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BER
VOM
G ESCHICHTEN
Gletschersterben / Die Alpen ohne Schnee
Trachtentanz / Tradition mit Schwung
Almwirtschaft / Aus Liebe zur Kuh
G
Editorial
Top of Germany:
Er ist 2962 Meter
hoch und damit
der höchste Berg
Deutschlands die Zugspitze
Was wird aus den Alpen?
Dieser Frage sind wir, 13 Stipendiaten der
Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer-­
Stiftung, im Sommer 2015 im Landkreis
Garmisch-Partenkirchen nachgegangen. Was
macht der Klimawandel mit dieser Region?
Wie prägen 100 Jahre Massentourismus die
Landschaft und ihre Bewohner? Und warum
verunglücken immer mehr Menschen in den
Bergen?
Servus!
Die Redaktion
Und die Alp-Träume, die unser Titel verheißt?
Die fangen dort an, wo Fakten ein Gesicht bekommen, Menschen ihre Geschichten erzählen
und die traumhafte Landschaft die Fantasie
beflügelt.
Wir haben unser Heft in vier Rubriken unterteilt, inspiriert von den Leitmotiven unserer
Recherchen: Sorge bereiten uns sterbende
Gletscher und die Folgen des Massentourismus. Verlockung verspüren wir angesichts
neuer Trends und Ideen, die sich hier ent­
wickeln. In Ekstase versetzt uns der Rausch
der Geschwindigkeit im alpinen Sport. Und
beeindruckt hat uns die Leidenschaft, mit
der die Menschen hier bewahren, was sie seit
Jahrhunderten ausmacht.
Viel Spaß beim Lesen!
Ihre Redaktion
2
Alp-Traum? Die Gefühle der Seminarteilnehmer auf der frei
schwebenden Aussichtsplattform AlpspiX, 1.000 Meter über dem
Höllental, reichten von Beklemmung bis Begeisterung
www
Alpträume / Geschichten vom Berg gibt
es auch als multimediale Ausgabe im Netz
http://projekte.jonamag.de/alpträume
3
Inhalt
Al p
Ekstase
Leidenschaft
Verlockung
sorge
„Wettkämpfe bis zum
bitteren Ende“
Freilichtmuseum
Trügerische Idylle
Tauwetter
Sie pflegen die Kulturlandschaft der Alpen in ihrer
Freizeit: Besuch beim
Almbauern
Dank guter Luft und
atemberaubender Natur
kommen viele Rentner in
die Region – und doch
nicht wirklich an
Der Almhirte sitzt
auf dem Trocknen,
der Schnee schmilzt:
Wasserstandsmessung
im Wettersteingebirge
/ Seite 23 /
/ Seite 6 /
Gestrafftes Geschäft
Daten
Unter ärztlicher Aufsicht
verschwimmt die Grenze
zwischen Gast und Gastro­
enterologie
Angezählt: Eine
Vermessung der Region
vom Baumbestand
bis zu den entscheidenden
37,94 Metern
Mit Schneekanonen
ins Gefecht: Ein Gespräch
über die Zukunft
des Skisports in
Garmisch-Partenkirchen
Sie entspannt und beflügelt: Die Landschaft in den Ammergauer Alpen
ist fantastisch. Sie zu erhalten, ist auch Aufgabe der Landwirte S. 18
/ Seite 10 /
Steil
Der Schnee schmilzt,
bergab geht es trotzdem –
eine Suche nach Kick und
Geld am grünen Hang
/ Seite 12 /
Absturz
/ Seite 18 /
Nicht aus der Mode
Wenn Enkel Kleider aus
Omas Schrank holen:
Auf einen Tanz zum
Trachtenumzug
/ Seite 26 /
/ Seite 40 /
Aus dem Leben
geschnitzt
Bei Anruf Rettung: Die
Bergwacht rückt aus, wenn
der Boden unter den
Füßen wegrutscht
Im Oberammergauer
Handwerk, prallen Alt und
Jung aufeinander und
doch sind irgendwie alle
aus demselben Holz
/ Seite 16 /
/ Seite 42 /
/ Seite 29 /
Akkordurlaub
Einmal Zugspitze und
zurück in zwei Stunden:
unterwegs mit einer chinesischen Reisegruppe
/ Seite 46 /
Monokultur
Wie abhängig darf die
Region vom Tourismus
sein? Sechs Meinungen
zwischen Naturschutz,
Gewerbe und Politik
/ Seite 38 /
Titel
Lächeln bitte! Chinesische Reisegruppen rasten nur kurz fürs Foto S. 26
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Bergab macht auch ohne Schnee Spaß S. 12
Nach dem Sommer auf der Alm treiben die Landwirte ihre Kühe
zurück ins Tal. War der Almabtrieb früher bäuerliche Tradition, ist er
heute eher eine Touristenattraktion, so wie hier beim historischen
Trachtenumzug in der Ludwigstraße in Garmisch-Partenkirchen
/ Foto Marcus Schoft /
Impressum
/ Seite 51 /
5
Der Gletscher stirbt:
Der nördliche Schneeferner im
Jahr 1890 (Foto: S. Finsterwalder,
Kommission für ­E rdmessung
und Glaziologie)…
Tauwetter
Die Almwirte in den bayerischen Alpen bekommen zu spüren, was der Klimawandel
bedeutet. Die Gletscher schmelzen vor den Augen der Forscher. Eine Reise zu den Ursachen
Von Stefanie Dodt
… und im Jahr 2006
(Foto: M. Weber, Kommission für
Erdmessung und Glaziologie)
E
s war ein Versuch. Carl Petzold nimmt die
300ml-Plastikflasche aus dem Holzschrank hinter
der Tür. „Weihwasser“ steht auf dem Etikett. Er
läuft den schmalen Pfad hinter der Hütte entlang, vorbei an meterhohen Fichten. Es ist um die 30 Grad heiß.
Die Schellalm steht auf 1.500 Metern Höhe, mitten
in den bayerischen Alpen. 15 Minuten geht er leicht
bergauf, bis er die Stelle erreicht, an der ein Bach
fließt. Fließen sollte. Aus dem Berggeröll ragt eine alte
Holzrinne hervor. Vor etwa einhundert Jahren wurde
sie angebracht, ein angestecktes Plastikrohr schließt an
die Rinne an. Sie leitet das Wasser in eine grüne Tonne.
Aber die Tonne ist leer, aus dem Rohr tröpfelt es nur.
Carl Petzold, 34, Almhirte, schraubt die Flasche
auf und träufelt sich das Weihwasser in die Handfläche.
Die Tropfen verteilt er auf dem Geröll. Drei-, viermal
setzt er an, betet ein Vaterunser, bittet den Herrgott,
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das Wasser wieder laufen zu lassen. Er weiß nicht so
recht, ob er glauben soll, was er tut. Aber früher hat
so etwas auch geholfen. Damals hat die Urgroßmutter
beim ersten Blitz die Wetterkerze angezündet, um dafür zu beten, dass das Unwetter weiterzieht.
Heute bittet Petzold um Regen. Denn auch die
Tanks mit Bergquellwasser für seine 53 Kühe sind ausgetrocknet, und die Tiere brauchen bei der Hitze etwa
100 Liter Wasser am Tag. Seine Almhütte hat keinen
Wasseranschluss, und immer häufiger versiegt die
Quelle wegen Hitze und Trockenheit. Die Almhirten
gehören zu den Ersten, die den Klimawandel zu spüren bekommen. Früher regnete es alle zwei, drei Tage,
heute bleibt manchmal über Wochen der Niederschlag
aus. Dann kommt der Starkregen, den der ausgelaugte
Boden nicht aufnehmen kann. Und die Bergquellen
versiegen.
Carl Petzold muss zwei Stunden laufen und 800 Höhenmeter absteigen, um die nächste Straße zu erreichen.
Aber auch weniger abgelegene Almen haben Probleme mit der Trockenheit: Vor zwei Jahren musste etwa
ein Drittel der Hütten in der Region Garmisch-Partenkirchen von Jeeps, Seilbahnen oder dem Helikopter mit
Wasser versorgt werden.
Z
wei Tage, nachdem Carl Petzold an der Quelle
stand und betete, ließ der Herrgott das Wasser
wieder laufen auf der Schellalm. Wegen der
Wassernot hatte der Hirte trotzdem schon 13 der 53 Kälber wieder ins Tal getrieben. Sechs Wochen früher als
geplant. Das sind sechs Wochen weniger, in denen die
Kühe eigentlich grasend über die Almen ziehen und
dabei den Humusboden nähren. Für Carl Petzold war
der Regen trotzdem ein „Riesenmassel“, eine glückliche
Fügung. Wäre es zwei weitere Tage trocken geblieben,
hätten alle Kühe die Alm verlassen müssen.
Die Tanks sind jetzt erst mal wieder voll. Der Hirte
sitzt am Holztisch in seiner Hütte, auf einem verwaschenen Sitzkissen, gelb, grün, blau und ein bisschen rot,
aber doch irgendwie alles derselbe Farbton, vor ihm
eine Tasse Kaffee. Das Wasser dafür hat er gerade auf
dem Holzofen gekocht. Er hat nicht viel und er hätte es
schwer, wenn er mehr bräuchte. Geduscht wird in der
Regentonne, die Toilette ist unter der Fichte, nur das
Wasser aus der Quelle, das braucht er wirklich.
Wie viel Wasser in den nächsten Jahrzehnten
noch aus den Bergen kommen wird, erforscht Geograf
Michael Weber von der Ludwig-Maximilians-Universität
München. Er steht am nördlichen Schneeferner unterhalb der Zugspitze. Das blaue Gletschereis wird an
vielen Stellen von schwarzem Schmutz überdeckt. Der
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Hirte Carl Petzold füllt Weihwasser nach. Zum ersten
Mal hat er damit an seiner Wasserquelle für Trinkwasser gebetet
Carl Petzold befreit die Tonne, in der er sein Trinkwasser auffängt,
von Algen. Seit dem letzten Regen hat sich die Lage etwas entspannt
Am Schneefernerhaus, direkt unterhalb der Zugspitze, arbeiten
Forscher aus zehn Forschungsinstituten. Hier führt Weber seine
Messungen durch
Der Geograf Michael Weber von der Ludwig-MaximiliansUniversität München hat erstmal berechnet, was der Klimawandel
in den Bayerischen Alpen genau bedeutet
nördliche Schneeferner ist der größte der fünf verbliebenen deutschen Gletscher, und die Forscher können
nur dabei zuschauen und dokumentieren, wie er vor ihren Augen schmilzt. Weber steht auf der Schneedecke,
wenige Meter dahinter fließt das Schmelzwasser. Schon
jetzt, Ende Juli, sind große Bereiche schneefrei. „Das ist
Gift für jeden Gletscher, wenn er über Sommer keine
Nahrung und keinen Schutz durch den Schnee erhält.“
An einem Moränenwall kann man ablesen, wo der
Gletscher einmal das Geröll vor sich hergeschoben hat.
Heute rollen die Steine über die Reste des Gletschers,
der von einigen Forschern nur noch als „Tot-Eis-Feld“
bezeichnet wird. „Man sieht ganz deutlich an seiner
Form, dass es ein sterbender Gletscher ist. Er ist richtig
eingesunken an seiner Oberfläche“, sagt Weber.
Um die Schneedecke genau zu untersuchen,
baut er ein Stativ auf, oben drauf schraubt er den oran-
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In seinem Tagebuch vermerkt Petzold, für wie viele
Tage das Wasser noch reicht. Am 14.07.15 waren die
Reserven aufgebraucht
gefarbenen, kastenförmigen Laserscanner, den er über
Kabel mit seinem Laptop verbindet. Ein Spezialprogramm zeichnet Punkt für Punkt die Koordinaten der
Schneedeckenoberfläche auf. Dort liegen die Reste
von dem, was einst der 300 Hektar große Gletscher
war. Heute sind noch knapp 30 Hektar übrig. Es ist, als
würde man die Fläche von 420 Fußballfeldern auf 42
einstampfen. Weber lasert die verbliebene Schneedecke vom Dach des Schneefernerhauses ab und erstellt
aus den Daten Modelle, wie es weiter gehen könnte.
Weber hat damit erstmals berechnet, was genau der
Klimawandel für die Zugspitzregion bedeutet. Die Ergebnisse sind erschütternd.
Die Schneedecke in den Alpen schmilzt rapide
weiter, und den Forscher beeindruckt vor allem das
rasante Tempo. Die Temperatur hat sich im 20. Jahrhundert an der Zugspitze um 1,2 Grad erhöht. Forscher
prognostizieren einen erneuten Anstieg um 1,2 Grad
bis 2050. Bis dahin wird auch die Schneedecke an der
Zugspitze im Sommer vier Wochen früher verschwinden. Weil der Schnee auch der Wasserspeicher für die
Bergflüsse ist, wird einerseits die Trockenheit verstärkt.
