BER VOM G ESCHICHTEN Gletschersterben / Die Alpen ohne Schnee Trachtentanz / Tradition mit Schwung Almwirtschaft / Aus Liebe zur Kuh G Editorial Top of Germany: Er ist 2962 Meter hoch und damit der höchste Berg Deutschlands die Zugspitze Was wird aus den Alpen? Dieser Frage sind wir, 13 Stipendiaten der Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer- Stiftung, im Sommer 2015 im Landkreis Garmisch-Partenkirchen nachgegangen. Was macht der Klimawandel mit dieser Region? Wie prägen 100 Jahre Massentourismus die Landschaft und ihre Bewohner? Und warum verunglücken immer mehr Menschen in den Bergen? Servus! Die Redaktion Und die Alp-Träume, die unser Titel verheißt? Die fangen dort an, wo Fakten ein Gesicht bekommen, Menschen ihre Geschichten erzählen und die traumhafte Landschaft die Fantasie beflügelt. Wir haben unser Heft in vier Rubriken unterteilt, inspiriert von den Leitmotiven unserer Recherchen: Sorge bereiten uns sterbende Gletscher und die Folgen des Massentourismus. Verlockung verspüren wir angesichts neuer Trends und Ideen, die sich hier ent wickeln. In Ekstase versetzt uns der Rausch der Geschwindigkeit im alpinen Sport. Und beeindruckt hat uns die Leidenschaft, mit der die Menschen hier bewahren, was sie seit Jahrhunderten ausmacht. Viel Spaß beim Lesen! Ihre Redaktion 2 Alp-Traum? Die Gefühle der Seminarteilnehmer auf der frei schwebenden Aussichtsplattform AlpspiX, 1.000 Meter über dem Höllental, reichten von Beklemmung bis Begeisterung www Alpträume / Geschichten vom Berg gibt es auch als multimediale Ausgabe im Netz http://projekte.jonamag.de/alpträume 3 Inhalt Al p Ekstase Leidenschaft Verlockung sorge „Wettkämpfe bis zum bitteren Ende“ Freilichtmuseum Trügerische Idylle Tauwetter Sie pflegen die Kulturlandschaft der Alpen in ihrer Freizeit: Besuch beim Almbauern Dank guter Luft und atemberaubender Natur kommen viele Rentner in die Region – und doch nicht wirklich an Der Almhirte sitzt auf dem Trocknen, der Schnee schmilzt: Wasserstandsmessung im Wettersteingebirge / Seite 23 / / Seite 6 / Gestrafftes Geschäft Daten Unter ärztlicher Aufsicht verschwimmt die Grenze zwischen Gast und Gastro enterologie Angezählt: Eine Vermessung der Region vom Baumbestand bis zu den entscheidenden 37,94 Metern Mit Schneekanonen ins Gefecht: Ein Gespräch über die Zukunft des Skisports in Garmisch-Partenkirchen Sie entspannt und beflügelt: Die Landschaft in den Ammergauer Alpen ist fantastisch. Sie zu erhalten, ist auch Aufgabe der Landwirte S. 18 / Seite 10 / Steil Der Schnee schmilzt, bergab geht es trotzdem – eine Suche nach Kick und Geld am grünen Hang / Seite 12 / Absturz / Seite 18 / Nicht aus der Mode Wenn Enkel Kleider aus Omas Schrank holen: Auf einen Tanz zum Trachtenumzug / Seite 26 / / Seite 40 / Aus dem Leben geschnitzt Bei Anruf Rettung: Die Bergwacht rückt aus, wenn der Boden unter den Füßen wegrutscht Im Oberammergauer Handwerk, prallen Alt und Jung aufeinander und doch sind irgendwie alle aus demselben Holz / Seite 16 / / Seite 42 / / Seite 29 / Akkordurlaub Einmal Zugspitze und zurück in zwei Stunden: unterwegs mit einer chinesischen Reisegruppe / Seite 46 / Monokultur Wie abhängig darf die Region vom Tourismus sein? Sechs Meinungen zwischen Naturschutz, Gewerbe und Politik / Seite 38 / Titel Lächeln bitte! Chinesische Reisegruppen rasten nur kurz fürs Foto S. 26 4 Bergab macht auch ohne Schnee Spaß S. 12 Nach dem Sommer auf der Alm treiben die Landwirte ihre Kühe zurück ins Tal. War der Almabtrieb früher bäuerliche Tradition, ist er heute eher eine Touristenattraktion, so wie hier beim historischen Trachtenumzug in der Ludwigstraße in Garmisch-Partenkirchen / Foto Marcus Schoft / Impressum / Seite 51 / 5 Der Gletscher stirbt: Der nördliche Schneeferner im Jahr 1890 (Foto: S. Finsterwalder, Kommission für E rdmessung und Glaziologie)… Tauwetter Die Almwirte in den bayerischen Alpen bekommen zu spüren, was der Klimawandel bedeutet. Die Gletscher schmelzen vor den Augen der Forscher. Eine Reise zu den Ursachen Von Stefanie Dodt … und im Jahr 2006 (Foto: M. Weber, Kommission für Erdmessung und Glaziologie) E s war ein Versuch. Carl Petzold nimmt die 300ml-Plastikflasche aus dem Holzschrank hinter der Tür. „Weihwasser“ steht auf dem Etikett. Er läuft den schmalen Pfad hinter der Hütte entlang, vorbei an meterhohen Fichten. Es ist um die 30 Grad heiß. Die Schellalm steht auf 1.500 Metern Höhe, mitten in den bayerischen Alpen. 15 Minuten geht er leicht bergauf, bis er die Stelle erreicht, an der ein Bach fließt. Fließen sollte. Aus dem Berggeröll ragt eine alte Holzrinne hervor. Vor etwa einhundert Jahren wurde sie angebracht, ein angestecktes Plastikrohr schließt an die Rinne an. Sie leitet das Wasser in eine grüne Tonne. Aber die Tonne ist leer, aus dem Rohr tröpfelt es nur. Carl Petzold, 34, Almhirte, schraubt die Flasche auf und träufelt sich das Weihwasser in die Handfläche. Die Tropfen verteilt er auf dem Geröll. Drei-, viermal setzt er an, betet ein Vaterunser, bittet den Herrgott, 6 das Wasser wieder laufen zu lassen. Er weiß nicht so recht, ob er glauben soll, was er tut. Aber früher hat so etwas auch geholfen. Damals hat die Urgroßmutter beim ersten Blitz die Wetterkerze angezündet, um dafür zu beten, dass das Unwetter weiterzieht. Heute bittet Petzold um Regen. Denn auch die Tanks mit Bergquellwasser für seine 53 Kühe sind ausgetrocknet, und die Tiere brauchen bei der Hitze etwa 100 Liter Wasser am Tag. Seine Almhütte hat keinen Wasseranschluss, und immer häufiger versiegt die Quelle wegen Hitze und Trockenheit. Die Almhirten gehören zu den Ersten, die den Klimawandel zu spüren bekommen. Früher regnete es alle zwei, drei Tage, heute bleibt manchmal über Wochen der Niederschlag aus. Dann kommt der Starkregen, den der ausgelaugte Boden nicht aufnehmen kann. Und die Bergquellen versiegen. Carl Petzold muss zwei Stunden laufen und 800 Höhenmeter absteigen, um die nächste Straße zu erreichen. Aber auch weniger abgelegene Almen haben Probleme mit der Trockenheit: Vor zwei Jahren musste etwa ein Drittel der Hütten in der Region Garmisch-Partenkirchen von Jeeps, Seilbahnen oder dem Helikopter mit Wasser versorgt werden. Z wei Tage, nachdem Carl Petzold an der Quelle stand und betete, ließ der Herrgott das Wasser wieder laufen auf der Schellalm. Wegen der Wassernot hatte der Hirte trotzdem schon 13 der 53 Kälber wieder ins Tal getrieben. Sechs Wochen früher als geplant. Das sind sechs Wochen weniger, in denen die Kühe eigentlich grasend über die Almen ziehen und dabei den Humusboden nähren. Für Carl Petzold war der Regen trotzdem ein „Riesenmassel“, eine glückliche Fügung. Wäre es zwei weitere Tage trocken geblieben, hätten alle Kühe die Alm verlassen müssen. Die Tanks sind jetzt erst mal wieder voll. Der Hirte sitzt am Holztisch in seiner Hütte, auf einem verwaschenen Sitzkissen, gelb, grün, blau und ein bisschen rot, aber doch irgendwie alles derselbe Farbton, vor ihm eine Tasse Kaffee. Das Wasser dafür hat er gerade auf dem Holzofen gekocht. Er hat nicht viel und er hätte es schwer, wenn er mehr bräuchte. Geduscht wird in der Regentonne, die Toilette ist unter der Fichte, nur das Wasser aus der Quelle, das braucht er wirklich. Wie viel Wasser in den nächsten Jahrzehnten noch aus den Bergen kommen wird, erforscht Geograf Michael Weber von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er steht am nördlichen Schneeferner unterhalb der Zugspitze. Das blaue Gletschereis wird an vielen Stellen von schwarzem Schmutz überdeckt. Der 7 Hirte Carl Petzold füllt Weihwasser nach. Zum ersten Mal hat er damit an seiner Wasserquelle für Trinkwasser gebetet Carl Petzold befreit die Tonne, in der er sein Trinkwasser auffängt, von Algen. Seit dem letzten Regen hat sich die Lage etwas entspannt Am Schneefernerhaus, direkt unterhalb der Zugspitze, arbeiten Forscher aus zehn Forschungsinstituten. Hier führt Weber seine Messungen durch Der Geograf Michael Weber von der Ludwig-MaximiliansUniversität München hat erstmal berechnet, was der Klimawandel in den Bayerischen Alpen genau bedeutet nördliche Schneeferner ist der größte der fünf verbliebenen deutschen Gletscher, und die Forscher können nur dabei zuschauen und dokumentieren, wie er vor ihren Augen schmilzt. Weber steht auf der Schneedecke, wenige Meter dahinter fließt das Schmelzwasser. Schon jetzt, Ende Juli, sind große Bereiche schneefrei. „Das ist Gift für jeden Gletscher, wenn er über Sommer keine Nahrung und keinen Schutz durch den Schnee erhält.“ An einem Moränenwall kann man ablesen, wo der Gletscher einmal das Geröll vor sich hergeschoben hat. Heute rollen die Steine über die Reste des Gletschers, der von einigen Forschern nur noch als „Tot-Eis-Feld“ bezeichnet wird. „Man sieht ganz deutlich an seiner Form, dass es ein sterbender Gletscher ist. Er ist richtig eingesunken an seiner Oberfläche“, sagt Weber. Um die Schneedecke genau zu untersuchen, baut er ein Stativ auf, oben drauf schraubt er den oran- 8 In seinem Tagebuch vermerkt Petzold, für wie viele Tage das Wasser noch reicht. Am 14.07.15 waren die Reserven aufgebraucht gefarbenen, kastenförmigen Laserscanner, den er über Kabel mit seinem Laptop verbindet. Ein Spezialprogramm zeichnet Punkt für Punkt die Koordinaten der Schneedeckenoberfläche auf. Dort liegen die Reste von dem, was einst der 300 Hektar große Gletscher war. Heute sind noch knapp 30 Hektar übrig. Es ist, als würde man die Fläche von 420 Fußballfeldern auf 42 einstampfen. Weber lasert die verbliebene Schneedecke vom Dach des Schneefernerhauses ab und erstellt aus den Daten Modelle, wie es weiter gehen könnte. Weber hat damit erstmals berechnet, was genau der Klimawandel für die Zugspitzregion bedeutet. Die Ergebnisse sind erschütternd. Die Schneedecke in den Alpen schmilzt rapide weiter, und den Forscher beeindruckt vor allem das rasante Tempo. Die Temperatur hat sich im 20. Jahrhundert an der Zugspitze um 1,2 Grad erhöht. Forscher prognostizieren einen erneuten Anstieg um 1,2 Grad bis 2050. Bis dahin wird auch die Schneedecke an der Zugspitze im Sommer vier Wochen früher verschwinden. Weil der Schnee auch der Wasserspeicher für die Bergflüsse ist, wird einerseits die Trockenheit verstärkt. Andererseits