese Thematik deutlich aufgreift ist der Roman Tristan und Isolde.
Diese Liebesgeschichte hat keltischen Ursprung. Auch der Artusstoff ist nicht ganz frei von dieser
Form des Ehebruchs, wenn man an Artus’ Frau Guinevere und ihr Liebesverhältnis zu Lanzelot
denkt. Diese Liebeskultur ist aufgrund von realen Bedingungen entstanden. Jetzt könnte man
fragen, warum die Männer der höfischen Gesellschaft so ein großes Interesse gehabt haben sollen
Liebe zu diskutieren? Es ist zu vermuten, dass es vor allem die adligen Frauen waren, die ein
großes Interesse an diesem Thema hatten und die auch eine wichtige Funktion im mittelalterlichen
Literaturbetrieb hatten. Adlige Frauen waren wichtige Mäzeninnen. Drei davon sind:
• Ermengarde von Narbonne
• Eleonire von Aquitanien
• Marie de Champagne
Diese Frauen sind erwiesenermaßen große Förderinnen der höfischen Literatur und der höfischen
Liebe.
Frauen waren in ihren Ausrichtungen auf ein Liebesobjekt, egal ob nur auf einer emotionalen
Ebene oder auf einer körperlichen Ebene, sehr eingeschränkt. Wir wissen, dass sie hart bestraft
wurden, teilweise auch mit dem Tod, wenn der Ehebruch aufgedeckt wurde - zumeist vom
Ehemann, der das in dieser männlich-dominierten Welt als enorme Kränkung aufgefasst hat.
Wurde der Mann dabei erwischt, musste er sich zwar einem Gerichtsprozess stellen, aber zumeist
freigesprochen.
Man kann sagen, dass es sehr viel Rollenspiel war. Wenn so ein Gesellschaftsspiel stattgefunden
hat, so hat ein Minnesänger oder Troubadour ein Lied vorgetragen, das anders war, als wir es im
deutschsprachigen Bereich gewohnt sind, durchaus direkt an eine Dame gerichtet. Sehr oft ist er
als Liebender aufgetreten und hat eine Art Dreiecksverhältnis inszeniert oder provoziert. Das heißt
also, dass für dieses Rollenspiel auch höfische Liebesdichtung sehr stark rhetorischen Mustern
unterworfen war - es gab also großes Interesse an der Kunstfertigkeit.
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Ein dominantes Genre in den höfischen Spielen war zB das inszenierte Streitgespräch mit
sogenannten Nonsensfragen („Ist es dir lieber, es im Winter warm zu haben, als im Sommer eine
Geliebte?“ oder „Ist der Pfarrer der bessere Liebhaber oder der Ritter?“). Es sind spielerische
Elemente - Frauen und Männer übernahmen die Rolle der einen oder anderen Position, und es
wurde ein Streitgespräch geführt, wo es gar nicht so sehr um die Lösung ging.
Es ging um das Besprechen der Liebe. Es war eine Kultur, die genau dieses Gefühl präsent
gehalten hat und dafür gab es Möglichkeiten des Ausdrucks - bis hin zur Parodie und zum Spott,
aber auch zu sentimentalen und schönen Liebesgedichten.
Innerhalb dieser höfischen Kultur hat Marie der France einen eigenen individuellen Klang, da sie
die Liebe - und das ist ungewöhnlich - aus der Sicht einer Frau darstellte, die diese Liebeskultur
nicht teilt und sich über die feudale Heiratspolitik und die frauenfeindliche Doppelmoral empört. Sie
nimmt tatsächlich auch realistische Gegebenheiten auf und kritisiert sie. Marie de France sagt
selbst einmal, wie es kommt, dass eine Frau nicht frei wählen darf, während andererseits
rüpelhafte Höflinge sich leichtfertig durch die ganze Welt hindurch vergnügen und dann damit
prahlen. Sie spricht die sexuelle Unterdrückung der Frau mit ungewohnter Offenheit aus und
bezeichnet das als Doppelmoral.
3. Yonec:
Eine junge Frau wird von ihren Eltern an einen sehr alten Mann verheiratet, der deshalb heiraten
will, um Erben zu zeugen. Dieser eifersüchtige Alte sperrt sie in einen Turm, weil er verhindern will,
dass seine junge schöne Frau sich mit anderen Männern vergnügen will. In diesem Turm ist sie
dann eingesperrt und wird von der alten Schwester ihres alten Mannes bewacht und ist von den
Menschen isoliert. Sie wird krank vor Kummer und entstellt und bejammert ihr Unglück:
Mein Schicksal ist sehr hart! In diesem Turm bin ich gefangen, nie werde ich da herauskommen, es sei denn
durch den Tod. Dieser eifersüchtige Alte, wovor fürchtet er sich, daß er mich in so strenger Haft hält? Er ist so
überaus töricht und dumm! ... Verflucht seien meine Eltern und all die anderen, die mich diesem Eifersüchtigen
zur Frau gaben. Die Lais, »Yonec«, 68-83.
Sie verflucht ihr Schicksal, aber Gott selbst erhört ihr Gebet und schickt ihr auf märchenhafte
Weise einen Geliebten. Dieser kommt immer dann, wenn sie ihn herbeisehnt. Es ist so etwas wie
eine Utopie, die durch die höchste Instanz legitimiert wird. Sie privilegiert die weibliche Fantasie,
die Fähigkeit sich in andere Räume, Zusammenhänge und Lebensformen hineinzudenken. Damit
schafft sie einen Sehnsuchtsraum, der nicht in der Kemenate der einzelnen Frau bleibt, sondern
durchaus an die Öffentlichkeit des Hofes tritt. Denn wir wissen aus Rezeptionszeugnissen, dass
ihre Dichtungen großen Erfolg hatten und an den Höfen vorgetragen wurden.
Ein weiterer Aspekt ihrer Sichtungen ist, dass sie zwar ein Mitglied des höchsten Adels ist, aber die
extreme Schwarzweißmalerei nicht mitmacht, was die Stände anbelangt. Die Liebeskultur des
Adels war höchst elitär, so sehr, dass sie für sich behauptet haben, dass nur Adelige lieben
könnten - Bauern wären zu grob dafür. Die Bauern wurden in den höfischen Dichtungen immer
wieder diskriminiert.
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Marie de France wiederum hat einen Blick auf den Adel, den man durchaus als kritisch bezeichnen
kann. Sie sagt, dass die Artuswelt keinesfalls ein Ort der Vollkommenheit ist. Sie äußert das Recht
der Frauen und kritisiert den Hof und die Gepflogenheiten des Adels. Wie ist das überhaupt
möglich? Wie kommt sie durch die männliche Zäsur? Sie macht das mit einem literarischen Trick,
indem sie diese Hofkritik in ein märchenhaftes Gewand kleidet. Sie ist diejenige, die in gewisser
Weise den fiktionalen Raum der Literatur nutzt, um Aussagen zu treffen, für die sie in der Realität
belangt werden kann. Sie kann sich immer darauf beziehen, dass sie sich letztendlich im Raum
der Literatur bewegt. Dass sie diesen Raum der Literatur trotzdem als einen Art Echoraum für die
Realität begreift sehen wir an einem Beispiel, wo sie die Erzählung vom Wolf und Lamm als
Aussage für die Gerichtsbarkeit der Herrschenden deutet:
So nahm der Wolf das kleine Lamm, erwürgte es zwischen seinen Zähnen und brachte es um. Das tun auch die
hochgestellten Räuber, die Vizegrafen und Richter mit denen, die sie unter ihrer Gerichtsbarkeit haben. Aus
Habgier finden sie eine falsche Anklage, die ausreicht, um sie zu Grunde zu richten; oft lassen sie sie zu
Gericht zusammenrufen: sie nehmen ihnen ihr Fleisch und ihre Haut, so wie es der Wolf dem Lamm tat. Äsop,
11, 29-38.
Sie drückt sich hier ganz klar aus, wenn auch als Kommentar zu der Fabel. Wenn man das Lamm
als Frau bezeichnet ist es auch durchaus eine Anspielung auf Prozesse gegen Frauen, die nicht
sehr oft für die Frauen ausgegangen sind, da Gerichtsbarkeit ausschließlich in männlicher Hand
war. Marie de France war erstaunlich „sozial“ gestimmt, denn in einer weiteren Fabel sagt sie
etwas über die Armen und Nicht-Adligen: sie sagt, dass auch diese ein Widerstandrecht, sogar
eine Widerstandspflicht hätten. Sie hat ihren Zorn und ihre Hoffnungen in poetisch schöne Bilder
eingekleidet. Diese Bilder wirken wie Traumbilder, sie bleiben geheimnisvoll, sind aber trotzdem
unmittelbar verständlich.
Die Märchen, die Marie de France entwirft, sind tatsächlich ein Gegenentwurf zu der Welt, in der
sie sich befindet und sie sind Utopien. Die Gattung der Utopie war zu dieser Zeit noch nicht
vorhanden. Sie entwirft sozusagen etwas, was wir dann ganz konkret bei einer Frau aus dem 14.
Jahrhundert haben: Christine de Pizon, die mit ihrer „Stadt der Frauen“ tatsächlich so etwas wie
ein utopisches Frauenreich entwirft.
Es sind magische Momente, die die Protagonistinnen aus misslichen Situationen herausheben,
aber im Magischen bleiben, ähnlich wie bei dem vorigen Beispiel von der Frau, die von ihrem
Gatten in den Turm gesperrt wurde. Es wird ein Geliebter geschickt, aber niemand kann das
sehen, weil es im utopischen Bereich bleibt. Auch grelle Effekte werden gewissermaßen aufgelöst,
was ihre Poetik von ihren männlichen Zeitgenossen unterscheidet. Dennoch wirken ihre
Metaphern bei aller Kritik spielerisch leicht. Die Metapherngenauigkeit ist da, sie ist sehr präzise sie sind einerseits undeutlich, andererseits aber auch sehr klar. Was dahinter steckt ist
künstlerische Präzisionsarbeit. Ihre Texte sind sehr genau und präzise gebaut, was etwas ist, dass
sie durchaus weiß und mit Selbstbewusstsein formuliert:
Dichter, die
sich in den Büchern, die sie einst verfaßten, recht dunkel ausdrückten, damit diejenigen, die nach ihnen
kommen und die Bücher studieren sollten, deren Text auszudeuten und vermöge ihres eigenen Verstandes das
über den Text Hinausgehende hinzu zufügen vermochten. Die Philosophen wußten und verstanden es aus sich
selbst heraus, daß die Menschen, je weiter die Zeit fortschreiten würde, einen umso feinsinnigeren Verstand
bekämen und sich desto mehr davor zu hüten vermochten, das zu übergehen, was in den Büchern stand. Lais,
»Prologue«, 11-22.
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Sie ist sozusagen ganz bewusst, was ihre literarischen Mittel anbelangt. Sie will keinen dunklen,
sondern einen klaren Stil, den man auch noch in der Nachwelt vergnügt lesen kann. Sie wünscht
sich die Philosophen und feinsinnigen Menschen als Rezipienten. Es wird also ganz klar der
Rezeptionskreis angesprochen - es geht um die Literaturelite.
Sie weiß aber auch, dass es sarkastische Äußerungen und verleumderische Äußerungen geben
wird. Marie de France war als schreibende Frau starker Kritik ausgesetzt:
... wenn es in einem Land einen Mann oder eine Frau von hohem Ansehen gibt, dann sagen ihnen diejenigen,
die auf ihre Vorzüge neidisch sind, oft Gemeinheiten nach: Sie wollen ihr Ansehen herabsetzen; deshalb
beginnen sie das Geschäft des bösartigen, feigen, arglistigen Hundes, der die Leute hinterlistig beißt.
Keinesfalls will ich deshalb aufgeben, auch wenn Spötter und Verleumder es mir als Fehler auslegen wollen:
Das ist ihr Recht, üble Nachrede zu führen. Die Lais, »Guigemar«, 7-18.
Es ist wiederum sehr klug argumentiert von Marie de France, dass sie von Mann und Frau spricht.
Sie stellt sich nicht allein als eine Frau dar, die etwas vermag, sondern sie ist jemand, die in ihren
Vorzügen mit den Männern, die diese ebenfalls haben, eins ist. Wir wissen von den Zeitgenossen
wenig über sie, es gibt wenige Zeugnisse der Rezeption. Meist sind es missbilligende Äußerungen
von männlichen Kollegen, die ihre Erzählungen unter anderem als märchenhaft beschreiben.
4. Lanval:
Lanval ist ein vorbildlicher Ritter im französischen Chevalier, ein Königssohn, der alle ritterlichen
Tugenden besitzt. Ungewöhnlich dabei ist, dass er zwar alle ritterlichen Tugenden hat, diese aber
am Artushof nicht erkannt werden. Der Artushof ignoriert den Ritter, das geht sogar so weit, dass
Artus zu einem Pfingstfest, wo alle seine Ritter der Tafelrunde beschenkt werden, Lanval einfach
vergisst. Warum wird nicht genauer gesagt, er ist auf jeden Fall unter den Artusrittern nicht
berücksichtigt und damit gleichzeitig ein Ungleicher. Hinzu kommt, dass er aus der Ferne kommt
und sein ganzes Vermögen ausgegeben hat, um König Artus zu dienen, was keinesfalls honoriert
wird. Das ist ein typisches Motiv - das Erzählmotiv des übergegangenen Helden. Artus wird hier
einfach Vergesslichkeit unterstellt. Lanval reagiert darauf traurig und betrübt, er ist damit aus der
Artusrunde isoliert und erhält keinerlei Unterstützung. Damit entschließt er, den Artushof zu
verlassen.
Der Artushof, wie er sich hier darstellt, ist kein Hof der Tafelrunde - die männliche Ordnung ist
gestört, es herrscht Ungleichheit, Missgunst, Neid und Falschheit. Die Idealität des Artushofes ist
nur dann gewährleistet, wenn das Kollektiv funktioniert. Die Realität des Artushofes ist nicht auf
Individualität aufgebaut, dafür spricht auch das Symbol des runden Tisches - es ist keine Einzelner
hervorgehoben. Die Artusrunde sollte also als Kollektiv von Männern funktionieren, wo es keine
Rangunterschiede gibt. König Artus ist in dieser Geschichte nichts anderes, als der
Kumulationspunkt aller Identität - auch er ist nichts ohne seine Ritter. Zum Artushof gehören zwar
in den herkömmlichen Erzählungen auch die Frauen, die aber eher diejenigen sind, die die
Artusidealität stören. Zu Zeiten Marie de France’ ist die Artusrunde aber noch das Zeichen einer
idealen männlichen Gesellschaft. Und genau von dieser geht Lanval weg.
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Lanval reitet davon und steigt von seinem Pferd ab. Das ist eine ganz wichtige Geste, denn
Chevalier-Ritter sind Pferdemenschen - ohne ihr Pferd sind sie nichts. Auch in der Artusdichtung
spielen Pferde eine ganz elementare Rolle. Er entledigt sich damit einem Teil seiner Männlichkeit,
seines Rittertums. Er entspannt sich und schläft ein. Er sieht eine wunderschöne Frau. Es folgt
eine Traumsequenz, er sieht dort genau das, was man dem Artusreich nachsagt: eine Wunschwelt
voller Schönheit und Reichtum, es ist ein Feenreich. Die Frau, die Lanval sieht ist eine
wunderschöne Fee. Man kann sofort sagen, dass diese Wunschwelt, die er erträumt, die Welt des
Weiblichen. Diese ist auch die Welt der Liebe, nicht nur für das männliche Individuum. Die Fee lädt
in ein, in ihre Zelt zu kommen, in dem es zu einer gegenseitigen Liebe kommt, das heißt, beide
verlieben sich ineinander. Diese Gleichzeitigkeit wird besonders betont. Diese Liebe führt auch in
die erotische Vereinigung, die auch etwas ganz wichtiges ist, womit sie das Recht der Frau auf
Erotik und Sexualität betont. Diese Traumwelt ist eine Welt der erotischen Erfüllung und es kommt
zu einem Bruch: die Fee schlägt Lanval vor, dass er wieder in das Artenreich zurückkehrt, um
seine Rehabilitation als ritterlicher Mann für sich selbst als Individuum zu bekommen. Sie
verspricht ihm dafür Reichtum, er darf aber keinesfalls etwas von ihrer Existenz verraten. Er darf
sein individuelles Glück also nicht öffentlich kundtun.
Lanval kehrt nun als reicher Ritter zu diesem Adel zurück und wird als solcher erkannt, allerdings
teilweise neidisch erkannt - der Neid als Element am Artushof bleibt also. Das Glück und die
Freude der anderen ist nur ein partikulares. Hinzu kommt, dass in der Welt des Artushofes nicht
nur die Männer, sondern auch die Frauen problematisch sind, vor allem an der Gestalt von Artus’
Frau Guinevere. Sie bemerkt, dass Lanval nicht nur reich, sondern auch außergewöhnlich schön
ist. Sie will ihn verführen. Guinevere macht das, was einige höfische Frauen tun mussten, sie sucht
sich ein Liebesobjekt. Lanval weist sie aber zurück, nicht nur, weil er nichts mit der Königin
anfangen will, sondern weil er ein Vasall ihres Mannes. Er erweist sich damit als loyal und bleibt so
in seiner Vasallenpflicht. Die Königin ist damit nicht erfreut und wirft ihm darauf Homosexualität vor.
