Materialien als zentrales Element im Offenen Unterricht im Rahmen

Nicola Hericks
Materialien als zentrales Element im Offenen Unterricht im Rahmen
der Schulentwicklung
Zusammenfassung: Materialien spielen im Offenen Unterricht eine wichtige Rolle, stellen
sie doch ein wirksames Mittel dar, mit dessen Hilfe die Schüler/-innen Unterrichtsinhalte
wiederholen und sich selbstständig in neue Themengebiete einarbeiten können. Damit
stellen sich jedoch bestimmte Herausforderungen an Lehrkräfte und Schüler/-innen im
Hinblick auf die Erstellung der Materialien bzw. den Umgang mit diesen.
Im vorliegenden Beitrag wird zunächst auf Arten, Einsatzmöglichkeiten und Kriterien von
Materialien für den Offenen Unterricht sowie auf die mit der Verwendung verbundenen
Anforderungen an Schüler/-innen und Lehrkräfte eingegangen. Daran anschließend
werden Ergebnisse von Studien vorgestellt, die sich mit dem Einsatz von Materialien in
Offenen Unterrichtsformen befassen.
Schlüsselworte: Offener Unterricht, Schüleraktiver Unterricht, eigenverantwortliches
Lernen
Materials as a Key Element in Open Learning as Part of School Development
Abstract: Materials play an important role in open learning as they are an effective means
allowing pupils to repeat lesson content and independently learn about new subject areas.
This means that they present a challenge to teachers developing these materials and pupils using them.
In this article the types, uses and criteria for open learning materials are described as well
as the requirements placed on their use by pupils and teachers. Finally, the results of
studies are presented that relate to the use of materials in open learning.
Keywords: Open learning, student active teaching, self-responsible learning
1. Einleitung
In der pädagogischen Diskussion der letzten Jahre nahmen die Forderung nach einer inneren
Schulreform und damit einhergehend der Wunsch nach offenen und schülerzentrierten
Unterrichtsformen immer mehr zu, stellen diese doch zentrale Elemente veränderter LehrLern-Formen dar, mit denen für eine demokratische und humane Schule unverzichtbare
pädagogische Ziele angestrebt werden sollen (vgl. Jürgens 2009).
Materialien spielen als wirksames Mittel, mit dessen Hilfe die Schüler/-innen
Unterrichtsinhalte wiederholen und sich selbstständig in neue Themengebiete einarbeiten
können, im Offenen Unterricht eine wichtige Rolle. Die einsetzbaren Materialien sind vielfältig
und reichen von Nachschlagewerken über Arbeitsblätter bis hin zu Lernprogrammen und
Lernspielen. Es ist jedoch darauf zu achten, dass es nicht zu einer willkürlichen Anhäufung
von Materialien kommt, bei der Quantität vor Qualität steht. Vielmehr stellen sich bestimmte
Herausforderungen an Lehrkräfte und Schüler/-innen im Hinblick auf die Erstellung der
Materialien bzw. den Umgang mit diesen.
1
Im vorliegenden Beitrag wird zunächst auf Arten, Einsatzmöglichkeiten und Kriterien von
Materialien für den Offenen Unterricht1 sowie auf die mit der Verwendung verbundenen
Anforderungen an Schüler/-innen und Lehrkräfte eingegangen. Daran anschließend werden
Ergebnisse von Studien vorgestellt, die sich mit dem Einsatz von Materialien in Offenen
Unterrichtsformen2 befassen.
2. Arten und Einsatzmöglichkeiten von Materialien
Das Spektrum der im Offenen Unterricht einsetzbaren Materialien ist sehr vielfältig und reicht
von Nachschlagewerken, wie Lexika und Wörterbücher, über Arbeitsblätter bis hin zu
Lernprogrammen und Lernspielen.
In Anlehnung an Traub (2000) können folgende Arten von Materialien unterschieden werden:
a) Materialien zur Übung, Wiederholung und Festigung bereits besprochener
Unterrichtsinhalte auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen (mit deren Hilfe sich die
Schüler/-innen nochmals mit einer Thematik aus dem Unterricht auseinandersetzen
können, die sie nicht verstanden haben)
b) Materialien zur Ergänzung von aktuellen Unterrichtsinhalten (ergänzende Übungen zu
verschiedenen Thematiken aus dem Unterricht
c) Materialien zur Weiterführung von Unterrichtsinhalten (mit denen sich die Schüler/-innen
in weitere Teilbereiche, bereits im Unterricht behandelter Themen sowie in neue
Themengebiete einarbeiten können)
d) Materialien mit kreativem oder experimentellem Inhalt (z.B. Lernspiele, Lernprogramme
am PC, Bastelarbeiten und Zeichenaufgaben, Durchführung kleiner Experimente)
e) Materialien für Konzentrationsübungen
f) Materialien zum Stöbern (z.B. Leseecke mit Büchern und Zeitschriften)
Alle im Offenen Unterricht eingesetzten Materialien sollten eine „optimale Passung zwischen
den intendierten fachlich-inhaltlichen Zielen, den fachdidaktischen Ansprüchen und den
Lernvoraussetzungen der Schüler/-innen“ (Jürgens 2006, 107) aufweisen und möglichst
vielfältig sein, um den verschiedenen Lernentwicklungen, Begabungen, Fähigkeiten und
Fertigkeiten der Lerngruppe gerecht zu werden, kreatives und forschendes Lernen zu fördern,
die Schüler/-innen sachimmanent zu führen und die Motivation zur Bearbeitung anzuregen
(vgl. Jürgens 2006).