kann es durch das Schmelztempo im Tal häufiger zu Überschwemmungen kommen. Für die Gletscher in den bayerischen Alpen bedeutet das, dass ihre Jahre gezählt sind. „Man kann eins und eins zusammenzählen und wird zu dem Ergebnis kommen, dass unsere Gletscher nur noch wenige Jahrzehnte Bestand haben werden“, sagt Weber. Wenn die Gletscher schmelzen, fehlt auch bald den Skifahrern die Grundlage. Schon jetzt ist eine Talabfahrt im Skigebiet von Garmisch-Partenkirchen an manchen Tagen nur noch durch künstliche Beschneiung möglich. Der Skibetrieb am Wank, ein Berggipfel von 1.800 Metern Höhe, wurde 2002 nach 30 Jahren eingestellt. Die Lifte wurden abgebaut, heute gibt es nur noch eine Zubringerbahn, mit der Wanderer kommen. Auch die Bayrische Zugspitzbahn Bergbahn AG investiert nicht mehr in neue Skilifte, weil sie damit rechnet, dass in 25 Jahren so umfangreich beschneit werden müsste, dass die Kosten-Nutzen Rechnung nicht mehr aufgeht. Schon jetzt kommen 75 Prozent der Gäste nicht mehr zum Skifahren auf die Zugspitze, sondern zum Wandern, und um Aussicht und Luft zu genießen. Die Touristiker setzen jetzt auf den Sommerurlauber. Einfach den Fokus verschieben, in eine andere Richtung investieren, das kann der Hirte Carl Petzold nicht. Für seine Kühe ist das Wasser aus den Bergbächen Überlebensgrundlage. Und für ihn selbst auch, etwa vier Liter braucht er am Tag. Gerade sprudelt seine Trinkwasserquelle wieder. Gott sei Dank. 9 Mehr als 20.000 Fans fiebern im Skistadion von GarmischPartenkirchen mit, wenn die Springer ins Tal segeln Foto: Markt Garmisch-Partenkirchen „Wettkämpfe bis zum bitteren Ende“ Jedes Jahr finden in Garmisch-Partenkirchen ein Skiweltcup und das Neujahrsskispringen der Vier-Schanzen-Tournee statt. Das gefällt nicht allen. Die Veranstaltungen seien teuer und schädlich für die Umwelt. Hannes Krätz, Sprecher des Skiclubs Partenkirchen, von Marcus Schoft über schöne Bilder, teuren Schnee und das sportliche Erbe des Ortes 10 Braucht Garmisch-Partenkirchen den Wintersport? Hannes Krätz // Der Wintersport hat für Garmisch-Partenkirchen eine sehr große Bedeutung. Das war in der Vergangenheit so, das ist heute so und sicherlich wird das auch in Zukunft so sein. Das liegt vor allem an unseren Bergen. Denn wenn in Deutschland Wintersport stattfindet, dann in erster Linie in Garmisch-Partenkirchen. Und was passiert, wenn durch den Klimawandel kein Wintersport mehr möglich ist? Dann hat Garmisch-Partenkirchen den Auftrag, als Letzter das Licht auszumachen. Denn wir haben mit der Zugspitze nun mal den höchsten Berg Deutschlands und sind so aufgestellt, dass wir sicherlich bis zum bitteren Ende gut Wettkämpfe austragen können. Und das sollten wir dann auch tun. Die Wettkämpfe stehen oft in der Kritik, weil sie zu teuer sind. Wenn man die Werbung bezahlen würde, die die Ereignisse für diesen Ort sind, dann würden die Budgets der Kommunen hier wesentlich mehr in Anspruch genommen. Ich glaube nicht, dass man das überhaupt ersetzen könnte. Das Neujahrsskispringen hat sehr viele Stunden TV-Zeit in vielen Kanälen weltweit. Allein darüber erreichen wir 100 Millionen Zuschauer. Solche TV-Werbung könnte sich ein Ort wie Garmisch-Partenkirchen gar nicht leisten. Umfragen haben ergeben, dass Garmisch-Partenkirchen eher durch das Neujahrs skispringen bekannt ist, als durch das Label „Top of Germany“, also durch die Zugspitze. Und das sagt schon viel aus. Vor zwei Jahren musste der Ski-Weltcup wegen Schneemangel abgesagt werden. Auch beim Neujahrsskispringen 2015 hat man lange um Schnee gebangt. Macht Ihnen das keine Sorgen? Das Skispringen war eigentlich nicht in Gefahr. Wir haben nur lange diskutiert, mit welchem Schnee wir die Schanze belegen oder ob es doch noch rechtzeitig schneit. Da haben wir lange gepokert und dann auch gewonnen, als vier Tage vor dem Springen doch noch Schnee fiel. Der Aufwand für den Skiweltcup ist natürlich viel größer, weil die Abfahrten länger und breiter sind als die Schanze. Da müssen die Veranstalter viel mehr Kunstschnee produzieren oder g rößere Schneedepots anlegen. Die Logistik dafür wird laufend w eiter optimiert, auch um die Kosten gering zu halten. Lässt sich denn die künstliche Beschneiung noch verbessern? Für uns ist es ausgeschlossen, dass wir zum Beispiel mit chemischen Hannes Krätz, ist Sprecher des Ski-Clubs Partenkirchen, der jedes Jahr das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee austrägt. Er selbst ist aber noch nie von der Schanze gesprungen Mischungen bei Plusgraden beschneien. Wenn die Temperaturen so sind, dass wir nicht mehr beschneien können, dann geht’s halt nicht mehr. Irgendwann stehen Aufwand und Ergebnis nicht mehr im Verhältnis. Aber so lange es zwei, drei oder vier kalte Nächte im Vorfeld einer Veranstaltung gibt, dann reicht das, um die Events durchzuführen. Die Bayerische Zugspitzbahn betreibt alle Lifte und Pisten in Garmisch-Partenkirchen, manche dort stellen den Skiweltcup in Frage. Ich glaube nicht, dass es solche Tendenzen gibt. Aber es ist nachvollziehbar, dass die Bahnbetreiber kein Geld in eine vergleichsweise teure Veranstaltung wie den Skiweltcup stecken wollen. Der Aufwand für die Pistenpräparierung ist jetzt schon riesig. Steht denn die Bevölkerung hinter den Großveranstaltungen? Sowohl im Ortsteil Garmisch als auch in Partenkirchen sind die SkiClubs sehr stark in der Bevölkerung verankert. Jeder Club hat zwischen 1500 und 2000 Mitglieder, die das ganze Jahr mehr oder weniger aktiv sind. Wir betreuen mehrere hundert Kinder und Jugendliche. Die Clubs erfüllen also auch eine wichtige soziale Aufgabe. Auf der anderen Seite engagieren sich die Mitglieder und viele Ehrenamtliche bei den Großveranstaltungen. Wenn da jemand mit dem Rotstift käme, wäre sicher der Aufschrei groß. 11 ` Gute Hanglage: Markus Reiser liebt den Rausch der Geschwindigkeit auf dem Rad Bergab kann so schön sein: Die Abfahrt auf dem „Alpine Coaster“ verspricht einen Adrenalin-Kick Der Schnee ist weg. Am Kolben, dem Hausberg von Oberammergau, geht es trotzdem rasant bergab. Eine Suche nach Kick und Geld am grünen Hang Von Maria-Xenia Hardt chneller. Steiler. Noch ein bisschen schneller. Noch ein bisschen steiler. Bremsen, aber nur kurz. Blick nach rechts: Kühe. Blick nach links: Wald, zu Grünschleier verschwommene Fichten und Büsche und Moos. Blick nach oben: Wolken, die Sonne sickert hier und da durch. Es riecht nach Gras und Sommerregen. Rechtskurve. Linkskurve. Ein paar Meter bergauf, mit Schwung über die Kuppe, der Magen sackt kurz weg, weiter bergab, im Hintergrund der Kolben, das Bergkreuz verschwimmt im Dunst. „Bergab schnell um die Kurve kommen, das gibt ein richtiges Hochgefühl“, sagt Markus Reiser. Ein Gefühl von Freiheit, so wie F reiheit sich nur anfühlen kann, wenn der Abgrund nicht weit ist. Der Reiz der Berge liegt für viele darin, dass es bergab geht – steil, schnell, und auch ein bisschen gefährlich, der Abgrund immer in Sichtweite, der Adrenalinpegel am Anschlag. Jahrzehntelang rasten Einheimische wie Touristen vor allem auf Skiern und Snowboards ins Tal. Den Großteil des Geldes verdiente die Region auf der Piste. Aber die Berghänge bleiben immer öfter und immer länger grün. Die Gier nach dem ultimativen Kick muss anders gestillt werden. Markus Reiser ist Adrenalin-Junkie von Berufs wegen. Er kommt aus einer Radfahrerfamilie, schon früh wurden die Reifen am Bike immer breiter und die Abhänge immer steiler. „Im Flachen zwei Stunden unterwegs zu sein, ist nichts für mich“, sagt er. Inzwischen fährt er, wie auch sein Bruder Tobias, professionell Enduro-Bike. Gemütlich rauf, schnell runter, je enger die Kurven, desto besser. „Für mich gehört dazu, dass man wirklich im Gelände fährt und nicht auf vier Meter breiten Forstwegen“, sagt er. Unmittelbar in der Natur zu sein, in den Bergen, das macht das Fahrrad möglich. „Das Bike gehört zu den Bergen - ich komme viel weiter und hab mehr Spaß dabei.“ Nicht jeder kennt den Wald so gut wie Reiser, aber auch Auswärtige wollen den Downhill-Kick. Der Erste, der in Oberammergau das Potential der Biker und ihrer Geldbeutel erkannte, war Tobias Baab. Er eröffnete 2006 am Kolben drei Biketrails, spezielle, steile Radwege. Mit dem Lift nach oben, auf dem Bike ins Tal - das lockte bald Scharen aus dem Umland: Augsburger, Münchner, Innsbrucker, Stadtvolk auf der Suche nach Draußen-Action. „Die Leute sitzen die ganze Woche 13 Wenn Markus Reiser mit seinem Bruder im Wald trainiert, geht es über Stock und Stein bergab. Manchmal schiebt er sein Rad auch ein Stück berghoch. Aber gebremst wird nur, wenn es unbedingt sein muss 14 im Büro. Die suchen den Kick“, sagt Baab. Der Kolben entpuppte sich als Goldgrube. In der wollen viele aus der Gemeinde nicht graben. Oberammergau soll bleiben, wie es ist. Ruhiger als Garmisch-Partenkirchen im Tal nebenan. Es soll bald einen Naturpark geben, hier, in den Ammergauer Alpen. Der Geschäftsführer der örtlichen Tourismus- GmbH, Christian Loth, sagt, die „intakte und gepflegte Kulturlandschaft“ sei eine der wichtigsten Anziehungskräfte der Region. Das heißt: Erhalt der Almen und Höfe. Ein paar Wanderwege. Familien, die Urlaub auf dem Bauernhof machen. Rentner, die zum Heilwandern kommen. Postkartenidylle, soweit das Auge reicht. Biker mit Adrenalinüberschuss passen da nicht rein. Eigentlich ist hier genug Platz für alle. Für Familien und Funsportler, für Abenteurer, Alte, Adler, für Bauern und Kühe und Borkenkäfer. Natürlich ist ein Biket rail ein Eingriff in die Natur, aber das ist ein Wanderweg auch. Und im Grunde wollen Wanderer und Biker - und Skifahrer, Bergsteiger, Almurlauber - dasselbe: Natur erleben. Manche geruhsamer, manche rasanter. Spuren hinterlassen alle. Vom Trail am Kolben ist heute nicht mehr viel zu sehen: Wer weiß, was hier mal war, sieht eine Schneise zwischen den Bäumen, schon wieder halb überwuchert von Farnen und Gras. Der Trail wurde 2009 stillgelegt. Die Gemeinde verkaufte damals den Lift, Tobias Baab konnte sich mit den Investoren nicht auf eine Lösung einigen - warum, hängt davon ab, wen man fragt. Statt über Stock und Stein geht es am Kolben jetzt auf Schienen bergab: Zweieinhalb Kilometer „Alpine Coaster“ führen durch Wald und an Wiesen vorbei. Der Coaster gehört der Kolben AG, ebenso der Lift, die Berghütte und der Spielplatz daneben, sowie der Hochseilgarten, der 2016 ein paar Meter weiter ent stehen soll, um die Aufenthaltsdauer der Gäste auf dem Berg und die Auslastung der Hütte zu erhöhen. „Wir brauchten eine Attraktion. Wanderwege hatten wir ja schon“, sagt Klemens Fend. Klemens Fend ist der ehemalige Bürgermeister von Oberammergau. Er ist einer von neun Gesellschaftern der Kolben AG. Und er hat eine Vision: „Wir wollen den Leuten ein Erlebnis bieten. Die müssen heimfahren und sagen: Das war geil, das war irre, da müssen wir wieder hin.