Er antwortet ihr daraufhin, dass er in eine Frau verliebt ist, die tausend Mal schöner ist als sie. In
dem Moment hat er sein Schweigegebot gebrochen, womit er todunglücklich ist. Die Königin geht
daraufhin zu Artus und meint, Lanval hätte sie verführen wollen. Artus glaubt seiner Frau und es
kommt zu einer Gerichtsverhandlung, die Lanval völlig passiv hinnimmt, weil er aufgrund des
Bruchs seines Gelöbnisses vollkommen verzweifelt ist.
Die Loyalität gegenüber Lanval ist am Artushof nicht vorhanden, niemand solidarisiert sich mit ihm,
außer Gawan, der in der Artusdichtung immer als idealer Ritter dargestellt wird. In die harte
Realität der Gerichtsverhandlung kommt die übernatürliche Sphäre - die Fee. Die Fee ist die
einzige, die ihrem Geliebten trotz des Brechen des Gelübdes beisteht. Es wird geschildert, dass
Artus bereits ungeduldig ist, da die Vasallen sich mit dem Gerichtsspruch Zeit lassen. Die Königin
selbst drängt zu einem Ergebnis. Die Fee taucht auf, und ihr Aufzug in die Art ihrer Erscheinung
führt zu einer totalen Beschämung der Artuswelt. Die Beschämung ist sehr gut inszeniert, da sie
König Artus duzt und ihm erklärt, dass er falsch urteilen würde. Die Königin müsse einsehen, dass
die Jungfrau, die da heran kommt, wesentlich schöner ist, als sie selbst.
Der Ausweg, den Marie de France findet für ihren Lanval findet, ist ein interessanter, es ist der
Ausweg des Einzelnen. Zusätzlich zu der Traumwelt stellt sie die Wünsche des Individuum hin.
Lanval und die Fee beschließen vom Artushof wegzugehen und nach Avalon zu gehen, dem Reich
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des Übernatürlichen und der Glückseligkeit. Marie de France trennt somit die beiden Welten. Sie
gehen also in die Individualität. Es heißt dann, dass man von den beiden nie wieder etwas gehört
hat. Es findet also eine keine Versöhnung, sondern eine Entrückung statt, die Vision wird
aufrechterhalten. Gleichzeitig wird damit auch angesprochen, dass die Sehnsucht des Individuum
nach einem persönlichen Glück in einer derartigen Gesellschaft, wie sie von dem Artushof
repräsentiert wird, nicht möglich wäre. Eine radikalerer Kritik könnte kaum formuliert werden. Es ist
ein moderner Zugang, den man sonst in dieser kollektiv denkenden Männerwelt so nicht hat. Es ist
ein Versuch, Individuelles zu betonen und es ist ein klares Bild, dass der Realität vorgehalten wird
und es wird die Problematik aufgezeigt, die zwischen den Ansprüchen einer höfisch-adligen
Gesellschaft und einem Einzelnen besteht. Zwar ist die Hauptperson ein Mann, aber die Wünsche
und Sehnsüchte sind nicht rein-männlich, sondern sie sind auch die der Fee. Der Traum, den der
Mann hier hat, ist ein Traum nach einem weiblich definierten Raum, einem ruhigen Raum der
Selbstbestimmung.
5. Fresne:
Hier haben wir eine weibliche Protagonistin. Der Text ist keine Märchenfantasie, er ist in mehrerer
Hinsicht nicht ganz einfach zu verstehen. Die Geschichte selbst ist ganz einfach:
Es gibt zwei edle reiche Ritter mit zwei Frauen, miteinander befreundet sind. Die Frau des einen
Ritters bekommt Zwillinge, worauf die zweite Frau eifersüchtig reagiert, da sie selbst noch
kinderlos ist. Sie setzt das Gerücht in die Welt - das zu dieser Zeit ein realistisches war - dass eine
Geburt mit Zwillingen nur deshalb möglich ist, wenn man sich mit zwei Männern vergnügt hat.
Dieses Gerücht führt dazu, dass die andere von ihrem Mann verstoßen wird. Auch die Zwillinge
selbst werden nicht als rechtmäßige Erben anerkannt. Zur Strafe bekommt die Verleumderin dann
aber auch Zwillinge - zwei Mädchen - und sie überlegt, eines der Mädchen zu töten. Kindstötung,
vor allem die Tötung von Mädchen, waren im europäischen Mittelalter keinesfalls die Ausnahme.
Eine Zofe dieser Frau schlägt aber einen anderen Weg vor, den der Aussetzung. Die Mutter wickelt
das Kind in ein kostbares Seidentuch und gibt ihr einen Ring mit, damit die hohe Herkunft
gekennzeichnet ist. Sie legt dieses Kind in eine Esche - daher der Name Fresne - und eine
Äbtissin findet das Baby und adoptiert es.
Das Mädchen ist nicht nur klug, sondern auch außergewöhnlich schön und dieser Ruf verbreitet
sich im ganzen Land. Ein Edelmann hört von ihr, sucht das Kloster auf und bittet um ein Gespräch.
Die Äbtissin lässt es zu und lässt die Adoptivtochter alleine mit dem Mann. In diesem Gespräch
verführt er das Mädchen, es beruht aber auf Gegenseitigkeit und er besucht sie daraufhin öfter.
Letztendlich haben wir eine Flucht aus dem Kloster, was aber erneut auf Gegenseitigkeit beruht.
Beide flüchten aus dem Kloster und er bringt sie auf seine Burg. Auf dieser Burg führt sie aber das
Leben einer Konkubine. Die Verbindung der beiden wird nicht legitimiert, allein deshalb, weil er
nicht ihrer Herkunft weiß, und Ebenbürtigkeit war sehr wichtig zu dieser Zeit - es ist fast unmöglich,
wenn nicht sogar gänzlich ausgeschlossen, eine Frau niederen Ranges zu heiraten. Die Vasallen
des Ehemannes raten ihm zu heiraten, um Erben zu bekommen. Die Wahl fällt auf die
Zwillingsschwester von Fresne, Codre (zu deutsch: Hasel). Die Geschichte nimmt nun eine
erstaunliche Wendung. Fresne nimmt die Entscheidung ihres Geliebten, eine andere Frau zu
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heiraten, vollkommen an und gehört somit zu den duldsamen Ehefrauen. Entscheidend ist hierbei,
dass sie Fresne zur Märtyrerin ihrer eigenen Liebe macht. Sie nimmt das Schicksal, dass die einen
Mann liebt, der eine andere heiraten muss, demütig an. Dennoch löst sich die Geschichte sehr gut
auf, denn am Tag der Hochzeit legt Fresne ihr Tuch auf das Brautbett. Die Mutter erkennt es
rechtzeitig, erkennt ihre Tochter und erzählt dem Ritter von der Aussetzung. Daraufhin wird die
Hochzeit abgesagt und Fresne kann ihn heiraten.
Es gibt zwei Aspekte, die bemerkenswert sind: die erotische Beziehung des Paares, die eine
außereheliche ist, und im Kloster beginnt. Sie wird mit keinem Wort negativ erwähnt. Diese
erotische Liebe wird als gegenseitige bezeichnet, genauso wie die nicht erotische. Für Fresne ist
die Liebe eine Art Gewinn ihrer Identität. Die unerschütterliche Liebe und demutsvolle Haltung ist
hier also positiv gekennzeichnet. Warum? Diese Liebe ist selbstgewählt, denn die Entscheidung
mit dem Mann zu flüchten, geht von ihr aus, weil sie ihn so liebt. Das ist etwas, was im
patriarchalen Diskurs durchaus vorkommt, es ist nicht neu.
Geschichte von Griselda
Eine Geschichte, die in Boccaccios „Decamerone“ steht: es ist nichts anderes als das Muster der
vollkommen duldsamen Frau, die alles aushält, um ihrem Mann genehm zu sein. Hier kann man
von nichts anderem als sadistischen Fantasien des Ehemannes ausgehen: er nimmt der Frau die
Kinder weg, er heiratet zum Schein eine andere, nur um festzustellen, ob seine Frau tatsächlich
eine duldsame Frau ist - ganz anders als bei Marie de France.
Das Märtyrerinnenmodell ist nicht nur ein äußerst positives, sondern dieses Vorstellen der
duldsamen und in jeder Beziehung treuen Frau, ist nichts anderes als ein Anschreiben gegen das
misogyne Bild dieser Zeit, da die Frau als wankelmütig, untreu und sexuell zügellos bezeichnet
wird. Marie de France will zeigen, dass es auch anders geht, vorausgesetzt, die Liebe ist eine
selbstgewählte.
9. Vorlesung
17. Dezember 2015
Frauenlieder
Lieder von Frauen
Wir haben es mit einer Gattung zutun, die, was den deutschsprachigen Minnesang anbelangt, fest
in der Hand der Männer liegt: die Gattung der Lyrik. Das ist aber nicht 100%ig der Fall, es gibt
durchaus auch Lyrik von Frauen, wenn auch nicht im deutschsprachigen Raum.
1. Mittelalterliche Frauenlieder
Frauenlieder sind zunächst einmal eine Untergattung des Minnesangs, es sind zumeist Monologe,
in denen das lyrische Ich eine Dame ist. Verfasst wurden sie aber ziemlich sicher von Männern,
zumindest sind sie in den lyrischen Sammlungen unter Männernamen verzeichnet. (zB „Unter der
Linde“ von Walther von der Vogelweide). Frauenlieder sind innerhalb des Minnesangs eine eher
kleine Gattung, also nicht sehr häufig. Neben den Monologen kommen auch dialogische Lieder
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vor, zumeist mit einem Boten. Es ist auch eine erotische Gattung dabei, wo das lyrische Ich
ebenfalls eine Frau ist. Die Männer, die dieses in Szene setzen, formulieren über diesen Umweg
Gedanken über die Liebe. Man kann sich das so erklären, dass man die mittelalterliche Lyrik als
Rollenlyrik begreifen kann und soll - es geht um die Literarisierung der vorgestellten, nicht
unbedingt der erlebten Erfahrung. Es ist etwas, das für die mittelalterliche Dichtungsauffassung
durchaus selbstverständlich war, denn es geht um die Norm- und Wunschvorstellung.
Lyrik ist auch ein Ausdruck der höfischen Liebeskultur, dieser Mode, möglichst vielfältig über das
Phänomen Liebe zu sprechen. Es ging also nicht darum, einen radikalen neuen Gedanken zu
formulieren, sondern möglichst neue Varianten des Ausdrucks zu finden. Wie kann man also den
Satz "Ich liebe dich" so zu formulieren, dass es trotzdem einen individuellen bedeutsamen Namen
bekommt? Der Sprecher meint in diesem Moment schließlich etwas Besonderes. Wie kann dieser
Gedanke mittels rhetorischer Mittel und kunstvollen Sprachformulierungen also einzigartig
gemacht werden? Liebesgedichte und das Sprechen über die Liebe ist natürlich in einem
gesellschaftlichen großen Kontext etwas anderes, als es „face-to-face" zur geliebten Person zu
sagen. Es gibt für den mittelalterlichen Poeten also immer dem Anspruch möglichst mit Nuancen
eine ästhetische Qualität dieser Liebeslyrik zu gewinnen, die ihn von den anderen Autoren abhebt.
Frauenlieder funktionieren ähnlich, sie sind ebenfalls zunächst einmal ein Trick der Männer, etwas
zu imaginieren, was sie von sich aus nicht haben können: die Sichtweise einer Frau.
Typologie
• das weibliche lyrische Ich berichtet über ihre Liebe und Sehnsucht zu einem Mann und über ihre Sorgen bezüglich
ihrer Minne
die
frouwe
beauftragt in einigen Frauenliedern einen Boten, um dem Geliebten eine Nachricht zu überbringen
•
• sie ist einerseits zurückhaltend und möchte ihre Ehre bewahren
• andererseits äußert sie deutlich ihre Zuneigung
• sie befindet sich in einem Dilemma: sie wägt ihr persönliches Glück mit ihren Verpflichtungen gegenüber der
Gesellschaft und ihrem Ruf bzw. ihrer Ehre ab
Die Frau im Mittelalter war in ihren privaten Gemächern - die Tatsache, dass eine Frau öffentlich
vor einem Publikum sagt: „Ich liebe diesen Mann“ ist undenklich. Die Männer machen das aber
und imaginieren damit eine Frau, die das offen bekennt. Zumeist ist das aber trotzdem in einem
scandalum, zumeist behandeln die Lieder auch eine Situation, wo die Frau einen Boten beauftragt,
ihre Liebesbotschaft an einem Mann zu überbringen. Der Bote ist somit der Komplize der Frau,
man nennt es eine eingeweihte Geschichte. Dann kommt das Dilemma: dieses offene Zugestehen
der (erotischen) Liebe führt natürlich zu einer Bedrohung ihrer Ehre und ihres gesellschaftlichen
Ansehens. Das heißt also, es gibt bestimmte Motive, die hier eine Durchmusterung ermöglichen.
Zur Aufführungspraxis:
Es ist Liebeslyrik, aber sie wurde immer öffentlich vorgetragen, also gesungen. Liebeslieder sind
Chansons. Wir wissen relativ wenig über die Aufführungspraxis und sind auf Berichte aus
Romanen angewiesen. Es ist aber wohl so, dass die Lieder oft den Charakter von Tanzliedern
hatten. Es gab wohl auch so eine Art Vortragsspiel. Wie wurden nun die Frauenlieder vorgetragen?
Hat es eine Dame des Hofes vorgetragen? In der Forschung gibt es dazu keine Einigkeit.
Vermutungen besagen, dass es von Frauen vorgetragen wurde, aber es sind sehr ungesicherte
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Erkenntnisse. Letztendlich haben wir nur die Texte auf dem Pergament. Jetzt kann man sich
natürlich fragen, ob es ausschließlich Lieder sind, die von Männer geschrieben und konzipiert sind,
oder gibt es die Möglichkeit, dass höfische Damen, die sich nicht als Dichterinnen in die
Öffentlichkeit wagten, einem Mann ein Gedicht übergeben haben, der es dann als seines
ausgegeben hat. Das ist aber reine Spekulation.
Die Lieder sind teilweise auch mit Melodien überliefert, mit einer mittelalterlichen Notenschrift, den
sogenannten „Neumen“. Sie wurden zunächst für den gregorianischen Choral verwendet und dann
auch auf weltliche Lieder übertragen:
Neumen (griechisch νεῦμα neuma ‚Wink‘) sind graphische Zeichen, Figuren und Symbole, die seit dem 9.
Jahrhundert zur Notation der melodischen Gestalt und der Interpretation des Gregorianischen Gesangs und
gelegentlich auch für das Aufschreiben weltlicher und religiöser Melodien außerhalb der Liturgie verwendet
wurden.
Es ist aber sehr schwierig sie auf unsere Noten zu übertragen. Wir haben es mit einem
einstimmigen Gesang zutun, der mehrstimmige kam erst viel später (Ende des 14./Anfang des 15.
Jhdts.), allerdings ist der einstimmige Gesang schon sehr kunstvoll.
Zurück zur Typologie und damit auch zum Stellenwert der Frauenlieder:
In der mittelhochdeutschen Lyrik haben wir im Gegensatz zur französischen keine einzige
weibliche Lyrikerin. In der Frauenlyrik ging es darum, die Liebe zuzugeben. Die Frau wird als eine
Frau imaginiert, die tatsächlich liebt und diese Liebe auch kundtut. Das ist im Kontext der Hochzeit
der mittelalterlichen Liebeslyrik durchaus eine außergewöhnliche Stellung, da wir uns eher in
einem männlichen Konzept befinden, nämlich dem des Frauendienstes. Es gibt französische
Forscher, die sogar der Meinung sind, dass diese Minnelieder gar nichts mit Frauen zutun haben,
sondern eigentlich Metaphern für das Vasallentum sind.
Das Konzept der Minne ist, dass sich der Mann, also das lyrische Ich in eine vollkommene
dienende Stellung gegenüber der Frau gibt, aber diese Frau keine lebendige Person mit Gefühlen,
sondern vollkommen unerreichbar und abwesend ist. Einer der prominentesten Lyriker dieser
Gattung ist Reinmar der Alte, der in seinen Liebesliedern nichts anderes besingt, als die Dame, die
vollkommen unerreichbar ist und von seiner Existenz nichts weiß. Wir haben hier also eine
unmögliche Werbungssituation.
In Frankreich gab es verschiedene Liedgruppen im Norden und Süden Frankreichs und da gibt es
zwei nebeneinander existierende Formen: Die abweisende Dame, die den werbenden Sänger
nicht erhört und andererseits die empfangende Dame, die den Mann liebt und wo es eine Art der
Gegenseitigkeit gibt. Diese Rolle der sehnsüchtigen liebenden Dame, hat man oft in den
Frauenliedern.