Andererseits kann es durch das Schmelztempo im Tal
häufiger zu Überschwemmungen kommen.
Für die Gletscher in den bayerischen Alpen bedeutet das, dass ihre Jahre gezählt sind. „Man kann eins
und eins zusammenzählen und wird zu dem Ergebnis
kommen, dass unsere Gletscher nur noch wenige Jahrzehnte Bestand haben werden“, sagt Weber.
Wenn die Gletscher schmelzen, fehlt auch bald
den Skifahrern die Grundlage. Schon jetzt ist eine Talabfahrt im Skigebiet von Garmisch-Partenkirchen an
manchen Tagen nur noch durch künstliche Beschneiung
möglich. Der Skibetrieb am Wank, ein Berggipfel von
1.800 Metern Höhe, wurde 2002 nach 30 Jahren eingestellt. Die Lifte wurden abgebaut, heute gibt es nur
noch eine Zubringerbahn, mit der Wanderer kommen.
Auch die Bayrische Zugspitzbahn Bergbahn AG investiert nicht mehr in neue Skilifte, weil sie damit rechnet,
dass in 25 Jahren so umfangreich beschneit werden
müsste, dass die Kosten-Nutzen Rechnung nicht mehr
aufgeht. Schon jetzt kommen 75 Prozent der Gäste nicht
mehr zum Skifahren auf die Zugspitze, sondern zum
Wandern, und um Aussicht und Luft zu genießen. Die
Touristiker setzen jetzt auf den Sommerurlauber.
Einfach den Fokus verschieben, in eine andere
Richtung investieren, das kann der Hirte Carl Petzold
nicht. Für seine Kühe ist das Wasser aus den Bergbächen Überlebensgrundlage. Und für ihn selbst auch,
etwa vier Liter braucht er am Tag. Gerade sprudelt
seine Trinkwasserquelle wieder. Gott sei Dank.
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Mehr als 20.000 Fans fiebern
im Skistadion von GarmischPartenkirchen mit, wenn die
Springer ins Tal segeln
Foto: Markt Garmisch-Partenkirchen
„Wettkämpfe bis zum
bitteren Ende“
Jedes Jahr finden in Garmisch-Partenkirchen ein Skiweltcup und das Neujahrsskispringen
der Vier-Schanzen-Tournee statt. Das gefällt nicht allen. Die Veranstaltungen seien
teuer und schädlich für die Umwelt. Hannes Krätz, Sprecher des Skiclubs Partenkirchen,
von Marcus Schoft
über schöne Bilder, teuren Schnee und das sportliche Erbe des Ortes
10
Braucht Garmisch-Partenkirchen
den Wintersport?
Hannes Krätz // Der Wintersport hat
für Garmisch-Partenkirchen eine
sehr große Bedeutung. Das war in
der Vergangenheit so, das ist heute
so und sicherlich wird das auch in
Zukunft so sein. Das liegt vor allem
an unseren Bergen. Denn wenn
in Deutschland Wintersport stattfindet, dann in erster Linie in Garmisch-Partenkirchen.
Und was passiert, wenn durch den
Klimawandel kein Wintersport
mehr möglich ist?
Dann hat Garmisch-Partenkirchen
den Auftrag, als Letzter das Licht
auszumachen. Denn wir haben mit
der Zugspitze nun mal den höchsten Berg Deutschlands und sind so
aufgestellt, dass wir sicherlich bis
zum bitteren Ende gut Wettkämpfe
austragen können. Und das sollten
wir dann auch tun.
Die Wettkämpfe stehen oft in der
Kritik, weil sie zu teuer sind.
Wenn man die Werbung bezahlen würde, die die Ereignisse für
diesen Ort sind, dann würden die
Budgets der Kommunen hier wesentlich mehr in Anspruch genommen. Ich glaube nicht, dass man
das überhaupt ersetzen könnte. Das
Neujahrsskispringen hat sehr viele
Stunden TV-Zeit in vielen Kanälen
weltweit. Allein darüber erreichen
wir 100 Millionen Zuschauer. Solche TV-Werbung könnte sich ein
Ort wie Garmisch-Partenkirchen
gar nicht leisten. Umfragen haben
ergeben, dass Garmisch-Partenkirchen eher durch das Neujahrs­
skispringen bekannt ist, als durch
das Label „Top of Germany“, also
durch die Zugspitze. Und das sagt
schon viel aus.
Vor zwei Jahren musste der
Ski-Weltcup wegen Schneemangel abgesagt werden. Auch beim
Neujahrsskispringen 2015 hat man
lange um Schnee gebangt. Macht
Ihnen das keine Sorgen?
Das Skispringen war eigentlich
nicht in Gefahr. Wir haben nur lange diskutiert, mit welchem Schnee
wir die Schanze belegen oder ob
es doch noch rechtzeitig schneit. Da haben wir lange gepokert
und dann auch gewonnen, als vier
Tage vor dem Springen doch noch
Schnee fiel. Der Aufwand für den
Skiweltcup ist natürlich viel größer, weil die Abfahrten länger und
breiter sind als die Schanze. Da
müssen die Veranstalter viel mehr
Kunstschnee produzieren oder
­g rößere Schneedepots anlegen.
Die Logistik dafür wird laufend
­w eiter optimiert, auch um die Kosten gering zu halten.
Lässt sich denn die künstliche Beschneiung noch verbessern?
Für uns ist es ausgeschlossen, dass
wir zum Beispiel mit chemischen
Hannes Krätz, ist Sprecher des Ski-Clubs Partenkirchen,
der jedes Jahr das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee
austrägt. Er selbst ist aber noch
nie von der Schanze gesprungen
Mischungen bei Plusgraden beschneien. Wenn die Temperaturen
so sind, dass wir nicht mehr beschneien können, dann geht’s halt
nicht mehr. Irgendwann stehen
Aufwand und Ergebnis nicht mehr
im Verhältnis. Aber so lange es
zwei, drei oder vier kalte Nächte im
Vorfeld einer Veranstaltung gibt,
dann reicht das, um die Events
durchzuführen.
Die Bayerische Zugspitzbahn betreibt alle Lifte und Pisten in Garmisch-Partenkirchen, manche dort
stellen den Skiweltcup in Frage.
Ich glaube nicht, dass es solche
Tendenzen gibt. Aber es ist nachvollziehbar, dass die Bahnbetreiber
kein Geld in eine vergleichsweise
teure Veranstaltung wie den Skiweltcup stecken wollen. Der Aufwand für die Pistenpräparierung ist
jetzt schon riesig.
Steht denn die Bevölkerung hinter
den Großveranstaltungen?
Sowohl im Ortsteil Garmisch als
auch in Partenkirchen sind die SkiClubs sehr stark in der Bevölkerung
verankert. Jeder Club hat zwischen
1500 und 2000 Mitglieder, die das
ganze Jahr mehr oder weniger aktiv
sind. Wir betreuen mehrere hundert Kinder und Jugendliche. Die
Clubs erfüllen also auch eine wichtige soziale Aufgabe. Auf der anderen Seite engagieren sich die Mitglieder und viele Ehrenamtliche bei
den Großveranstaltungen. Wenn da
jemand mit dem Rotstift käme, wäre
sicher der Aufschrei groß.
11
`
Gute Hanglage: Markus
Reiser liebt den Rausch
der Geschwindigkeit
auf dem Rad
Bergab kann so schön sein:
Die Abfahrt auf dem „Alpine Coaster“
verspricht einen Adrenalin-Kick
Der Schnee ist weg. Am Kolben, dem Hausberg
von Oberammergau, geht es trotzdem rasant bergab.
Eine Suche nach Kick und Geld am grünen Hang
Von Maria-Xenia Hardt
chneller. Steiler. Noch ein bisschen
schneller. Noch ein bisschen steiler.
Bremsen, aber nur kurz. Blick nach
rechts: Kühe. Blick nach links: Wald, zu Grünschleier verschwommene Fichten und Büsche und Moos.
Blick nach oben: Wolken, die Sonne sickert hier und
da durch. Es riecht nach Gras und Sommerregen.
Rechtskurve. Linkskurve. Ein paar Meter bergauf, mit
Schwung über die Kuppe, der Magen sackt kurz weg,
weiter bergab, im Hintergrund der Kolben, das Bergkreuz verschwimmt im Dunst. „Bergab schnell um die
Kurve kommen, das gibt ein richtiges Hochgefühl“,
sagt Markus Reiser. Ein Gefühl von Freiheit, so wie
­F reiheit sich nur anfühlen kann, wenn der Abgrund
nicht weit ist.
Der Reiz der Berge liegt für viele darin, dass es
bergab geht – steil, schnell, und auch ein bisschen
gefährlich, der Abgrund immer in Sichtweite, der
Adrenalinpegel am Anschlag. Jahrzehntelang rasten
Einheimische wie Touristen vor allem auf Skiern und
Snowboards ins Tal. Den Großteil des Geldes verdiente
die Region auf der Piste. Aber die Berghänge bleiben
immer öfter und immer länger grün. Die Gier nach
dem ultimativen Kick muss anders gestillt werden. Markus Reiser ist Adrenalin-Junkie von Berufs wegen. Er
kommt aus einer Radfahrerfamilie, schon früh wurden
die Reifen am Bike immer breiter und die Abhänge
immer steiler. „Im Flachen zwei Stunden unterwegs zu
sein, ist nichts für mich“, sagt er. Inzwischen fährt er,
wie auch sein Bruder Tobias, professionell Enduro-Bike.
Gemütlich rauf, schnell runter, je enger die Kurven,
desto besser. „Für mich gehört dazu, dass man wirklich im Gelände fährt und nicht auf vier Meter breiten
Forstwegen“, sagt er. Unmittelbar in der Natur zu sein,
in den Bergen, das macht das Fahrrad möglich. „Das
Bike gehört zu den Bergen - ich komme viel weiter und
hab mehr Spaß dabei.“
Nicht jeder kennt den Wald so gut wie Reiser,
aber auch Auswärtige wollen den Downhill-Kick. Der
Erste, der in Oberammergau das Potential der Biker
und ihrer Geldbeutel erkannte, war Tobias Baab. Er eröffnete 2006 am Kolben drei Biketrails, spezielle, steile
Radwege. Mit dem Lift nach oben, auf dem Bike ins Tal
- das lockte bald Scharen aus dem Umland: Augsburger,
Münchner, Innsbrucker, Stadtvolk auf der Suche nach
Draußen-Action. „Die Leute sitzen die ganze Woche
13
Wenn Markus Reiser mit seinem Bruder im Wald trainiert, geht es über
Stock und Stein bergab. Manchmal schiebt er sein Rad auch ein Stück
berghoch. Aber gebremst wird nur, wenn es unbedingt sein muss
14
im Büro. Die suchen den Kick“, sagt Baab. Der Kolben
entpuppte sich als Goldgrube. In der wollen viele aus
der Gemeinde nicht graben.
Oberammergau soll bleiben, wie es ist. Ruhiger
als Garmisch-Partenkirchen im Tal nebenan. Es soll bald
einen Naturpark geben, hier, in den Ammergauer
Alpen. Der Geschäftsführer der örtlichen Tourismus-­
GmbH, Christian Loth, sagt, die „intakte und gepflegte
Kulturlandschaft“ sei eine der wichtigsten Anziehungskräfte der Region. Das heißt: Erhalt der Almen und Höfe.
Ein paar Wanderwege. Familien, die Urlaub auf dem
Bauernhof machen. Rentner, die zum Heilwandern
kommen. Postkartenidylle, soweit das Auge reicht. Biker
mit Adrenalinüberschuss passen da nicht rein.
Eigentlich ist hier genug Platz für alle. Für Familien und Funsportler, für Abenteurer, Alte, Adler, für
Bauern und Kühe und Borkenkäfer. Natürlich ist ein
Bike­t rail ein Eingriff in die Natur, aber das ist ein Wanderweg auch. Und im Grunde wollen Wanderer und
Biker - und Skifahrer, Bergsteiger, Almurlauber - dasselbe: Natur erleben. Manche geruhsamer, manche rasanter. Spuren hinterlassen alle.
Vom Trail am Kolben ist heute nicht mehr viel zu
sehen: Wer weiß, was hier mal war, sieht eine Schneise
zwischen den Bäumen, schon wieder halb überwuchert
von Farnen und Gras. Der Trail wurde 2009 stillgelegt.
Die Gemeinde verkaufte damals den Lift, Tobias Baab
konnte sich mit den Investoren nicht auf eine Lösung
einigen - warum, hängt davon ab, wen man fragt.
Statt über Stock und Stein geht es am Kolben jetzt
auf Schienen bergab: Zweieinhalb Kilometer „Alpine
Coaster“ führen durch Wald und an Wiesen vorbei.