“ Aus seinen wirtschaftlichen Interessen macht Fend ebenso wenig Hehl wie aus seinen persönlichen. „Wir Gesellschafter haben zwei Drittel unseres Lebens schon hinter uns, und wir wollen‘s einfach nochmal allen zeigen.“ Bisher läuft alles ganz geschmeidig. Schon im zweiten Betriebsjahr machen Fend und Partner drei Viertel des Umsatzes im Sommer. „Der Winter ist die Sahnehaube“, sagt Fend. „Aber wenn die mal ausbleibt, haben wir immer noch eine volle Tasse Cappuccino.“ Und wenn in Zukunft kürzer Schnee liegt, bleibt die Sommerrodelbahn eben länger offen. Genug Andrang gibt es. An sonnigen Tagen kommen 1.500 Leute auf den Berg, dann windet sich die Schlange un- »Das Bike gehört zu den Bergen! « ter dem Sessellift entlang und einmal um die Berghütte herum. Selbst bei wolkenverhangenem Himmel muss man anstehen, um im knallorange nen Schlitten gen Tal zu rasen. Die Schlange ist bunt, nicht nur wegen der neonfarbenen Outdoorjacken der Besucher: Schulklassen auf Wandertag; Eltern, die ihre Kinder mit dem Versprechen des Coasters auf den Berg gelockt haben; ein älterer Herr in schwarzer Robe, mit silbernem Kreuz um den Hals; eine Reisegruppe aus den Staaten („This is soooo awesome!“). Unten, sagt Fend, steigt keiner ohne Lächeln aus. „Das ist einfach geil, wenn die Leute begeistert sind. Und warum? Weil es steil ist, mit vielen Kurven, und dann auch noch in der Natur.“ Ein paar hundert Meter Luftlinie weiter, die orangenen Coaster-Schlitten noch in Sichtweite, kommt Markus Reiser aus dem Wald. Der Nebel hat sich gelichtet. Es soll einen neuen Biketrail geben, bald, mit Betreibern aus Oberammergau, aus dem Dunstkreis des Kolben sozusagen. Reiser rollt die Wiese hinunter - bloß keine Bilder davon, sagt er, das sei ja peinlich, wenn ihn jemand so locker im Sattel sitzen sieht. Bergab muss es schnell gehen, denn dafür fährt man ja bergab. Dafür ist der Berg ja da, dafür ist der Berg ja steil. 15 Absturz Sie suchen das Abenteuer. Doch nicht alle Bergsportler können das Risiko richtig einschätzen. Wenn sie den Halt verlieren, rücken die Bergretter aus von Anchalee Rüland Rettungshubschrauber Christoph 17 im Einsatz. Die Bergretter müssen immer häufiger ausrücken Foto: Bergwacht Oberammergau 16 D as Piepen hört nicht auf penetrant und laut. Einsatz. Abgestürzte Person am Feigenkopf. Hoffentlich kein Todesfall, schießt es ihm durch den Kopf. Ungefähr acht Minuten braucht J ohannes Flemisch zur Bergwacht. Es ist 13:15 Uhr. Vor der Wacht trifft er die Kollegen. Der Einsatzleiter hält den Telefonhörer in der Hand, um zu klären, was genau passiert ist. Kollektives Aufatmen: Es sind keine Toten zu bergen. Zwei Frauen, Mitte Sechzig, beide erfahrene Bergsteigerinnen. Sie sind bereits den zweiten Tag unterwegs. Die geplante Route führt von der Brunnenkopfhütte über die Klammspitze und den F eigenkopf bis zur Kenzenhütte. Die Wanderung ist anspruchsvoll, aber die Frauen sind vorbereitet. Ihre Ausrüstung ist gut. Als sie aufbrechen, ist es früh am Morgen. Die Sonne brennt auf den Berg. Es ist heiß. Sie schwitzen, sind erschöpft. Seit Tagen hat es nicht geregnet. Im Bereich der Klammspitze ist das Gras ausgedörrt. Die Oberfläche ist sandig. Als die Frau- en den Grat überqueren, rutscht eine der beiden auf dem porösen Steig aus und stürzt. Noch bevor der Rettungshubschrauber ihn an der Unfallstelle absetzt, sieht Johannes Flemisch die Frau bereits aus der Luft. Sie liegt in einer Wiesenmulde, 40 Meter unterhalb des Grats. Das Gelände ist steil. Felsvorsprünge ragen hervor. Unter ihr zieht sich ein 300 Meter langer Graben ins Tal. Jede Bewegung ist jetzt gefährlich. Neben ihr kniet der Notarzt. Er war schon vor Flemisch an der Unfallstelle. Die Frau ist schwer verletzt: Polytrauma mit Wirbelbruch, Rippen- und Schulterfraktur. Der Notarzt legt ihr eine Infusion gegen die extremen Schmerzen. Die Bergung der gestürzten Frau ist aufwändig. Normalerweise sind die Einsätze der Bergwacht weniger spektakulär. Oft sind es nur Schürfwunden, verknackste Füße, Brüche. Insgesamt stieg die Zahl der Rettungseinsätze in Bayern zwischen 2004 und 2013 von rund 4.000 auf über 7.000 pro Jahr. Da ran sind unter anderem immer häufigere Wetterkapriolen schuld. Auch an jenem Freitag im Juni, als die beiden Frauen in den Ammergauer Alpen wandern, machen sich die Wetterextreme bemerkbar. „Die Trockenheit in diesem Sommer hat zu einem sehr losen Bau der Wanderwege geführt”, sagt Stefan Wagner, Leiter der Bergwacht Oberammergau. Auf den lockeren Steinen und staubigen Flächen komme es häufiger zu Stürzen als sonst. Am Himmel ziehen Schäfchenwolken vorbei. Flemisch redet mit der Frau. Sie ist 65 Jahre alt, wohnt im Augsburger Raum. Sie ist erstaunlich ruhig und vor allem dankbar. Sie weiß, dass sie alleine hier nichts mehr ausrichten kann. Immer mehr Menschen üben in den Alpen extreme Sportarten aus. „Heute gehen die Leute im Winter ins Gelände zum Freeriden und Skiwandern. Im Sommer kommen sie zum Klettern, Canyoning oder zum Paragliden“, sagt Wagner. Auch die extremen Formen des Geocachens, der Schatzsuche unter Wasser oder in Höhlen, seien nicht ungefährlich. Diese neuen Sportarten erfordern von den Bergrettern besondere Ausbildung und regelmäßiges Training. Für sie wird die Bergung der Verletzten immer komplexer. Aber Flemisch und seine Kollegen werten nicht, sie retten jeden. „Tatsächlich sind die wenigsten wirklich leichtsinnig in den Bergen”, sagt Wagner. Aber Selbstüberschätzung sei ein Problem. Immer mehr unerfahrene Touristen kommen mit guter Ausrüstung in die Alpen und denken, sie hätten das entsprechende Können mitgekauft. Christoph 17 schwebt über der Unfallstelle, bereit zum Abflug. Flemisch klinkt sich ein. Der orangefarbene Hubschrauber hat keine Winde, sondern lediglich ein Seil zur Bergung von Personen. Daran hängen Flemisch und der Notarzt. Zwischen ihnen liegt die Verletzte auf einer Vakuummatratze im Versorgungssack. Ungefähr acht Minuten dauert der Flug zum Landeplatz. Flemischs Augen fangen an zu tränen, es fällt ihm schwer zu atmen. Der Helikopter kommt ihm brutal schnell vor. Tatsächlich ist er langsamer als sonst, um die drei Passagiere am Seil sicher zu transportieren. D er Hubschrauber landet in Linderhof. Die Rotorblätter dröhnen noch einen Moment. Dann Stille. Flemisch klinkt sich aus dem Bergtau aus. Die Patientin wird weiter medizinisch versorgt. Für den Flug ins Krankenhaus Murnau lagern die Retter sie in den Helikopter um. Dann fährt Flemisch in die Bergwacht zurück. Kurze Nachbesprechung, dann geht er nach Hause. Es ist Freitagnachmittag, der Pieper bleibt still. 17 Auf der Alpspitze, gut 2.000 Meter über Garmisch-Patenkirchen, scheint die Welt noch in Ordnung Grüne Wiesen und Kühe, die auf steilen Hängen grasen – so sehen die bayrischen Alpen typischerweise aus. Die Landschaft wird durch die Arbeit der Almbauern erhalten. Trotz Subventionen stehen viele Betriebe vor dem Aus VON Louisa Riepe H eidi kann es kaum erwarten. Als sich die Tür des Anhängers öffnet und der Strick sich löst, braucht sie nur drei große Schritte in die Freiheit. Vor gut einem Jahr hat die Kuh ihr sechstes Kalb zur Welt gebracht. Seit dem stand sie im Tal und wurde jeden Tag gemolken. Jetzt ist sie wieder trächtig und darf zurück auf die Hochalm, direkt unterhalb des Steckenberg-Gipfels in Unter ammergau. „Urlaub macht sie hier“, sagt Klaus Solleder und lacht. Er stützt sich auf seinen Wanderstock und lässt den Blick über die grünen Wiesen der Langentalalm schweifen. Direkt am Wanderweg grasen seine Kühe neben blauen Glockenblumen. „Der liebe Gott hat es schon gut mit uns gemeint. Er hat uns auf einen der schönsten Flecken der Erde gesetzt.“ Solleder, 54, betreibt mit seiner Familie einen kleinen Milchbetrieb im oberbayrischen Unteram- 18 19 Klaus Solleder, 54, ist Almbauer aus Leidenschaft Die typischen Almwiesen im Landkreis Garmisch-Patenkirchen können nur noch durch öffentliche Subventionen erhalten werden Die Nachfolge ist gesichert: Josef Solleder, 24, will den Hof seiner Eltern gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder übernehmen Marianne Solleder ist auf dem Hof geboren und lebt seit 52 Jahren mit der Landwirtschaft mergau. Tagsüber arbeitet er im Jugendamt in Garmisch-Partenkirchen, nach Feierabend versorgt er 15 Kühe und 27 Hektar Land. Dafür setzt er seinen braunen Filzhut auf, mistet Ställe aus oder treibt, wie an diesem Tag, das Vieh auf die Weide. Gemeinsam mit seinen Söhnen begleitet er Kuh Heidi auf den letzten Metern Fußweg bis zu ihrer Herde. Doch schon nach wenigen Schritten kommt die kleine Gruppe zum Stehen: Heidi muss nach der 20 Hektik am Anhänger erst mal nach Luft schnappen. Auch für die Berglandwirte wird die Luft immer dünner. Klaus Solleder könnte seinen Betrieb ohne öffentliche Subventionen nicht mehr betreiben. Die Bergwiesen sind zu steil, um sie mit großen Maschinen zu bewirtschaften. Die sogenannte „Wiesmahd“, das Mähen der Hänge für die Heuernte, ist reine Handarbeit. Das macht die Milchviehhaltung in den Bergen unrentabel. Um den Standortnachteil auszugleichen, bekommt Solleder rund 16.000 Euro pro Jahr aus den Agrarfonds der Europäischen Union. Dazu kommen Gelder vom Bund und vom Freistaat Bayern. »Den ganzen Tag an der Luft« Denn Solleder und seine Kollegen erhalten mit ihrer Arbeit die Jahrhunderte alte Kulturlandschaft der Almen - einzigartig und schützenswert, da sind sich Naturschützer, Politiker und Touristiker einig. „Ohne die Landwirtschaft, die unser Landschaftsbild entscheidend prägt, wäre die Destination sicherlich deutlich uninteressanter für unsere Gäste“, sagt