Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen handout Fachtagung SFBB Kathrin Reiter Kinder- u. Jugendlichenpsychotherapeutin (VT) Traumatherapeutin (DeGPT) [email protected] 21. Januar 2016 @Kathrin Reiter Mehrere Ursachen fördern die Entstehung von Traumafolgestörungen Ursachen zur Entstehung von Traumafolgestörungen Einflussfaktoren, die Ereignisse zum Trauma machen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Die Folgen: die Wahrnehmung des Kindes und typische Reaktionen Unausweichliche Lebensbedrohung für sich selbst oder eine nahestehende Person Unvorhergesehene, plötzlich eintretende Bedrohung Zwischenmenschliche Gewalterfahrung Lang anhaltendes Geschehen Keine Hilfe von außen Versagen des Schutzes durch Erwachsene, Eltern Bedrohung durch einen nahestehenden Menschen 8. Existenzielle (Lebens-) Angst 9. Hilfloses Ausgeliefertsein 10. Eine Bewältigung der Situation ist aus Sicht des Kindes nicht möglich 11. Versagen von biologisch festgelegten Flucht- oder Kampfreaktionen 12. Akute Ohnmacht und Erstarrung 13. Akute Bewusstseinsabspaltung in der Situation Kritische Phase Quelle: Andreas Krüger, Erste Hilfe für traumatisierte Kinder @Kathrin Reiter Kritische Phase, in der Unterstützung helfen kann, bleibt ungenutzt oder die Hilfe ist nicht wirksam Ursachen zur Entstehung von Traumafolgestörungen Kritische Phase Schockreaktion oder realer Stress bleiben erhalten I. Posttraumatische Belastungsstörung II. Kindliche Formen von Traumafolgestörungen Andauernder oder oft wiederholter Extremstress III. Chronische/komplexe Traumafolgestörungen Quelle: Andreas Krüger, Erste Hilfe für traumatisierte Kinder @Kathrin Reiter Es gibt vielfältige Traumafolgestörungen – PTBS ist die bei weitem Bekannteste Traumafolgestörungen im Überblick nach ICD-10 • Akute Belastungsreaktion F 43.0 • Posttraumatische Belastungsstörung F 43.1 • Anpassungsstörung F43.2 • Dissoziative Störung F44 • Andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung F62.0 • Traumaassoziierte Störungen (Depression, Angst, Sucht, Somatisierung, Essstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Bindungsstörung, komplexe Trauerreaktion, selbstverletzendes Verhalten, Einnässen/Einkoten, sexualisiertes Verhalten usw.) @Kathrin Reiter PTBS wird anhand von 5 Kriterien identifiziert Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 A. Traumatisches Ereignis B. Anhaltende Erinnerung oder Wiedererleben (flashbacks), sich wiederholende Träume, innere Bedrängnis in Situationen welche Belastung ähneln C. Vermeidung der belastenden Situation/ ähnlicher Situation D. 1. Unfähigkeit, sich zu erinnern oder 2. psychische Sensitivität und Erregung E. B, C, D innerhalb von 6 Monaten @Kathrin Reiter Bei jüngeren Kindern differenzieren die Symptome einer PTBS Sypmtome PTBS jüngere Kinder (1/3) A. Trauma Traumatisches Ereignis muss vorliegen B. Wiedererleben (mind. ein Symptom) 1. Posttraumatisches Spiel: Zwanghafte Wiederholung von Themen und Aspekten des Traumas, kein Angstabbau durch das Spiel, Kein kreatives, elaboriertes Spiel 2. Nachspielen bestimmter Aspekte des Traumas ohne zwanghaftes Wiederholen und anderen Charakteristika des posttraumatischen Spiels 3. Wiederholte Erinnerung des traumatischen Ereignisses außerhalb