Der Coaster gehört der Kolben AG, ebenso der Lift,
die Berghütte und der Spielplatz daneben, sowie der
Hochseilgarten, der 2016 ein paar Meter weiter ent­
stehen soll, um die Aufenthaltsdauer der Gäste auf
dem Berg und die Auslastung der Hütte zu erhöhen.
„Wir brauchten eine Attraktion. Wanderwege
hatten wir ja schon“, sagt Klemens Fend. Klemens Fend
ist der ehemalige Bürgermeister von Oberammergau.
Er ist einer von neun Gesellschaftern der Kolben AG.
Und er hat eine Vision: „Wir wollen den Leuten ein Erlebnis bieten. Die müssen heimfahren und sagen: Das
war geil, das war irre, da müssen wir wieder hin.“ Aus
seinen wirtschaftlichen Interessen macht Fend ebenso
wenig Hehl wie aus seinen persönlichen. „Wir Gesellschafter haben zwei Drittel unseres Lebens schon hinter uns, und wir wollen‘s einfach nochmal allen zeigen.“
Bisher läuft alles ganz geschmeidig. Schon im
zweiten Betriebsjahr machen Fend und Partner drei
Viertel des Umsatzes im Sommer. „Der Winter ist die
Sahnehaube“, sagt Fend. „Aber wenn die mal ausbleibt, haben wir immer noch eine volle Tasse Cappuccino.“ Und wenn in Zukunft kürzer Schnee liegt, bleibt
die Sommerrodelbahn eben länger offen. Genug
Andrang gibt es. An sonnigen Tagen kommen 1.500
Leute auf den Berg, dann windet sich die Schlange un-
»Das Bike gehört
zu den Bergen! «
ter dem Sessellift entlang und einmal um die Berghütte
herum. Selbst bei wolkenverhangenem Himmel muss
man anstehen, um im knallorang­e nen Schlitten gen Tal
zu rasen. Die Schlange ist bunt, nicht nur wegen der
neonfarbenen Outdoorjacken der Besucher: Schulklassen auf Wandertag; Eltern, die ihre Kinder mit dem
Versprechen des Coasters auf den Berg gelockt haben;
ein älterer Herr in schwarzer Robe, mit silbernem Kreuz
um den Hals; eine Reisegruppe aus den Staaten („This
is soooo awesome!“). Unten, sagt Fend, steigt keiner
ohne Lächeln aus. „Das ist einfach geil, wenn die Leute
begeistert sind. Und warum? Weil es steil ist, mit vielen
Kurven, und dann auch noch in der Natur.“
Ein paar hundert Meter Luftlinie weiter, die orangenen Coaster-Schlitten noch in Sichtweite, kommt
Markus Reiser aus dem Wald. Der Nebel hat sich gelichtet. Es soll einen neuen Biketrail geben, bald, mit
Betreibern aus Oberammergau, aus dem Dunstkreis des
Kolben sozusagen. Reiser rollt die Wiese hinunter - bloß
keine Bilder davon, sagt er, das sei ja peinlich, wenn ihn
jemand so locker im Sattel sitzen sieht. Bergab muss es
schnell gehen, denn dafür fährt man ja bergab. Dafür
ist der Berg ja da, dafür ist der Berg ja steil.
15
Absturz
Sie suchen das Abenteuer. Doch nicht alle Bergsportler können das Risiko
richtig einschätzen. Wenn sie den Halt verlieren, rücken die Bergretter aus
von Anchalee Rüland
Rettungshubschrauber
Christoph 17 im Einsatz.
Die Bergretter müssen
immer häufiger ausrücken Foto: Bergwacht
Oberammergau
16
D
as Piepen hört nicht auf penetrant und laut. Einsatz.
Abgestürzte Person am Feigenkopf. Hoffentlich kein Todesfall,
schießt es ihm durch den Kopf.
Ungefähr acht Minuten braucht
­J ohannes Flemisch zur Bergwacht.
Es ist 13:15 Uhr. Vor der Wacht trifft
er die Kollegen. Der Einsatzleiter
hält den Telefonhörer in der Hand,
um zu klären, was genau passiert
ist. Kollektives Aufatmen: Es sind
keine Toten zu bergen.
Zwei Frauen, Mitte Sechzig,
beide erfahrene Bergsteigerinnen.
Sie sind bereits den zweiten Tag
unterwegs. Die geplante Route
führt von der Brunnenkopfhütte
über die Klammspitze und den
­F eigenkopf bis zur Kenzenhütte.
Die Wanderung ist anspruchsvoll,
aber die Frauen sind vorbereitet.
Ihre Ausrüstung ist gut. Als sie aufbrechen, ist es früh am Morgen.
Die Sonne brennt auf den Berg.
Es ist heiß. Sie schwitzen, sind erschöpft. Seit Tagen hat es nicht
geregnet. Im Bereich der Klammspitze ist das Gras ausgedörrt. Die
Oberfläche ist sandig. Als die Frau-
en den Grat überqueren, rutscht
eine der beiden auf dem porösen
Steig aus und stürzt.
Noch bevor der Rettungshubschrauber ihn an der Unfallstelle
absetzt, sieht Johannes Flemisch
die Frau bereits aus der Luft. Sie
liegt in einer Wiesenmulde, 40
Meter unterhalb des Grats. Das Gelände ist steil. Felsvorsprünge ragen hervor. Unter ihr zieht sich ein
300 Meter langer Graben ins Tal.
Jede Bewegung ist jetzt gefährlich.
Neben ihr kniet der Notarzt. Er war
schon vor Flemisch an der Unfallstelle. Die Frau ist schwer verletzt:
Polytrauma mit Wirbelbruch, Rippen- und Schulterfraktur. Der Notarzt legt ihr eine Infusion gegen
die extremen Schmerzen.
Die Bergung der gestürzten
Frau ist aufwändig. Normalerweise
sind die Einsätze der Bergwacht
weniger spektakulär. Oft sind es
nur Schürfwunden, verknackste
Füße, Brüche. Insgesamt stieg die
Zahl der Rettungseinsätze in Bayern
zwischen 2004 und 2013 von rund
4.000 auf über 7.000 pro Jahr. Da­
ran sind unter anderem immer häufigere Wetterkapriolen schuld.
Auch an jenem Freitag im
Juni, als die beiden Frauen in den
Ammergauer Alpen wandern,
machen sich die Wetterextreme
bemerkbar. „Die Trockenheit in
diesem Sommer hat zu einem sehr
losen Bau der Wanderwege geführt”, sagt Stefan Wagner, Leiter
der Bergwacht Oberammergau. Auf
den lockeren Steinen und staubigen Flächen komme es häufiger zu
Stürzen als sonst. Am Himmel ziehen
Schäfchenwolken vorbei. Flemisch
redet mit der Frau. Sie ist 65 Jahre
alt, wohnt im Augsburger Raum. Sie
ist erstaunlich ruhig und vor allem
dankbar. Sie weiß, dass sie alleine
hier nichts mehr ausrichten kann.
Immer mehr Menschen üben
in den Alpen extreme Sportarten
aus. „Heute gehen die Leute im
Winter ins Gelände zum Freeriden
und Skiwandern. Im Sommer kommen sie zum Klettern, Canyoning
oder zum Paragliden“, sagt Wagner. Auch die extremen Formen
des Geocachens, der Schatzsuche
unter Wasser oder in Höhlen, seien nicht ungefährlich. Diese neuen
Sportarten erfordern von den
Berg­rettern besondere Ausbildung
und regelmäßiges Training. Für sie
wird die Bergung der Verletzten
immer komplexer. Aber Flemisch
und seine Kollegen werten nicht,
sie retten jeden. „Tatsächlich sind
die wenigsten wirklich leichtsinnig
in den Bergen”, sagt Wagner. Aber
Selbstüberschätzung sei ein Problem. Immer mehr unerfahrene Touristen kommen mit guter Ausrüstung in die Alpen und denken, sie
hätten das entsprechende Können
mitgekauft. Christoph 17 schwebt
über der Unfallstelle, bereit zum
Abflug. Flemisch klinkt sich ein. Der
orangefarbene Hubschrauber hat
keine Winde, sondern lediglich
ein Seil zur Bergung von Personen.
Daran hängen Flemisch und der
Notarzt. Zwischen ihnen liegt die
Verletzte auf einer Vakuummatratze
im Versorgungssack. Ungefähr acht
Minuten dauert der Flug zum Landeplatz. Flemischs Augen fangen
an zu tränen, es fällt ihm schwer zu
atmen. Der Helikopter kommt ihm
brutal schnell vor. Tatsächlich ist er
langsamer als sonst, um die drei
Passagiere am Seil sicher zu transportieren.
­D er Hubschrauber landet in
Linderhof. Die Rotorblätter dröhnen noch einen Moment. Dann
Stille. Flemisch klinkt sich aus dem
Bergtau aus. Die Patientin wird
weiter medizinisch versorgt. Für
den Flug ins Krankenhaus Murnau
lagern die Retter sie in den Helikopter um. Dann fährt Flemisch in
die Bergwacht zurück. Kurze Nachbesprechung, dann geht er nach
Hause. Es ist Freitagnachmittag, der
Pieper bleibt still.
17
Auf der Alpspitze, gut 2.000 Meter
über Garmisch-Patenkirchen, scheint
die Welt noch in Ordnung
Grüne Wiesen und Kühe, die
auf steilen Hängen grasen –
so sehen die bayrischen Alpen
typischerweise aus. Die Landschaft wird durch die Arbeit
der Almbauern erhalten.
Trotz Subventionen stehen
viele Betriebe vor dem Aus
VON Louisa Riepe
H
eidi kann es
kaum erwarten.
Als sich die Tür
des Anhängers öffnet und der
Strick sich löst, braucht sie nur
drei große Schritte in die Freiheit.
Vor gut einem Jahr hat die Kuh ihr
sechstes Kalb zur Welt gebracht.
Seit dem stand sie im Tal und wurde jeden Tag gemolken. Jetzt ist
sie wieder trächtig und darf zurück
auf die Hochalm, direkt unterhalb
des Steckenberg-Gipfels in Unter­
ammergau. „Urlaub macht sie hier“,
sagt Klaus Solleder und lacht. Er
stützt sich auf seinen Wanderstock und lässt den Blick über die
grünen Wiesen der Langentalalm
schweifen. Direkt am Wanderweg
grasen seine Kühe neben blauen
Glockenblumen. „Der liebe Gott
hat es schon gut mit uns gemeint.
Er hat uns auf einen der schönsten
Flecken der Erde gesetzt.“
Solleder, 54, betreibt mit seiner Familie einen kleinen Milchbetrieb im oberbayrischen Unteram-
18
19
Klaus Solleder,
54, ist Almbauer
aus Leidenschaft
Die typischen Almwiesen im
Landkreis Garmisch-Patenkirchen
können nur noch durch öffentliche
Subventionen erhalten werden
Die Nachfolge ist gesichert: Josef Solleder,
24, will den Hof seiner Eltern gemeinsam mit
seinem jüngeren Bruder übernehmen
Marianne Solleder ist auf dem Hof geboren
und lebt seit 52 Jahren mit der Landwirtschaft
mergau. Tagsüber arbeitet er im
Jugendamt in Garmisch-Partenkirchen, nach Feierabend versorgt er
15 Kühe und 27 Hektar Land. Dafür
setzt er seinen braunen Filzhut auf,
mistet Ställe aus oder treibt, wie an
diesem Tag, das Vieh auf die Weide. Gemeinsam mit seinen Söhnen
begleitet er Kuh Heidi auf den
letzten Metern Fußweg bis zu ihrer
Herde. Doch schon nach wenigen
Schritten kommt die kleine Gruppe
zum Stehen: Heidi muss nach der
20
Hektik am Anhänger erst mal nach
Luft schnappen.
Auch für die Berglandwirte
wird die Luft immer dünner. Klaus
Solleder könnte seinen Betrieb
ohne öffentliche Subventionen
nicht mehr betreiben. Die Bergwiesen sind zu steil, um sie mit großen
Maschinen zu bewirtschaften. Die
sogenannte „Wiesmahd“, das Mähen der Hänge für die Heuernte,
ist reine Handarbeit. Das macht die
Milchviehhaltung in den Bergen
unrentabel. Um den Standortnachteil auszugleichen, bekommt Solleder rund 16.000 Euro pro Jahr aus
den Agrarfonds der Europäischen
Union. Dazu kommen Gelder vom
Bund und vom Freistaat Bayern.
»Den ganzen
Tag an
der Luft«
Denn Solleder und seine Kollegen
erhalten mit ihrer Arbeit die Jahrhunderte alte Kulturlandschaft der
Almen - einzigartig und schützenswert, da sind sich Naturschützer,
Politiker und Touristiker einig.