Christian Loth, Geschäftsführer der Ammergauer Alpen GmbH. Die Wer- begemeinschaft versucht unter dem Slogan „Hier ist die Natur zu Hause“ Touristen nach Oberbayern zu locken. Denn Analysen haben ergeben: Ein Großteil der Gäste kommt in die Region, um beim Wandern oder Radfahren die Natur zu erleben. Aber die typische Mischlandschaft mit schroffen Felsen, urwüchsigen Wäldern und offenen Wiesen erfordert Arbeit. Ohne die regelmäßige Wiesmahd würden die Freiflächen zuwachsen und die Landschaft sich für immer verändern. Und trotz der Subventionen finden viele Almbauern keinen Nachfolger. In Unterammergau sind von ehemals 117 Bergbauern gerade noch 22 übrig geblieben. Im gesamten Landkreis Garmisch- Partenkirchen hat schon jeder vierte landwirtschaftliche Betrieb im Berggebiet aufgegeben. Klaus Solleder und seine Frau Marianne haben keine Nachwuchssorgen. Ihre beiden Söhne 21 Die Almwiesen sind ein einzigartiger Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Schützenswert, finden Politiker und Touristiker gleichermaßen Josef, 24, und Klaus, 20, wollen den Betrieb gemeinsam übernehmen. Schon jetzt arbeiten beide bis zu 50 Stunden im Monat auf dem Hof mit – unbezahlt. Jeder Überschuss fließt auf das Familienkonto. Die Solleders sparen über Jahre für Neuanschaffungen. Wie zum Bei- spiel den neuen Motormäher, der demnächst geliefert werden soll. „30.000 Euro kostet so eine Spezialmaschine“, sagt Josef Solleder und drückt die Zange fest zusammen. Er bindet Heidi die Kuhglocke um den Hals. Ein Draht verhindert, dass sich die Schnalle löst, wenn die Tiere auf der Weide miteinander kämpfen oder jemand die Kuh stehlen will. Trotz aller Schwierigkeiten will er den elterlichen Hof weiterführen, vor allem der Tradition wegen. Der Hof wird seit mehr als vier Generationen von seiner Familie betrieben. Josef Solleder erinnert sich noch genau, wie er schon im Alter von zwei Jahren seinen Großvater auf die Almen begleitet hat. Im Kindersitz durfte er im Traktor mitfahren. In der Region gibt es viele Versuche, die Familienbetriebe zu erhalten. Christian Loth, der Touristiker, setzt sich für die Gründung eines Naturparks in den Ammergauer Alpen ein: Dort sollen Besucher auch mehr über die Arbeit der Almbauern erfahren. Eine Genossenschaft bemüht sich außerdem um die direkte Vermarktung von Milchprodukten aus der Landwirtschaft, damit die Almbauern unabhängiger von den großen Molkereien werden. In der „Schaukäserei Ettal“ werden am Tag rund 3.000 Liter Milch zu Käse verarbeitet. Die 100 Liter Milch, die Sol leders Kühe pro Tag liefern, sind bei der Regionalvermarktung nicht dabei. Die Käserei kann derzeit nicht mehr Milch verarbeiten. Solleder verkauft deshalb an die Großmolkerei Hochland. Für 28 Cent pro Liter. Das macht 30 Euro Umsatz am Tag. Seit dem Tod ihres Mannes ist Hannelore Müller oft allein. Aus den Bergen will sie trotzdem nicht mehr weg Gekommen, um zu bleiben: Hans-Hermann und Irmtraud Dämmer genießen ihre Rente auf dem Rad Die Almen eignen sich wunderbar zum Wandern. Meist drücken die Bauern ein Auge zu, wenn Wege über ihr privates Gelände eingeschlagen werden Trügerische Idylle Erholung, Ruhe, heile Welt: Die Alpen-region zieht an. Viele Menschen entscheiden sich sogar, im Alter ihren Wohnsitz dorthin zu verlegen. Doch nicht immer sieht von Ann-Kathrin Wetter die Realität so aus wie die Postkarte 22 23 M igräne denkt sie – es ist sicher nur eine starke Migräne. Deshalb legt sie sich ins Bett. Als sie wieder aufsteht, trägt ihr linkes Bein sie nicht mehr. Weggesackt sei es, einfach weggesackt. Ihrem Mann ist sofort klar – jetzt muss es schnell gehen. Auto. Krankenhaus. Notaufnahme. Dort die Diagnose: Schlaganfall. Einen ersten zu Hause, einen zweiten in der Klinik. Nach ein paar Wochen war sie wieder auf den Beinen. Aber das alles hat sie spüren lassen, dass sie nicht länger warten konnten. Sie hatten doch diesen Traum. In Garmisch-Partenkirchen leben. In der Ferienwohnung, die sie so liebten. Also haben Irmtraud und Hans-Hermann Demmer mit 59 Jahren ihr Haus und die Weinkel- terei in Rheinhessen verkauft. Jetzt wohnen sie hier in dieser kleinen Dachgeschosswohnung mit den großen Holzbalken. Ganz ohne Schnick und Schnack, ohne Garten, ohne Pool, aber dafür mit Blick auf die Skisprungschanze. Die Alpenregion übt auf Menschen über 50 Jahren einen besonderen Reiz aus. Etwa Tausend von ihnen ziehen jedes Jahr in den Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Viele wohlhabend und kaufkräftig. Die Kinder aus dem Haus, das Konto gut gefüllt. Sie kommen wegen der Berge, wegen der Natur, der Luft, der Lebensqualität. Sie wandern und radeln, essen Knödel, Gulasch und Apfelstrudel auf der Berghütte. Mittwoch, 13 Uhr, Seniorentreff in der Ludwigstraße in Partenkirchen. Buchstabe J. Renate Umland, 89, fällt einfach kein Berg mit J ein. Die Spielleiterin schaut in die Runde. Um den Tisch sitzen elf Frauen. Sie haben Dauerwelle, tragen Brillen, essen Kekse, spielen gerne „Stadt, Land, Fluss“. Das Durchschnittsalter am Spieletisch beträgt etwa 75 Jahre. „Sind alle soweit?“ Renate Umland nimmt einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. „Ich muss aufgeben“, sagt sie und stellt die Tasse ab. „Gut, dann zählen wir jetzt Punkte“, sagt die Spielleiterin. Renate Umland kommt ursprünglich aus Stuttgart. Als ihr Mann in Rente ging, kam sie mit ihm zusammen nach Garmisch-Partenkirchen. Inzwischen sind er und alle ihre Freunde gestorben. Das sei eben so, wenn man älter werde. Deshalb ist sie dankbar, dass es den Seniorentreff gibt. Beim Spielenachmittag oder Sitz-Yoga habe sie gut Kontakte knüpfen können. B Café mit Aussicht: Ab und zu gönnt sich Hannelore Müller hier ein Stück Kuchen auf der Sonnenterrasse 24 eim Seniorentreff ist Hannelore Müller*, 78, noch nie gewesen. Dafür fehlt ihr die Zeit. Sie ist vor 25 Jahren zusammen mit ihrem Mann aus Berlin nach Garmisch-Partenkirchen gezogen. Davor waren sie selbstständig, hatten einen Kiosk in Berlin. Die Geschäfte liefen gut. Als Rentner haben sie durch einen Anlagefehler viel Geld verloren, mussten von der schönen Garmischer Wohnung mit Alpenpanorama-Fenster in eine kleine Zweieinhalbzimmer-Wohnung ziehen. Beide fingen an, in einem Minijob zu arbeiten, damit das Geld reicht. Und dann war da dieser Abend im November. Als Hanne- »Sie kommen wegen der Berge, wegen der Natur, der Luft, der Lebensqualität« lore Müller vom Spätdienst nach Hause kam, lag ihr Mann in der Wohnung und konnte sich nicht mehr bewegen. Zusammen mit dem Nachbarn hat sie ihn ins Auto gesetzt und in die Notaufnahme gebracht. Aus dem Krankenhaus rief sie am nächsten Tag der behandelnde Arzt an: „Ihren Mann, den können Sie nie mehr mit nach Hause nehmen.“ Von der Klinik ging es direkt ins Pflegeheim. Mit einem Mal war nicht nur ihr Leben völlig durcheinander, sondern auch ihre Finanzen. Die gesamte Rente ihres Mannes musste sie ans Pflegeheim bezahlen. Sie stand vor der Privat insolvenz. Mit 78 Jahren ein zweiter Minijob. Und trotzdem reichte es nicht – den neuen Kleinwagen musste sie zurückgeben. A uch Irmtraud und Hans-Hermann Demmer überlegen, ihr Auto zu verkaufen. Aber nicht, weil sie das Geld brauchen. Sondern weil sie jetzt überall mit ihren neuen Elektro-Bikes hinfahren. „Von Dingen, die wir nicht mehr brauchen, trennen wir uns auch gerne“, sagt Hans-Hermann Demmer. Zum Beispiel von dem eigenen Flugzeug, mit dem die beiden früher gerne mal für einen Wochenend-Trip nach Spanien oder Portugal geflogen waren. Aber jemand, der wegen hohem Blutdruck Medikamente nimmt, sollte nicht mehr fliegen, habe der Arzt gesagt. Als das Paar im Dezember 2007 nach Garmisch-Partenkirchen zog, war für beide klar, dass sie Anschluss finden müssen. Die Demmers sind deshalb in den Garmischer Skiclub eingetreten. Beim Ski-Weltcup zum Beispiel, da habe sie an der Kasse gesessen, erzählt Irmtraud Demmer stolz. Durch den Skiclub hätten sie Anschluss an Einheimische gefunden. Aber wirklich dazugehören, das schafft in Garmisch-Partenkirchen längst nicht jeder, der von außerhalb zuzieht. „Zu’groast“ sagen die Einheimischen dann oft abschätzig. Der Seniorentreff in der Ludwigstraße war auch dafür gedacht, ältere Menschen, die zugezogen sind, mit den Einheimischen zu vernetzen. Finanziert durch Stiftungsgelder, verwaltet von der Marktgemeinde Garmisch-Patenkirchen. Allerdings: Zu den Treffen kommen keine wirklich Einheimischen, sondern nur solche, die irgendwann in ihrem Leben nach Garmisch gezogen sind und jetzt unter Einsamkeit leiden. An diesem Mittwochnachmittag um 13 Uhr sind das ausschließlich Frauen von anderswo - aus Stuttgart, Suhl oder Bad Mergentheim. D ie Berlinerin Hannelore Müller hat nach 25 Jahren in Garmisch viele Bekannte. Freundinnen habe sie drei, alles Zugereiste. Mit denen gönnt sie sich manchmal was, wie sie sagt. Mit einer Freundin war sie neulich im Seebad: Vier Euro Eintritt, vier Euro für die Liege. „Aber Freundschaften, die man im Alter schließt, sind nicht vergleichbar mit denen von früher“, sagt Hannelore Müller. Eine ganz andere Vertrauensbasis sei das. Als ihr Mann hilflos im Pflegeheim lag, haben ihre Freunde aus Berlin zusammengelegt und ihr ein Auto gekauft. Weil sie es nicht ertragen konnten, dass Hannelore Müller jeden Tag, bei Schnee, Regen und Kälte, mit dem Bus zu ihrem Mann ins Heim fahren musste. „Das Auto ist ein Segen“, sagt sie. Aber noch schöner wäre es, wenn sie ihre Berliner Freunde in der Nähe hätte. Vor vier Monaten ist Hannelore Müllers Mann gestorben. Kurz vorher hat sie mit ihm noch einen Ausflug gemacht. Die Pfleger haben ihren Mann aus dem Rollstuhl in das kleine Auto gesetzt. Zusammen sind die beiden dann auf die Pfeiffer Alm gefahren. Früher sind sie immer dorthin gewandert. Auf einem Tablett hat sie für sich und ihren Mann Kuchen, Cappuccino und Tee ins Auto geholt. Damit ihr Mann beim Kaffee trinken noch einmal das Panorama sehen kann. Und in diesem Moment wusste sie, dass es richtig war, in die Berge gezogen zu sein. *Name geändert 25 Nicht aus der Mode In Oberbayern ist Tradition ein Lebensgefühl. Junge Menschen tragen die Trachten ihrer Heimat mit Stolz und prägen damit das Bild der Region VON Larissa Rohr Bei der Heimatwoche in