des Spiels, ohne notwendige offensichtliche psychische Belastung 4. Alpträume mit Bezug zum Trauma oder mit zunehmender Frequenz ohne wieder erkennbaren Inhalt 5. Episoden mit objektiven Anzeichen eines Flashbacks oder von Dissoziation 6. Psychische Belastung bei der Konfrontation mit Hinweisreizen Quelle: Scheeringa (1995), übersetzt von Landolt (2004), aus Esser, G. „Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen“ @Kathrin Reiter Bei jüngeren Kinder differenzieren die Symptome einer PTBS Sypmtome PTBS jüngere Kinder (2/3) C. Abflachung der Reagibilität (mind. ein Symptom) 1. Einengung des Spielverhaltens 2. Sozialer Rückzug 3. Eingeschränkte Bandbreite des Affekts 4. Verlust erworbener Fähigkeiten, insbesondere im Bereich der Sprache und der Sauberkeitserziehung D. Erhöhtes Arousal (mind. ein Symptom) 1. Nächtliche Angstzustände 2. Einschlafschwierigkeiten 3. Nächtliches Erwachen (nicht wegen Alpträumen oder Angstzuständen) 4. Schlechtere Konzentrationsfähigkeit im Vergleich zu vor dem Trauma 5. Übertriebene Wachsamkeit (Hypervigilanz) 6. Übertriebene Schreckreaktion Quelle: Scheeringa (1995), übersetzt von Landolt (2004), aus Esser, G. „Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen“ @Kathrin Reiter Bei jüngeren Kinder differenzieren die Symptome einer PTBS Sypmtome PTBS jüngere Kinder (3/3) E. Neue Ängste und Aggression (mind. ein Symptom) 1. Neu auftretende Aggression 2. Neu auftretende Trennungsangst 3. Angst, alleine auf die Toilette zu gehen 4. Angst vor der Dunkelheit 5. Andere Ängste vor Dingen oder Situationen, die offensichtlich traumabezogen sind F. Dauer Länger als einen Monat Quelle: Scheeringa (1995), übersetzt von Landolt (2004), aus Esser, G. „Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen“ @Kathrin Reiter Man unterscheidet zwei Typen von Traumata Typologie traumatischer Ereignisse Akzidentelle (zufällige) Traumata Man Made (zwischenmenschliche) Traumata Typ I Traumata einmalig akute Lebensgefahr unerwartet • • Verkehrsunfälle berufsbedingte Traumata (Polizei, Feuerwehr) Arbeitsunfälle kurzdauernde Naturkatastrophen • Typ II Traumata wiederholt langandauernd teils vorhersehbar oder unvorhersehbarer Verlauf • langdauernde Naturkatastrophen (Erdbeben) technische Katastrophen (z.B. Giftgas) • • • • • • • • • • kriminelle und körperliche Gewalt Vergewaltigungen zivile Gewalterlebnisse (z.B. Banküberfall) sexuelle und körperliche Misshandlungen Geiselhaft Kriegserlebnisse Folter und politische Inhaftierung Massenvernichtung (KZ-Vernichtungslager) @Kathrin Reiter Es gibt sowohl Risiko- als auch Schutzfaktoren zur Ausbildung einer Traumafolgestörung Risiko- und Schutzfaktoren Faktoren, die die Ausbildung einer Traumafolgestörung wahrscheinlicher machen Einflussfaktoren, die vor einer Traumafolgestörung schützen können • • • • • • • • • • • • • Mangelndes Selbstbewusstsein Niedrige Intelligenz (aktuelle) Trennungsereignisse (z.B. Umzug) Eigene psychische oder körperliche Erkrankung (oder der Eltern) Erhebliche Konflikte innerhalb der Familie Eigene unbewältigte Traumageschichte der Eltern Aktuelle Todesfälle Belastungen der Familie durch Arbeitslosigkeit, Armut, räumliche Enge Zusammentreffen mehrerer Belastungsfaktoren Quelle: Erste Hilfe für