„Ohne die Landwirtschaft,
die unser Landschaftsbild entscheidend prägt, wäre die Destination
sicherlich deutlich uninteressanter
für unsere Gäste“, sagt Christian
Loth, Geschäftsführer der Ammergauer Alpen GmbH. Die Wer-
begemeinschaft versucht unter
dem Slogan „Hier ist die Natur zu
Hause“ Touristen nach Oberbayern
zu locken. Denn Analysen haben
ergeben: Ein Großteil der Gäste
kommt in die Region, um beim
Wandern oder Radfahren die Natur
zu erleben. Aber die typische Mischlandschaft mit schroffen Felsen,
urwüchsigen Wäldern und offenen
Wiesen erfordert Arbeit. Ohne die
regelmäßige Wiesmahd würden
die Freiflächen zuwachsen und die
Landschaft sich für immer verändern. Und trotz der Subventionen
finden viele Almbauern keinen
Nachfolger. In Unterammergau
sind von ehemals 117 Bergbauern
gerade noch 22 übrig geblieben.
Im gesamten Landkreis Garmisch-­
Partenkirchen hat schon jeder vierte
landwirtschaftliche Betrieb im Berggebiet aufgegeben.
Klaus Solleder und seine
Frau Marianne haben keine Nachwuchssorgen. Ihre beiden Söhne
21
Die Almwiesen sind ein einzigartiger
Lebensraum für Pflanzen und Tiere.
Schützenswert, finden Politiker und
Touristiker gleichermaßen
Josef, 24, und Klaus, 20, wollen den
Betrieb gemeinsam übernehmen.
Schon jetzt arbeiten beide bis zu
50 Stunden im Monat auf dem Hof
mit – unbezahlt. Jeder Überschuss
fließt auf das Familienkonto. Die
Solleders sparen über Jahre für
Neuanschaffungen. Wie zum Bei-
spiel den neuen Motormäher, der
demnächst geliefert werden soll.
„30.000 Euro kostet so eine Spezialmaschine“, sagt Josef Solleder
und drückt die Zange fest zusammen. Er bindet Heidi die Kuhglocke
um den Hals. Ein Draht verhindert,
dass sich die Schnalle löst, wenn
die Tiere auf der Weide miteinander kämpfen oder jemand die Kuh
stehlen will. Trotz aller Schwierigkeiten will er den elterlichen Hof
weiterführen, vor allem der Tradition wegen. Der Hof wird seit mehr
als vier Generationen von seiner
Familie betrieben. Josef Solleder
erinnert sich noch genau, wie er
schon im Alter von zwei Jahren
seinen Großvater auf die Almen
begleitet hat. Im Kindersitz durfte er im Traktor mitfahren. In der
Region gibt es viele Versuche, die
Familienbetriebe zu erhalten. Christian Loth, der Touristiker, setzt sich
für die Gründung eines Naturparks
in den Ammergauer Alpen ein: Dort
sollen Besucher auch mehr über
die Arbeit der Almbauern erfahren.
Eine Genossenschaft bemüht sich
außerdem um die direkte Vermarktung von Milchprodukten aus der
Landwirtschaft, damit die Almbauern unabhängiger von den großen
Molkereien werden. In der „Schaukäserei Ettal“ werden am Tag rund
3.000 Liter Milch zu Käse verarbeitet.
Die 100 Liter Milch, die Sol­
leders Kühe pro Tag liefern, sind bei
der Regionalvermarktung nicht
dabei. Die Käserei kann derzeit nicht
mehr Milch verarbeiten. Sol­leder
verkauft deshalb an die Großmolkerei Hochland. Für 28 Cent pro Liter.
Das macht 30 Euro Umsatz am Tag.
Seit dem Tod ihres Mannes
ist Hannelore Müller oft allein.
Aus den Bergen will sie
trotzdem nicht mehr weg
Gekommen, um zu bleiben:
Hans-Hermann und Irmtraud
Dämmer genießen
ihre Rente auf dem Rad
Die Almen eignen sich wunderbar zum Wandern.
Meist drücken die Bauern ein Auge zu, wenn Wege
über ihr privates Gelände eingeschlagen werden
Trügerische Idylle
Erholung, Ruhe, heile Welt: Die Alpen-region zieht an. Viele Menschen entscheiden
sich sogar, im Alter ihren Wohnsitz dorthin zu verlegen. Doch nicht immer sieht
von Ann-Kathrin Wetter
die Realität so aus wie die Postkarte
22
23
M
igräne denkt sie – es ist
sicher nur eine starke
Migräne. Deshalb legt sie
sich ins Bett. Als sie wieder aufsteht,
trägt ihr linkes Bein sie nicht mehr.
Weggesackt sei es, einfach weggesackt. Ihrem Mann ist sofort klar
– jetzt muss es schnell gehen. Auto.
Krankenhaus. Notaufnahme. Dort
die Diagnose: Schlaganfall. Einen
ersten zu Hause, einen zweiten in
der Klinik.
Nach ein paar Wochen war
sie wieder auf den Beinen. Aber
das alles hat sie spüren lassen, dass
sie nicht länger warten konnten.
Sie hatten doch diesen Traum. In
Garmisch-Partenkirchen leben.
In der Ferienwohnung, die sie so
liebten. Also haben Irmtraud und
Hans-Hermann Demmer mit 59
Jahren ihr Haus und die Weinkel-
terei in Rheinhessen verkauft. Jetzt
wohnen sie hier in dieser kleinen
Dachgeschosswohnung mit den
großen Holzbalken. Ganz ohne
Schnick und Schnack, ohne Garten,
ohne Pool, aber dafür mit Blick auf
die Skisprungschanze.
Die Alpenregion übt auf
Menschen über 50 Jahren einen
besonderen Reiz aus. Etwa Tausend
von ihnen ziehen jedes Jahr in den
Landkreis Garmisch-Partenkirchen.
Viele wohlhabend und kaufkräftig.
Die Kinder aus dem Haus, das Konto gut gefüllt. Sie kommen wegen
der Berge, wegen der Natur, der
Luft, der Lebensqualität. Sie wandern und radeln, essen Knödel,
Gulasch und Apfelstrudel auf der
Berghütte.
Mittwoch, 13 Uhr, Seniorentreff in der Ludwigstraße in
Partenkirchen. Buchstabe J. Renate
Umland, 89, fällt einfach kein Berg
mit J ein. Die Spielleiterin schaut
in die Runde. Um den Tisch sitzen
elf Frauen. Sie haben Dauerwelle,
tragen Brillen, essen Kekse, spielen gerne „Stadt, Land, Fluss“. Das
Durchschnittsalter am Spieletisch
beträgt etwa 75 Jahre. „Sind alle soweit?“ Renate Umland nimmt einen
Schluck aus ihrer Kaffeetasse. „Ich
muss aufgeben“, sagt sie und stellt
die Tasse ab. „Gut, dann zählen wir
jetzt Punkte“, sagt die Spielleiterin.
Renate Umland kommt ursprünglich aus Stuttgart. Als ihr
Mann in Rente ging, kam sie mit
ihm zusammen nach Garmisch-Partenkirchen. Inzwischen sind er und
alle ihre Freunde gestorben. Das
sei eben so, wenn man älter werde.
Deshalb ist sie dankbar, dass es
den Seniorentreff gibt. Beim Spielenachmittag oder Sitz-Yoga habe
sie gut Kontakte knüpfen können.
B
Café mit Aussicht: Ab und zu gönnt sich Hannelore Müller hier ein Stück Kuchen auf der
Sonnenterrasse
24
eim Seniorentreff ist Hannelore Müller*, 78, noch nie
gewesen. Dafür fehlt ihr die
Zeit. Sie ist vor 25 Jahren zusammen
mit ihrem Mann aus Berlin nach
Garmisch-Partenkirchen gezogen.
Davor waren sie selbstständig,
hatten einen Kiosk in Berlin. Die
Geschäfte liefen gut. Als Rentner
haben sie durch einen Anlagefehler
viel Geld verloren, mussten von
der schönen Garmischer Wohnung
mit Alpenpanorama-Fenster in eine
kleine Zweieinhalbzimmer-Wohnung
ziehen. Beide fingen an, in einem
Minijob zu arbeiten, damit das Geld
reicht.
Und dann war da dieser
Abend im November. Als Hanne-
»Sie kommen wegen der
Berge, wegen der Natur, der
Luft, der Lebensqualität«
lore Müller vom Spätdienst nach
Hause kam, lag ihr Mann in der
Wohnung und konnte sich nicht
mehr bewegen. Zusammen mit
dem Nachbarn hat sie ihn ins Auto
gesetzt und in die Notaufnahme
gebracht. Aus dem Krankenhaus
rief sie am nächsten Tag der behandelnde Arzt an: „Ihren Mann, den
können Sie nie mehr mit nach Hause nehmen.“ Von der Klinik ging es
direkt ins Pflegeheim. Mit einem
Mal war nicht nur ihr Leben völlig
durcheinander, sondern auch ihre
Finanzen. Die gesamte Rente ihres
Mannes musste sie ans Pflegeheim
bezahlen. Sie stand vor der Privat­
insolvenz. Mit 78 Jahren ein zweiter Minijob. Und trotzdem reichte
es nicht – den neuen Kleinwagen
musste sie zurückgeben.
A
uch Irmtraud und
Hans-Hermann Demmer
überlegen, ihr Auto zu
verkaufen. Aber nicht, weil sie
das Geld brauchen. Sondern weil
sie jetzt überall mit ihren neuen
Elektro-Bikes hinfahren. „Von Dingen, die wir nicht mehr brauchen,
trennen wir uns auch gerne“, sagt
Hans-Hermann Demmer. Zum Beispiel von dem eigenen Flugzeug,
mit dem die beiden früher gerne
mal für einen Wochenend-Trip
nach Spanien oder Portugal geflogen waren. Aber jemand, der
wegen hohem Blutdruck Medikamente nimmt, sollte nicht mehr
fliegen, habe der Arzt gesagt. Als
das Paar im Dezember 2007 nach
Garmisch-Partenkirchen zog, war
für beide klar, dass sie Anschluss
finden müssen. Die Demmers sind
deshalb in den Garmischer Skiclub
eingetreten. Beim Ski-Weltcup zum
Beispiel, da habe sie an der Kasse
gesessen, erzählt Irmtraud Demmer
stolz. Durch den Skiclub hätten sie
Anschluss an Einheimische gefunden. Aber wirklich dazugehören,
das schafft in Garmisch-Partenkirchen längst nicht jeder, der von
außerhalb zuzieht. „Zu’groast“ sagen die Einheimischen dann oft
abschätzig.
Der Seniorentreff in der Ludwigstraße war auch dafür gedacht,
ältere Menschen, die zugezogen
sind, mit den Einheimischen zu
vernetzen. Finanziert durch Stiftungsgelder, verwaltet von der
Marktgemeinde Garmisch-Patenkirchen. Allerdings: Zu den Treffen
kommen keine wirklich Einheimischen, sondern nur solche, die
irgendwann in ihrem Leben nach
Garmisch gezogen sind und jetzt
unter Einsamkeit leiden. An diesem
Mittwochnachmittag um 13 Uhr
sind das ausschließlich Frauen von
anderswo - aus Stuttgart, Suhl oder
Bad Mergentheim.
D
ie Berlinerin Hannelore
Müller hat nach 25 Jahren
in Garmisch viele Bekannte. Freundinnen habe sie drei, alles
Zugereiste. Mit denen gönnt sie
sich manchmal was, wie sie sagt.
Mit einer Freundin war sie neulich
im Seebad: Vier Euro Eintritt, vier
Euro für die Liege. „Aber Freundschaften, die man im Alter schließt,
sind nicht vergleichbar mit denen
von früher“, sagt Hannelore Müller.
Eine ganz andere Vertrauensbasis
sei das. Als ihr Mann hilflos im Pflegeheim lag, haben ihre Freunde
aus Berlin zusammengelegt und ihr
ein Auto gekauft. Weil sie es nicht
ertragen konnten, dass Hannelore
Müller jeden Tag, bei Schnee, Regen und Kälte, mit dem Bus zu
ihrem Mann ins Heim fahren musste. „Das Auto ist ein Segen“, sagt
sie. Aber noch schöner wäre es,
wenn sie ihre Berliner Freunde in
der Nähe hätte. Vor vier Monaten
ist Hannelore Müllers Mann gestorben. Kurz vorher hat sie mit ihm
noch einen Ausflug gemacht. Die
Pfleger haben ihren Mann aus dem
Rollstuhl in das kleine Auto gesetzt.
Zusammen sind die beiden dann
auf die Pfeiffer Alm gefahren. Früher sind sie immer dorthin gewandert. Auf einem Tablett hat sie für
sich und ihren Mann Kuchen, Cappuccino und Tee ins Auto geholt.
Damit ihr Mann beim Kaffee trinken
noch einmal das Panorama sehen
kann. Und in diesem Moment wusste sie, dass es richtig war, in die
Berge gezogen zu sein.