Garmisch-Partenkirchen präsentiert der Nachwuchs stolz seine Trachten I Für Maria Schießlbauer bedeutet Tracht Familientradition 26 hre Haltung ist aufrecht, ihr Blick nach vorne gerichtet, ihr Lächeln freundlich. Tusch, Tusch, Tusch. Zum Takt der Marschmusik setzt sie ein Bein vor das andere – nicht zu schnell, nicht zu langsam. Der Abstand zur Vorderfrau bleibt exakt gleich. Tusch-Tusch-Tusch. Ihr weinroter Rock und die silbernen Ohrringe mit den hellblauen Steinen wippen zum Klang von Trompete und Trommel. Die Touristen am Straßenrand halten mit ihren Kameras das Bild als Erinnerung fest. Klick, Klick, Klick. Die Tracht von Maria Schießlbauer, 22, wird später in vielen Fotoalben verewigt sein. Der Trachtenumzug in Garmisch ist für Schießlbauer jedes Jahr ein besonderes Ereignis. Seit ihrem sechsten Lebensjahr ist sie Mitglied im Volkstrachtenverein Garmisch, erst bei den Kleinen, dann bei der Mittelgruppe, dann bei der Jugend. Der Festumzug und die bayrischen Heimatabende sind während der Festwoche seien „ein absolutes Muss und ein Highlight“, das Plattln, der Tanz im Trachtenverein, „ein Riesenhobby und ein Lebensgefühl“. Mit der weißen Strumpfhose und dem himmelblauen, spitz zu- laufenden Seidentuch über der Schulter verbindet Schießlbauer ein Gefühl von Heimat, Familientradi tion und Stolz. Im bayrischen Voralpenland wird die Tracht bei Geburtstagen, Dorffesten oder Jubiläumsfeiern von Alt und Jung getragen. Etwa seit der Jahrtausendwende sind Trachten unter jungen Menschen wieder salonfähig. Das hat die Münchner Kulturwissenschaftlerin Simone Egger in ihrer Forschung zur Wiesntracht herausgefunden. „Während die heute 50-Jährigen Trachten in ihrer Jugend konser- vativ und öde fanden, fahren die jungen Leute heutzutage wieder auf Trachten ab“, sagt Egger. Haferlschuh und Mieder gelten als modische Freizeitbekleidung. Egger glaubt, dass einer der Gründe in der zunehmenden Globalisierung und Vernetzung liegt. „Dadurch nimmt auch die Heimatverbundenheit zu, gerade weil man sie zeigen kann“, sagt Egger. Bilder von Tracht würden über soziale Netzwerke um die ganze Welt geschickt. Auch Christian Ruf, 52, trägt seine graue Lederhose, die Joppe mit der Eichenlaub-Bordüre und den Zwirbelbart mit sichtbarem Stolz. Gemütlich schlängelt sich der Vorsitzende des Volkstrachtenvereins Garmisch an den Biertischen vorbei Richtung Bühne. Noch ein Schluck aus seiner Maß, ein Handschlag mit einem alten Bekannten. Trompete und Trommel verstummen, dann kündigt Ruf auf der Bühne im Festzelt den nächsten Programmpunkt an: Die Jugendgruppe der Schuhplattler. Tusch, Tusch, Tusch. Die Jungen und Mädchen in Tracht stürmen die Bühne, Ruf räumt den Platz. „Was den Nachwuchs betrifft, sind wir gut aufgestellt“, sagt er. Etwa 130 Kinder und Jugendliche plattln in Garmisch in ihrer Freizeit – so viel Nachwuchs hat nicht mal der örtliche Ski-Club. Der Erfolg von Lederhose und Dirndl hängt auch damit zusammen, dass sie ein Bild im Kopf der Menschen erzeugen. „Mit Trachten assoziieren wir eine bayrische Berg-Idylle“, sagt Kulturwissenschaftlerin Egger. Trachten sind deshalb auch Stilmittel des Touris- 27 » Trachten sind bei Jungen Menschen Wieder Salonfähig « mus: Sie tauchen in Souvenir-Läden und Werbebroschüren über Garmisch-Partenkirchen auf, ausländische Touristen in Tracht flanieren durch die Fußgängerzone. Der Vorsitzende des Volkstrachtenvereins muss lächeln, wenn er Chinesen in Tracht sieht. „Das wirkt dann schon kostümiert, weil die Chinesen eine andere Identität haben“, sagt Ruf. Schießlbauer sieht das ähnlich: „Für die Touristen ist Tracht Attraktion. Für mich hingegen Tradition.“ Tradition hat in GarmischPartenkirchen einen hohen Stellen wert. Im Jahr 1896 wird der Volkstrachtenverein Garmisch gegründet. Schon damals fördert das Bayrische Herrscherhaus der Wittelsbacher die Tracht, um das bayrische Nationalgefühl zu stärken. Die Industrialisierung vereinfacht die Herstellung und den Verkauf von Lederhose, Hosenträger, Rock und Mieder. Gleichzeitig ziehen immer mehr Menschen in die Stadt und haben Sehnsucht nach Heimat und alten Traditionen. Sie beginnen Gegenstände zu sammeln, zu bewahren und Bräuche zu zelebrieren. Immer wichtiger wird in der Region auch der Fremdenverkehr. „Die Leute wollten früh ihre Besonderheit nach außen präsentieren“, sagt Sommerzeit ist Bierzeltzeit: Da dürfen Lederhose und Tracht nicht fehlen 28 Kulturwissenschaftlerin Egger. Bis ins Jahr 1920 ist die Tracht Alltagsbekleidung. Im Nationalsozialismus wird sie dann für die Blut-und-Boden-Ideologie instrumentalisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwinden Lederhosen, Blusen, Hemden und Wadlstrümpfe plötzlich aus dem Kleiderschrank – bis etwa zur Jahrtausendwende. „In den 1990er-Jahren geht man noch in Jeans aufs Oktoberfest“, sagt Egger. Heute gehört das Dirndl zum Oktoberfest, wie Maß und Marschmusik. Für Schießlbauer gehört die Tracht seit ihrer Kindheit selbstverständlich in den Kleiderschrank. Für den Trachtenumzug hat sie ihre braunen, glatten Haare über dem Kopf streng zu einem Flechtzopf zusammengebunden. Die Frisur erinnert an eine Krone. „Wir nennen das Gretl“, sagt sie. Eine Stunde hat sie gebraucht, bis sie für den Heimatabend fertig frisiert und angezogen war. Ihre Mutter hat ihr dabei geholfen. Sie ist auch bei den Plattlerinnen, der Vater in der Musikkapelle, Bruder, 16, und Schwester, 20, sind im Volkstrachtenverein. Auf Hochzeiten, runden Geburtstagen oder Dorffesten trägt die ganze Familie Tracht. Schießlbauer möchte diese Tradition aufrechterhalten. Für die Region, aber auch für die Touristen. Ihre Kinder und Enkelkinder sollen später die historische Kleidung tragen. Auch ihre beste Freundin hat sie schon überzeugt: Sie trägt jetzt Tracht, ist in den Trachtenverein eingetreten und hat beim diesjährigen Umzug das Flügelhorn gespielt. Da schau her! In der Region Garmisch-Partenkirchen gibt es viel Wald, Deutschlands höchsten Berg von Gabriel Kords und fast so viele Kühe wie Gästebetten. Eine Rundreise in Zahlen 85.443 50% 16.766 Rinder stehen auf den Weiden und Almen. Einwohner hat die Region Garmisch-Partenkirchen. 1.012,28 km² groß ist die Region GarmischPartenkirchen, etwa so groß wie die Stadt Rom. 1/5 888.000 Besucher der Region ist „Unland“, also so felsig, dass es nicht genutzt werden kann. Vor 30 Jahren der Region GarmischPartenkirchen sind Waldgebiet. bleiben für mindestens eine Nacht. 10% 500.000 Touristen aller Wohnungen in der Region sind Ferien- oder Zweitwohnungen. fahren jährlich mit der Bahn auf die Zugspitze. 5.000 kommen zu Fuß. 37,94 Meter 3von4 9 Millionen 50 Millionen blieben die Touristen im Schnitt 6 Nächte – heute sind es nur noch 3 Nächte. wird sie kosten, die neue Eibsee-Seilbahn auf die Zugspitze. Sie wird zurzeit parallel zur bestehenden Seilbahn gebaut und soll doppelt so viele Menschen auf den Berg bringen können, wie die alte Bahn, nämlich 1.200 Personen pro Stunde. fehlen dem Gipfel der Zugspitze bis zur 3000-Meter-Marke. Tagesbesucher kommen jährlich. stehen in der Region für Touristen zur Verfügung. 2266,80€ beträgt der durchschnittliche Bruttolohn in der Region. Das sind rund 15 Prozent weniger als im bayerischen Durchschnitt (2689,50 Euro). 19.162 Betten Übernachtungsgästen kommen aus Deutschland. Sie blieben im Schnitt eine Nacht länger als ausländische Gäste. Am 2. Januar 2010 betrug der Rückstau von Urlaubern auf dem Weg von München nach Garmisch-Partenkirchen 50 Kilometer. Die Region brachte es damit auf einen Spitzenplatz im ADAC-Staureport. 29 Schön Sie ist älter geworden und hat zugenommen. Aber wenn man die Fotos von heute mit denen von früher vergleicht, hat die Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen ihren von Rahel Klein Reiz nicht verloren alt Damals, 1936, war sie der Star. 43 Meter hoch, 70 Meter lang, aus Holz zusammengezimmert und mit Mühe an den steilen Hängen des Gudibergs aufgestellt. Über 130.000 Zuschauer aus der ganzen Welt waren dabei, als sie dem Norweger Birger Ruud half, die Schwerkraft zu überwinden. Ruud flog 75 Meter weit und wurde Olympiasieger im Skispringen. Wer heute zur Olympiaschanze in GarmischPartenkirchen wandert, sieht ein modernes Gebilde, das in der Luft zu schweben scheint. Futuristisch. Erhaben. Wie ein Raumschiff, das auf der grünen Wiese gelandet ist. 60 Meter hoch, 103 Meter lang, aus tonnenweise Stahl erbaut und mit Polycarbonatplatten verkleidet, die im Dunkeln leuchten. 15 Millionen Euro hat die neue Schanze gekostet. Holzschanzen werden zu architektonischen Meisterwerken, Bauernhöfe zu Luxus-Hotels, klapprige Lifte zu modernen Gondeln. Garmisch-Partenkirchen hat 30 sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt, es wurde investiert, saniert, neu gebaut. Die Typveränderung soll den Ort attraktiv erhalten — für Touristen, Sportler, Naturliebhaber. Das dokumentieren die Bilder auf den folgenden Seiten aus der Zeit von 1920 bis 1960. Sie stammen aus dem Marktarchiv von Garmisch-Partenkirchen. Wir haben versucht, sie möglichst exakt nachzufoto grafieren, um zu zeigen, wie sich der Ort verändert hat. Manchmal reicht ein einziger Blick, um den Wandel zu sehen und zu verstehen. Manchmal haben Bäume, Sträucher oder riesige Bauten allerdings den Blickwinkel verstellt, so wie an der Olympiaschanze. Das Foto ließ sich nicht mehr originalgetreu nachstellen. Dazu müsste man ähnlich, wie einst Birger Ruud, abheben, die Schwerkraft überwinden und dann über den Spitzen der Tannen, die heute den Gudiberg säumen, aus der Luft heraus fotografieren. Sprungschanze Auf dem Foto erinnert die 43 Meter hohe Holzkonstruktion eher an eine alte Achterbahn als an eine Sprungschanze. Die Schanze wurde 1923 gebaut, den Namen „Olympiaschanze“ erhielt sie aber erst 1936, als die IV. Olympischen Winterspiele in GarmischPartenkirchen ausgetragen wurden. Für die Großveranstaltung wurde die Schanze modernisiert, außerdem wurden ein Eissport-Zentrum und ein Skistadion gebaut. Foto: Hans Huber / Marktarchiv GarmischPartenkirchen (Bildausschnitt) Im Jahr 1950 musste die alte Holzschanze einer moderneren Stahlkonstruktion weichen, auf der Skisprung-Weltmeisterschaften und die Vierschanzentournee stattfanden. 