Man kann sagen, dass die Frauenlieder als Gattung innerhalb des Minnesangs eher die
freizügigere Gattung ist. Es geht tatsächlich um Erotik, körperliche Liebe, Sehnsucht und
Empfindungen. Innerhalb dieses Gattungsspektrum wird eine Liebe poetisiert, die dem
persönlichen Empfinden näher kommt, als jene Position, in der die Dame die ablehnende und
unerreichbare Herrin ist. In gewisser Weise thematisieren Frauenlieder auch so etwas wie eine Art
Unabhängigkeit von der gesellschaftliche Konvention. Das ist vor allem in Frankreich der Fall, wo
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in den Frauenliedern ganz offen eine Dreieckskonstellation angesprochen wird. Das war
möglicherweise auch ein gesellschaftliche Spiel, allerdings ist es sicherlich realistischer als man
annehmen könnte, da der mittelalterliche Adel, was Liebe und Liebeserfüllung angeht, für diese
Fantasie in der Ehe keinen Platz fand. Man kann sagen, dass die Frauenlieder als Gattung dazu
dienten, eine Art von Liebe zu formulieren, die freier ist, die erotischer ist. Die Männer legen den
Frauen eine Art Wunschprogramm in den Mund, sie imaginieren damit eine Vorstellung von freierer
Liebe, die an den Höfen Frankreichs so nicht lebbar oder möglich ist.
2. Trobairitz: Liedermacherinnen
▪
▪
Alais, Carenza, and Iselda
Almucs de Castelnau and Iseut de
▪
▪
Guillelma de Rosers
Domna H.
▪
▪
Capio
Alamanda Castelnau (1160–1223)
Isabella
▪
▪
Gaudairenca
Azalais d'Altier
▪
▪
Lambarda
Clara D'Anduza
▪
▪
▪
Garsenda de Proença
Maria de Ventadorn
Comtessa Beatriz de Dia
▪
Beatritz de Romans [Bieris]
Hier haben wir 17 altprovenzalische Dichterinnen, Frauen, die Liebesgedichte geschrieben haben.
Bei einigen von ihnen wurde nur ein Lied überliefert. Es ist ein absolut singuläres Phänomen, denn
es ist davon auszugehen, dass diese Frauen diese Gedicht auch vorgetragen haben. Wenn man
sich die Sammlung der Lieder ansieht, sieht man, dass sie ganz klaren Traditionen der von
Männern konzipierten Liebeslyrik folgen. Es ist als keine spezifische Frauenlyrik, denn sie dichten
im Kontext der damaligen männlichen literarischen Konventionen. Sie entwickeln auch keine
eigenen Themen und Motive, entscheidend ist aber die Art und Weise, wie diese in Szene gesetzt
werden. In der Forschung der 60er und 70er Jahre hat das dazu geführt, dass Dichtungen der
Trobairitz kaum und wenig beachtet wurden. Es wurde gesagt, dass es für die Genderforschung
kauen nutzbar und wenig originell sei. Es geht aber gar nicht darum, hier eine weibliche Dichtung
zu entdecken, sondern darum, dass es Frauen gibt, die sich selbst eine Stimme gegeben haben.
Das heißt also, dass sie auf den ersten Blick keine besonderen Texte sind, aber diese Partizipation
adliger Frauen am literarischen Feld zeigt ein eigenes künstlerisches Selbstverständnis der Frauen
- hier vor allem der französischen Frauen. Das hängt wahrscheinlich auch mit der Offenheit des
französischen Hofes zusammen, mit Literatur umzugehen, indem sie auch als Mäzeninnen stark
aufgetreten sind. Den mittelalterlichen Lyrikerinnen blieb also nichts anderes übrig, als direkt an
ihren männlichen Kollegen anzuknüpfen, aber sie haben dadurch wundervolle Gedichte
geschrieben.
Über die Lebensumstände wissen wir wenig bis gar nichts - das gilt für alle mittelalterlichen
Dichter. Es gibt eine Eigenheit in der französischen Lyrik, dass vor den Gedichten kleine Vidas,
also Lebensbeschreibungen gegeben werden:
Vida der Beatriz de Dia: Die Gräfin von Dia war die Frau von Herrn Guillem von Poitiers, eine schöne und
angenehme Dame. Und sie verliebte sich in Herrn Rambaut d´Aurenga, und machte über ihn viele gute
Kanzonen.
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Zumeist sind diese Vidas tatsächlich Dreiecksgeschichten, wirklich den Tatsachen entsprechen,
wissen wir natürlich nicht.
Beatriz de Dia (geb. 1160):
Die Comtessa de Dia ist sicherlich die berühmteste und bedeutendste unter den
altprovenzialischen Dichterinnen. Wir wissen wenig bis gar nichts über ihre historische Identität.
Vielleicht war sie Mitglied des Hochadels, da sie einige der Gedichte dem Adelshaus widmete. Sie
hat auch zu ihrer Zeit bereits einiges an Berühmtheit erlang, da sie die männlichen Kollegen
durchaus lobend erwähnen. Das heißt, dass es tatsächlich eine Art Community der Lyriker
gegeben hat und dass sie gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen an den Höfen vorgetragen
hat. Das folgende Lied ist das einzige Trobairitz-Lied, wo die Melodie erhalten ist. Dieses Lied ist
ein Liedvortrag und sehr modelliert ist. Das Lied hat 5 Strophen und dann eine Sentenz am Ende.
Es hat eine sehr schlichte formale Komposition.
1.
Ich muss singen, worüber ich nicht singen möchte,
so sehr bekümmert mich der, dessen Freundin ich bin,
denn ich liebe ihn mehr als alles auf der Welt. Bei ihm
nützen mir weder Entgegenkommen noch höfische Art,
noch meine Schönheit, mein Ansehen und meine
Klugheit,
denn ich bin ebenso betrogen und verraten,
wie wenn ich unfreundlich wäre.
2.
Ich tröste mich damit, dass ich nie in irgendeiner
Weise,
Freund, gegen Euch gefehlt habe,
vielmehr liebe ich Euch mehr als Segius Valensa,
und es freut mich sehr, dass ich Euch im Lieben
besiege,
mein Freund, denn Ihr seid unvergleichlich an Wert.
Kühl zeigt Ihr Euch mir mit Wort und Miene,
während Ihr zu allen anderen Leuten freundlich seid.
3.
Es wundert mich, dass Ihr so abweisend zu mir seid,
Freund, darum habe ich Grund, traurig zu sein.
Es ist nicht recht, dass eine andere Liebe mir Euch raube,
wie immer sie zu Euch sprechen und Euch empfangen
mag.
Erinnert Euch doch, wie es am Anfang unserer Liebe war!
Verhüte Gott, dass ich Schuld an der Trennung trage!
4.
Die außergewöhnliche Tüchtigkeit, die in Euch wohnt,
und das hohe Ansehen, das Ihr habt, beunruhigen
mich,
denn nicht eine kenne ich, ob nah oder fern, die,
wenn sie wünschte zu lieben, Euch nicht geneigt
wäre.
Aber Ihr, Freund, seid gewiss so sicher im Urteil,
dass Ihr die Beste wohl kennen müsst.
Und denkt an unsere Abmachung!
5.
Nützen sollten mir mein Ansehen und mein Adel und
meine Schönheit
und mehr noch mein edles Herz.
Deshalb sende ich Euch dieses Lied dorthin,
wo Euer Aufenthalt ist, damit es mir als Bote diene.
Und ich möchte wissen, mein schöner, lieber Freund,
warum Ihr so stolz und grausam zu mir seid,
ich weiß nicht, ob aus Hochmut oder bösem Willen.
6.
Aber um so mehr will ich, Bote, dass du ihm sagst,
dass viele Leute sich durch zuviel Stolz oft sehr
schaden.
Es geht um eine Minneklage, das Motiv der unerwiderten Liebe, aber interessant ist, wie sie dieses
weiter kontextualisiert.
Es geht darum, dass der Ami ein abweisender ist, er zeigt sich ihr gegenüber unfreundlich und voll
Hochmut. Was in der 3. Strophe entscheidend ist, ist, dass sie sich an die gemeinsame Liebe
erinnert, die schon da war und offensichtlich getrennt wurde. Der Ami ist so großartig, dass sich
alle in ihn verlieben wollen - das ist ein häufiges Motiv: man verliebt sich in jemanden und ist der
Meinung, alle müssten sich in ihn verlieben. Dieser Aspekt der Eifersucht ist in der
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Liebeskonzeption selbst vorhanden. In der 5. Strophe soll er ihr erneut erklären, warum er sie
ablehnt. Die 6. Strophe ist das Conclusio, sie sagt, Hochmut kommt vor dem Fall.
Wir haben hier eine Vermischung der Hohenminne und des Frauenliedes, in der sich etwas ganz
eigenes ergibt. Die Frau ist zwar in der Position der Sehnenden, aber gleichzeitig in der Position
der Dame. Sie beschreibt sich mindestens mit den gleichen Attributen wie ihren Ami. Sie
bezeichnet sich als schön, höfisch und klug, Eigenschaften, die ihr Ami auch hat. Im Grunde
genommen inszeniert sie sich als Sehnende, aber sie ist gleichzeitig auf einer Stufe mit ihm. Damit
wird der Grund des Verlassenseins nicht einsichtig. Mittelalterliche Literatur und Heiratspolitik ist
auf Gleichwertigkeit abgezielt, und wenn diese da ist, was ist dann der Grund für die Trennung?
Noch dazu, wenn die dann noch betont, dass es eine gemeinsame Liebe gegeben hat und auch
gleichzeitig eine Abmachung. Die Trennungssituation ist Ursache für ihre Klage, aber sie kann sich
nicht erklären, warum es dazu gekommen ist. Das Eigenlob ermöglicht es ihr, in der Position der
Herrin zu verharren. Ihre Position der Minneherrin zeigt sich vor allem im letzten Absatz: sie ist
nicht die Betrogene, klagende Bittstellerin, sondern sie produziert hier einen Rollentausch. Sie
stellt sich selbst als Ideal dar, was sich auch in der Strophe zeigt, in der sie auf die anderen Frauen
verweist, weil sie gleichzeitig auch sagt, dass sie die Beste ist. Sie ist sozusagen genauso
makellos wie ihr Geliebter, sie übertrifft ihn sogar in ihrem Liebesvermögen. Es wird als eine
Fähigkeit zu einer grenzenlosen Liebe dargestellt.
Das heißt also, dass Beatriz de Dia eine Umdrehung der Positionen in den Gattungen macht, aber
gleichzeitig innerhalb dieser Positionen bleibt. Sie kombiniert sie neu, sie macht eine Klitterung
verschiedenster Gattungskonventionen, und verändert so die Position der liebenden Frau. Die
Liebende Frau ist zwar die Sehnsüchtige, die Verlassene, aber dennoch die Starke. Sie sagt auch
ganz bewusst, dass sie an der Trennung keine Schuld hat. Sie formuliert diese als Unrecht und
begibt sich in gewisser Weise in eine Rechtsposition. Der Satz der Abmachung könnte also auch
eine rechtliche sein - sie ist für die Liebesdame verbindlich. Sie wehrt damit etwas ab, was immer
ein Problem war, um die Ehre zu bewahren. Wenn eine Frau eine Affäre beginnt, so ist nach
mittelalterlichem Verständnis immer die Frau im Nachteil, wenn der Geliebte sie verlässt.
Interessant ist auch der dreimal erhobene Vorwurf des Hochmuts, eine Todsünde, sie wirft ihm
diesen vor und sagt gleichzeitig auch, dass der Hochmütige nicht lieben kann.
Wir wissen nicht genau, welche literarischen Vorbilder sie herangezogen hat, ihre poetische
Ausdrucksweise ist aber einzigartig, obwohl sie alle Konventionen des Sprachgebrauchs ihrer
männlichen Kollegen übernimmt. Wenn man genau hinsieht, ist das Liebesgedicht keinesfalls
konventionell, es geht um wesentlich mehr.
1.
Ich hatte große Sorge und Kummer
eines Ritters wegen, der eins mein war,
und ich will, dass man für alle Zeiten weiß,
wie übermäßig ich ihn geliebt habe.
Nun sehe ich, dass ich verraten bin,
weil ich ihm nicht meine Liebe schenkte.
Deshalb habe ich schwer gelitten,
Tag und Nacht.
2.
Ich wünschte wohl, meinen Ritter
einen Abend nackt in meinen Armen zu halten,
und ich wollte, dass er sich glücklich schätzte,
allein darum, dass ich ihm als Kissen diente.
Denn ich bin verliebter in ihn,
als Floris in Blanchefleur,
ich schenke ihm mein Herz und meine Liebe,
meinen Sinn, meine Augen und mein Leben.
80 von 103
3.
Schöner, höfischer, lieber Freund,
wann werde ich über Euch verfügen können?
Wenn ich doch einen Abend bei Euch liegen
und Euch einen zärtlichen Kuss geben könnte!
Glaubt mir, ich hätte große Lust,
Euch anstelle des Ehemannes zu haben vorausgesetzt, dass ihr mir geschworen hättet,
alles zu tun, was ich wünschte.
Dieses Gedicht der Comtessa de Dia gilt als das schönste Liebesgedicht im Rahmen der
Trobairitz, aber auch des frühen französischen Mittelalters. Bei diesem Gedicht ist die Melodie
nicht überliefert, es wurde dennoch vertont. Es hat 3 Strophen und gilt als eines der schönsten
Liebesgedichte, da es eine der wenigen Gedichte ist, das eine Art Innerlichkeit ausdrückt. Es ist
relativ offen.
Es geht darum, dass sich eine Frau vorstellt, dass sich ihr Geliebter von ihr entfernt hat, weil sie
sich geweigert hat, mit ihm zu schlafen. Das ist der Grund dafür, dass sie die erotische Begegnung
mit ihm imaginiert und das als beglückende Form wahrnimmt. Was interessant ist, ist dass der Ami
zwar die angesprochene Person ist, er aber dann kaum mehr vorkommt. Das grammatikalische
Objekt ist auf jeden Fall die Frau. Es ist eine poetische Selbstinszenierung der Gefühle der Frau.
Es geht um Projektionen, es geht um das Ich und das Begehren des Ichs. Es geht um die
körperliche Liebe als positive Wunschvorstellung.
Wir haben hier zwar erneut eine Minneklage, aber im Gegensatz zum vorigen Lied geht es hier um
die Imagination von seelischer und körperlicher Hingabe. Sie begibt sich in dieser Sehnsucht in die
männliche Perspektive. Sie schlüpft als literarische Gestalt in die poetische Gestalt eines jungen
Mannes, dennoch ist das lyrische Ich eine Frau. Es ist ein Rollenspiel. In den Männerkanzonen ist
der Kuss das höchst der Erfüllung, er ist das erste Liebesversprechen, diesen haben wir in der 3.
Strophe. Es geht auch darum, dass die Liebe des Geliebten anders vorgestellt wird, als die zum
Ehemann, denn die Liebe zum Geliebten ist eine freie und keine arrangierte. Der letzte Satz zeigt
wieder die Position der Minneherrin, es geht aber auch um einen Schwur und eine Form des
Liebesvertrags. Wenn die Dame sich hingibt, muss der Mann auch ewige Treue gewährleisten. Es
wird hier versucht, neben den Konventionen der Ehe so etwas wie eine Liebesverbindlichkeit
zwischen Mann und Frau zu erzeugen, die nicht zur Trennung führt.
Dieses Lied ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich, das hat auch die Forschung so gesehen - es
werden Gedanken einer Frau ausgedrückt, die so sonst nicht vorkommen.
Clara d'Anduzza
Sie hat nur dieses Gedicht überliefert, wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es
ist vermutlich das jüngste Trobairitz-Gedicht, das wir haben und das konventionellste. Interessant
ist hier, wie versucht wurde, das Gedicht zu umfassen:
81 von 103
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Schwer Ungemach und schweres Herzeleid
Hat über mich, damit der Verwirrung Nacht,
Der Kläffer und Verleumder Schaar gebracht,
Der Gegner jugendlicher Freudigkeit.
Ihr floht, verließet mich! Wenn sie nicht wären,
Ihr, Theuerster, gehöret mir noch an.
Jetzt, da mein Aug’ Euch nicht erschauen kann,
Sterb’ ich vor Schmerz, vor Mismut, vor Begehren
17. O nie, mein schöner Freund, in Sorgen seid
18. Als hätt’ ich an Untreu je mein Herz gedacht;
19. Nie wird’s für einen Anderen entfacht
20. Trotz hundertfältiger Fraungeschäftigkeit.
21. Euch soll mein Herz ich hüten und bewähren,
22. So will’s die Lieb, und ihr gehör’ ich an;
23. Das will auch ich, und gäb’ ich’s anderm Mann,
24. Es wär ein Irrthum, wär’ ein falsch Begehren.
9. Daß meine Liebe boshaft man beschreit,
10. Hat Aendrung nicht bei mir hervorgebracht,
11. Geschwächt nicht, noch vermehrt der Neigung
Macht
12. Der Sehnsucht und der Leidenschaftlichkeit.
13. Ich muß mich gegen Jeden feindlich kehren,
14. Hör’ ich ihn tadeln, den geliebten Mann;
15. Doch fängt ihn Jemand zu vertheidigen an,
16. Des Wort und That scheint mir hochzuverehren.
25. Ich seh’ euch nicht, mein Freund, und mich
verzehren
26. Mismut und Schmerz. Fang’ ich zu singen an,
27. So seufz’ und schluchz’ ich; nicht ausdrücken
kann
28. Mein Lied des Herzens innigstes Begehren.
Nachgedichtet von Karl Ludwig Kannegießer (1781-1861)
Aus: Gedichte der Troubadours im Versmaaß der Urschrift übersetzt von Karl Ludwig Kannegießer.