*Name geändert
25
Nicht aus
der Mode
In Oberbayern ist Tradition ein Lebensgefühl. Junge Menschen tragen die
Trachten ihrer Heimat mit Stolz und
prägen damit das Bild der Region
VON Larissa Rohr
Bei der Heimatwoche in Garmisch-Partenkirchen
präsentiert der Nachwuchs stolz seine Trachten
I
Für Maria Schießlbauer bedeutet Tracht Familientradition
26
hre Haltung ist aufrecht, ihr Blick
nach vorne gerichtet, ihr Lächeln
freundlich. Tusch, Tusch, Tusch.
Zum Takt der Marschmusik setzt sie
ein Bein vor das andere – nicht zu
schnell, nicht zu langsam. Der Abstand zur Vorderfrau bleibt exakt
gleich. Tusch-Tusch-Tusch. Ihr weinroter Rock und die silbernen Ohrringe mit den hellblauen Steinen
wippen zum Klang von Trompete
und Trommel. Die Touristen am
Straßenrand halten mit ihren Kameras das Bild als Erinnerung fest.
Klick, Klick, Klick. Die Tracht von
Maria Schießlbauer, 22, wird später
in vielen Fotoalben verewigt sein.
Der Trachtenumzug in Garmisch ist
für Schießlbauer jedes Jahr ein besonderes Ereignis. Seit ihrem sechsten Lebensjahr ist sie Mitglied im
Volkstrachtenverein Garmisch, erst
bei den Kleinen, dann bei der Mittelgruppe, dann bei der Jugend.
Der Festumzug und die bayrischen
Heimatabende sind während der
Festwoche seien „ein absolutes
Muss und ein Highlight“, das Plattln,
der Tanz im Trachtenverein, „ein
Riesenhobby und ein Lebensgefühl“. Mit der weißen Strumpfhose
und dem himmelblauen, spitz zu-
laufenden Seidentuch über der
Schulter verbindet Schießlbauer ein
Gefühl von Heimat, Familientradi­
tion und Stolz.
Im bayrischen Voralpenland
wird die Tracht bei Geburtstagen,
Dorffesten oder Jubiläumsfeiern
von Alt und Jung getragen. Etwa
seit der Jahrtausendwende sind
Trachten unter jungen Menschen
wieder salonfähig. Das hat die
Münchner Kulturwissenschaftlerin
Simone Egger in ihrer Forschung
zur Wiesntracht herausgefunden.
„Während die heute 50-Jährigen
Trachten in ihrer Jugend konser-
vativ und öde fanden, fahren die
jungen Leute heutzutage wieder
auf Trachten ab“, sagt Egger. Haferlschuh und Mieder gelten als modische Freizeitbekleidung. Egger
glaubt, dass einer der Gründe in
der zunehmenden Globalisierung
und Vernetzung liegt. „Dadurch
nimmt auch die Heimatverbundenheit zu, gerade weil man sie zeigen
kann“, sagt Egger. Bilder von Tracht
würden über soziale Netzwerke um
die ganze Welt geschickt.
Auch Christian Ruf, 52, trägt
seine graue Lederhose, die Joppe
mit der Eichenlaub-Bordüre und
den Zwirbelbart mit sichtbarem
Stolz. Gemütlich schlängelt sich
der Vorsitzende des Volkstrachtenvereins Garmisch an den Biertischen vorbei Richtung Bühne.
Noch ein Schluck aus seiner Maß,
ein Handschlag mit einem alten
Bekannten. Trompete und Trommel verstummen, dann kündigt
Ruf auf der Bühne im Festzelt den
nächsten Programmpunkt an: Die
Jugendgruppe der Schuhplattler.
Tusch, Tusch, Tusch. Die Jungen
und Mädchen in Tracht stürmen die
Bühne, Ruf räumt den Platz. „Was
den Nachwuchs betrifft, sind wir
gut aufgestellt“, sagt er. Etwa 130
Kinder und Jugendliche plattln in
Garmisch in ihrer Freizeit – so viel
Nachwuchs hat nicht mal der örtliche Ski-Club.
Der Erfolg von Lederhose
und Dirndl hängt auch damit zusammen, dass sie ein Bild im Kopf
der Menschen erzeugen. „Mit
Trachten assoziieren wir eine bayrische Berg-Idylle“, sagt Kulturwissenschaftlerin Egger. Trachten sind
deshalb auch Stilmittel des Touris-
27
» Trachten sind bei Jungen
Menschen Wieder
Salonfähig «
mus: Sie tauchen in Souvenir-Läden
und Werbebroschüren über
Garmisch-Partenkirchen auf, ausländische Touristen in Tracht flanieren
durch die Fußgängerzone. Der Vorsitzende des Volkstrachtenvereins
muss lächeln, wenn er Chinesen in
Tracht sieht. „Das wirkt dann schon
kostümiert, weil die Chinesen eine
andere Identität haben“, sagt Ruf.
Schießlbauer sieht das ähnlich: „Für
die Touristen ist Tracht Attraktion.
Für mich hingegen Tradition.“
Tradition hat in GarmischPartenkirchen einen hohen Stellen­
wert. Im Jahr 1896 wird der Volkstrachtenverein Garmisch gegründet.
Schon damals fördert das Bayrische
Herrscherhaus der Wittelsbacher
die Tracht, um das bayrische Nationalgefühl zu stärken. Die Industrialisierung vereinfacht die Herstellung
und den Verkauf von Lederhose,
Hosenträger, Rock und Mieder.
Gleichzeitig ziehen immer mehr
Menschen in die Stadt und haben
Sehnsucht nach Heimat und alten
Traditionen. Sie beginnen Gegenstände zu sammeln, zu bewahren
und Bräuche zu zelebrieren. Immer
wichtiger wird in der Region auch
der Fremdenverkehr. „Die Leute
wollten früh ihre Besonderheit
nach außen präsentieren“, sagt
Sommerzeit ist Bierzeltzeit: Da dürfen Lederhose und Tracht nicht fehlen
28
Kulturwissenschaftlerin Egger. Bis
ins Jahr 1920 ist die Tracht Alltagsbekleidung. Im Nationalsozialismus
wird sie dann für die Blut-und-Boden-Ideologie instrumentalisiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwinden Lederhosen, Blusen,
Hemden und Wadlstrümpfe plötzlich aus dem Kleiderschrank – bis
etwa zur Jahrtausendwende. „In
den 1990er-Jahren geht man noch
in Jeans aufs Oktoberfest“, sagt
­Egger. Heute gehört das Dirndl
zum Oktoberfest, wie Maß und
Marschmusik.
Für Schießlbauer gehört die
Tracht seit ihrer Kindheit selbstverständlich in den Kleiderschrank. Für
den Trachtenumzug hat sie ihre
braunen, glatten Haare über dem
Kopf streng zu einem Flechtzopf
zusammengebunden. Die Frisur
erinnert an eine Krone. „Wir nennen das Gretl“, sagt sie. Eine Stunde
hat sie gebraucht, bis sie für den
Heimatabend fertig frisiert und
angezogen war. Ihre Mutter hat ihr
dabei geholfen. Sie ist auch bei
den Plattlerinnen, der Vater in der
Musikkapelle, Bruder, 16, und
Schwester, 20, sind im Volkstrachtenverein. Auf Hochzeiten, runden
Geburtstagen oder Dorffesten trägt
die ganze Familie Tracht. Schießlbauer möchte diese Tradition aufrechterhalten. Für die Region, aber
auch für die Touristen. Ihre Kinder
und Enkelkinder sollen später die
historische Kleidung tragen. Auch
ihre beste Freundin hat sie schon
überzeugt: Sie trägt jetzt Tracht, ist
in den Trachtenverein eingetreten
und hat beim diesjährigen Umzug
das Flügelhorn gespielt.
Da schau her!
In der Region Garmisch-Partenkirchen gibt es viel Wald, Deutschlands höchsten Berg
von Gabriel Kords
und fast so viele Kühe wie Gästebetten. Eine Rundreise in Zahlen
85.443
50%
16.766 Rinder
stehen auf den Weiden
und Almen.
Einwohner hat die Region
Garmisch-Partenkirchen.
1.012,28 km²
groß ist die Region GarmischPartenkirchen, etwa so groß
wie die Stadt Rom.
1/5
888.000 Besucher
der Region ist „Unland“,
also so felsig, dass es nicht
genutzt werden kann.
Vor 30 Jahren
der Region GarmischPartenkirchen sind
Waldgebiet.
bleiben für mindestens
eine Nacht.
10%
500.000
Touristen
aller Wohnungen
in der Region
sind Ferien- oder
Zweitwohnungen.
fahren jährlich mit der Bahn
auf die Zugspitze.
5.000 kommen zu Fuß.
37,94
Meter
3von4
9 Millionen
50 Millionen
blieben die Touristen im Schnitt
6 Nächte – heute sind es nur noch
3 Nächte.
wird sie kosten, die neue Eibsee-Seilbahn auf
die Zugspitze. Sie wird zurzeit parallel zur
bestehenden Seilbahn gebaut und soll doppelt so viele Menschen auf den Berg bringen
können, wie die alte Bahn, nämlich 1.200
Personen pro Stunde.
fehlen dem Gipfel der Zugspitze bis zur
3000-Meter-Marke.
Tagesbesucher kommen jährlich.
stehen in der Region für
Touristen zur Verfügung.
2266,80€
beträgt der durchschnittliche Bruttolohn
in der Region. Das sind rund 15 Prozent
weniger als im bayerischen Durchschnitt
(2689,50 Euro).
19.162 Betten
Übernachtungsgästen kommen
aus Deutschland. Sie blieben
im Schnitt eine Nacht länger als
ausländische Gäste.
Am 2. Januar 2010
betrug der Rückstau von Urlaubern auf dem Weg
von München nach Garmisch-Partenkirchen 50
Kilometer. Die Region brachte es damit auf einen
Spitzenplatz im ADAC-Staureport.
29
Schön
Sie ist älter geworden und hat zugenommen. Aber wenn
man die Fotos von heute mit denen von früher vergleicht,
hat die Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen ihren
von Rahel Klein
Reiz nicht verloren
alt
Damals, 1936, war sie der Star. 43 Meter hoch, 70 Meter
lang, aus Holz zusammengezimmert und mit Mühe an
den steilen Hängen des Gudibergs aufgestellt. Über
130.000 Zuschauer aus der ganzen Welt waren dabei,
als sie dem Norweger Birger Ruud half, die Schwerkraft
zu überwinden. Ruud flog 75 Meter weit und wurde
Olympiasieger im Skispringen.
Wer heute zur Olympiaschanze in GarmischPartenkirchen wandert, sieht ein modernes Gebilde,
das in der Luft zu schweben scheint. Futuristisch. Erhaben. Wie ein Raumschiff, das auf der grünen Wiese
gelandet ist. 60 Meter hoch, 103 Meter lang, aus tonnenweise Stahl erbaut und mit Polycarbonatplatten
verkleidet, die im Dunkeln leuchten. 15 Millionen Euro
hat die neue Schanze gekostet.
Holzschanzen werden zu architektonischen Meisterwerken, Bauernhöfe zu Luxus-Hotels, klapprige Lifte
zu modernen Gondeln. Garmisch-Partenkirchen hat
30
sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt,
es wurde investiert, saniert, neu gebaut. Die Typveränderung soll den Ort attraktiv erhalten — für Touristen,
Sportler, Naturliebhaber.
Das dokumentieren die Bilder auf den folgenden Seiten aus der Zeit von 1920 bis 1960. Sie stammen
aus dem Marktarchiv von Garmisch-Partenkirchen.
Wir haben versucht, sie möglichst exakt nachzufoto­
grafieren, um zu zeigen, wie sich der Ort verändert hat.
Manchmal reicht ein einziger Blick, um den
Wandel zu sehen und zu verstehen. Manchmal haben
Bäume, Sträucher oder riesige Bauten allerdings den
Blickwinkel verstellt, so wie an der Olympiaschanze.
Das Foto ließ sich nicht mehr originalgetreu
nachstellen. Dazu müsste man ähnlich, wie einst Birger
Ruud, abheben, die Schwerkraft überwinden und dann
über den Spitzen der Tannen, die heute den Gudiberg
säumen, aus der Luft heraus fotografieren.
Sprungschanze
Auf dem Foto erinnert
die 43 Meter hohe Holzkonstruktion eher an
eine alte Achterbahn als
an eine Sprungschanze.
Die Schanze wurde 1923
gebaut, den Namen
„Olympiaschanze“ erhielt
sie aber erst 1936, als die
IV. Olympischen Winterspiele in GarmischPartenkirchen ausgetragen wurden. Für die
Großveranstaltung wurde
die Schanze modernisiert, außerdem wurden
ein Eissport-Zentrum und
ein Skistadion gebaut.