traumatisierte Kinder, Andreas Krüger • • • • • Gute Beziehungen (z.B. Eltern, Erzieher) Hohe Intelligenz Selbstbewusstsein Erfolgserlebnisse in Schule, Ausbildung, Freizeit Fördernde außerfamiliäre soziale Umwelt Gute materielle Ausstattung der Familie Emotional kompetente Bezugspersonen Repertoire an Bewältigungsstrategien bei Kind und Eltern Zusammentreffen schützender Faktoren @Kathrin Reiter Traumata zeigen sich besonders im traumatischen Spiel des Kindes Traumatisches Spiel Heilsames Spiel Gestörtes Spiel Traumatisches Spiel Als-ob-Charakter (Fähigkeit zur Symbolbildung) Phantasielosigkeit (keine Als-ob-Haltung möglich) Endlose Wiederholungen von Spielhandlungen ohne inhaltliche Entwicklung Spielfähigkeit (Flexibilität zwischen Phantasie und Realität zu wechseln) Ausweitung der Phantasie (Grenzen zur Realität verschwinden) Automatisierte und wenig differenzierte Verhaltensmuster Emotionale Resonanz Abrupter Wechsel (Spielabbrüche) zwischen Spiel und Realität Abrupte Spielabbrüche bei Überflutung/Dissoziation Entwicklung im Spielgeschehen Quelle: Heidi Zorzi, Kinder Trauma Institut Zunahme von Angst und Verzweiflung mit der Spieldauer @Kathrin Reiter Je nach Alter reagieren Kinder und Jugendliche anders auf ein Traumata Altersabhängige Reaktionen von Kindern und Jugendlichen Unter 5 Jahren • • • • • • • Angst, von den Eltern getrennt zu werden Schreien, Wimmern Erstarren und/oder ungezielter Bewegungsdrang Zittern Ängstlicher Gesichtsausdruck Extremes Anklammmerungsbedürfnis, distanzgemindertes Verhalten, Bindungsauffälligkeiten Regressives Verhalten wie Daumenlutschen, Bettnässen und Angst vor Dunkelheit 6-11 Jahre • • • • • • Extremer sozialer Rückzug, Kontaktabbruch Aufmerksamkeits- u. Konzentrationsschwierigkeiten Alpträume, Schlafprobleme Reizbarkeit, Wutausbrüche, Prügeleien Schulverweigerung Psychosomatische Beschwerden (z.B. Magenschmerzen) 12-17 Jahre • • • • • • • • • Flashbacks Alpträume Vermeidung von allem, was an das traumatische Ereignis erinnert Depression Drogenmissbrauch Probleme mit Gleichaltrigen und antisoziales Verhalten Suizidgedanken Nachlassen der Schulleistungen Rachephantasien gegen Täter Quelle: Kinder Trauma Institut, Thomas Hensel @Kathrin Reiter Was können Bezugspersonen tun? Ungünstige Reaktionsstile vs. günstige Reaktionsstile (1/2) Ungünstige Reaktionsstile • • • Rückzug/ Vermeidung Überprotektion Angstmachende Reaktionsweisen Günstige Reaktionsstile • • • • • Quelle: Kinder Trauma Institut, Thomas Hensel Bewusstheit über die Bedürfnisse des Kindes (5 Strategien) Fragen, wie sich das Kind bezogen auf das Ereignis fühlt Verhaltensweisen des Kindes vor und nach dem Trauma vergleichen Einschätzen der Reaktionen des Kindes auf Grundlage seiner Persönlichkeit Vergleich der Verhaltensweisen des Kindes mit dem Verhalten seiner Geschwister Austausch mit anderen Erwachsenen, die das Kind gut kennen @Kathrin Reiter Was können Bezugspersonen tun? Ungünstige Reaktionsstile vs. günstige Reaktionsstile (2/2) Günstige Reaktionsstile Reagieren auf die Bedürfnisse des Kindes (9 Strategien) 1. Gelegenheiten zum Sprechen schaffen 2. Fragen des Kindes im Tempo des Kindes beantworten 3. Begleitete Konfrontation mit Triggern 4. Schutz vor unnötiger Bedrohung 5. Vermeiden