Tübingen 1852 (S.295-296).
Nach dem dritten Lied merkt man, wie die Thematiken sich ähneln: wir haben es wieder mit einer
Klage, einer Trennungssituation und der Sehnsucht der Frau zutun. Man sieht schon, dass es so
etwas wie eine feste Gattung und Gattungskonventionen gibt.
gesellschaftliche Schicht (in der zweiten Strophe, dritte Zeile), es
Gesellschaft, die die Liebe argwöhnisch betrachten und die Ursache
werden. Auch bei Tristan und Isolde sind die Neider die Ursache,
Neu hinzu kommt die
geht um die Neider der
sind, warum sie getrennt
dass die geheime Liebe
aufgedeckt wurde. Clara d’Anduzza übernimmt die rhetorische Figur des Polysyndetons. Dieses
Zusammenbinden von Wörtern, die alle das selbe bedeuten, zieht sich durch das gesamte Gedicht
durch und sie beschreibt fast jedes Signifikat mit mehreren Signifikanten. In der ersten Zeile wird
zB der Kummer mit mehreren Begriffen ausgedrückt, man kann sehr gut sehen, wie mit
Synonymen gearbeitet wird. Das ist eine spezielle Ornatus-Technik, die auch konventionell ist.
Interessant ist hier durch diese Allegorisierung und die rhetorische Kunst des Ornatus, dass sich
einerseits eine symbolhafte Auflösung des lyrischen Ich in verschiedene Metaphern haben (das
Herz, die Sehnsucht etc.), andererseits die ganze Handlung auf einer real-physischen Ebene
bleibt. Es gibt eine Dissoziation zwischen dem poetischen und realen Subjekt, das durch die
Ornatus-Technik hervorgetrieben wird. Gleichzeitig bleibt aber das reale Subjekt bestehen.
Wenn man sagt, mittelalterliche Liebeslyrik ist Rollenlyrik, so könnte es auch heißen, dass das,
was in der mittelalterlichen Liebeslyrik formuliert wird, nichts mit der Realität und auch nicht mit der
Person zutun hat, die das Gedicht vorträgt. Im Fall von Clara d’Anduzza und auch von Beatriz de
Dia wird die Rollenlyrik immer wieder auch auf ein reales Subjekt hin gerichtet. Man hat hier
einerseits eine Nachahmung der Konventionen, andererseits ganz stark gesetzte subjektive
Elemente - eine vox femini. Das heißt, man hat mehrere Sprechebenen, die durchaus von
einander getrennt werden können: einerseits die historische Person der Sängerin, die Rolle der
Dichterin und die Rolle, die das lyrische Ich jeweils einnimmt. In dieser Trennung der Rollen wird
eine Rolle ganz stark gemacht: die der sprechenden Frau.
Zusammenfassung
Die Dichterinnen spielen mit Interferenzen zwischen eigenem Geschlecht, literarischem Frauenbild
(das in den Frauengedichten entsteht) und literarischer Frauenstimme (das lyrische Ich der Frau).
82 von 103
Damit wird ein verwirrendes, schillerndes Agglomerat aus realen und fiktiven Bezugselementen. Es
geht letztendlich auch um dieses Oszillieren, dem Hin und Her zwischen den einzelnen Rollen und
zwischen weiblicher und männlicher Stimme. Das lyrische Ich kann mehrere Rollen übernehmen,
es ist nicht einfach nur weiblich oder männlich, es kann im Gedicht selbst die Rolle der Frau UND
des Mannes übernehmen, es ist nicht schizophren, sondern mehrgliedrig. Das reale Ich ist aber, in
unserem Fall, das Ich einer Frau. Die Autorinnen machen damit eine Umdrehung dessen, was die
Männer in den Frauenstrophen machen, denn in den Frauenstrophen spricht eine reale männliche
Person über ein weibliches Ich, das verschiedene Funktionen hat, aber nie zu einem männlichen
wird. Lyrisches Ich ist also im selben Gedicht in verschiedenen Rollenfunktionen denkbar.
1. Die Gedichte sind von der Thematik her komplett konventionell.
2. Sie sind auch von der Form, der Kanzone her, komplett konventionell.
3. Auch die Wortwahl ist komplett konventionell
Sie sind jedoch nicht konventionell, wenn man das lyrische Ich und dessen Aussagen untersucht,
die eben auf ganz andere Zusammenhänge verweisen. Es verweist auf die reale Person, was aber
nicht heißt, dass es mit der realen Person identisch ist.
10. Vorlesung
7. Jänner 2015
Sonderform des "Schreibens": die Schriften der mittelalterlichen
Mystikerinnen
Wir haben es hier mit den Texten zutun, die am meisten überliefert wurden. Es gibt unendlich viele
Schriften von Frauen. Man kann nicht einmal mit gutem Recht sagen, dass diese Texte mit
literarischen Kriterien zu messen sind. Mystische Texte sind in jeder Hinsicht etwas besonderes sie sind Texte der Mystik. An diesen Texten ist besonders interessant, dass wir relativ viel
Informationen über die Aurorinnen haben, das liegt daran, dass in der mystischen Erfahrung sehr
viele persönliche Erfahrungen in die Texte einfließen, ganz anders als bei weltlichen Autorinnen.
Es gab auch viele Biografen, die das Leben dieser oft heiliggesprochenen Frauen beschreiben.
Bevor man sich jedoch mit Mystik befassen kann, muss man sich noch mit der Geschichte des 12.
Jhdts., vor allem mit der religiösen Geschichte, auseinandersetzen. Die Entwicklungen der Kirche
im 12. Jhdt. sicherlich eine wichtige Voraussetzung dafür waren, dass solche Texte überhaupt
entstehen konnten.
1. Anfänge im 12. Jahrhundert:
Geschichtlicher Überblick
Im 12. Jahrhundert kommt es zu großen Veränderungen innerhalb des Klerus, sowohl was die
Klöster anbelangt, als auch was das Papsttum anbelangt. Es kommt zu großen
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Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und weltlicher Gerichtsbarkeit. Es ist also ein Zeitalter
der Konflikte und Umbrüche.
Im 11. Jahrhundert hat es mehrere kirchliche Reformen gegeben. Warum waren kirchliche
Reformen notwendig? Das hing vor allem damit zusammen, dass die Klöster als Zentren der
Macht und auch der Bildung sehr groß geworden waren. Hier sind vor allem die Benediktiner
gemeint. Der Benediktinerorden ist der älteste klösterliche Orden und auch einer der wichtigsten.
Von den Benediktinern geht die berühmte Klosterregel aus, die besagt, nach welchen Kriterien sich
die Insassen des Klosters zu richten haben. Zu diesen Ordensregeln von Benedikt von Nursia
gehört Gehorsamkeit, Streben nach Vollkommenheit aber Arbeit war ebenso wichtig. Damit ist
nicht nur tätige körperliche Arbeit, sondern auch Kontakt zu den Laien und zur Außenwelt. Die
Benediktinerklöster waren zu großen Machtzentren geworden und unendlich reich. Hinzu kam,
dass die Benediktinerklöster auch sehr exklusiv waren - nicht jeder durfte dort eintreten, die
wichtigsten Klöster waren den Adligen vorbehalten. Das hat zu großer Kritik nicht nur im Bereich
der Laien, sondern auch im Bereich der Kirche geführt. Die Kirche sollte nicht an den weltlichen
Gütern teilhaben. Es gab mehrere Versuche der Amtskirche, dies über Konzile festzuschreiben erfolglos.
Mittelalterliche Orden:
um 529: Benediktiner
1060: die Gründung der Augustiner Chorherren: es handelt sich hier um eine klösterliche
Gemeinschaft, die sich nicht nur den Schriften des Augustinus zuwendet, sie verstand sich vor
allem als abgeschlossene exklusive Gemeinschaft zum Studium theologischer Schriften.
1084: Kartäuser: Gründer ist Bruno von Köln. Es ist eine Form von kontemplativer Einkehr,
verbunden mit einem gewissen Armutsideal. Es geht um persönliche Widmung und Kontemplation
des Glaubens. Auch hier ist eine Wirkung nach außen eher nicht der Fall.
1098: Zisterzienser: Sie leben zwar nach den Regeln der Benediktiner, aber sie sind diejenigen,
die sich einer kontemplativen Vereinigung mit Gott verschrieben haben. Wichtig hier ist vor allem
Bernhard von Clairvaux, einer der führenden Persönlichkeiten des 12. Jhdts., der der erste
Liebesmystiker war. Er hat das hohe Lied ausgelegt und im Sinne einer Vereinigung von Gott und
Kirche gedeutet. Hier haben wir erstmals einen Gedanken der unio mystica formuliert, die
bestimmte Praktiken des Glaubens erfordert (Betübungen, Formen der Kasteiung etc.). Er hat sich
auch ganz im Sinne der Frühkirche der Landwirtschaft und Seelsorge zugewandt.
1156: Karmeliter: Ein Einsiedlerorden und eher abgeschlossen gegenüber einer großen
Öffentlichkeit. Einsiedlerorden sind eher eine Demonstration des Glaubens.
1209: Franziskaner: Franz von Assisi, ein aus dem Reichbürgertum stammender Mann, der sich
ganz massiv dem Armutsideal verschrieben hat, viel radikaler als die Zisterzienser. Hier geht es
auch um Seelsorge, aber auch um Armut und Askese. Dieses Armutsideal ist mit einer Art
Naturmystik verbunden, dem Versuch eines harmonischen Beisammen- und Miteinanderseins mit
der göttlichen Schöpfung.
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1216: Dominikaner: Sie sind ein Predigerorden, was bedeutet, dass sie nicht statisch bei einem
Kloster bleiben, sondern in die Welt hinausziehen, als sogenannte Bettelmönche. Sie waren, wenn
man so will, die andere Seite der Franziskaner. Während Franziskus sich nicht mit den Schriften
auseinandergesetzt hat, waren die Dominikaner stark auf das Studium der Schriften und auf das
Studium der Kirchenväter konzentriert. Deswegen sind aus ihnen auch bedeutende Kirchenlehrer
herausgegangen.
Im 12. Jahrhundert wurde das Predigen selbst wichtiger - jenen Orden, die sich der Armut
verschrieben haben. Im Zuge der Unzufriedenheit mit der immer reicher gewordenen Kirche sind
auch andere Bewegungen entstanden, die von der Kirche nicht akzeptiert und als Ketzer
verschrien wurden: die Katharer und Waldenser. Die Katharer hatten großen Zuspruch von der
Bevölkerung, weil sie keinen ständischen Unterschied zwischen den Mitgliedern gemacht haben.
Sie wurden richtig verfolgt und nicht zugelassen. Auch die Waldenser predigten ein Armutsideal
und waren nicht an Ständen orientiert. Sie hatten durchaus Lehren, die auf eine mystische
Vereinigung mit Gott abzielten.
Es gab also große religiöse Bewegungen, die eigentlich die herkömmlichen Praktiken der
Amtskirche kritisierten, aber trotzdem im Rahmen der Amtskirche blieben. Die Amtskirche ist
daraufhin hergegangen und hat jene religiöse Bewegungen, die sie gut einordnen konnte,
zugelassen - zB die Franziskaner, denen die Ordensgründung aufgezwungen wurde.
Die Position der Frauen innerhalb der kirchlichen Welt:
Die Benediktiner hatten von Anfang an auch Frauenklöster, sie waren aber immer an
Männerklöster angeschlossen. Es gab sozusagen Doppelklöster und die Frauen konnten innerhalb
ihres Klosters eine hierarchische Ordnung haben, aber der geistliche Führer war immer der Abt
des Männerklosters. Das lag daran, dass Frauen viele der religiösen Praktiken nicht durchführen
durften. Wenn es um das Studium und die Auslegung der Schriften ging, hatten Frauen keinen
Platz. Bei Spiritualität und Frömmigkeit wurden sie von den männlichen Orden aufgenommen und
organisiert. Es gab auch die Beichtväter, die ins Frauenklöster gekommen sind. Viele Männer
haben aber die Mystikerinnen in ihren Schriften unterstützt.
Mittelalterliche Frauenorden:
um 529: Benediktinerinnen
um 1180: Beginen: eine sehr lose Vereinigung von Frauen, unter ihnen sind die meisten
Mystikerinnen zu finden.
um 1100 Zisterzienserinnen
um 1214 Klarissen: Franziskanischer Frauenorden
1219: Dominikanerinnen
Es gab also zu den männlichen Orden immer wieder auch parallel Frauenorden, aber immer dem
männlichen Kloster unterworfen. Sie waren aber für die mittelalterlichen Frauen enorm wichtige
Zulaufstellen, nicht nur um dem herkömmlichen Schicksal einer Frau zu entgehen. Es war für die
Frau des Mittelalters - und nicht für wenige - mögliche eine Lebensform, die ihnen erlaubte mehr
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oder weniger autonom als Frau selbstbestimmend leben zu können. Das Kloster bot den Frauen
einen geschützten Raum, wo sie weitgehend vom Zugriff der Männer befreit waren. Die
Beichtväter und Seelsorger wurden nicht als Bedrohung gesehen, sondern als Hilfe. Man kann
sehr wohl sagen, dass das mittelalterliche Kloster ein Ort für Frauen war, wo sie ihre Frömmigkeit
ausleben konnten, in einer Form, in der es ihnen in männlicher Gesellschaft nicht möglich war.
Es ist eine sehr ketzerische, lebendige Zeit und es ist auch die Zeit des 2., 3. und 4. Kreuzzugs,
die eine Geschichte des Scheiterns waren. Diese großen politischen Umwälzungen, neben den
Streitereien zwischen Papst und Kaiser, haben zu diesen Armutsbewegungen geführt, aber auch
zur Einsicht, dass die kriegerische Form des Christentums eigentlich nicht dem Christentum
gemäß ist. Es geht eigentlich um eine eigene Form der Frömmigkeit, die einen Weg zu Gott
eröffnet, der eben nicht ständisch abhängig ist. Warum war der Wunsch so groß, überhaupt einen
Weg zu Gott zu finden? Auch das hat mit kirchlicher Propaganda zutun: es gab damals zwei
dominante kirchliche Predigtinhalte, einerseits den drohenden Weltuntergang (=das jüngste
Gericht, wo für jeden Christen entschieden wird, ob er in den Himmel kommt oder nicht.). Das hat
nun zu Überlegungen geführt, wie es möglich ist, "auf die gute Seite zu kommen". Es gab dafür die
Idee des sogenannten Fegefeuers, das eine Art Zwischenstation darstellen sollte, die Buße für
ungesühnte Sünden. Der Druck auf die Gläubigen war somit sehr groß.
2. Was ist Mystik?
Man hat deshalb persönliche Erfahrungen von Gläubigen geduldet, um sie nicht an ketzerische
Gruppen zu verlieren. Hier spielt die Mystik eine entscheidende Rolle, weil sie etwas ist, dass nicht
erst im 12. Jhdt. entstanden ist, sondern im Grunde genommen seit dem Frühchristentum ein
Thema ist. Spirituelle und religiöse Mystik ist nicht etwas, das auf das Christentum beschränkt ist,
sie ist in vielen Religionen zu finden. Mystische Erfahrung ist etwas Spezielles innerhalb eines
frommen Lebens.
Das Wort „Mystik“ hängt mit dem griechischen Wort myein zusammen und heißt soviel wie „Augen
und Mund schließen“. Es geht um eine Art Innerlichkeit, etwas das sich im Inneren abspielt, aber
schwer zu beschreiben ist. Das Adjektiv mystikos bedeutet auch „geheimnisvoll“ und Mysterium ist
letztendlich das Wort für Geheimnis. Wichtig ist, dass die mystische Grundhaltung die der Einkehr
und die des Innehaltens ist. Es geht darum, eine Technik zu finden, die eine Innenschau
ermöglicht. Es hat nichts mit Zauberei zutun, sondern es geht um eine Form, die eine Einheit mit
Gott erzeugen soll und von jedem anders erlebt wird.
Mystische Erfahrung ist ein am Mysterium orientiertes, nicht leicht mitteilbares, letztlich unsagbares Erkenntnisund/oder Liebesgeschehen zwischen Mensch und Gott, das vom Menschen als gnadenhafte, ohne
Anstrengung empfangene Einigung mit Gott erfahren wird. (Alois Haas, Gottleiden - Gottlieben. Zur
volkssprachlichen Mystik im Mittelalter. Frankfurt 1989, S. 42f.).
Es geht um die individuelle Erfahrung. Wir wissen aber von mystischen Erlebnissen nur über
Texte. Wenn man Gott mit einem religiösen Wesen oder einer religiösen Grenzerfahrung
gleichsetzt, die über das menschliche Maß hinausgehen, so ist klar, dass Mystik ein generelles
Phänomen ist, das nicht nur auf das Christentum beschränkt bleibt. Die mystischen Texte sind
nicht leicht zu verstehen, weil sie sich kausalen, logischen Zusammenhängen entziehen (müssen).