Foto: Hans Huber /
Marktarchiv GarmischPartenkirchen (Bildausschnitt)
Im Jahr 1950 musste die
alte Holzschanze einer
moderneren Stahlkonstruktion weichen, auf
der Skisprung-Weltmeisterschaften und die
Vierschanzentournee
stattfanden. 2007 wurde
sie gesprengt. Auf die
„Alte Dame“ folgte die
stilistisch gewagte, neue
Schanze, die mehrfach
für ihre prägnante
Architektur ausgezeichnet
wurde. Sie ist heute das
Wahrzeichen von
Garmisch-Partenkirchen
und ein Sinnbild für die
Bedeutung des Wintersports in der Region.
Foto: Rahel Klein
31
Garmisch-Partenkirchen
Bis 1935 waren Garmisch und Partenkirchen getrennte Gemeinden. Kurz
vor den Olympischen Winterspielen wurden beide Orte zusammengelegt.
Die neue Marktgemeinde zählte etwa 14.000 Einwohner. Mit dem Ausbau
von Straßen und Bahnstrecken und dem großen Erfolg der Winterspiele
wurden immer mehr Häuser, Gaststätten und Hotels errichtet. Nach Kriegsende setzte sich diese Entwicklung fort: Statt auf die Industrie setzte die
Marktgemeinde auf neue Kur- und Freizeitanlagen.
Foto: Hans Huber/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen
(Bildausschnitt)
32
Wer heute vom 1.780 Meter hohen Wank auf
Garmisch-Partenkirchen blickt, erkennt sofort,
dass sich die Flächennutzung stark verändert hat.
Mittlerweile hat die Marktgemeinde 26.000 Einwohner. Neu gebaute Häuser, Hotels und Restaurants reichen fast bis zum Fuß der Berge. Landwirtschaftliche Flächen sind kleiner geworden,
dafür breiten sich die Waldgebiete wieder aus.
Foto: Rahel Klein
33
Kreuzeckbahn
Die Kreuzeckbahn am Fuße der Alpspitze war die erste Seilschwebebahn
in den deutschen Alpen. Im Jahr 1926 fand die Jungfernfahrt der Pendelbahn statt. Stehend, in hölzernen Kabinen, konnten bis zu 150 Personen
pro Stunde auf den Berg gegondelt werden. Kurz nach der Eröffnung der
Kreuzeckbahn wurden auch die Wankbahn und die Zugspitzbahn in Betrieb
genommen. Durch die Erschließung von immer mehr Bergen wurde Garmisch-Partenkirchen zum Reiseziel für Sommer- und Wintertouristen.
Foto: Karl Ruf/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen
Wer heute mit der Kreuzeckbahn zur Bergstation
hinauf will, nimmt in einer runden, eierförmigen
Kabine auf gepolsterten Sitzen Platz und gleitet
sieben Minuten lang den Berg hinauf. Mehr als
1.000 Personen kann die im Jahr 2002 modernisierte Seilbahn pro Stunde befördern. Mit der
Kreuzeckbahn schwebt man auch heute noch
über eine der berühmtesten und schwierigsten
alpinen Rennstrecken der Welt: die KandaharAbfahrt.
Foto: Rahel Klein
34
35
Fußgängerzone
In den 1960er-Jahren durften noch Autos durch die damalige Bahnhofstraße fahren. Von der Straße im Zentrum schaut man direkt auf den Wank.
Schon damals war sie die wichtigste Einkaufsstraße in Garmisch-Partenkirchen.
In den kleinen Geschäften konnten Einheimische und Touristen nicht nur
ihre täglichen Besorgungen machen, sondern auch Mode und Sportkleidung einkaufen.
Heute heißt die Bahnhofstraße „Am Kurpark“
und ist eine Fußgängerzone. Der Verkehr wurde
aus der Ortsmitte verbannt, um sie attraktiver
für Touristen zu machen. Neben lokalen Geschäften
haben sich inzwischen auch große Ketten,
wie Tchibo, Swarovski und Jack Wolfskin, breit
gemacht.
Foto: Rudolf Rudolphi/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen
Foto: Rahel Klein
36
37
Monokultur
Garmisch-Partenkirchen zählt mit fast zehn Millionen Gästen jährlich zu den beliebtesten
Urlaubsregionen in Deutschland. Dass sie Tourismus braucht, bestreitet niemand. Doch birgt
von Felix Ehrenfried
diese einseitige Ausrichtung auch Risiken?
Die Vermieterin
„Wir sind alle abhängig vom Tourismus, weil wir hier
in der Region keine Wirtschaftsbetriebe haben. Ganz
egal ob Handwerker oder Beamter, hier hängt alles,
zumindest indirekt, vom Tourismus ab. Es sind nicht
nur die Hotels oder Restaurants, die mit Urlaubern ihr
Geld machen. Mein Mann war im Schwimmbad beschäftigt, das lebt auch hauptsächlich von Urlaubern.
Der Skiliftbetreiber
„Ich habe rund acht Kilometer Pisten und sieben
Lifte, damit kann ich die Einheimischen nur schwer
locken. Die lernen hier Skifahren, dann geht es in
größere Gebiete. Ganz anders ist das bei den Urlaubern von weiter her. Die wollen mit der ganzen Familie Skifahren und brauchen nicht den Eventzirkus,
der in vielen Gegenden in Österreich betrieben
wird. Ich habe mich ganz bewusst entschieden, bei
diesem technischen Hochrüsten nicht mitzumachen.
Die Städter freuen sich doch schon, wenn sie eine
Ziege durchs Gelände laufen sehen. Die glauben
dann, das sei eine Berggams. Ganz klar: Gäbe es
hier keine Touristen, würde ich schon lange nicht
mehr Skiliftbetreiber sein. Einfach ist die Arbeit im
Tourismus trotzdem nicht, man muss Jahr für Jahr
mehr um seine Gäste kämpfen.“
Alfred Richter, Skiliftbetreiber Steckenberg Erlebnisberg, Unterammergau
38
Auch unsere Ferienwohnung muss belegt sein. Viele
Gäste kommen, weil sie in den 1970er-Jahren hier als
Kinder ihre Ferien verbracht haben. Außerdem haben
wir hier oft junge Familien. Nur zum Feiern ist das hier
nicht der optimale Ort, da sind die großen Urlaubsregionen in Österreich wohl besser geeignet.“
Lucia Schuster, Ferienwohnungsbesitzerin, Oberammergau
Der Händler
„Wer einmal die Gegend verlässt, kommt nur selten zurück. Es gibt hier einfach keine passenden
Jobs. Etwa 4.500 Leute pendeln täglich aus dem
Landkreis Garmisch-Partenkirchen ins Umland. In
den letzten Jahren sind zahlreiche Unternehmen
abgewandert, neue kamen nicht nach. Da haben
wir rund 2.000 Arbeitsplätze verloren. Die meisten sind gegangen, weil uns die Gewerbeflächen
fehlen. Vieles konzentriert sich hier auf den Gesundheitssektor und auf den Tourismus. Von dem
profitieren wir alle. Ob spontaner Cabriokauf oder
Reparatur im Urlaub – auch in unserem Autohaus
sorgen Urlauber nahezu täglich für Umsatz. Die
Kehrseite: Viele haben hier eine Zweitwohnung,
die Preise auf dem Immobilienmarkt sind hoch.“
Gerhard Lutz, Vizepräsident der IHK München und
Oberbayern und Geschäftsführer eines Autohauses, Garmisch-Partenkirchen
Der Naturschützer
„Der Tourismus plustert sich hier enorm auf. Klar,
wir brauchen zahlende Gäste und auch die Einheimischen profitieren von der hohen Kaufkraft vor Ort
und dem großen Angebot an Einzelhändlern. Aber
dass immer noch viel Geld in den klassischen Wintersport gesteckt wird, verstehe ich nicht. Skifahren
wird aufgrund des Klimawandels schon bald nicht
mehr möglich sein. Die setzen hier auf eine Totgeburt. Wir haben doch einen erfolgreichen Gesundheitssektor, außerdem zahlreiche kleinere
Handwerksbetriebe, die zusammen einen Großteil
des Umsatzes im Landkreis ausmachen. Wenn wir
diese Unternehmen nicht fördern, wandern sie ab
– auch wegen der hohen Grundstückspreise. Dann
bleiben nicht mehr viele Jobs außerhalb des Tourismus. Und da sind schlechte Bezahlung und unsichere Arbeitsverhältnisse sehr verbreitet. Aktuell ist
jeder fünfte Beschäftigte im Landkreis von Urlaubern abhängig. Mehr dürfen es nicht werden.“
„Der Landkreis hat sich in seiner Komfortzone eingerichtet. Die tun das, was sie schon immer gemacht haben: stark auf den Tourismus setzen. Aber
die Region muss diese Komfortzonen verlassen, um
in Zukunft erfolgreich zu sein. Wir merken, dass viele qualifizierte Fachkräfte die Gegend zwar schön
finden, aber in einer Urlaubsregion arbeiten möchten sie dann doch nicht. Wir sind mittlerweile einer
der letzten Mittelständler im Landkreis. Uns fehlt die
Konkurrenz, die ja auch für den Wettbewerb gut
ist. Ich finde die Landschaft hier zwar toll, doch das
reicht nicht, um die Industrie zu stärken. Die Region
muss mehr für den Mittelstand tun. Sonst sind wir
bald noch viel abhängiger vom Tourismus.“
Axel Doering, Vorsitzender Bund Naturschutz,
Kreisgruppe Garmisch-Partenkirchen
Stephan Wulf, Geschäftsführer Langmatz GmbH,
Garmisch-Partenkirchen
Der Mittelständler
Die Bürgermeisterin
„Wir sind sehr abhängig vom Tourismus. Deshalb
müssen wir in den kommenden Jahren darauf achten, dass wir uns breiter aufstellen. Nicht nur Gäste,
die zur Erholung kommen, sind wichtig. Wir setzen
auch immer mehr auf Kongresse, um unsere Gästebetten auch abseits der Feriensaison zu füllen. Das
bedeutet aber auch, dass wir investieren müssen:
Das letzte Hotel wurde vor rund dreißig Jahren
gebaut. Wir genügen heute nicht mehr den Standards, die viele Gäste wünschen. Ebenso fehlen uns
günstige Hotels für junge Besucher, da haben wir
praktisch nichts im Angebot. Wir hätten hier zwar
gerne auch mehr Industrie, allerdings sind wir von
Bergen und Naturschutzgebieten umgeben. Da sind
neue Gewerbeflächen rar. Deswegen müssen wir
erst einmal schauen, dass wir unsere lokalen Betriebe halten. Denn zum klassischen Wirtschaftsstandort
werden wir sicher nicht.“
Sigrid Meierhofer, 1. Bürgermeisterin,
Markt Garmisch-Partenkirchen
39
B
auchgefühl gibt es für 827
Euro. Der medizinische
Check beinhaltet unter
anderem eine Blut- und Harnuntersuchung, Ultraschall der Blase
und eine Darmspiegelung im
Dämmerschlaf. Wer sich mal richtig
durchchecken lassen will, bucht
„Vorsorge 50 Plus“, zahlt 2025
Euro und bekommt dafür zum Beispiel Hautkrebsscreening, Belastungs-EKG und eine professionelle
Zahnreinigung. Dagegen ist das
„Needling“ gegen Raucherfältchen
und für straffe Wangen fast schon
ein Schnäppchen. Kostenpunkt:
550 Euro.
Der Landkreis GarmischPartenkirchen hat 1.270 Krankenhausbetten, fast dreimal so viele
wie im Bundesdurchschnitt. Eine
der Kliniken kümmert sich um Skiund Betriebsunfälle, andere sind
Gestrafftes Geschäft
In keinem Landkreis in Deutschland gibt es so viele Krankenhausbetten pro Kopf
wie in Garmisch-Partenkirchen. Damit sie nicht leer bleiben, sollen sich Touristen
von Franziska Kues
während ihres Urlaubs behandeln lassen
40
spezialisiert auf Prothesen oder
plastische Chirurgie. Doch immer
häufiger liegen auch Urlauber in
den Krankenhausbetten, um sich
medizinisch behandeln zu lassen
oder sich einem kleinen Schönheitseingriff zu unterziehen.
Die Grenzen zwischen Hotel und Arztpraxis verschwimmen
in der „Gap-Prevent“. Die Klinik
liegt in 900 Metern Höhe direkt
hinter der Olympiaschanze. Sie
wurde kürzlich eröffnet und ist
Teil eines Luxushotels. Auf dem
Boden liegt dunkles Parkett, im
Eingangsbereich stehen Designermöbel und an den Wänden hängt
teure Kunst. Eine Übernachtung
im Doppelzimmer kostet 250 Euro
plus Behandlungskosten. Dafür
können die Gäste aber direkt vom
Behandlungsstuhl in den Pool
springen und danach zum Essen ins
À-la-carte-Restaurant gehen. Alles
ist nur wenige Meter voneinander
entfernt, die wichtigen Fachärzte
sind direkt vor Ort.