2007 wurde sie gesprengt. Auf die „Alte Dame“ folgte die stilistisch gewagte, neue Schanze, die mehrfach für ihre prägnante Architektur ausgezeichnet wurde. Sie ist heute das Wahrzeichen von Garmisch-Partenkirchen und ein Sinnbild für die Bedeutung des Wintersports in der Region. Foto: Rahel Klein 31 Garmisch-Partenkirchen Bis 1935 waren Garmisch und Partenkirchen getrennte Gemeinden. Kurz vor den Olympischen Winterspielen wurden beide Orte zusammengelegt. Die neue Marktgemeinde zählte etwa 14.000 Einwohner. Mit dem Ausbau von Straßen und Bahnstrecken und dem großen Erfolg der Winterspiele wurden immer mehr Häuser, Gaststätten und Hotels errichtet. Nach Kriegsende setzte sich diese Entwicklung fort: Statt auf die Industrie setzte die Marktgemeinde auf neue Kur- und Freizeitanlagen. Foto: Hans Huber/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen (Bildausschnitt) 32 Wer heute vom 1.780 Meter hohen Wank auf Garmisch-Partenkirchen blickt, erkennt sofort, dass sich die Flächennutzung stark verändert hat. Mittlerweile hat die Marktgemeinde 26.000 Einwohner. Neu gebaute Häuser, Hotels und Restaurants reichen fast bis zum Fuß der Berge. Landwirtschaftliche Flächen sind kleiner geworden, dafür breiten sich die Waldgebiete wieder aus. Foto: Rahel Klein 33 Kreuzeckbahn Die Kreuzeckbahn am Fuße der Alpspitze war die erste Seilschwebebahn in den deutschen Alpen. Im Jahr 1926 fand die Jungfernfahrt der Pendelbahn statt. Stehend, in hölzernen Kabinen, konnten bis zu 150 Personen pro Stunde auf den Berg gegondelt werden. Kurz nach der Eröffnung der Kreuzeckbahn wurden auch die Wankbahn und die Zugspitzbahn in Betrieb genommen. Durch die Erschließung von immer mehr Bergen wurde Garmisch-Partenkirchen zum Reiseziel für Sommer- und Wintertouristen. Foto: Karl Ruf/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen Wer heute mit der Kreuzeckbahn zur Bergstation hinauf will, nimmt in einer runden, eierförmigen Kabine auf gepolsterten Sitzen Platz und gleitet sieben Minuten lang den Berg hinauf. Mehr als 1.000 Personen kann die im Jahr 2002 modernisierte Seilbahn pro Stunde befördern. Mit der Kreuzeckbahn schwebt man auch heute noch über eine der berühmtesten und schwierigsten alpinen Rennstrecken der Welt: die KandaharAbfahrt. Foto: Rahel Klein 34 35 Fußgängerzone In den 1960er-Jahren durften noch Autos durch die damalige Bahnhofstraße fahren. Von der Straße im Zentrum schaut man direkt auf den Wank. Schon damals war sie die wichtigste Einkaufsstraße in Garmisch-Partenkirchen. In den kleinen Geschäften konnten Einheimische und Touristen nicht nur ihre täglichen Besorgungen machen, sondern auch Mode und Sportkleidung einkaufen. Heute heißt die Bahnhofstraße „Am Kurpark“ und ist eine Fußgängerzone. Der Verkehr wurde aus der Ortsmitte verbannt, um sie attraktiver für Touristen zu machen. Neben lokalen Geschäften haben sich inzwischen auch große Ketten, wie Tchibo, Swarovski und Jack Wolfskin, breit gemacht. Foto: Rudolf Rudolphi/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen Foto: Rahel Klein 36 37 Monokultur Garmisch-Partenkirchen zählt mit fast zehn Millionen Gästen jährlich zu den beliebtesten Urlaubsregionen in Deutschland. Dass sie Tourismus braucht, bestreitet niemand. Doch birgt von Felix Ehrenfried diese einseitige Ausrichtung auch Risiken? Die Vermieterin „Wir sind alle abhängig vom Tourismus, weil wir hier in der Region keine Wirtschaftsbetriebe haben. Ganz egal ob Handwerker oder Beamter, hier hängt alles, zumindest indirekt, vom Tourismus ab. Es sind nicht nur die Hotels oder Restaurants, die mit Urlaubern ihr Geld machen. Mein Mann war im Schwimmbad beschäftigt, das lebt auch hauptsächlich von Urlaubern. Der Skiliftbetreiber „Ich habe rund acht Kilometer Pisten und sieben Lifte, damit kann ich die Einheimischen nur schwer locken. Die lernen hier Skifahren, dann geht es in größere Gebiete. Ganz anders ist das bei den Urlaubern von weiter her. Die wollen mit der ganzen Familie Skifahren und brauchen nicht den Eventzirkus, der in vielen Gegenden in Österreich betrieben wird. Ich habe mich ganz bewusst entschieden, bei diesem technischen Hochrüsten nicht mitzumachen. Die Städter freuen sich doch schon, wenn sie eine Ziege durchs Gelände laufen sehen. Die glauben dann, das sei eine Berggams. Ganz klar: Gäbe es hier keine Touristen, würde ich schon lange nicht mehr Skiliftbetreiber sein. Einfach ist die Arbeit im Tourismus trotzdem nicht, man muss Jahr für Jahr mehr um seine Gäste kämpfen.“ Alfred Richter, Skiliftbetreiber Steckenberg Erlebnisberg, Unterammergau 38 Auch unsere Ferienwohnung muss belegt sein. Viele Gäste kommen, weil sie in den 1970er-Jahren hier als Kinder ihre Ferien verbracht haben. Außerdem haben wir hier oft junge Familien. Nur zum Feiern ist das hier nicht der optimale Ort, da sind die großen Urlaubsregionen in Österreich wohl besser geeignet.“ Lucia Schuster, Ferienwohnungsbesitzerin, Oberammergau Der Händler „Wer einmal die Gegend verlässt, kommt nur selten zurück. Es gibt hier einfach keine passenden Jobs. Etwa 4.500 Leute pendeln täglich aus dem Landkreis Garmisch-Partenkirchen ins Umland. In den letzten Jahren sind zahlreiche Unternehmen abgewandert, neue kamen nicht nach. Da haben wir rund 2.000 Arbeitsplätze verloren. Die meisten sind gegangen, weil uns die Gewerbeflächen fehlen. Vieles konzentriert sich hier auf den Gesundheitssektor und auf den Tourismus. Von dem profitieren wir alle. Ob spontaner Cabriokauf oder Reparatur im Urlaub – auch in unserem Autohaus sorgen Urlauber nahezu täglich für Umsatz. Die Kehrseite: Viele haben hier eine Zweitwohnung, die Preise auf dem Immobilienmarkt sind hoch.“ Gerhard Lutz, Vizepräsident der IHK München und Oberbayern und Geschäftsführer eines Autohauses, Garmisch-Partenkirchen Der Naturschützer „Der Tourismus plustert sich hier enorm auf. Klar, wir brauchen zahlende Gäste und auch die Einheimischen profitieren von der hohen Kaufkraft vor Ort und dem großen Angebot an Einzelhändlern. Aber dass immer noch viel Geld in den klassischen Wintersport gesteckt wird, verstehe ich nicht. Skifahren wird aufgrund des Klimawandels schon bald nicht mehr möglich sein. Die setzen hier auf eine Totgeburt. Wir haben doch einen erfolgreichen Gesundheitssektor, außerdem zahlreiche kleinere Handwerksbetriebe, die zusammen einen Großteil des Umsatzes im Landkreis ausmachen. Wenn wir diese Unternehmen nicht fördern, wandern sie ab – auch wegen der hohen Grundstückspreise. Dann bleiben nicht mehr viele Jobs außerhalb des Tourismus. Und da sind schlechte Bezahlung und unsichere Arbeitsverhältnisse sehr verbreitet. Aktuell ist jeder fünfte Beschäftigte im Landkreis von Urlaubern abhängig. Mehr dürfen es nicht werden.“ „Der Landkreis hat sich in seiner Komfortzone eingerichtet. Die tun das, was sie schon immer gemacht haben: stark auf den Tourismus setzen. Aber die Region muss diese Komfortzonen verlassen, um in Zukunft erfolgreich zu sein. Wir merken, dass viele qualifizierte Fachkräfte die Gegend zwar schön finden, aber in einer Urlaubsregion arbeiten möchten sie dann doch nicht. Wir sind mittlerweile einer der letzten Mittelständler im Landkreis. Uns fehlt die Konkurrenz, die ja auch für den Wettbewerb gut ist. Ich finde die Landschaft hier zwar toll, doch das reicht nicht, um die Industrie zu stärken. Die Region muss mehr für den Mittelstand tun. Sonst sind wir bald noch viel abhängiger vom Tourismus.“ Axel Doering, Vorsitzender Bund Naturschutz, Kreisgruppe Garmisch-Partenkirchen Stephan Wulf, Geschäftsführer Langmatz GmbH, Garmisch-Partenkirchen Der Mittelständler Die Bürgermeisterin „Wir sind sehr abhängig vom Tourismus. Deshalb müssen wir in den kommenden Jahren darauf achten, dass wir uns breiter aufstellen. Nicht nur Gäste, die zur Erholung kommen, sind wichtig. Wir setzen auch immer mehr auf Kongresse, um unsere Gästebetten auch abseits der Feriensaison zu füllen. Das bedeutet aber auch, dass wir investieren müssen: Das letzte Hotel wurde vor rund dreißig Jahren gebaut. Wir genügen heute nicht mehr den Standards, die viele Gäste wünschen. Ebenso fehlen uns günstige Hotels für junge Besucher, da haben wir praktisch nichts im Angebot. Wir hätten hier zwar gerne auch mehr Industrie, allerdings sind wir von Bergen und Naturschutzgebieten umgeben. Da sind neue Gewerbeflächen rar. Deswegen müssen wir erst einmal schauen, dass wir unsere lokalen Betriebe halten. Denn zum klassischen Wirtschaftsstandort werden wir sicher nicht.“ Sigrid Meierhofer, 1. Bürgermeisterin, Markt Garmisch-Partenkirchen 39 B auchgefühl gibt es für 827 Euro. Der medizinische Check beinhaltet unter anderem eine Blut- und Harnuntersuchung, Ultraschall der Blase und eine Darmspiegelung im Dämmerschlaf. Wer sich mal richtig durchchecken lassen will, bucht „Vorsorge 50 Plus“, zahlt 2025 Euro und bekommt dafür zum Beispiel Hautkrebsscreening, Belastungs-EKG und eine professionelle Zahnreinigung. Dagegen ist das „Needling“ gegen Raucherfältchen und für straffe Wangen fast schon ein Schnäppchen. Kostenpunkt: 550 Euro. Der Landkreis GarmischPartenkirchen hat 1.270 Krankenhausbetten, fast dreimal so viele wie im Bundesdurchschnitt. Eine der Kliniken kümmert sich um Skiund Betriebsunfälle, andere sind Gestrafftes Geschäft In keinem Landkreis in Deutschland gibt es so viele Krankenhausbetten pro Kopf wie in Garmisch-Partenkirchen. Damit sie nicht leer bleiben, sollen sich Touristen von Franziska Kues während ihres Urlaubs behandeln lassen 40 spezialisiert auf Prothesen oder plastische Chirurgie. Doch immer häufiger liegen auch Urlauber in den Krankenhausbetten, um sich medizinisch behandeln zu lassen oder sich einem kleinen Schönheitseingriff zu unterziehen. Die Grenzen zwischen Hotel und Arztpraxis verschwimmen in der „Gap-Prevent“. Die Klinik liegt in 900 Metern Höhe direkt hinter der Olympiaschanze. Sie wurde kürzlich eröffnet und ist Teil eines Luxushotels. Auf dem Boden liegt dunkles Parkett, im Eingangsbereich stehen Designermöbel und an den Wänden hängt teure Kunst. Eine Übernachtung im Doppelzimmer kostet 250 Euro plus Behandlungskosten. Dafür können die Gäste aber direkt vom Behandlungsstuhl in den Pool springen und danach zum Essen ins À-la-carte-Restaurant gehen. Alles ist nur wenige Meter voneinander entfernt, die wichtigen Fachärzte sind direkt vor Ort. Den Luxus von „Gap-Prevent“ können sich nur wenige leisten, denn die Krankenkassen fördern diese Art von Urlaubnicht. Professor Günter Neubauer, Gesundheitsökonom aus München, überrascht das nicht: „Gesundheit ist nicht s ozial. Was ist dabei, wenn Touristen, die in der Region Urlaub machen, einen Gesundheitscheck dazu buchen?