86 von 103
Die Mystik ist eigentlich von Anfang an elementar für das Christentum, hier sind vor allem die
Neuplatoniker gemeint - einer ist besonders wichtig:
Pseudo-Dionysos Aeropgita:
Eines seiner Werke heißt „Die mystische Theologie“. Er baut das mystische Denken an eine
Textstelle im Alten Testament auf - auf den Traum Daniels (Gen.28,12). In diesem Traum wird die
sogenannte Himmelstreppe erwähnt, ein ganz wichtiges Bild: sie ist ein Kontakt zwischen Erde
und Himmel. Der Traum weist somit auf die Möglichkeit des Menschen hin, zu Gott aufzusteigen.
Jede Stufe bedeutet eine Abstrahierung, die das eigene Sein betrifft. Es erfordert auch eine
extreme körperliche Kasteiung, um dorthin zu kommen. Pseudo-Dionysos hat es über die Sprache
versucht, über negative Theologie (Gott ist etwas und Gott ist nichts). Diese Treppen, die man
gehen kann, haben ein Ziel: eine mystische Einheit mit Gott.
Bernhard von Clairvaux (1090 - 1153):
Unser Lager ist mit Blumen geschmückt. Aus Zedern sind die Balken unseres Hauses, aus Zypressen unsere
Täfelung. ... Nun wollen wir untersuchen, was dies im geistlichen Sinne bedeutet. Auch in der Kirche gibt es
meiner Meinung nach sozusagen ein Bett, in dem man ruht: die Abgeschiedenheit der Klöster, wo man ruhig
lebt, fern von den Sorgen der Welt und der Unruhe des Lebens. Auslegung des Hohenlieds.
Wichtig ist hier „das Bett, in dem man ruht“, es sind hier Anklänge einer Brautmystik, wobei das
Bett die Kirche ist.
Wilhelm von St. Thierry (1075 - 1148):
Er war ebenfalls Mystiker, ein Zisterzienser, der folgendes zur Klosterzelle sagt:
Die Zelle ist eine heilige Stätte, an der der Herr und sein Diener oft miteinander sprechen wie ein Mann mit
seinem Freund; an der die glaubende Seele sich mit dem Wort Gottes vereinigt, sich die Braut dem Bräutigam
zugesellt, das Himmlische mit dem Irdischen, das Göttliche mit dem Menschlichen vereinigt wird.
Es geht tatsächlich um eine Vereinigung, wie sie bei Braut und Bräutigam gedacht ist, wenn auch
auf einer abstrakten Ebene.
Warum gibt es nun innerhalb der Mystik so viele Texte von Frauen? Hier muss erwähnt werden,
dass das Christentum die einzige Religion ist, in der es Frauenmystik gibt. Zunächst ist es eines
der einzigen Religionen, die eine Frau quasi göttlich verehrt. Außerdem spielen im Neuen
Testament Frauen eine ganz wichtige Rolle (in Begegnungen mit Jesus), die sonst in religiösen
Schriften kaum bis gar nicht vorkommen. Frauen haben also einerseits einen Platz im Christentum,
sind aber in ihren Möglichkeiten beschränkt. Mystische Erfahrung ist aber etwas, das außerhalb
dieses Männergeschäftes liegt, es betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. Die einzige
Möglichkeit einen Beitrag zur Theologie zu leisten, war in einer religiösen Offenbarung bzw. dem
Niederschrieben einer visionären Schrift. Es gab gerade im 12. Jhdt. zwei Frauen, die die Gabe
der Vision hatten und von den männlichen Autoritären auch als Prophetinnen akzeptiert wurden.
Zusammen mit den religiösen Bewegungen des 12. Jhdts. hat dies zu ganz spezifischen
Frauenbewegungen geführt, die sich einer bestimmten Form der Spiritualität gewidmet haben.
Die Mystikerinnen, aber auch die Mystiker, mussten ihr Texte immer wieder durch die kirchlichen
Institutionen überprüfen lassen, was nicht ganz ungefährlich war. Viele Frauen wurden aufgrund
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ihrer Schriften verurteilt und auch verbrannt. Es gab auch sehr viele Betrügerinnen und Betrüger,
die von der Kirche verfolgt wurden.
3. Die Benediktinerinnen
Hildegard von Bingen (1098 - 1179):
Ihre Texte sind eine Art Visionenliteratur, sie erwähnt zwar keine unio mystika, sie hat aber die
Gabe der Vision:
Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmlisches Gesicht. Zitternd
und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen.
Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmlische Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: „Gebrechlicher
Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst! Nur weil du
schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage
und beschreibe es nicht nach der Redeweise des Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher Erfindung
noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe heraus, die dir in den himmlischen
Geschichten zuteil wird: wie du es in den Wundern Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer,
der die Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es meint und will, wie er es zeigt und
vorschreibt, weitergibt. So tu auch du, o Mensch! Sage, was du siehst und hörst und schreibe es, nicht wie
es dir noch irgendeinem anderen Menschen gefällt, sondern schreibe es nach dem Willen dessen, der alles
weiß, alles sieht, alles ordnet in den verborgenen Tiefen seiner geheimen Ratschlüsse.
Gleich mit der Vision ist die körperliche Reaktion („zitternd und mit großer Furcht“) verbunden. Es
folgt ein mehrfacher Befehl, ein Auftrag der göttlichen Stimme zur Niederschrift dieser Visionen. Es
geht um eine Erkenntnis, um etwas, das Gott will. Die Stimme spricht Hildegard nicht als Frau,
sondern als Mensch an. Das einzige, was sie als Frau spezifisch durchaus klar macht, ist zB der
Satz "nur weil du zu schüchtern bis zum Reden,...". Es zeigt auch ihre Rolle als Frau innerhalb des
Kirchenapparats - Frauen sind eben nicht die Gelehrten und dürfen es auch gar nicht sein. Man
könnte sagen, im Gegensatz zu den weltlichen Autorinnen, denen die Bildung immens wichtig war,
wird bei den geistlichen Autorinnen, auch bei den Männern, diese Ungebildetheit betont wird. Nur
dadurch kann der Mensch ein Medium Gottes sein. Hildegard muss vollkommen zurücktreten - als
Körper, nicht aber als Stimme. Sie beschreibt ihre Vision weiter:
Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Geschichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern
seit meinem Kindesalter, das heißt seit meinem fünften Lebensjahr, so wie auch heute noch. Doch tat ich es
keinem Menschen kund, außer einigen wenigen, die wie ich im Ordensstand lebten. Ich deckte alles mit
Schweigen zu bis zu der Zeit, da Gott es durch seine Gnade offenbaren wollte. (Wisse die Wege, Übertragen
und bearbeitet von M. Böckeler. Salzburg 1975, 6. Aufl., S. 89).
Hildegard entscheidet sich also erst nach diesem Auftrag die Texte niederzuschreiben, gibt aber
die Schriften sofort ihren Mitbrüdern zu lesen. Klosterbruder Volmar erscheint hier immer wieder
als derjenige, der ihre Texte überarbeitet, aber sie schreibt selbst. Ihre Tätigkeit ist von Schmerz
und Krankheit begleitet. Im Zuge ihres Schreibens wird sie aber immer wieder gesund, was von
den männlichen Kollegen bemerkt wird und so werden ihre Schriften weitergeleitet - letztendlich
gibt es ein päpstliches Dekret, was ihr den Status der Prophetin zuerkennt. 1147 wird sie also als
Prophetin anerkannt und sie schreibt ihr erstes Personenwerk. Sie hört diese Stimme immer
wieder, aber nicht in einem Zustand der Geistesverwirrung, was sie immer wieder betont. Ihre
Visionen sind also klar. Nach ihrer Anerkennung hat sie eine unglaubliche Tätigkeit entwickelt, sie
hat die Aufgabe bekommen, ein weiteres Kloster zu gründen, sie war somit die erste Frau, der dies
erlaubt wurde. Zwar war es trotzdem unter männlicher Aufsicht, die sie aber selbst wählen durfte.
Hinzu kommt, dass sie sogar architektonisch in den Plan des Klosters eingreifen durfte. Zusätzlich
war sie eminent politisch tätig. Sie pflegt nicht nur einen Briefwechsel mit den größten
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Kirchenautoritäten ihrer Zeit, wo sie ihnen auch durchaus ein Fehlverhalten vorwirft, sie geht auch
als Nonne nach draußen und predigt - vor allem gegen Katharer - und ist somit vor allem für die
Kirche äußerst nützlich. Sie ist über 80 geworden. Wir haben es also mit einer sehr
außergewöhnlichen Biografie zutun, auch wenn sie selbst immer wieder betont, dass sie nichts
anderes ist, als ein Medium Gottes, ein Gefäß für die Stimme Gottes.
Ungewöhnlich für eine Mystikerin sind ihre exegetischen Schriften, hier vor allem ihr Buch zu
Natur- und Heilkunde, sie hat also ihre Visionen kosmologisch ausgeweitet und hat so etwas wie
Lehrbücher geschrieben. Sie war zudem auch noch Komponistin, von ihren Liedern wurden sogar
die Noten überliefert. Allerdings wurde das von den Kirchenautoritäten kritisch beäugt.
Es ist erstaunlich, dass sie nach ihrem Tod kaum rezipiert wurde, auch ihre Heiligsprechung
erfolgte erst sehr spät (2012 durch Papst Benedikt).
Elisabeth von Schönau (1129 - 1164):
Sie wurde früher heiliggesprochen, nämlich im 16. Jhdt. Sie ist ebenfalls Benediktinerin und dem
Doppelkloster von Schönau schon als Kind beigetreten, sie ist nur 32 Jahre alt geworden. Beide
Frauen standen miteinander in Kontakt, Elisabeth von Schönau hat aber eine andere Form der
Vision erfahren als Hildegard. Schon von Kind an war sie sehr kränklich und litt an Schwermut, der
mittelalterlichen Depression. Sie selbst hat die Visionen nicht niedergeschrieben, sondern ihren
Bruder gebeten dem Kloster beizutreten das für sie zu tun.
Es geschah in der Nacht zum ersten Sonntag nach dem Fest des heiligen Jakobus; ich war am ganzen Körper
ermattet, mein Puls schlug schwach, und es begann zuerst mit starken Zittern meiner Hände und Füße. Darauf
ergriff es meinen ganzen Körper, aus allen Gliedern brach mir der Schweiß. Darauf war es mir, als würde mein
Herz mit einem Schwert in zwei Teile zerschnitten.
(…)
Als ich das alles deutlich vor Augen sah, brachen aus mir die Worte hervor: „Hebt die Augen eures Herzens
empor zu dem von Gott geschaffenen heiligen Licht! Seid wachsam und seht den Ruhm und die Glorie und die
Majestät des Herrn.!“ Am Morgen danach bin ich in der dritten Stunde schwerer krank geworden, noch schwerer
als am Abend zuvor. Einer kam von den Brüdern zum Fenster und ich habe ihn gebeten, er solle die Messe für
die Heilige Trinität zelebrieren und er stimmte zu. Sobald aber die Messe feierlich begonnen hat, habe ich, in
Ekstase schauend, geweissagt. Und wiederum schaute ich die vorhin beschriebene Vision, aber viel klarer,
deutlicher und handgreiflicher.
Die Verbindung von Krankheit und Vision ist bei Elisabeth von Schönau sehr stark. Sie erfährt ihre
Visionen in einem ekstatischen Zustand, zumeist während der Messen. Es ist hier eine Form der
Frömmigkeit, die sich von der Hildegards elementar unterscheidet. Sie ist unmittelbarer und
kontemplativer und, wenn man so will, individueller. Durch die Anleitung ihres Bruders Eckbert
entsteht ein sehr großes Visionenwerk, auch bei ihr lässt sich eine politische Richtung feststellen,
auch wenn Experten die ihren Bruder dahinter vermuten der sie dahingehend angeleitet hat. Bei
Elisabeth spricht ein Engel in ihren Visionen - wir haben es also mit einer anderen Form der
Kommunikation zutun - der sie anleitet zu predigen, auch gegen bestimmte Bischöfe.
Auch Elisabeth wird der Status einer Prophetin zuerkannt, wenn auch nicht so offiziell wie bei
Hildegard von Bingen. Man versucht sogar, sie zu denunzieren - es sind falsche Briefe in ihrem
Namen im Umlauf, aber die Amtskirche ist in diesem Umfeld zu schwach. Sie erfährt eine
unglaubliche Autorität durch ihre Visionen, ein Ruf, der weit über ihre Klosterschwestern hinaus
geht. Es gehen sehr viele Mitglieder des kleineren Klerus zu ihr, um Rat und auch die Zukunft zu
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erfahren. Während sie sich vollkommen in den Dienst dieser Visionen übergibt, sieht sie sich
selbst als nicht vorhanden. Ihr Körper wird beinahe dazu gezwungen, etwas hervorzusagen, es
bricht geradewegs aus ihr heraus und sie kann es nicht kontrollieren. Bei Elisabeth haben wir eine
individuelle und suggestive Gotteserfahrung, die sich demütig am Kirchenjahr und dessen
Feierlichkeiten orientiert und diese ekstatisch über durchaus interessante Bilder überhöht.
Beiden Frauen gemeinsam ist, dass sie sich in ihrer Tätigkeiten, in ihrem Schreiben und
Aufschreiben, selbst als Frauen vollkommen zurücknehmen. Es geht hier nicht um weibliches
Schreiben, es geht um Schreiben und um eine Stimme, die trotzdem weiblich vermittelnd ist. Dass
sich Gott auf diese Weise einer Frau zeigt, ist durchaus außergewöhnlich und geht nur über eine
ganz radikale Demutshaltung. Beide Frauen sind auch sehr stark an den religiösen Schriften der
Zeit orientiert.
11. Vorlesung
14. Jänner 2016
Mittelalterliche Frauenmystik II.
Die erste abendländische Frauenbewegung von sehr großem Ausmaß hat im Mittelalter
stattgefunden.
1. Die Beginen als erste abendländische Frauenbewegung
Wie bereits in der vorigen Vorlesung erwähnt wurde, sind im 12. Jhdt. aufgrund von verschiedener
kirchlicher Entwicklungen Laienbewegungen entstanden, die in gewisser Weise auch autonom
agiert haben und teilweise die von der Kirche vertretenen Glaubensgrundsätze abgelehnt haben.
Die Katharer und Waldenser wurden deswegen stark von der Amtskirche verfolgt.
Eine andere Bewegung, die auch im 12. Jhdt. entstand, war eine Bewegung von Frauen, die
sogenannten Beginen. Sie sind tatsächlich Zusammenkünfte von Frauen unter bestimmten
Bedingungen. Warum es diese Gruppierung gegeben hat und deren Ursachen sind in der
Forschung umstritten. Eine Ursache kann sein, dass die Franziskaner- und Dominikanerklöster,
also die Neugründungen, überlaufen waren und die Tore für Frauen gesperrt haben. Daraufhin
haben sich Frauen zusammengeschlossen - ohne Bindung an einen Orden. Diese
Selbstverwaltung und Frauengemeinschaften hat man Beginen genannt. Woher der Name kommt
und dessen Bedeutung ist bis heute nicht geklärt. Es handelt sich auf jeden Fall um autonome und
reine Frauengemeinschaften, die nach jeweils eigenen Regeln gelebt haben. Sie haben
„demokratisch“ agiert, sie hatten hierarchische Strukturen und es wurde zumeist eine Meisterin
bzw. Grand Dame gewählt, die diesen Beginenhof und Siedlung geführt hat. Allerdings haben
diese Frauen oft einen Habit getragen - eine Art Nonnengewand - um ihre Nähe zu den Geistlichen
und Ordensfrauen zu zeigen, denn war eines der Hauptelemente der Gemeinschaften: die
Frömmigkeit und die Liebe zu Gott.
Die Anzahl war der Frauen war sehr groß. (In der Stadt Köln gab es beispielsweise 169 komplette
Beginenhöfe). Ab dem 14. Jhdt. gab es dann Verfolgungen und die Beginen konnten nur
überleben, wenn sie sich wiederum in einen von der Kirche akzeptierten Orden eingegliedert
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hatten. Man könnte diese Bewegung fast als „urkommunistisch“ bezeichnen: die einzelnen
Konvente hatten bestimmte Regeln des Zusammenlebens. Bei einem Konvent heißt es zB, dass
jede aufgenommene Schwester zum Lebensunterhalt Rente oder Vermögen besitzen oder eine
Kunst verstehen, um sich Existenzmittel zu erwerben. Die Frauen haben also ihr eigenes
Vermögen, Ländereien und handwerkliche Kenntnisse eingebracht. Es gab schon die Referenz
des zölibatären Lebens, aber sie durften sich frei bewegen und durchaus den Stand der Ehe
eingehen, was allerdings die wenigsten gemacht haben. Die Erwerbstätigkeit der Frauen diente
sozialen caritativen Zwecken - sie haben sich vor allem der Krankenpflege gewidmet. Sie waren so
innerhalb der Bevölkerung sehr beliebt. Was ihre handwerklichen Tätigkeiten anbelangt, so haben
sie sich vor allem der Fertigung hochwertiger Tuchwaren gewidmet und standen damit in
Konkurrent mit den Zünften und mussten dann per Gesetz diese Art von Produktion unterlassen,
da sie den Kaufleuten im Weg waren. Die Beginen haben sich dann zunehmend den caritativen
Tätigkeiten gewidmet - der Kranken- und Altenpflege und dann letztendlich auch der Totenpflege.