Den Luxus von „Gap-Prevent“
können sich nur wenige leisten,
denn die Krankenkassen fördern
diese Art von Urlaubnicht. Professor
Günter Neubauer, Gesundheitsökonom aus München, überrascht das
nicht: „Gesundheit ist nicht ­s ozial.
Was ist dabei, wenn Touristen, die
in der Region Urlaub machen, einen Gesundheitscheck dazu
buchen?“
Verstanden haben das nicht
nur die Gründer der „Gap-Prevent“.
Auch der Landkreis arbeitet an
übergreifenden Konzepten. „Bisher
hat hier jeder sein eigenes Süppchen gekocht“, sagt Petra Hilsenbeck. Sie ist jetzt im Kreis dafür
zuständig, das zu ändern. Denn
das Gesundheitswesen und der
Tourismus sind die beiden größten
Arbeitgeber in der Region. Es gilt,
Arbeitsplätze zu erhalten.
Das Konzept könnte funktionieren:
Laut einer Umfrage würden 52
Prozent der Deutschen für eine Gesundheitsreise selbst bezahlen.
Hilsenbeck arbeitet derzeit
an einer Internetplattform. Auf
„Moove“ sollen sich Patienten und
Gäste ab dem kommenden Jahr
ein eigenes Ärzte- und Urlaubspaket schnüren können. Im Gesundheitszentrum von Garmisch-Partenkirchen bekommt die Familie eines
Patienten das richtige Hotel und
einen dicken Katalog an Freizeitangeboten. Das Ziel des Landkreises:
Nicht nur den Patienten, sondern
auch seine Familie möglichst lang in
der Region halten.
41
Aus Alt mach Neu: Bei Jan
Herzog werden aus traditionellen Holzschnitzereien
Figuren des 21. Jahrhunderts,
der Hirte wird zum Banker
Auf dieses Werk ist er besonders
stolz. Die Idee mit den Metallbeschlägen kam ihm mitten in der Nacht
Z
Aus dem
Leben
geschnitzt
Die berühmte Holzschnitzkunst in Oberammergau hat Staub
angesetzt. Jan Herzog will das ändern. Zusammen mit
anderen Künstlern will er der traditionellen Schnitzkunst
Von Magdalena SchüSSler
eine neue Kante geben
42
Verändert und doch wieder nicht: In
dem kleinen Jungen aus Holz stecken
Jan Herzog und seine Geschichte
wischen Jan und das Holz
passt nicht mehr viel. Eng an
die Brust gepresst, hält er
sein kleines Stück Zirbelkiefer, verdeckt es vor der Welt mit Händen,
Schnitzmesser und seinem großem Gesicht. Seit Minuten hat Jan
nichts mehr gesagt, sein Atem geht
ruhig und gleichmäßig, im satten
Schabe-Rhythmus seines Messers.
Das einzige Geräusch im Hinterhof
seiner Werkstatt. Jan schnitzt sich
selbst, genauer, seine Vergangenheit, das Kind, das er mal war und
das auf einem alten Foto durchs
Bild läuft. „Irgendwie zielstrebig“,
sagt Jan. „Ein kleiner Holzschnittjunge.“ Jan will mit seinen Arbeiten
vor allem Geschichten erzählen.
Diesmal ist es seine eigene.
Aus dem Jan von damals ist
ein „Schnitzi“ geworden. So nennen sie die Schüler der „Staatlichen
Berufsfachschule für Holzbildhauer
und Schnitzer“ in Oberammergau.
Drei Jahre lang hat Jan die Schule besucht, jetzt hat er seinen
Abschluss, er ist ein Großer, ein
„Schnitzler“. Und damit Teil einer
jahrhundertealten Tradition.
Oberammergau gilt als Zentrum der Schnitzkunst in den Alpen,
in manchen Gassen drängen sich
gleich mehrere Holzschnitzereien
nebeneinander. In den Schaufenstern: Hirten, Könige und vor allem
christliche Szenen. Passionsspiele
und „Herrgottsschnitzer“ – dafür
ist Oberammergau auf der ganzen
Welt berühmt. Schon im 16. Jahrhundert hieß es, die Schnitzer des
Dorfes könnten „das Leiden Christi
in einer Nussschale“ darstellen.
Einst arbeiteten weit über hundert
Holzschnitzer im Ort, heute sind es
nur noch knapp 30 und nur etwa
fünf davon haben einen eigenen
Laden. Was in vielen Schaufenstern
und vor allem in den Souvenirläden
steht, ist meist importierte, günstige Massenware.
Jan Herzog, 26, weiß von
alledem nicht viel, als er vor drei
Jahren aus Wiesbaden auf die
„Schnitzschule“ nach Oberammergau kommt. Sein Architekturstudium hat er abgebrochen, er will
endlich wieder gestalten, etwas mit
seinen Händen machen. Ein echter
„Schnitzi“ will er aber nicht sein.
Mit der volkstümlichen Schnitzertradition in Oberammergau kann er
nur wenig anfangen. „Da war noch
irgendwas Elitäres in mir. Ich dachte, ich bin doch Bildhauer, Gestalter, kein Schnitzer.“ Gegen Ende
des ersten Schuljahres mietet Jan
seine erste Werkstatt. Ausgerechnet
bei einem der ältesten Holzhändler im Ort, bei der Firma „Lang
selig Erben“. Dem Mittelpunkt der
Oberammergaurer Schnitztradition.
Hier hängen handgeschnitzte Kruzifixe im Keller, daneben Urkunden
und Erinnerungen aus der alten
Glanzzeit. Jan, der Geschichtenerzähler, ist von all dem fasziniert.
Und auch Firmeninhaber Florian
Lang mag den Jungen aus Wiesbaden. Er zeigt Jan, wo das Schnitzen
in Oberammergau herkommt. Jan
zeigt ihm, wo es hingehen könnte.
D
ie „Schnitzschule“ ist bekannt dafür, ungewöhnliche
Ideen zu fördern. Junge
Freigeister aus ganz Deutschland
kommen hierher. Sie schnitzen Stinkefinger, abstrakte Tropfenfiguren,
buddhistische Nonnen. Sie haben
wilde Frisuren, oft nackte Füße.
Die Oberammergauer erkennen
ihre Schnitzis schon von weitem,
betrachten sie mit Stolz, aber auch
mit Kopfschütteln. „Es gibt natürlich Reibereien, es wird gesagt:
‚Mensch, was macht‘s denn ihr jetzt
Den Jungen aus Holz schnitzt er nur
für sich, zum Spaß. Er lässt sich Zeit
43
in der Schule?‘“, sagt Florian Stückl.
Der Oberammergauer war bis Juli
2015 Leiter der Schnitzschule. Er
sagt: „Der Beruf des Holzschnitzers
muss in die Zukunft kommen und
da muss man einfach immer neue
Ideen entwickeln.“ Denn die althergebrachten Figuren, die Kruzifixe
und Marienstatuen verstauben
in den Schnitzerläden. Kamen in
den 60er Jahren noch Massen von
Amerikanern nach Oberammergau
auf der Suche nach christlicher
Holzkunst, lassen sich heute nicht
mal mehr die Asiaten dafür so recht
begeistern. Zumindest nicht genug,
um angemessene Preise zu bezahlen. Deshalb dürfen und müssen
die Schüler an der Schnitzschule
eigene Ideen entwickeln, ob mit
Holz, Fotografien oder Gipsplastiken. Nur einmal muss jeder Schüler
ein altes Werk kopieren, sie sollen
wissen, wo ihr Handwerk herkommt
und es beherrschen.
N
icht jeder im Ort kann mit
den neuen Ideen aus der
Schnitzschule etwas anfangen. Einmal hatte Jan eine Ausstellung in seiner Werkstatt. Auf den
Boden, zwischen die Skulpturen,
hatte er Holzspäne gestreut, die
„Schorten“ – gesammelt in einem
Jahr Schnitzarbeit. Nur genau festgelegte Wege blieben frei. „Könnt
ihr nicht mal das Brennholz wegräumen?“, hat ein älterer Mann aus
Oberammergau gefragt. Jan muss
lachen, als er daran denkt. „Die
Schnitzschüler bringen den Tellerrand nach Oberammergau“, sagt er.
Dabei fing auch für ihn die Sache
mit dem Holz erst einmal ganz bodenständig an. Jan ist das jüngste
44
Kind einer Tischlerfamilie. Schon mit
drei Jahren steht er mit seinem Opa
in der Werkstatt. Eigentlich scheint
die Holzkarriere vorgezeichnet.
Doch so einfach ist es nicht. Die
Familie Herzog ist vermögend, Jan
der letzte Sohn, die Erwartungen
an ihn sind hoch. Zu hoch für Jans
Mutter. Sie zieht mit dem damals
Fünfjährigen nach Mainz. So oft es
geht, verbringt Jan die Ferien auf
dem Hof seiner Großeltern. Sein
Großvater bringt ihm das Drechseln
und das Schreinern bei. „Für mich
war das ganz normal. Wenn man
zwölf ist, fährt man halt mit Opa
und dem Gesellen los und baut
Fenster ein.“ Jans erster Berufswunsch ist Tischler. Doch anders
als der Opa ist Jan kein Macher, er
will gestalten. Mit 16 will er raus
und denkt zum ersten Mal daran,
In seiner Werkstatt bei einem Traditionsschnitzer mischen sich alte und neue Kunst
geschnitzt. Nur dass es sich dabei
nicht um einen Hirten, sondern um
einen Banker handelt.
F
Wenn Jan Herzog schnitzt, lässt er die
Welt draußen
eine Holzfachschule für Gestaltung
zu besuchen. Aber seine Mutter
überredet ihn, das Abitur zu machen und schließlich auch zu einem
Studium. „Ich habe mich immer
als schwarzes Schaf gefühlt, weil
die nicht verstanden haben, warum ich was machen möchte.“ Erst
mit 23 Jahren traut sich Jan das zu
machen, was er eigentlich schon
immer wollte. Er zieht in die Alpen,
auf die Schnitzschule in Oberammergau. Jan fühlt sich dort gleich
zu Hause. Die Geschichten, die
Rituale und die Tradition faszinieren ihn. Oberammergau ist für ihn
„gleichzeitig der Bauchnabel der
Welt und völlig raus“, die Schnitzschule „der abgefahrenste Ort der
Welt“, ein geschützter Lebensraum
für Querköpfe und Individualisten.
S
eine Inspiration entdeckt Jan
in allem, was ihn beschäftigt,
was er aber nicht ausdrücken
kann. In der Familie zum Beispiel.
Und natürlich in den Geschichten
und der Geschichte um ihn herum. Jan holt eine Figur hervor, ein
unscheinbarer Holzhirte, grob geschnitzt. „Die Figur ist ungefähr 200
Jahre alt.“ Jan hat sie als Vorbild
genommen und eine ähnliche Figur
ür Jan ist das kein Wiederspruch zur Handwerkstradition, im Gegenteil. „Früher
haben die Schnitzer ja auch ihr Leben in ihre Arbeit gebracht. Wenn
das Handwerk weitergehen soll,
sollten die Schnitzer heute auch ihr
Leben schnitzen.“ Auch die alten
Holzkünstler sehen das so, sagt Jan.
Ihnen gehe es in erster Linie darum, dass etwas sauber gearbeitet
sei, in welcher Form auch immer.
Damit allerdings auch Geld
zu verdienen, ist in Oberammergau
sehr schwierig. Hier, wo es schon
ein Überangebot an Schnitzereien
gibt. Die meisten Absolventen der
Schnitzschule verlassen deshalb
Oberammergau. Auch Jan sagt:
„Jeder geht aus O-Gau einmal
weg. Man kann hier nicht alt werden.“ Deshalb zieht er jetzt erst
einmal als Requisiteur ans Münchner Volkstheater, zur Vertretung
für vier Monate. Eine Eintrittskarte
ins Theater, sagt Jan. Was danach
wird, weiß er noch nicht genau.
Ideen hat er viele. Zum Beispiel
würde er gerne durch die Alpen
ziehen und seine Schnitzereien
verkaufen, wie es die Händler
schon vor hundert Jahren gemacht
haben. Auch schnitzen würde er
sie ganz wie früher, von Hand,
einfache, kleine Figürchen. Nur die
Formen wären neu, Banker statt
Hirten. Mehr verraten möchte er
aber nicht. Nicht, bevor die Ideen
nicht konkreter sind. Und dann ist
da noch die Angst, dass der Spaß
verschwindet, wenn er seine Kunst
zum Beruf macht. „Aber ich finde,
jeder Mensch hat die Pflicht, andere Menschen an seinem Talent
teilhaben zu lassen.“ Und, klar, irgendwann müsse er natürlich auch
von seiner Arbeit leben können.