“ Verstanden haben das nicht nur die Gründer der „Gap-Prevent“. Auch der Landkreis arbeitet an übergreifenden Konzepten. „Bisher hat hier jeder sein eigenes Süppchen gekocht“, sagt Petra Hilsenbeck. Sie ist jetzt im Kreis dafür zuständig, das zu ändern. Denn das Gesundheitswesen und der Tourismus sind die beiden größten Arbeitgeber in der Region. Es gilt, Arbeitsplätze zu erhalten. Das Konzept könnte funktionieren: Laut einer Umfrage würden 52 Prozent der Deutschen für eine Gesundheitsreise selbst bezahlen. Hilsenbeck arbeitet derzeit an einer Internetplattform. Auf „Moove“ sollen sich Patienten und Gäste ab dem kommenden Jahr ein eigenes Ärzte- und Urlaubspaket schnüren können. Im Gesundheitszentrum von Garmisch-Partenkirchen bekommt die Familie eines Patienten das richtige Hotel und einen dicken Katalog an Freizeitangeboten. Das Ziel des Landkreises: Nicht nur den Patienten, sondern auch seine Familie möglichst lang in der Region halten. 41 Aus Alt mach Neu: Bei Jan Herzog werden aus traditionellen Holzschnitzereien Figuren des 21. Jahrhunderts, der Hirte wird zum Banker Auf dieses Werk ist er besonders stolz. Die Idee mit den Metallbeschlägen kam ihm mitten in der Nacht Z Aus dem Leben geschnitzt Die berühmte Holzschnitzkunst in Oberammergau hat Staub angesetzt. Jan Herzog will das ändern. Zusammen mit anderen Künstlern will er der traditionellen Schnitzkunst Von Magdalena SchüSSler eine neue Kante geben 42 Verändert und doch wieder nicht: In dem kleinen Jungen aus Holz stecken Jan Herzog und seine Geschichte wischen Jan und das Holz passt nicht mehr viel. Eng an die Brust gepresst, hält er sein kleines Stück Zirbelkiefer, verdeckt es vor der Welt mit Händen, Schnitzmesser und seinem großem Gesicht. Seit Minuten hat Jan nichts mehr gesagt, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig, im satten Schabe-Rhythmus seines Messers. Das einzige Geräusch im Hinterhof seiner Werkstatt. Jan schnitzt sich selbst, genauer, seine Vergangenheit, das Kind, das er mal war und das auf einem alten Foto durchs Bild läuft. „Irgendwie zielstrebig“, sagt Jan. „Ein kleiner Holzschnittjunge.“ Jan will mit seinen Arbeiten vor allem Geschichten erzählen. Diesmal ist es seine eigene. Aus dem Jan von damals ist ein „Schnitzi“ geworden. So nennen sie die Schüler der „Staatlichen Berufsfachschule für Holzbildhauer und Schnitzer“ in Oberammergau. Drei Jahre lang hat Jan die Schule besucht, jetzt hat er seinen Abschluss, er ist ein Großer, ein „Schnitzler“. Und damit Teil einer jahrhundertealten Tradition. Oberammergau gilt als Zentrum der Schnitzkunst in den Alpen, in manchen Gassen drängen sich gleich mehrere Holzschnitzereien nebeneinander. In den Schaufenstern: Hirten, Könige und vor allem christliche Szenen. Passionsspiele und „Herrgottsschnitzer“ – dafür ist Oberammergau auf der ganzen Welt berühmt. Schon im 16. Jahrhundert hieß es, die Schnitzer des Dorfes könnten „das Leiden Christi in einer Nussschale“ darstellen. Einst arbeiteten weit über hundert Holzschnitzer im Ort, heute sind es nur noch knapp 30 und nur etwa fünf davon haben einen eigenen Laden. Was in vielen Schaufenstern und vor allem in den Souvenirläden steht, ist meist importierte, günstige Massenware. Jan Herzog, 26, weiß von alledem nicht viel, als er vor drei Jahren aus Wiesbaden auf die „Schnitzschule“ nach Oberammergau kommt. Sein Architekturstudium hat er abgebrochen, er will endlich wieder gestalten, etwas mit seinen Händen machen. Ein echter „Schnitzi“ will er aber nicht sein. Mit der volkstümlichen Schnitzertradition in Oberammergau kann er nur wenig anfangen. „Da war noch irgendwas Elitäres in mir. Ich dachte, ich bin doch Bildhauer, Gestalter, kein Schnitzer.“ Gegen Ende des ersten Schuljahres mietet Jan seine erste Werkstatt. Ausgerechnet bei einem der ältesten Holzhändler im Ort, bei der Firma „Lang selig Erben“. Dem Mittelpunkt der Oberammergaurer Schnitztradition. Hier hängen handgeschnitzte Kruzifixe im Keller, daneben Urkunden und Erinnerungen aus der alten Glanzzeit. Jan, der Geschichtenerzähler, ist von all dem fasziniert. Und auch Firmeninhaber Florian Lang mag den Jungen aus Wiesbaden. Er zeigt Jan, wo das Schnitzen in Oberammergau herkommt. Jan zeigt ihm, wo es hingehen könnte. D ie „Schnitzschule“ ist bekannt dafür, ungewöhnliche Ideen zu fördern. Junge Freigeister aus ganz Deutschland kommen hierher. Sie schnitzen Stinkefinger, abstrakte Tropfenfiguren, buddhistische Nonnen. Sie haben wilde Frisuren, oft nackte Füße. Die Oberammergauer erkennen ihre Schnitzis schon von weitem, betrachten sie mit Stolz, aber auch mit Kopfschütteln. „Es gibt natürlich Reibereien, es wird gesagt: ‚Mensch, was macht‘s denn ihr jetzt Den Jungen aus Holz schnitzt er nur für sich, zum Spaß. Er lässt sich Zeit 43 in der Schule?‘“, sagt Florian Stückl. Der Oberammergauer war bis Juli 2015 Leiter der Schnitzschule. Er sagt: „Der Beruf des Holzschnitzers muss in die Zukunft kommen und da muss man einfach immer neue Ideen entwickeln.“ Denn die althergebrachten Figuren, die Kruzifixe und Marienstatuen verstauben in den Schnitzerläden. Kamen in den 60er Jahren noch Massen von Amerikanern nach Oberammergau auf der Suche nach christlicher Holzkunst, lassen sich heute nicht mal mehr die Asiaten dafür so recht begeistern. Zumindest nicht genug, um angemessene Preise zu bezahlen. Deshalb dürfen und müssen die Schüler an der Schnitzschule eigene Ideen entwickeln, ob mit Holz, Fotografien oder Gipsplastiken. Nur einmal muss jeder Schüler ein altes Werk kopieren, sie sollen wissen, wo ihr Handwerk herkommt und es beherrschen. N icht jeder im Ort kann mit den neuen Ideen aus der Schnitzschule etwas anfangen. Einmal hatte Jan eine Ausstellung in seiner Werkstatt. Auf den Boden, zwischen die Skulpturen, hatte er Holzspäne gestreut, die „Schorten“ – gesammelt in einem Jahr Schnitzarbeit. Nur genau festgelegte Wege blieben frei. „Könnt ihr nicht mal das Brennholz wegräumen?“, hat ein älterer Mann aus Oberammergau gefragt. Jan muss lachen, als er daran denkt. „Die Schnitzschüler bringen den Tellerrand nach Oberammergau“, sagt er. Dabei fing auch für ihn die Sache mit dem Holz erst einmal ganz bodenständig an. Jan ist das jüngste 44 Kind einer Tischlerfamilie. Schon mit drei Jahren steht er mit seinem Opa in der Werkstatt. Eigentlich scheint die Holzkarriere vorgezeichnet. Doch so einfach ist es nicht. Die Familie Herzog ist vermögend, Jan der letzte Sohn, die Erwartungen an ihn sind hoch. Zu hoch für Jans Mutter. Sie zieht mit dem damals Fünfjährigen nach Mainz. So oft es geht, verbringt Jan die Ferien auf dem Hof seiner Großeltern. Sein Großvater bringt ihm das Drechseln und das Schreinern bei. „Für mich war das ganz normal. Wenn man zwölf ist, fährt man halt mit Opa und dem Gesellen los und baut Fenster ein.“ Jans erster Berufswunsch ist Tischler. Doch anders als der Opa ist Jan kein Macher, er will gestalten. Mit 16 will er raus und denkt zum ersten Mal daran, In seiner Werkstatt bei einem Traditionsschnitzer mischen sich alte und neue Kunst geschnitzt. Nur dass es sich dabei nicht um einen Hirten, sondern um einen Banker handelt. F Wenn Jan Herzog schnitzt, lässt er die Welt draußen eine Holzfachschule für Gestaltung zu besuchen. Aber seine Mutter überredet ihn, das Abitur zu machen und schließlich auch zu einem Studium. „Ich habe mich immer als schwarzes Schaf gefühlt, weil die nicht verstanden haben, warum ich was machen möchte.“ Erst mit 23 Jahren traut sich Jan das zu machen, was er eigentlich schon immer wollte. Er zieht in die Alpen, auf die Schnitzschule in Oberammergau. Jan fühlt sich dort gleich zu Hause. Die Geschichten, die Rituale und die Tradition faszinieren ihn. Oberammergau ist für ihn „gleichzeitig der Bauchnabel der Welt und völlig raus“, die Schnitzschule „der abgefahrenste Ort der Welt“, ein geschützter Lebensraum für Querköpfe und Individualisten. S eine Inspiration entdeckt Jan in allem, was ihn beschäftigt, was er aber nicht ausdrücken kann. In der Familie zum Beispiel. Und natürlich in den Geschichten und der Geschichte um ihn herum. Jan holt eine Figur hervor, ein unscheinbarer Holzhirte, grob geschnitzt. „Die Figur ist ungefähr 200 Jahre alt.“ Jan hat sie als Vorbild genommen und eine ähnliche Figur ür Jan ist das kein Wiederspruch zur Handwerkstradition, im Gegenteil. „Früher haben die Schnitzer ja auch ihr Leben in ihre Arbeit gebracht. Wenn das Handwerk weitergehen soll, sollten die Schnitzer heute auch ihr Leben schnitzen.“ Auch die alten Holzkünstler sehen das so, sagt Jan. Ihnen gehe es in erster Linie darum, dass etwas sauber gearbeitet sei, in welcher Form auch immer. Damit allerdings auch Geld zu verdienen, ist in Oberammergau sehr schwierig. Hier, wo es schon ein Überangebot an Schnitzereien gibt. Die meisten Absolventen der Schnitzschule verlassen deshalb Oberammergau. Auch Jan sagt: „Jeder geht aus O-Gau einmal weg. Man kann hier nicht alt werden.“ Deshalb zieht er jetzt erst einmal als Requisiteur ans Münchner Volkstheater, zur Vertretung für vier Monate. Eine Eintrittskarte ins Theater, sagt Jan. Was danach wird, weiß er noch nicht genau. Ideen hat er viele. Zum Beispiel würde er gerne durch die Alpen ziehen und seine Schnitzereien verkaufen, wie es die Händler schon vor hundert Jahren gemacht haben. Auch schnitzen würde er sie ganz wie früher, von Hand, einfache, kleine Figürchen. Nur die Formen wären neu, Banker statt Hirten. Mehr verraten möchte er aber nicht. Nicht, bevor die Ideen nicht konkreter sind. Und dann ist da noch die Angst, dass der Spaß verschwindet, wenn er seine Kunst zum Beruf macht. „Aber ich finde, jeder Mensch hat die Pflicht, andere Menschen an seinem Talent teilhaben zu lassen.“ Und, klar, irgendwann müsse er natürlich auch von seiner Arbeit leben können. Jan freut sich irgendwie schon auf diese Zeit. „Weil dann klar wird, was von meinem ganzen Blabla übrig bleibt.