Aus dem Kreis der Beginen stammen die wichtigsten und eindrucksvollsten mystischen Schriften.
Innerhalb dieser Frauengemeinschaften wurde eine ganz eigene Form der Spiritualität und
Frömmigkeit zur Sprache gebracht. Ein Beispiel dafür wäre ein französisches Lehrgedicht einer
französischen Begine:
Wisst Ihr, was ich unter dem Beginentum verstehe?
Ein weites Gewissen,
ein frommes und andächtiges Gemüt,
ein Herz, frei von Unkraut,
denn die Seele erleidet sonst großen Schaden,
an Gott denken im Gebet.
Zwei Tränen aus Reue
und drei aus großem Mitleid
sind genügend Reichtum für den, der über das Meer fährt.
Aber diese Art Frömmigkeit
kann niemand verachten, häufig führt sie Gott den Haushalt.
Wir sind hier bei einer wichtigen Variante dieser Schriften, die aus dem Beginenumfeld kommen.
Die Sprache der Texte ist stark geprägt von weiblichen Vorstellungen, die den Hausstand und
dessen Pflege betreffen, die Vorstellungen von Ehe und Brautschaft auf einer spirituellen Ebene
haben und erotische Vorstellungen einer spirituellen Vereinigung mit Gott, die bei den Frauen stark
körperlich gedacht sind. Es ist also zunächst notwendig zu wissen, dass die Spiritualität und auch
die Schriften der frommen Frauen aus dem Kreis der Beginen nicht ohne extreme
Körpererfahrungen zu denken sind. Die Rolle des Körpers im Zusammenhang des Glaubens ist für
uns relativ schwer zu denken. Der mittelalterliche Gläubige hat versucht über dieses körperliche
Gefangensein herauszukommen, den Körper zu kontrollieren und zu züchtigen und etwas
Geistliches herauszutreiben. Das hat mit einer memento-mori-Vorstellung zutun - man hat den
Körper ohnehin als etwas Verfallenes, Vergängliches und als Material des Irdischen gesehen. Man
hat also den Körper zu religiösen Zwecken manipuliert, das gilt für Männer und Frauen
gleichermaßen. Nur die Art der Manipulation unterscheidet sich wesentlich zwischen Männern und
Frauen.
Formen der Selbstkasteiung:
Es kommt alles an Qualen vor, natürlich auch im Imitatio der wichtigsten Schriften. Sie trieben sich
Messer und Nägel ins Fleisch, geißelten sich, ahmten die Leiden Christi nach, sprangen in eiskalte
Gewässer. Dazu zählt auch die Form der Stigmata: Franz von Assisi war einer der Heiligen, der die
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Stigmata Jesus’ empfangen hat, die im Beten entstanden sein sollen. Eine wichtige Rolle bei
diesen Praktiken sind die Messrituale, die Rituale des christlichen Ritus, hier vor allem die
Eucharistie, wo die Hostie gereicht wird, als unblutige Vergegenwärtigung des Kreuzopfers und
des Todes Christi, die zu elementaren mystischen Erfahrungen geführt haben - zB die Hostie wird
im Mund zu Fleisch etc.
Bei den männlichen Mystikern werden diese Erfahrungen sehr drastisch und so beschildert, dass
über die Erfahrungen bereits in einem theologischen Sinn reflektiert wird. Bei den Frauen wird die
mystische Erfahrung als etwas beschrieben, das unmittelbar und direkt erlebt wird und noch nie da
gewesen ist. Etwas lässt sich ganz deutlich sagen: Frauen beschreiben ihre Manipulation des
Körpers eher als eine Manipulation von innen, während es bei den Männern eine von außen ist
(Schnittwunden, Gürtel aus Eisenstacheln, die getragen werden, etc.). Bei den Frauen gibt s eine
Art innere mystische Erfahrung, die sich auf innere Phänomene bezieht, zB süßer Schleim, der zu
Erstickungsanfällen führt, die Unfähigkeit, etwas anderes als die Hostie zu sich zu nehmen,
Blutungen, etc. Viele dieser sind Körpererfahrungen der Frau, die dann in eine mystische
Erfahrung umgewandelt werden.
Es ist auch eine andere Form der Sprache zu erkenne, vor allem, wenn es um die Brautmystik
geht. Es geht um das Erleben Jesus als Bräutigam, das Erleben einer mystischen Vereinigung von
Seele und Gott, die in einer sehr erotischen Sprache beschrieben wird.
2. Beginen und Mystik
Aus den Kreisen der Beginen stammen die bedeutendsten Schriften der Mystikerinnen, die ganz
elementar von den Schriften abweichen, die in der vorigen Vorlesung behandelt wurden.
Maria von Oignies (1177 - 1213):
Sie ist eine der ersten Mystikerinnen und eine Begine, die in der Nähe von Lüttich geboren wurde.
Als Kind adliger Eltern hat sie Lesen und Schreiben gelernt und wurde mit 14 Jahren verheiratet.
Es gelang ihr, ihren Gatten zur Keuschheit zu überreden und das Paar widmete sich den von der
Gesellschaft Verstoßenen, den Aussätzigen und somit der Krankenpflege. Sie hat in dieser
Tätigkeit hohes Ansehen erlangt, aber auch in ihren mystischen Visionen, die sehr heftig waren,
und sich sehr stark körperlich vollzogen haben. Sie hat ihre mystischen Aussagen
"herausgeschrien wie eine Gebärende“, heißt es von ihrem Biografen Jakob von Vitry. Wir haben
von ihm so etwas wie eine Vita von ihr, in der beschrieben wird, wie sie gelebt hat:
Getrieben von der Leidenschaft des Geistes - gleichsam berauscht von der Süßigkeit des Passahlamms schneidet sie sich voller Ekel mit einem Messer nicht geringe Fleischstücke ab, was sie aus Furcht auf Erden
verborgen hat, und - zu sehr von Liebesleidenschaft entflammt - überwand sie den Schmerz des Fleisches,
dabei einen der Seraphime in der Ekstase des Geistes vor sich sehend. Die Wundstellen sahen Frauen, als ihr
Leichnam gewaschen wurde, und sie bewunderten sie... Wer Simeons Würmer, die aus den Wunden
hervorkrochen, wer des Heiligen Antonius Feuer, mit welchem er sich die Füße verbrannte, schauervoll verehrt,
warum sollte der nicht auch im schwachen Geschlecht die Unerschrockenheit solch einer Frau bewundern,
welche - von Liebe verwundet und von den Wunden Christi erschüttert - sich nicht vor den Verletzungen des
eigenen Körpers scheute. (Vita Mariae, S. 641)
Er beschreibt das Herausschneiden von Körperstücken als Liebesleidenschaft. Man sieht, dass sie
in diesem Text mit den Heiligen, der Legenda Aurea, gleichgestellt wird. Er bewundert diese Form
und hebt Maria in gewisser Weise hervor und sagt, das schwache Geschlecht in der Lage ist, auch
so zu agieren.
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Zum Schluss hat sie sich in ein Kloster begeben und sich vom Andrang der Bevölkerung befreit.
Betrijs von Nazareth („Die sieben Arten des Liebens“) und Hadewijch von Antwerpen (Briefe
in Reimform, Visionen, Gedichte):
Beide haben eigenständig wunderschöne Gedichte geschrieben. Wir haben bei ihnen eine Art von
Minne- und Brautmystik, die ganz elementar mit der weltlichen Liebeslyrik dieser Zeit
zusammenhängt und Bildgeber und -spender ist. Bei beiden spielt die Minne und somit auch
erotische Sprache eine große Rolle.
Die Schriften der Mystikerinnen waren fast ausschließlich in der Volkssprache und damit auch
eine, die wesentlich stärker rezipiert von der Laienbevölkerung wurde.
Der Fall der Maguerite Porete („Spiegel der einfachen Seelen“):
Wir haben es hier mit einer Beginne zutun, die aufgrund ihres Buches - von dem sie nicht
abschwören wollte - als Ketzerin verurteilt und in Paris am Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sie
hat eine radikale Personifikation der mystischen Erfahrung propagiert, indem sie sagt, jede
gläubige Seele könne diese auch ohne die Kirche erfahren. Überhaupt hat die Kirche begonnen,
als sie merkte, dass der Einfluss der Schriften dieser Frauen immer größer wurde, die Frauen stark
verfolgt und ihnen geraten in ein von der Kirche akzeptiertes Kloster zu gehen. Im 16. Jhdt. hat die
Frauenbewegung diese Dimension verloren.
3. Mechthild von Magdeburg: „Das fließende Licht der Gottheit“ (1207 1282):
Mechthild, aus Magdeburg stammend, hat ein niederdeutsches mystisches Buch geschrieben, das
sich "Das fließende Licht der Gottheit" nennt, das in sieben Bücher aufgegliedert ist. Sie ist
berühmt, weil sie eine Art von literarischer Sprache entwickelt hat, die bislang so nicht der Fall war,
zumindest nicht bei einer ihrer Vorgängerinnen. Man spricht bei ihr von einer erotischen Mystik.
Weil sie so müde, erschöpft und von Krankheit gezeichnet war, trat sie letztendlich in ein Kloster
ein und hat erst spät begonnen - mit weit über 50 - ihre mystischen Erfahrungen aufzuschreiben.
Ihre Brautmystik ist stark inspiriert von den Hohenlied von Clairvaux, auch wenn der sprachliche
Zugang ein anderer ist. Es geht bei Mechthild von Magdeburg vor allem um eine mystische
Vereinigung zwischen dem göttlichen Bräutigam und der irdischen Seele, die als Braut bezeichnet
wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese Begehren nicht als einseitig gesehen
wird, sondern als wechselseitig: auch Gott begehrt die liebende Seele. Ihre Mystik wird stark von
der Brautmystik dominiert. Sie spricht von einer Vereinigung im Bett, in einem geheimen Raum, es
kommt bei ihr also tatsächlich zu einer Vereinigung, sie ist aber eine spirituelle, die - und das ist
paradox - über Körpermetaphern funktioniert.
Sie hat in diesem Kloster etwas wie eine eigene Form der Mystik ausgelöst. Nach ihrem Tod gab
es mehrere Nonnen, die in diesem Duktus geschrieben haben. Das Buch wechselt zwischen
Minnegedichten mit Dialogen zu eigenen Beschreibungen, es ist eine ganz merkwürdige Gattung,
die schwer einzuordnen ist.
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Mechthild von Magdeburg über ihr eigenes Schreiben:
Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den ougen miner sele und hoere es mit den oren mines
ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichamen die kraft des heiligen geistes (IV 13,3-5).
Dis buoch ist von gotte komen. (IV, 2,1).
Es sind die Augen der Seele und die Ohren des unsterblichen Geistes - es sind körperliche Bilder,
die quasi spirituell aufgelöst sind. Es geht um eine geistige Form des Sprechens. Es geht um eine
Lichterfahrung, die gleichzeitig eine Erfahrung des Sprechens und des Schreibens ist. In ihrem
ersten mystischen Erlebnis - sie war ungefähr 12 - wird sie vom heiligen Geist gegrüßt, den sie ab
da jeden Tag empfängt:
Ich unwirdigú súnderin wart gegruesset von dem heligen geiste in minem zwoelften jare also vliessende sere,
do ich was alleine, das ich das niemer mere moehte erliden, das ich mich zuo einer grossen teglichen súnde nie
mohte erbieten. Der vil liebe gruos was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte suessekeit und er
wahset noch alle tage. (IV 2, 8-13)
Sie wird in eine Art sündenfreien Zustand versetzt. Das Leid ist eine Süßigkeit, die Passion ist eine
der größten Liebesleistungen, die Jesus dem Menschen gegenüber jemals getan hat. Dieser Gruß
war vermutlich Anlass ihrer Weltflucht und sie ist dann tatsächlich allmählich in den Bereich der
Klöstertätigkeit gegangen, wo der Dominikaner Heinrich von Halle eine große Rolle spielt. Er war
so etwas wie ihr Seelenberater und, wie man heute sagen würde, conscriptor - eine Art Antrieb für
Mechthild, ihr Buch zu aufzuschreiben. Eine Möglichkeit besteht darin, dass Mechthild ihre
Visionen diktiert hat, da er sich sich selbst in dem Buch zu Wort meldet:
Dise schrift, die in disem buoche stat, die ist gevlossen us von der lebenden gotheit in swester Mehtilden herze
und ist also getrúwelich hie gesetzet, alse si us von irme herzen gegeben ist von gotte und geschriben mit iren
henden. (VI 43,2-4)
Es ist die Bestätigung und Legitimation des männlichen Mönchs. Heinrich von Halle will betonen,
dass das Buch tatsächlich höchste Authentizität hat.
Mechthild von Magdeburg hat eine eigene Form der Sprache gewählt und ist eine der ersten
Vertreterinnen der Brautmystik:
Beispiel für einen Dialog:
Die sele kam zuo der minne und gruoste si mit tieffen sinnen und sprach: „Gott gruesse úch, vro minne.“ „Got
lone úch, [liebú] vro kúneginne.“ „Vro minne, ir sint sere vollekomen“. „Vro kúneginne, des bin ich allen dingen
oben.“ „Vro minne, ir hant manig jar gerungen, e ir habint die hohen drivaltekeit dar zuo betwungen, das sú sich
alzemale hat gegossen in Marien demuetigen magetuom.“ „Frouwe kúneginne, das ist úwer ere und
vrome.“ „Frou minne, nu sint ir har zuo mir komen und ir hant mir alles benomen, das ich in ertrich ie
gewan.“ „Frouwe kúnegin, ir hant einen seligen wehsel getan.“ „Frouwe minne, ir hant mir benomen mine
kintheit.“ „Frouwe kúneginne, da wider han ich úch gegeben himelsche vriheit.“ „Frouwe minne, ir hant mir
benomen alle mine jugent.“ „Frouwe kúnegin, da wider han ich úch gegeben manig helige tugent.“ „Frouwe
minne, ir hant mir benomen guot, frúnde und mage.“ „Eya frouwe kúnegin, das ist ein snoedú klage.“ „Frouwe
minne, ir hant mir benomen die welt, weltlich ere und allen weltlichen richtuom.“ „Frouwe kúnegin, das wil ich
úch in einer stunde mit dem heiligen geiste nach allem úwerm willen in ertrich gelten.“ Frouwe minne, ir hant
mich also sere betwungen, das min licham ist komen in sunderlich krankheit.“ „Frouwe kúnegin, da wider han
ich úch gegeben manig hohe bekantheit.“ „Frouwe minne, ir hant verzert min fleisch und min bluot.“ „Frouwe
kúnegin, da mitte sint ir gelútert und gezogen in got.“ „Frouwe minne, ir sint ein rouberinne, dennoch sont ir mir
gelten.“ „Frouwe kúnegin, so nement reht mich selben.“ „Frouwe minne, nu hant ir mir vergolten hundertvalt in
ertriche.“ „Frou kúnegin, noch hant ir ze vordernde got und alles sin riche.“ (I 1)
Die Seele ist das, was von ihr kommt, „Frouwe minne“ steht hier für Gott. (Gott wurde damals oft
weiblich gedacht.) Es ist in einem höfischen literarischen Schrift in einem metaphorischen
Ausdruck geschrieben. In diesem Gespräch entsteht ein gleichwertiges dialogisches Verhältnis, es
ist eine Dialektik des Gebens und Nehmens, was in dieser Form völlig neu ist. Jede Form von
Spiritualität wird ihr in einem unglaublich freundlichen Ton vergolten, ganz anders als bei
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Katharina, bei der die Stimme eine bedrohende ist. Es ist eine mystische Erfahrung, die auf eine
Liebesbeziehung abzielt. Dass Gott mit weiblichen Metaphern gedacht wird, kommt nicht nur bei
Mechthild, sondern auch bei anderen Mystikerinnen vor. Mann und Frau sind hier vollkommen
austauschbar. Wichtig bei diesem Gegenseitigen ist auch die Spiegelmetapher: die Seele spiegelt
die Minne wieder und umgekehrt. Das ist ein Wesen der weltlichen Liebe nach den Autoren des
Mittelalters.
„Du bist min spiegelberg, min ougenweide, ein verlust min selbes, ein sturm mines hertzen, ein val und ein
verzihunge miner gewalt, min hoehste sicherheit“ (I 20,1f.).
Besonders interessant ist die Antwort, die Gott darauf gibt. Die Seele und Gott gehen an einen
geheimen Ort und treiben ein Spiel miteinander. Dieses Spiel dauert nicht ewig und endet,
woraufhin die Seele zu weinen beginnt. Gott tröstet sie mit folgenden Worten:
„Eya du liebú tube, din stimme ist ein seitenspil minen oren, dinú wort sint wurtzen minem munde, dine gerunge
sint die miltekeit miner gabe“ (I 2, 26f.).