Jan freut sich irgendwie schon auf
diese Zeit. „Weil dann klar wird, was
von meinem ganzen Blabla übrig
bleibt.“
Sein Großvater hat zu alledem nicht viel gesagt. Bei der
Ausstellung der Abschlussklasse
hat er Jan die Hand gegeben. Weil
sein Opa sich nicht so recht getraut
habe ihn zu umarmen, sagt Jan.
„Das hab ich dann gemacht. Ich
habe es in seinen Augen gesehen,
wie stolz er ist. Dass ich jetzt einen
Gesellenbrief habe, ein ehrbarer
Handwerker geworden bin. Das
war ihm wichtig.“
Vor seiner Werkstatt hat sich
Jan von seinem Holz-Ich inzwischen
gelöst, streckt es von sich, legt das
Messer zur Seite und betrachtet,
was daraus geworden ist. Fertig ist
der Holzjunge noch nicht. Aber das
hat auch noch Zeit.
Die Liebe zum Holz hat Jan Herzog
von seinem Großvater geerbt
45
Mit dem Bus zur Bahn, mit der Bahn zum Gipfel:
Zhang Wanming und ihr Sohn Sun haben neun Tage
Deutschland gebucht. Der Besuch auf der Zugspitze
ist einer von vielen Höhepunkten
Urlaub im
Die Zugspitze ist der höchste Berg Deutschlands. Als Superlativ gehört er fest ins
von Jessica Deringer
Programm chinesischer Reisegruppen. Ein Besuch im Zeitraffer
46
iesmal hat sie Zeit. Neun Tage. Für ein
einziges Land! Zhang Wanming, 42,
sitzt mit ihrem zehnjährigen Sohn Sun
Xinei in der Zugspitzbahn am Garmischer Bahnhof und wartet darauf, dass
es endlich losgeht. Noch eine gute
Stunde, dann werden die beiden zum ersten Mal auf
Deutschlands höchstem Berg stehen. Endlich. Der
Tag soll einer der Höhepunkte werden auf der Gruppenreise, aber das Programm ist so vollgepackt, dass
eigentlich jeder Tag ein Höhepunkt ist. Zhang hat bis
jetzt nur Frankfurt gesehen, ausgerechnet im Januar,
als sie bei einer Rundtour in zwölf Tagen durch Italien,
Frankreich, Deutschland und die Schweiz tourte. Sie
strahlt, als sich die Bahn endlich Richtung Zugspitzplatt
in Bewegung setzt.
Deutschland als Urlaubsland ist in China immer
gefragter, und davon profitieren vor allem die südlichen Bundesländer. Beliebte Reiseziele sind die Auto-
städte Stuttgart und München, Schloss Neuschwanstein
und eben die Zugspitze. Asien ist für den Betreiber
der Seilbahnen an der Zugspitze, die Bayerische Zugspitzbahn Bergbahn AG, mittlerweile der zweitstärkste
Markt hinter Deutschland. Chinesische Touristen buchen in der Regel Komplettpakete bei Reiseagenturen,
um die komplizierte Visumbeschaffung zu umgehen.
Das Prinzip solcher Reisen: möglichst viel sehen in
möglichst wenig Zeit. Zehn Tage Europa sind normal,
zehn Tage Deutschland eher Luxus. Zhang und ihre 23
Reisegenossen werden am Ende ihrer Tour Frankfurt,
Köln, Bonn, Heidelberg, Stuttgart, Titisee, Füssen,
Garmisch-Partenkirchen, Berchtesgaden, Salzburg und
München besucht haben, dazu das Outlet Metzingen,
Schloss Neuschwanstein und den Königssee. Pro Person haben sie dafür rund 3.000 Euro gezahlt, inklusive
Flug und Hotel. Das kann sich nicht jeder leisten, die
meisten Chinesen in der Gruppe haben gut bezahlte
Jobs. So wie Zhang, die an einer Pekinger Uni Wirt-
47
Ein bisschen einkaufen, ein
bisschen einkehren, ein
Schluck bayerisches Bier,
weiter geht’s
schaftswissenschaften unterrichtet. Viele ihrer Mitreisenden kommen ebenfalls aus Peking, einige der Jüngeren sprechen Englisch. Auch ein paar Kinder wie Sun
sind dabei, es sind gerade Schulferien in China.
Nach einer guten Stunde Fahrt ist die Bahn am
Zugspitzplatt angekommen. Auf dem überfüllten Bahnsteig sammelt Wang Tzu-Ming die 25 Chinesen ein. TzuMing, 54, gebürtiger Taiwanese mit chinesischem Vater,
betreut seit 15 Jahren Reisen nach Deutschland. Vor
sechs Tagen ist er mit Zhang
und den anderen in Peking
ins Flugzeug nach Frankfurt
gestiegen, in drei Tagen wird
er sie von München wieder
zurück nach Peking bringen,
und dazwischen achtet er genau darauf, dass niemand
verloren geht. Er ruft und winkt, und wenige Minuten
später führt er seine Gruppe geschlossen aus der Station zum Fotostopp am Gletscher. Die meisten tragen
dünne Jacken, Zhang einen frühlingshaften Trenchcoat
– nicht genug, sagt Tzu-Ming. Aber er weiß warum: Im
Wetterbericht des chinesischen Fernsehens habe es
geheißen, in Europa sei es momentan warm. Ein Mann
entwischt kurz darauf mit Sohn und Schwiegereltern
nach drinnen zum Souvenirshop, um Jacken zu kaufen.
Aber während die Familie noch rätselt, wer welche bekommen soll, holt Tzu-Ming sie zurück. Keine Zeit! Das
Mittagessen wartet!
Gegessen wird direkt am Gipfel, eine Gondel
bringt die Gruppe die letzten Meter hinauf. Das Bistro
wirkt wie ein riesiger Konferenzraum, die Wände sind verglast und
bieten einen traumhaften Blick auf
die Bergspitzen ringsum. Tzu-Mings
Gruppe verteilt sich auf drei große
runde Tische mit weißen Tischdecken direkt neben einer Gruppe aus Hongkong. TzuMing hat Büffet bestellt, es gibt Hähnchenbrust mit
Gemüse und zum Nachtisch Obst. Er hebt jeden Deckel
der großen silbernen Gefäße und erklärt, was drin ist.
„Nur ein Stück Fleisch für jeden“, mahnt er. Schließlich
ist alles abgezählt im Pauschalpaket. Das Essen ist inklu-
»Zugspize IM Eiltempo«
48
Chinesen genießen die Bergluft
auf der Zugspitze. Erinnerungsfotos
sind Pflicht, dann ist aber auch
schon wieder Zeit für die Rückfahrt
sive, Getränke müssen alle selber zahlen. Die Familie
mit den Jacken bestellt Weißbier in Weingläsern, weil
die kleiner sind als Biergläser. Deutsches Essen sei nicht
sonderlich beliebt, sagt Tzu-Ming, der seine Ohren
überall hat: „Ich habe sie gerade gehört. Sie sagen,
es sei ihnen zu salzig.“ Die Stimmung ist trotzdem gut,
seine Leute prosten sich zu, und nach einer knappen
halben Stunde ist das Essen beendet. Tzu-Ming drängt
zum Aufbruch, auf den Tellern bleibt Einiges zurück. Das
ist so Sitte in China, vielleicht war es aber doch das Salz.
Eineinhalb Stunden lang können seine Gäste
jetzt machen, was sie wollen. Zhang und Sun entscheiden sich für die weitläufige Aussichtsplattform über
dem Bistro. Der Wind ist kalt, aber das Wetter ist gut.
Zhang schließt die Augen und lässt sich die Sonne ins
Gesicht scheinen. Sie genießt die frische Luft, denn
zu Hause in Peking gibt es vor allem Smog. Später will
sie ihrem Mann, der in China geblieben ist, ein Foto
schicken. Die Plattform ist voll mit Touristen aus der
ganzen Welt, Asiaten, Araber und Europäer. Es gibt
einen Imbiss mit bayerischem Essen, einen Souve-
nirstand mit Kuhglocken und Deutschland-Magneten
und eine unglaubliche Aussicht auf den Gipfel, auf
dem ein paar Wanderer den gelungenen Aufstieg
feiern. Wandern wäre nichts für Zhang und Sun, Sun
hat Höhenangst und Zhang friert. Also gehen sie bald
wieder nach unten ins Café, Sun bekommt eine heiße
Schokolade und Zhang denkt ein bisschen über die
Reise nach. Eigentlich, sagt sie, wäre es nicht schlecht,
nur die Flüge zu buchen und dann auf eigene Faust
weiter zu reisen. Denn obwohl sie zehn Tage großzügig
bemessen findet, hätte sie doch gern mehr Zeit allein
mit ihrem Sohn. Mittlerweile füllt sich das Café, immer
mehr Chinesen aus der Gruppe setzen sich an die Tische und warten, dass Tzu-Ming zurückkommt und die
Reise weitergeht.
Nach der Rückfahrt mit der Bahn und zwanzig
Minuten Fotostopp am Eibsee bringt sie der Reisebus
in die Innenstadt von Garmisch. Tzu-Ming will seinen
Gästen vor dem Abendessen noch schnell die für die
Gegend typische Lüftlmalerei an den Hausfassaden
zeigen. Zum ersten Mal ist er nicht ganz perfekt vor-
49
Ein bisschen Kultur vor dem
Abendessen: Reiseführer TzuMing erklärt seiner Gruppe
die Lüftlmalerei in Garmisch
bereitet. „In meinem Buch
steht nicht so viel darüber“,
sagt er, kurz bevor der Bus
in der Nähe des Garmischer
Bahnhofs hält. Dann eben einfach aussteigen und
schauen, was kommt. Tatsächlich sieht er ein paar Meter
weiter ein Hotel, dessen Fassade aufwändig bemalt
ist. Tzu-Ming marschiert auf die Hauswand zu und erzählt seinen Gästen, was er in seinem Buch über die
Maltechnik gelesen hat. Nur eine kleine Gruppe wagt
sich zu ihm nach vorne, der Rest bleibt etwas entfernt
stehen und beschränkt sich aufs Fotografieren. Nach
wenigen Minuten geht es weiter. Hat die Gruppe sich
interessiert? „Nicht besonders“, sagt Tzu-Ming heiter.
Das Interesse an Kultur sei bei seinen Kunden nie so
groß wie an Supermärkten und Apotheken und Shopping generell. Trotzdem würde Tzu-Ming mit ihnen
gern noch ein paar bemalte Häuser besichtigen. „Wo
ist denn noch eins?“, fragt er sich, während er mit der
50
Gruppe die Straße entlangläuft.
„Im Buch heißt es ständig, bemalte
Häuser, bemalte Häuser, aber wo
sind sie denn?“ Die Gruppe ist aber
sowieso im Begriff, sich aufzulösen. Nach und nach
sondern sich die Reisenden ab, manche in ein Schuhgeschäft, manche in die Apotheke.
Eine halbe Stunde später, um sechs, treffen sich
alle zum letzten Programmpunkt: Abendessen in einem
China-Restaurant. Zehn Tage lang nur deutsches Essen
sei einfach zu viel, sagt Tzu-Ming. Während seine Reisegruppe eintrudelt, stellt die Bedienung Suppenschüsseln auf die langen Tische. „Da sieht man es, Chinesen mögen diese runden Tische wie auf der
Zugspitze nicht“, sagt Tzu-Ming. Bevor er mit dem Essen
beginnt, leiht er sich noch schnell das Telefon des
Restaurants, um für den übernächsten Tag ein Restaurant in München zu buchen. Zu viel Salz hin oder her, in
München muss es ein echt bayerisches Brauhaus sein.
Impressum
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der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
Rathausallee 12
53757 Sankt Augustin
Telefon: 0 22 41 / 246-2550
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August 2015
Gestaltung / Love Tina Adu
Redaktion / Jessica Deringer, Stefanie Dodt,
Felix Ehrenfried, Maria-Xenia Hardt, Rahel Klein, Gabriel
Kords, Franziska Kues, Louisa Riepe, Larissa Rohr,
Anchalee Rülana, Marcus Schoft, Magdalena Schüßler,
Ann-Kathrin Wetter
Alpträume ist ein Magazin der Journalisten-Akademie der
Konrad-Adenauer-Stiftung (JONA) und im Juli 2015 in
Creative Commons Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE
Oberammergau entstanden. Für 13 JONAlisten war dies
ISBN: 978-3-95721-144-6
das Abschlussprojekt ihrer studienbegleitenden
Herausgeber / Dr. Marcus Nicolini (V.i.S.d.P.)
Journalistenausbildung.
Chefredaktion / Astrid Csuraji
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Textchefin / Stéphanie Souron
www.jonamag.de
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