“ Sein Großvater hat zu alledem nicht viel gesagt. Bei der Ausstellung der Abschlussklasse hat er Jan die Hand gegeben. Weil sein Opa sich nicht so recht getraut habe ihn zu umarmen, sagt Jan. „Das hab ich dann gemacht. Ich habe es in seinen Augen gesehen, wie stolz er ist. Dass ich jetzt einen Gesellenbrief habe, ein ehrbarer Handwerker geworden bin. Das war ihm wichtig.“ Vor seiner Werkstatt hat sich Jan von seinem Holz-Ich inzwischen gelöst, streckt es von sich, legt das Messer zur Seite und betrachtet, was daraus geworden ist. Fertig ist der Holzjunge noch nicht. Aber das hat auch noch Zeit. Die Liebe zum Holz hat Jan Herzog von seinem Großvater geerbt 45 Mit dem Bus zur Bahn, mit der Bahn zum Gipfel: Zhang Wanming und ihr Sohn Sun haben neun Tage Deutschland gebucht. Der Besuch auf der Zugspitze ist einer von vielen Höhepunkten Urlaub im Die Zugspitze ist der höchste Berg Deutschlands. Als Superlativ gehört er fest ins von Jessica Deringer Programm chinesischer Reisegruppen. Ein Besuch im Zeitraffer 46 iesmal hat sie Zeit. Neun Tage. Für ein einziges Land! Zhang Wanming, 42, sitzt mit ihrem zehnjährigen Sohn Sun Xinei in der Zugspitzbahn am Garmischer Bahnhof und wartet darauf, dass es endlich losgeht. Noch eine gute Stunde, dann werden die beiden zum ersten Mal auf Deutschlands höchstem Berg stehen. Endlich. Der Tag soll einer der Höhepunkte werden auf der Gruppenreise, aber das Programm ist so vollgepackt, dass eigentlich jeder Tag ein Höhepunkt ist. Zhang hat bis jetzt nur Frankfurt gesehen, ausgerechnet im Januar, als sie bei einer Rundtour in zwölf Tagen durch Italien, Frankreich, Deutschland und die Schweiz tourte. Sie strahlt, als sich die Bahn endlich Richtung Zugspitzplatt in Bewegung setzt. Deutschland als Urlaubsland ist in China immer gefragter, und davon profitieren vor allem die südlichen Bundesländer. Beliebte Reiseziele sind die Auto- städte Stuttgart und München, Schloss Neuschwanstein und eben die Zugspitze. Asien ist für den Betreiber der Seilbahnen an der Zugspitze, die Bayerische Zugspitzbahn Bergbahn AG, mittlerweile der zweitstärkste Markt hinter Deutschland. Chinesische Touristen buchen in der Regel Komplettpakete bei Reiseagenturen, um die komplizierte Visumbeschaffung zu umgehen. Das Prinzip solcher Reisen: möglichst viel sehen in möglichst wenig Zeit. Zehn Tage Europa sind normal, zehn Tage Deutschland eher Luxus. Zhang und ihre 23 Reisegenossen werden am Ende ihrer Tour Frankfurt, Köln, Bonn, Heidelberg, Stuttgart, Titisee, Füssen, Garmisch-Partenkirchen, Berchtesgaden, Salzburg und München besucht haben, dazu das Outlet Metzingen, Schloss Neuschwanstein und den Königssee. Pro Person haben sie dafür rund 3.000 Euro gezahlt, inklusive Flug und Hotel. Das kann sich nicht jeder leisten, die meisten Chinesen in der Gruppe haben gut bezahlte Jobs. So wie Zhang, die an einer Pekinger Uni Wirt- 47 Ein bisschen einkaufen, ein bisschen einkehren, ein Schluck bayerisches Bier, weiter geht’s schaftswissenschaften unterrichtet. Viele ihrer Mitreisenden kommen ebenfalls aus Peking, einige der Jüngeren sprechen Englisch. Auch ein paar Kinder wie Sun sind dabei, es sind gerade Schulferien in China. Nach einer guten Stunde Fahrt ist die Bahn am Zugspitzplatt angekommen. Auf dem überfüllten Bahnsteig sammelt Wang Tzu-Ming die 25 Chinesen ein. TzuMing, 54, gebürtiger Taiwanese mit chinesischem Vater, betreut seit 15 Jahren Reisen nach Deutschland. Vor sechs Tagen ist er mit Zhang und den anderen in Peking ins Flugzeug nach Frankfurt gestiegen, in drei Tagen wird er sie von München wieder zurück nach Peking bringen, und dazwischen achtet er genau darauf, dass niemand verloren geht. Er ruft und winkt, und wenige Minuten später führt er seine Gruppe geschlossen aus der Station zum Fotostopp am Gletscher. Die meisten tragen dünne Jacken, Zhang einen frühlingshaften Trenchcoat – nicht genug, sagt Tzu-Ming. Aber er weiß warum: Im Wetterbericht des chinesischen Fernsehens habe es geheißen, in Europa sei es momentan warm. Ein Mann entwischt kurz darauf mit Sohn und Schwiegereltern nach drinnen zum Souvenirshop, um Jacken zu kaufen. Aber während die Familie noch rätselt, wer welche bekommen soll, holt Tzu-Ming sie zurück. Keine Zeit! Das Mittagessen wartet! Gegessen wird direkt am Gipfel, eine Gondel bringt die Gruppe die letzten Meter hinauf. Das Bistro wirkt wie ein riesiger Konferenzraum, die Wände sind verglast und bieten einen traumhaften Blick auf die Bergspitzen ringsum. Tzu-Mings Gruppe verteilt sich auf drei große runde Tische mit weißen Tischdecken direkt neben einer Gruppe aus Hongkong. TzuMing hat Büffet bestellt, es gibt Hähnchenbrust mit Gemüse und zum Nachtisch Obst. Er hebt jeden Deckel der großen silbernen Gefäße und erklärt, was drin ist. „Nur ein Stück Fleisch für jeden“, mahnt er. Schließlich ist alles abgezählt im Pauschalpaket. Das Essen ist inklu- »Zugspize IM Eiltempo« 48 Chinesen genießen die Bergluft auf der Zugspitze. Erinnerungsfotos sind Pflicht, dann ist aber auch schon wieder Zeit für die Rückfahrt sive, Getränke müssen alle selber zahlen. Die Familie mit den Jacken bestellt Weißbier in Weingläsern, weil die kleiner sind als Biergläser. Deutsches Essen sei nicht sonderlich beliebt, sagt Tzu-Ming, der seine Ohren überall hat: „Ich habe sie gerade gehört. Sie sagen, es sei ihnen zu salzig.“ Die Stimmung ist trotzdem gut, seine Leute prosten sich zu, und nach einer knappen halben Stunde ist das Essen beendet. Tzu-Ming drängt zum Aufbruch, auf den Tellern bleibt Einiges zurück. Das ist so Sitte in China, vielleicht war es aber doch das Salz. Eineinhalb Stunden lang können seine Gäste jetzt machen, was sie wollen. Zhang und Sun entscheiden sich für die weitläufige Aussichtsplattform über dem Bistro. Der Wind ist kalt, aber das Wetter ist gut. Zhang schließt die Augen und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Sie genießt die frische Luft, denn zu Hause in Peking gibt es vor allem Smog. Später will sie ihrem Mann, der in China geblieben ist, ein Foto schicken. Die Plattform ist voll mit Touristen aus der ganzen Welt, Asiaten, Araber und Europäer. Es gibt einen Imbiss mit bayerischem Essen, einen Souve- nirstand mit Kuhglocken und Deutschland-Magneten und eine unglaubliche Aussicht auf den Gipfel, auf dem ein paar Wanderer den gelungenen Aufstieg feiern. Wandern wäre nichts für Zhang und Sun, Sun hat Höhenangst und Zhang friert. Also gehen sie bald wieder nach unten ins Café, Sun bekommt eine heiße Schokolade und Zhang denkt ein bisschen über die Reise nach. Eigentlich, sagt sie, wäre es nicht schlecht, nur die Flüge zu buchen und dann auf eigene Faust weiter zu reisen. Denn obwohl sie zehn Tage großzügig bemessen findet, hätte sie doch gern mehr Zeit allein mit ihrem Sohn. Mittlerweile füllt sich das Café, immer mehr Chinesen aus der Gruppe setzen sich an die Tische und warten, dass Tzu-Ming zurückkommt und die Reise weitergeht. Nach der Rückfahrt mit der Bahn und zwanzig Minuten Fotostopp am Eibsee bringt sie der Reisebus in die Innenstadt von Garmisch. Tzu-Ming will seinen Gästen vor dem Abendessen noch schnell die für die Gegend typische Lüftlmalerei an den Hausfassaden zeigen. Zum ersten Mal ist er nicht ganz perfekt vor- 49 Ein bisschen Kultur vor dem Abendessen: Reiseführer TzuMing erklärt seiner Gruppe die Lüftlmalerei in Garmisch bereitet. „In meinem Buch steht nicht so viel darüber“, sagt er, kurz bevor der Bus in der Nähe des Garmischer Bahnhofs hält. Dann eben einfach aussteigen und schauen, was kommt. Tatsächlich sieht er ein paar Meter weiter ein Hotel, dessen Fassade aufwändig bemalt ist. Tzu-Ming marschiert auf die Hauswand zu und erzählt seinen Gästen, was er in seinem Buch über die Maltechnik gelesen hat. Nur eine kleine Gruppe wagt sich zu ihm nach vorne, der Rest bleibt etwas entfernt stehen und beschränkt sich aufs Fotografieren. Nach wenigen Minuten geht es weiter. Hat die Gruppe sich interessiert? „Nicht besonders“, sagt Tzu-Ming heiter. Das Interesse an Kultur sei bei seinen Kunden nie so groß wie an Supermärkten und Apotheken und Shopping generell. Trotzdem würde Tzu-Ming mit ihnen gern noch ein paar bemalte Häuser besichtigen. „Wo ist denn noch eins?“, fragt er sich, während er mit der 50 Gruppe die Straße entlangläuft. „Im Buch heißt es ständig, bemalte Häuser, bemalte Häuser, aber wo sind sie denn?“ Die Gruppe ist aber sowieso im Begriff, sich aufzulösen. Nach und nach sondern sich die Reisenden ab, manche in ein Schuhgeschäft, manche in die Apotheke. Eine halbe Stunde später, um sechs, treffen sich alle zum letzten Programmpunkt: Abendessen in einem China-Restaurant. Zehn Tage lang nur deutsches Essen sei einfach zu viel, sagt Tzu-Ming. Während seine Reisegruppe eintrudelt, stellt die Bedienung Suppenschüsseln auf die langen Tische. „Da sieht man es, Chinesen mögen diese runden Tische wie auf der Zugspitze nicht“, sagt Tzu-Ming. Bevor er mit dem Essen beginnt, leiht er sich noch schnell das Telefon des Restaurants, um für den übernächsten Tag ein Restaurant in München zu buchen. Zu viel Salz hin oder her, in München muss es ein echt bayerisches Brauhaus sein. Impressum Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Rathausallee 12 53757 Sankt Augustin Telefon: 0 22 41 / 246-2550 e-Mail: [email protected] www.kas.de/jona August 2015 Gestaltung / Love Tina Adu Redaktion / Jessica Deringer, Stefanie Dodt, Felix Ehrenfried, Maria-Xenia Hardt, Rahel Klein, Gabriel Kords, Franziska Kues, Louisa Riepe, Larissa Rohr, Anchalee Rülana, Marcus Schoft, Magdalena Schüßler, Ann-Kathrin Wetter Alpträume ist ein Magazin der Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung (JONA) und im Juli 2015 in Creative Commons Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE Oberammergau entstanden. Für 13 JONAlisten war dies ISBN: 978-3-95721-144-6 das Abschlussprojekt ihrer studienbegleitenden Herausgeber / Dr. Marcus Nicolini (V.i.S.d.P.) Journalistenausbildung. Chefredaktion / Astrid Csuraji Mehr JONA-Projekte finden Sie im Netz unter Textchefin / Stéphanie Souron www.jonamag.de 51
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