Man kann hier sagen, dass die Sprache des Hohenliedes noch immanent ist. Wir haben den
merkwürdigen Fall, dass das Lied erst 50/60 Jahre später in einer alemannischen Übersetzung
entdeckt wurde. Das spricht dafür, dass es tatsächlich zumindest unterdrückt und die Verbreitung
nicht gebilligt wurde.
Es ist ein Spiel mit dem göttlichen Geliebten, was den neuzeitlichen Leser befremden kann. Es ist
auf jeden Fall die erotische Sprache der weltlichen Liebeslyrik dieser Zeit, was aber ihre
Zeitgenossen keinesfalls gestört haben. Das Begehren Gottes ist ebenfalls ein Begehren. Man
hätte hier die Sehnsucht des Göttlichen nach der Kirche und nach den Gläubigen. Das wird hier
aber produktiv gewendet:
Die "hovereise der sele"
Hier wird beschrieben, wie die Seele an Gottes Hof kommt und Gott fröhlich betrachtet:
So wiset er ir mit grosser gerunge sin goetlich herze. Das ist gelich roten golde, das da brinnet in einem
grossen kolefúre. So tuot er si in sin gluegendes herze. Alse sich der hohe fúrste und die kleine dirne alsust
behalsent und vereinet sint als wasser und win, so wirt si ze nihte und kumet von ir selben. Alse si nút mere
moegi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zuo noch abe. So sprichet si: „Herre, du bist min
trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.“ (I 4, 4-11)
Wir haben hier erneut die Spiegelmetapher. Man kann gut erkennen, dass es sich um eine eigene
Form der Sprache handelt, die nicht immer leicht zu verstehen ist. Die Vermischung von Wasser
und Wein steht für die mystische Vereinigung von Seele und Gott.
„Du bist min senftest legerkússin, min minneklichest bette, min heimlichestú ruowe, min tiefeste gerunge, min
hoehste ere! Du bist ein lust miner gotheit, ein turst miner moenschheit, ein bach miner hitze!“ (I 19, 2-4)
Die Minne legt sich mit der Seele in das Bett und sie küssen und liebkosen einander und es kommt
zu innigen Umarmungen. Es ist Gott der hier spricht. Für diese Zeit war es durchaus eine Sprache,
die akzeptiert wurde und als mystische Erfahrung wahrgenommen wurde.
Auch das Licht ist etwas, dass sich verströmen und verteilen kann. Ungefähr so kann man sich die
Fantasien von Mechthild vorstellen.
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Zusammenfassung:
Als eigene Gattung kann man das Buch nicht sehen, es ist eine Klitterung aus verschiedenen
Bereichen der sowohl spirituellen, geistlichen als auch weltlichen Literatur. Mechthild behauptet
immer wieder, dass diese Sprache eine unmittelbare ist und mit anderen nicht in Berührung
kommt. Es ist eine neue Sprache mit neuen Wörtern (im Sinne von Kombinationen). Wir sind in
einem Umfeld, dass anders als bei Hildegard von Bingen funktioniert. Wir haben
Frauengemeinschaften, die in ihren Lebensformen freier sind, als in den strengen Klöstern. Man
hat eine ganz andere Akzeptanz gegenüber von spirituellen Formen, die von der Kirche nicht
sanktioniert sind. Auch bei Mechthild spielt der Körper eine Rolle, aber nicht mehr in einer Form
der Fragmentierung und Zerstückelung. Sie war oft krank, aber nicht in der Form, wie wir es bei
der ersten Begine hatten. Die Vermischung der Geschlechter bei Mechthild ist für unseren
Zusammenhang sehr entscheidend. Auch wenn es den Eindruck hat, als ginge es um Mann und
Frau, spielt diese Vorstellung kaum eine Rolle. Gott als Bräutigam verwendet die gleichen Wörter,
wie die Braut, weshalb erneut eine Art Spiegeleffekt in ihrem Werk existiert. Man könnte also
sagen, ihr Werk zeigt auch inwieweit Postionen von Männlichkeit und Weiblichkeit aufgelöst
werden können und wie sehr sich erotische Liebessprache auflösen kann und inwieweit Mystik
literarisch wird in einem ganz positiven Sinn. Es ist ihr Anliegen ihre Spiritualität in eigener Sprache
zu formulieren, was ihre eindeutig gelungen ist.
12. Vorlesung
21. Jänner 2016
Christine de Pizan (*1364)
Der Vorlesungszyklus wird mit einem Beispiel aus dem Bereich der weltlichen Literatur beendet.
Christine de Pizan ist die erste in Europa lebende Schriftstellerin der Welt, die von ihrer Literatur
leben konnte - eine Berufsschriftstellerin. Die meisten männlichen Autoren der
mittelhochdeutschen Zeit waren Berufsdichter. Sie war auch Philosophin und Frauenrechtlerin. Es
besteht leider keine greifbare Übersetzung des Werkes „Das Buch von der Stadt der Frauen“ auf
dem Markt. Es gibt durchaus Anklänge an Stimmen aus der Frauenbewegung, an Argumenten, die
sie in ihren Werken bringt. Auch hier haben wir eine Frau, die gattungsbestimmend ist.
Da wir uns bereits im späten 14. Jhdt./Anfang des 15. Jhdts. befinden, wissen wir sehr viel über
ihre Person, auch aufgrund ihrer eigenen Angaben. Sie hat nicht nur mehrere Bücher und
philosophische Abhandlungen hinterlassen, sondern auch einen regen Briefwechsel und eine Art
Biografie. Sie wird 1364 in Venedig geboren, ihr Vater Tommaso di Benvenuto da Pizzano
(Thomas de Pizan), lehrt an der Universität Bologna, wo er Astrologie unterrichtet. Der Ruf ihres
Vaters war so groß, dass er an den Hof Karls V. (1338 - 1380) als eine Art Hofwissenschaftler
gerufen wurde, weshalb sie mit drei Jahren an den Hof Karls V. gekommen ist, wo sie aufwuchs.
Ihr Vater hat ihr auch immer wieder Zugang zur königlichen Bibliothek gewährt, dort waren nicht
nur die kostbarsten Bücher dieser Zeit aufbewahrt, sie war auch eine Stätte der Buchproduktion.
Dort dürfte sie einiges gelernt haben, denn sie hat ihre Bücher später selbst illustriert. Wichtig war,
dass sie dort die wichtigsten Klassiker kennengelernt hat, unter andere die Übersetzungen von
Boccaccio.
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Werke:
Cent Ballades. 1399
Le Livre de la Cité des Dames. 1405
Epistre au Dieu d’amours. 1399
Le Livre des Trois Vertus oder Le Trésor de la Cité des
Dames. 1405
Le Debat de deux amants. 1400
Le Livre des trois jugements amoureux. 1400
Le Dit de Poissy. 1400
Epistre a la Royne. 1405
Le Livre de l’advision Cristine. 1405
L’Epistre Othéa. 1400
Le Livre de Prudence oder Le Livre de la prod’homie de
l’homme. 1405
Lettres sur le Roman de la Rose. 1401
Le Livre du corps de policie. 1407
Oraison Nostre Dame. 1402
Le Livre des fais d’armes et de chevalerie. 1410
Le Livre du Chemin de longue estude. 1402
La Lamentacion sur les maux de la France. 1410
Le Dit de la Pastoure. 1403
Le Livre de la Paix. 1413
Le Livre de la Mutacion de Fortune. 1403
Epistre sur la prison de la vie humaine. 1418
Epistre a Eustache Morel (=E. Deschamps). 1404
Les Heures de contemplacion sur la Passion de Nostre
Seigneur. 1420
Le Livre des faits et bonnes meurs du sage roy Charles
V. 1404
Le Livre du duc des vrais amans. 1404
Dictié en l’honneur de la Pucelle oder Le Dictié de
Jehanne d’Arc. 1429
Im Buch „Le Livre de la Mutacion de Fortune“ erzählt sie über ihre ersten Lebensjahre, bezeichnet
sie als sorglos und glücklich. Ihre Beziehung zum Vater scheint eine gute gewesen zu sein. Sie
sagt, dass sie relativ bald ihre Begabung und Intellektualität erkannt hat und dass er ihr, ohne ihr
Geschlecht zu benachteiligen, den Zugang zur Bibliothek uns damit auch zum Wissen geschafft
hat. Sie formuliert es folgendermaßen:
Aber da ich nun einmal als Mädchen das Licht der Welt erblickt hatte, war es nicht vorgesehen, mich von den
Wissensschätzen meines Vaters profitieren zu lassen. Wenn ich dieses Erbe nicht antreten konnte, so hatte
dies weniger mit Recht als mit einem alten Brauch zu tun. Wenn das Recht regierte, so verlöre das Mädchen
ebenso wenig wie der Junge. [...] Und obgleich mir als Frau dies alles nicht zustand, ging meine Neigung doch
in diese Richtung, weil ich ebenso veranlagt war und ich meinem Vater nacheifern wollte. Ich konnte also nicht
umhin, winzige Teilchen, Hälmchen, Pfennige und kleine Münzen zu stehlen, die für mich von seinem
unermesslichen Reichtum abfielen, über den er im Übermaß, verfügte. Und obwohl ich im Verhältnis zu meinem
Heißhunger nur weniges und alles nur durch Diebstahl bekam und auf diese Weise ein bescheidenes Gut
erwarb, so zeigt doch mein Werk deutliche Spuren davon.
Man sieht hier schon die Töne, die sie anspricht. Sie bedauern als Mädchen geboren zu sein und
bezeichnet die Tatsache, dass Mädchen nach wie vor von der universitärer Bildung
ausgeschlossen werden, als Unrecht. Ihre Forschungen bezeichnet sie als Diebstahl bezeichnet,
als ein Eindringen in einen Bereich, der eigentlich den Frauen nicht erlaubt war.
Christine heiratet 1379 im Alter von 14 Jahren einen königlichen Notar. Diese Ehe bezeichnet sie
als äußerst glücklich - aus ihr gehen drei Kinder: zwei Jungen und ein Mädchen, wovon eines früh
stirbt. Sie erwähnt ihren Ehemann stets mit lobenden Worten, daraus können wir schließen, dass
es sich hierbei um eine der wenigen Liebesheiraten gehandelt hat.
1385 verändert sich ihr Leben grundlegend: das beginnt mit dem Tod Karls V. und gleich darauf mit
dem Tod ihres Vaters. Vier Jahre danach verliert sie auch ihren Ehemann. Aufgrund des Tods Karl
V. ist die Familie in gewisser Weise in der Achtung und Hierarchie abgesunken. Die finanzielle
Notlage ist durch den Tod ihres Mannes umso stärker. Hinzu kommt, dass Witwen in der
Gesellschaft als sehr ambivalent galten. Gewöhnlich versuchte man junge Witwen möglichst
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schnell wieder zu verheiraten, was Christine verweigert hat. Witwen, die nicht erneut heirateten
wurden sie von den Klerikern als äußerst gefahrvoll eingestuft, da sie gewisse sexuelle
Erfahrungen hatten. Viele Witwen sind deshalb auch in Frauenklöster eingetreten. Bei Christine
de Pizan ging das nicht, da sie kleine Kinder und keine direkten männlichen Verwandten hatte. Sie
musste für ihre Mutter, ihre zwei minderjährigen Brüder und ihre Kinder sorgen. Über diese Zeit
schreibt sie selbst, dass sie zunächst als Kopistin tätig war. Wir wissen, dass sie ihre Bücher selbst
geschrieben und ausgeschmückt hat - sie hat also das Handwerk der Buchherstellung ebenfalls
sehr gut beherrscht.
Sie hat erst um 1400 begonnen zu schreiben. Sie war einfach stark bemüht war, ihre Familie
zunächst vor dem finanziellen Ruin zu retten. Ihren Witwenstand beschreibt sie folgendermaßen:
Schmalhans war Küchenmeister, wie das bei einer allein stehenden Witwe so üblich ist. Gott allein weiß, wie
sehr ich litt, wenn in meinem Hause Zwangsvollstreckungen durchgeführt wurden und mir die Schergen der
Justiz mein jämmerliches Hab und Gut davontrugen. Das war an sich schon schlimm genug, aber noch mehr
machte mir meine Scham zu schaffen, wenn es darum ging, mir von jemandem Geld zu leihen, um noch
größerem Ungemach zu entgehen. [...] Ach mein Gott, wenn ich daran denke, wie viele Morgen ich im
königlichen Gericht vergeudet habe und wie ich dabei im Winter vor Kälte fast starb - das alles nur, um meinen
Gönnern aufzulauern, sie an meine Anliegen zu erinnern und um Unterstützung zu bitten. Wie oft vernahm ich
dort Beschlüsse, die mir die Tränen in die Augen trieben, und wie viele höchst befremdliche Antworten musste
ich mir anhören! 0 Gott, wie viele Belästigungen und widerliche Blicke, wie viel Spott aus dem Munde
angetrunkener Männer, die selbst im Überfluss lebten, musste ich mir dort gefallen lassen!
Christine hat nämlich versucht, um ihr Erbe ihres Mannes zu kämpfen. Sie hat nicht akzeptiert,
dass sie mittellose Witwe blieb. Für sie ist auch kaum ein Erbe abgefallen, aber als rechtmäßige
Ehefrau hätte sie zumindest einen Anspruch auf Tantiemen gehabt - auch das wurde ihr
verweigert. Etwa ab 1394 beginnt sie zu schreiben, denn sie schreibt einen Zyklus von 100
Balladen - ihr erstes Balladenbuch - dass sie der französischen Königin Isabeau de Bavière
überreicht, in der Hoffnung, in ihr eine Gönnerin zu finden. Auch wenn wir wissen, dass das Buch
der Balladen sehr gern gelesen wurde und Isabeau ihr einiges an Geldern und Gütern zugewendet
hat, war sie immer der Ansicht, dass Autorschaft nur mit Bildung einhergeht. Frauen schreiben
nicht einfach aus sich heraus, sondern es entsteht erst aus einer Bildung. Was sie dann aber auch
sagt, ist, dass der schwere Stand der Witwenschaft, ihr diesen Schritt zur Autorin erst ermöglicht
hat. Sie bedauert zwar den Tod ihres Mannes, aber im Grunde genommen war ihr Bestehen auf
Witwenschaft Glück, um überhaupt intellektuell bleiben und sein zu können.
In der „Stadt der Frauen“ kommt es immer zu Gesprächen zwischen den Allegorien, die bei ihr
weiblich sind, und Christine, hier zum Beispiel ein Gespräch mit der Philosophie:
Lebte dein Ehemann noch, dann hättest du dich zweifellos nicht in so hohem Maße wie jetzt deinen Studien
widmen können, denn die Beschäftigung mit Haushaltsdingen hätte dies verhindert. Du kannst dich also beim
besten Willen nicht als eine unglückliche Frau bezeichnen, verfügst du doch neben den anderen Gaben
zusätzlich über eine weitere, deren Besitz dich in höchstem Maße entzückt: über die süße Lust des Wissens
und Lernens.
Die süße Lust des Wissens und Lernens ersetzt bei Christine sämtliche anderen Formen von
Lüsten und somit auch der Sexualität. Sie führt ein Leben in Keuschheit, aufgrund der
Überzeugung, dass diese Existenzform, die sie wählt, auf jegliche Form von Vergnügungen
verzichten müsse. Interessant ist, wie sie diesen Wandel von der einen Existenzform der Gattin
und Mutter zur Existenzform der Intellektuellen beschreibt - sie beschreibt den Wandel als einen
Genderwechsel. Sie hätte sich von einer Frau zu einem Mann gewandelt. Diesen Wandel
formuliert sie in einer allegorischen Erzählung, wo sie sich selbst als eine Lenkerin eines Schiffes
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sieht, wo dieses Schiff von einem Sturm hin und herumgetrieben wird - gemeint ist hier natürlich
Frau Fortuna:
Eines Tages schlief ich [...] ein, müde und erstarrt vom langen Weinen. Da kam meine Herrin [Fortuna], die
manch einem die Freude abschnürt, zu mir und berührte meinen gesamten Körper. […] Und da plötzlich unser
schutzlos den Wellen des Meeres ausgesetztes Schiff mit großer Wucht gegen einen Felsen geworfen wurde,
erwachte ich und bemerkte sofort, dass ich völlig verwandelt war! Ich spürte, wie meine Glieder viel kräftiger als
zuvor waren, und die Verzweiflung und Trauer, die mich zuvor beherrscht hatten, waren verschwunden. Mit
großer Verwunderung berührte ich mich. Fortuna hatte mich also nicht gehasst, wenn sie mich in dieser Weise
verwandelte, denn auf einmal wichen jene große Angst und Furcht, die mich zuvor am Boden zerstört hatten.
Ich fühlte mich sehr viel leichter und spürte, dass mein Gesicht sich verändert und an Festigkeit gewonnen
hatte, meine Stimme viel lauter, der Körper widerstandsfähiger und behänder geworden waren. Aber von
meinem Finger war der Ring gefallen, den Hymenaios [der griechische Gott der Ehe] mir geschenkt hatte, und
ich hatte allen Grund, traurig zu sein, denn ich liebte ihn [ihren verstorbenen Mann] sehr. Dann erhob ich mich
ohne jede Mühe, denn nichts hielt mich mehr in jener Trägheit des Weinens, die meine Verzweiflung nur
gemehrt hatte. Ich spürte mein starkes und kühnes Herz, staunte darüber und merkte, dass ich wahrhaftig ein
Mann geworden war.