eigenen Stresses 6. Hilfe suchen 7. Positive symbolische Aktivitäten ermöglichen 8. Tägliche Routine aufrecht erhalten 9. Freudvolle Aktivitäten ermöglichen Quelle: Kinder Trauma Institut, Thomas Hensel @Kathrin Reiter Bezugspersonen traumatisierter Kinder übernehmen eine verantwortungsvolle Aufgabe I. Aufgaben von Bezugspersonen eines traumatisierten Kindes • • • • • • Sich über das Erscheinugsbild einer PTBS zu informieren Dem Kind gegenüber die Normalität der Symptome auf das traumatische Ereignis hervorheben Dem Kind vermitteln, dass es nicht “verrückt” ist Das Kind in die eigenen Ängste, Sorgen, Überlegungen, den Möglichkeiten mit dem Ereignis umzugehen, einbeziehen und kindgerecht informieren Sich mit den eigenen Sorgen beschäftigen Sich selber Rat holen, wenn man nicht mehr weiter weiß Quelle: B.Lueger-Schuster, K.Pal-Handl: Elternratgeber für traumatisierte Kinder @Kathrin Reiter II. Hintergrundwissen für Bezugspersonen • Kind nicht zum Erzählen zwingen, nicht nachbohren: Gefahr von flashbacks • Kind erzählt Trauma wie normale Geschichte (evtl. lachen): Schutzreaktion vor Überflutung • Oftmals Besserung der Symptome alleine durch eine heilsame Beziehung zu einer Bezugsperson • Lernen und Spielen können zu traumatischen Erfahrungen eine heilsame Distanz herstellen • Bei Beziehungsgewalt (z.B. sex. Missbrauch) „schützt“ die Übernahme von Schuld die Beziehung zum wichtigen Erwachsenen • Traumatisierte Kinder zeigen oft regressives Verhalten (z.B. erneutes Einnässen): Zurückfallen in eine frühere, bereits überwundene Entwicklugsstufe • Körperliche Symptome (z.B. Einnässen, Einkoten, Kopfschmerzen): „Wenn die Seele nicht sprechen kann, spricht der Körper“ • Auf die eigene Psychohygiene achten! • Achtung: Vermeidung vs. Überidentifikation! • Aushalten des Traumas des Kindes • traumatisierte Kinder fallen oft erst durch nachlassende Schulleistungen oder Änderungen im Verhalten auf • Wenn möglich: Einbezug der Eltern in die Arbeit • Im Gespräch mit dem Kind: – Zeit haben, Zeit nehmen, Zeit geben: nicht ausweichen, da sein – Aushalten immer wiederkehrender Fragen: Geduld – nichts verschweigen, nicht lügen: Klarheit, Ehrlichkeit, keine unnötigen Infromationen geben – Fragen ehrlich und empathisch beantworten: bereit für die Geschichte des Kindes sein – eigene Unsicherheiten zugeben, nicht “allwissend” sein – auf die Vorstellungswelt des Kindes eingehen: anpassen – keine ausführlichen, langen Erklärungen: klare, einfache Antworten @Kathrin Reiter Nützliche Informationen für die praktische Arbeit Internet • Psychosoziale Notfallhilfe der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen mit Informationsbroschüren (englisch, russisch, türkisch, italienisch) http://pknds.de/37.0.html • Bilderbuch für Flüchtlingsfamilien (deutsch, englisch, arabisch, farsi) http://www.susannestein.de/VIA-online/traumabilderbuch.html Literatur • Andreas Krüger, Erste Hilfe für traumatisierte Kinder, Verlag: Patmos • B. Lueger-Schuster, R. Lackner, K. Pal-Handl, Wie Pippa wieder lachen lernte, Ein Bilderbuch für Kinder, Elternratgeber für traumatisierte Kinder, Springer Verlag • Claude K. Dubois, Akim rennt, Moritz Verlag. Pro Asyl, Amnesty International
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