Die Personifikation der Fortuna hat sie berührt und sie ist völlig verwandelt. Die Verwandlung
bezieht sich natürlich nicht auf einen Genderwechsel, der die Geschlechtsmerkmale bezieht,
sondern auf ihre Haltung, die nun aufrechter, widerstandsfähiger, stärker und kühner ist. Sie schafft
eine eigene Mythologie ihrer Person, mit deren Hilfe sie erklärt, wie es ihr gelingt in einer
verzweifelten Lebenssituation zu überleben und den Zustand der Depressivität und
Todessehnsucht zu überwinden. Die Depression, die sie überfällt ist hier aufgrund des Todes ihres
Ehemannes, aber in weiterer Folge auch aufgrund der vielen Frauenfeindlichkeiten dieser Zeit. In
ihren Bildern inszeniert sie sich auch immer als Lehrerin. Sie beschreibt diesen Genderwechsel als
kraftbringend:
Wenn ich dort nicht zugrunde gehen wollte, musste ich notgedrungen einfach so handeln, um mich und die
Meinen zu retten. Nun wahrlich, also wahrhaftig ein Mann - das ist kein Lügenmärchen - unfähig, Schiffe zu
steuern. Frau Fortuna lehrte mich dieses Handwerk und befähigte mich dazu. Wie ihr hört, bin ich noch immer
ein Mann, schon seit geschlagenen dreizehn Jahren. Aber es wäre mir dreimal lieber, eine Frau zu sein, wie
damals, als ich noch mit Hymenaios sprach. Da mich Fortuna jedoch von dort vertrieb, werde ich an diesem Ort
nie mehr heimisch werden und ein Mann bleiben [ ...].
Ganz deutlich: es ist auch ein Ortswechsel und ein Wechsel der Lebensform, den sie hier auch
beschreibt. Letztendlich ist das, was sie betreibt, männliche Tätigkeit, wie zB den Lebensunterhalt
für die Familie zu bestreiten. Der maskuline Habitus ist sehr hilfreich für sie, denn es geht ums
Überleben und Selbstbehauptung in einer Zeit, die damals sehr misogyn gestimmt war. Schreibt
sie nun auch männliche Literatur? Das verneint sie natürlich massivst, denn ihre Stimme bleibt
eine weibliche. Nur ihr Habitus ist ein männlicher, und da geht es vor allem darum, ihre Literatur
mit einem bestimmten Auftreten unter das adlige Publikum zu bringen. Es ist ihr auch gelungen,
denn sie ist nicht nur in ihrer Schreibstube geblieben, sondern hat sich in eine literarische Debatte
des 15. Jhdts. eingemischt: dem sogenannten „Rosenroman“.
1405 hat sie mit der „Stadt der Frauen“ begonnen und sie genoss ein hohes Ansehen unter den
männlichen Kollegen. Dieser „Rosenroman“, der aus dem 13. Jhdt. stammt, war zu dieser Zeit
einer der beliebtesten Romane und wurde häufig gelesen. Christine hat ihn aber als Leserin
massiv verurteilt. Guillaume de Lorris, Verfasser des ersten Teils, hat 4000 Verse geschrieben, in
denen es um einen träumenden Mann geht, der aufbricht, um eine Rose zu erobern. Die Rose ist
Inbegriff vollkommener Weiblichkeit und steht für die Geliebte und verheiratete Frau. Wir haben es
also mit einer typischen Dreiecksgeschichte zutun: ein Mann liebt eine verheiratete Frau, die für
ihn unerreichbar ist. Er trifft verschiedene Personifikationen wie zB den Liebesgott Amor. Es ist
eine Traumreise, die das künstlerische Wissen dieser Zeit zusammenfasst. Es ist ein allegorisch
überdeterminierter Roman.
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1270 setzt Jean de Meung diesen Roman fort und erweitert ihn um 18.000 Verse, die jedoch von
frauenfeindlichen Äusserungen durchsetzt und geprägt sind. Hier setzt Christine an und sagt, dass
diese der Poetik ihren Abbruch tun und dass der zweite Teil der schlechtere sei. Letztendlich
entsteht ein reger Briefwechsel zwischen ihr und anderen Autoren. Christine hat diesen
zusammengefasst und ihn der Königin Isabeau übergeben, mit dem Argument, dass es nicht sein
könne, dass so ein frauenfeindlicher Roman noch gelesen wurde:
Obwohl ich eigentlich zu schwach bin für einen solchen Angriff gegen so überaus kluge Magister, bin ich doch
bewegt von der Sorge um die Wahrheit und weiß mit aller Gewissheit, dass es die gute Sache der Frauen
verdient, verteidigt zu werden. Und deshalb wollte und will mein schwacher Verstand sich dafür verwenden [...],
ihre Gegner und Ankläger zu bekämpfen.
Hier sieht man den frauenrechtlichen Bezug - sie möchte die Verteidigung der Frauen sein und
sagt, dass der „Rosenroman“ die Prominenz nicht verdient. Sie steigt sie bei diesem Kampf
tatsächlich gestärkt heraus, denn auch die Königin lässt von der Lektüre ab - Christine hat somit
einen Erfolg zu verbuchen. Sie betont dabei, dass alle Magister der Universitäten und Kleriker
männlichen Geschlechts sind und das versucht sie im nächsten Argument stark zu machen:
Und da ich wirklich und wahrhaftig weiblichen Geschlechts bin, kann ich in dieser Angelegenheit mit größerer
Berechtigung Zeugnis ablegen als jemand, dem es an eigener Erfahrung gebricht und der stattdessen auf der
Grundlage von Vermutungen einfach aufs Geratewohl losredet.
Wer sei geeigneter über Frauen zu sprechen, als die Frau selbst? Sie will einfach zeigen, dass das
Urteil über Frauen letztendlich Sache auserwählter Frauen ist. Sie formuliert ihr Unbehagen sehr
genau und geht damit auch in die Öffentlichkeit. Ihr Tun zielt tatsächlich auf eine politische Wirkung
ab. Zwei Argumente tauchen immer wieder auf. Christine kritisiert die Vorstellung, dass Frauen von
Natur aus böse sein sollen und sagt, dass es zwar böse Frauen gäbe, sie es aber aufgrund der
gesellschaftlichen Verhältnisse werden. Nicht die Natur sei entscheidend, sondern die Umgebung
entscheidet, was aus einer Frau wird. Hätten mehr Frauen den Zugang zu Bildung, würden die
Männer sehen, dass diese das gleiche tun und können würden, wie die Männer. Sie argumentiert
dann aus der Geschichte heraus und sagt, dass es in der Geschichte so viele tugendhafte Frauen
gäbe - daran sollten Männer Frauen messen. Sie sagt weiter, dass die Diffamierungen nicht
aufhören würden und die einzige Möglichkeit tatsächlich eine Stadt der Frauen sei, eine Stadt, in
der ausschließlich Angehörige des weiblichen Geschlechts leben und diese auch aufbauen. Das
Männliche sei den Frauen immanent. Das Buch wurde 1404/05 beendet und von ihr selbst kostbar
ausgestattet und illuminiert und dann Herzögen vermittelt, die dieses sehr lobend aufgenommen
haben.
„Die Stadt der Frauen“
Wichtig ist hier, dass die Frauen ihre Räume haben, also etwas, wo Männer keinen Zugang haben.
Die drei Tugenden, die zu ihr kommen, sind gleichzeitig die drei Großkapitel. Sie sind alle gekrönt
und gehören an die Spitze der Gesellschaftspyramide. Die Bausteine der Stadt sind weibliche
Vorbilder. Der Titel und das Konzept verweist aber auch auf zwei große männliche Vorbilder:
Augustinus Gottesstaat, den sie in einer französischen Übersetzung gelesen hat, und die auf
französisch übersetzte Werksammlung von Boccaccio, der das Werk 1360 vollendet hat.
Sie entwickelt eine Vorstellung einer idealen Stadt, die von der Vorstellung des Humanismus
getragen wird. Die Stadt wird von Frauen bevölkert, die Schritt zu Schritt imaginäre Räume
besiedeln. Besonders interessant ist das erste Kapitel - die Eingangsszene, in der sie sich selbst
als lesende und studierende Frau in Szene setzt, die sich dann nach leichterer Lesekost sehnt:
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Als ich eines Tages meiner Gewohnheit gemäß, die meinen Lebensrhythmus bestimmt, umgeben von
zahlreichen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten, in meiner Klause saß und mich dem Studium der
Schriften widmete, war mein Verstand es einigermaßen leid, die bedeutenden Lehrsätze verschiedener
Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandergesetzt hatte, zu durchdenken. Ich blickte also von
meinem Buch auf und beschloss, diese komplizierten Dinge eine Weile ruhen zu lassen [...] und mich statt
dessen bei der Lektüre heiterer Dichtung zu zerstreuen.
Ihr Griff in den Schrank nach heiterer Lektüre ist aber ein schlechter, denn sie zieht ein Buch
heraus, das voll frauenfeindlicher Aussagen ist, und es liegt nahe, dass es sich hierbei um den
„Rosenroman“ handelt. Die Lektüre dieses Romans führt zu tiefer Melancholie, so erschüttert ist
sie. Doch die Rettung naht in der Gestalt dreier übernatürlicher Gestalten - die Allegorien der
Vernunft, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Sie bezeichnen sie als Intellektuelle und
Auserwählte und raten ihr ein außergewöhnliches Bauwerk zu erschaffen. Die drei Tugenden
haben drei verschiedene Gegenstände, die Christine überreicht werden:
Du aber, teure Freundin, verdienst es, in deiner Verwirrung und Traurigkeit von uns aufgesucht und getröstet zu
werden. Dies verdankst du deiner leidenschaftlichen Liebe zur Ergründung der Wahrheit durch langes und
beharrliches Studium, um dessentwillen du dich aus der Welt hierhin in die Einsamkeit zurückziehst.
Es ist wiederum der Gedanke der Liebe und Leidenschaft, mit dem sie sich den Studien widmet,
eine Art Ersatz der körperlichen Liebe ihres vorigen Lebens. Man sieht auch einen Übergang von
dem zurückgezogenen Leben in der Stube (vita contemplativa) zur vita activa - erneut ein Wechsel
der Existenz. Man verharrt nicht im Zustand der Depression, sondern geht zur Tätigkeit über - eine
Stadt zu erbauen. Dieser Übergang wird mit einem neuen Frauenbild eingeleitet wird, mit der Frau
Vernunft:
Jetzt fang an, Tochter. Laß uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinausgehen aufs Feld der Literatur: dort soll
die Stadt der Frauen auf einem fetten, fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen,
sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art. Nimm die Spitzhacke deines
Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo es mein Lot dir anzeigte..]
Auch hier wiederum der Übergang, die Aufforderung zu handeln, eine Kanon-Revision.
Gliederung des Werks:
In jedem Buch geht es um eine durchgehende Argumentation, es ist literarisch und philosophisch
zugleich.
• Buch 1: Die Vernunft
Hier wird die Frau als gleichwertiger Mensch hervorgehoben, genauso wie jede Form der
Misogynie ein Verstoß gegen die Gesetze darstellt. Die Klugheit ist nach Christine ebenfalls
weiblich. Es kommen auch Fürstinnen des Mittelalters vor und sie spricht auch die Amazonen an,
die für sie ein Beweis sind, dass Frauenherrschaft möglich ist. Sie übernimmt dabei nur die
positiven Aspekte. Sie sagt auch, dass die Amazonen vor allem wehrhaft waren, was die heutigen
Frauen von ihnen lernen könnten. Sie sagt auch, dass das Amazonenreich untergegangen ist, ihre
Stadt aber unzerstörbar sei und die Zeit überdauern wurde - sie spricht hierbei auch von ihrem
Buch.
- Der Mensch als moralisches Wesen
- Die Frau als Herrscherin
- Die Frau als Kämpferin
- Die Frau als Künstlerin
- Die vernünftige Ehefrau
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• Buch 2: Die Rechtschaffenheit
Hier geht es um die Rechtschaffenheit, dem ganzen Innenraum der Frauenstadt, es geht um die
Frau als politischen Menschen. Es geht um moralische Handeln der Frauen und deren Tätigkeit als
gesellschaftsstabilisierenden Faktor. Sie fordert mehr Bildung für Frauen:
Nicht alle Männer, und am wenigsten die weisesten unter ihnen, sind also der [...] Meinung, daß
Bildung den Frauen schadet. Eins steht jedoch fest: zahlreiche Männer, die selbst nicht sonderlich
klug sind, verbreiten dies, weil es ihnen mißfiele, wenn Frauen ihnen an Wissen überlegen wären.
Dein eigener Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das
Erlernen einer Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große
Freude, als er deine Neigung für das Studium der Literatur erkannte.
-
Die Phrophetinnen
Die loyalen Töchter
Die loyalen Ehefrauen
Die Frau als Wohltäterin
Die intelligente Frau
-
Die keusche Frau
Die sittsame Frau
Die beständige Frau
Die treue Frau
Die von der Fortuna begünstigte Frau
Hier auch das Lob an ihren Vater, dem sie viel verdankt. In diesem zweiten Buch wird auch immer
wieder die sexuelle Enthaltsamkeit betont. Christine betont immer wieder die Notwendigkeit der
Enthaltsamkeit um diese Art des Lebens zu führen, weshalb ihr oft Prüderie unterstellt wurde.
Buch 3: Die Gerechtigkeit:
Gemeint ist hier das Dach, das das Gebäude vollendet, das auch mit Türmen ausgestattet ist. Es
geht um die Frau als Heilswesen, ein Aspekt, der ihr wichtig ist. Im dritten Buch werden die
weiblichen Heiligen genannt, auch Maria. Es kommt nicht von ungefähr, dass Katharina von
Alexandria hier prominent erscheint, jene Heilige, die predigen durfte. Es gibt auch eine
Namenspatronin - die Jungfrau Christina aus der Stadt Tyrus - die zu einer Art Spiegelfigur für
Christine de Pizan wird. Frauen werden hier als ideale Gläubige dargestellt mit einer
Idealsymbiose von Transzendenz und Immanenz.
- Die Jungfrau Maria
- Die heiligen Frauen
- Die Dienerinnen
Das Buch „Die Stadt der Frauen“ liest sich sehr vergnüglich und zwar deshalb, weil sie rhetorisch
unglaublich brillant ist. Sie wusste schon immer von den Männern gewusste Wahrheiten durch
eine kleine Wendung umzudrehen und einen positiven Aspekt hineinzubringen. Man könnte sagen,
dass wir in dem Werk zwei große Themenbereiche haben:
Die Lage der Frau, die sich nicht durch ihre Natur, sondern ihre Lage begründet und dass die Lage
der Frau so ist, ist eine Folge der Unterdrückung zu der sie gezwungen werden. Sie nimmt das
wahr, was wir als soziale Konstruktion des Geschlechts sehen. Sie sieht eine systematische Arbeit
der Männer diese Hierarchie und die Vormacht des Männlichen aufrecht zu erhalten. Zu ihrer Zeit
war diese Vorstellung der Stadt der Frauen der einzige Ausweg aus diesem Bereich, aber das
entscheidende ist, dass sie hier eine räumliche Dimension hereinbringt, sowohl was den eigenen
Raum, als auch was die Vorstellung eines Raumes in Form einer ganzen Stadt anbelangt.
Das, was sie sich in dieser Gebäudefantasie vorstellt, ist ein utopischer Raum nur für Frauen, auch
wenn Utopie eigentlich nicht Ort meint. Das will sie so nicht verstanden haben. Vielleicht kann man
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es so fassen, dass es eine Art Gynäkotopie (Ort der Weiblichkeit – nur von Frauen bewohnt) mit
eigener Wendung ist - eine Stadt mit typisch mittelalterlichen Kulturen. Was nicht vorkommt, so
politisch sie auch war, ist so etwas wie eine Überlegung zur Lebensgestaltung des
Zusammenlebens dieser Frauen und ist somit keine politisch soziale Überlegung. Vielleicht hat sie
es auch nicht als notwendig befunden, in dieser idealen Stadt Regeln des gesellschaftlichen
Zusammenlebens zu bestimmen, für sie ergibt sich das von selbst.
Der Aspekt der Geschichtlichkeit ist hier ebenfalls entscheidend. Sie baut ihr Werk so auf, dass
sowohl Figuren aus der Mytologie, als auch reale Figuren vorkommen und gibt den Frauen so eine
eigene Geschichte, eine Frauengeschichte, die natürlich hierarchisch geordnet ist (an der
höchsten Stelle steht Maria). In einem ihrer späteren Gedichte schreibt sie nochmal, wie wichtig es
ist, einen eigenen Raum zu haben, und dann noch über das Alleinsein:
„Ich bin ganz allein, und will es auch sein.“
1429 schreibt sie über Jeanne d’Arc, deren Ende sie so massiv erschüttert, dass sie ihre
Schrifttätigkeit endet und in ein Frauenkloster geht.
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