Durch das Vorhandensein von Materialien in verschiedenen Schwierigkeitsniveaus kann
im Offenen Unterricht zudem eine Differenzierung erreicht werden. Wichtig ist dabei, dass
auch bei der Auswahl von leichteren Materialien, die durch die Schulform geforderte
Standardleistung erreicht wird (vgl. Lähnemann 2009). Eine Differenzierung ist jedoch auch
bereits dadurch gegeben, dass nicht alle Schüler/-innen zur gleichen Zeit dieselbe Tätigkeit
ausführen, dass sich die Schüler/-innen die Zeit für die Bearbeitung nach ihrem individuellen
1
Offener Unterricht ist nach Wallrabenstein ein „Sammelbegriff für unterschiedliche Reformansätze in vielfältigen
Formen inhaltlicher, methodischer und organisatorischer Öffnung mit dem Ziel eines veränderten Umgangs mit
dem Kind auf Grundlage eines veränderten Lernbegriffs.“ (Wallrabenstein 1991, 54). Je nach Autor werden
verschiedene Stufen oder Dimensionen der Öffnung unterschieden (vgl. u.a. Wagner 1978; Lohmann 1992;
Hanke 2005; Peschel 2005; Bohl/Kucharz 2010). Kennzeichen des Offenen Unterrichts sind nach Bohl/Kucharz
(2010) Selbst- und Mitbestimmung bei der Auswahl von Unterrichtsinhalten, bei der Unterrichtsdurchführung und
beim Unterrichtsverlauf, Orientierung an Interessen und Fähigkeiten der Schüler/-innen, entdeckendes,
problemlösendes, handlungsorientiertes und selbstverantwortliches Lernen, soziale Beziehungen und
Kooperationen, Zulassen von Handlungsspielräumen sowie Förderung von (spontanen) Schüleraktivitäten.
2
Zu den makrodidaktischen Konzepten Offenen Unterrichts gehören u.a. Wochenplanarbeit, Stationenarbeit
(Werkstattunterricht), Freiarbeit und Projektunterricht.
2
Lernrhythmus einteilen können und dass durch unterschiedliche
verschiedene Lernstile berücksichtigt werden (vgl. ebd.).
Aufgabentypen,
Als Sammelort für alle Materialien haben sich Schränke und Regale bewährt. Zudem
empfiehlt sich das Anlegen einer Klassenbücherei. Der Materialpool darf dabei jedoch nicht
zu einem „Sammellager von Spielen“ (Jürgens 2006, 116) werden, sondern sollte einen
„wohlgeordneten Lernraum“ (ebd.) darstellen.
Um eine eigenständige Auswahl der Materialien durch die Schüler/-innen zu ermöglichen,
ist die Festlegung bestimmter Kriterien nötig. Hilfreich kann eine Inventarliste sein, in der alle
verfügbaren Materialien aufgeführt sind und die Informationen über deren
Schwierigkeitsgrad, die mögliche Sozialform, den zu erwartenden Zeitaufwand u.ä. enthält.
Gleichzeitig können die Schüler/-innen in einer solchen Liste ankreuzen, was sie schon
bearbeitet haben. Bei jüngeren Schüler/-innen empfiehlt es sich, die Angaben durch die
Unterschrift der Lehrkraft bestätigen zu lassen (vgl. Traub 2000). Eine solche Dokumentation
bestätigt die Schüler/-innen in ihrer Arbeit und ermöglicht der Lehrkraft einen Überblick über
die Tätigkeiten der einzelnen Schüler/-innen (vgl. Jürgens 2009).
3. Anforderungen an Lehrkräfte und Schüler/-innen im Umgang mit Materialien
Das Schüler-Lehrer-Verhältnis unterscheidet sich im Offenen Unterricht stark von dem im
anderen Regelunterricht.3 Die Lehrkraft übernimmt die Rolle des Beobachters, Initiators,
Moderators und Beraters von Lernprozessen und greift nur ein, wenn es nötig ist. Sie hat
somit einen schwierigen Balanceakt auszuführen: Einerseits bleibt sie aufgrund des
Erziehungs- und Bildungsauftrags vertragsverantwortlich für die Nutzung der
Unterrichtsangebote durch die Schüler/-innen und muss diese fördern, beraten und
instruieren, andererseits soll sie sich jedoch mit Interventionen zurückhalten (vgl.
Jürgens/Standop/Hericks 2012).
Entsprechend verändern sich auch die Aufgaben von Schüler/-innen und Lehrkräften
beim Umgang mit den Materialien. Den Lehrkräften kommt zunächst einmal die Aufgabe zu,
alle Materialien, die im Offenen Unterricht eingesetzt werden sollen, selbst zu erstellen bzw.
käuflich erworbene Materialien didaktisch aufzubereiten und auf die Rahmenbedingungen in
der jeweiligen Klasse abzustimmen. Dabei ist darauf zu achten, dass die Materialien
altersgerecht und an den Entwicklungs- und Lernstand der Schüler/-innen sowie an deren
Lebenswirklichkeit
und
Interessen
angepasst
sind
und
einen
gewissen
Anforderungscharakter haben, um Motivation und Interesse bezüglich der Bearbeitung
auszulösen (vgl. Traub 2000).
Je älter die Schüler/-innen sind und je mehr Erfahrung sie mit Offenen Unterrichtsformen
haben, desto eher können sie nach Jürgens (2006) auch dazu angehalten werden, selbst
Materialien zu beschaffen oder zu erstellen. Durch die damit verbundene Einbeziehung der
Schüler/-innen in die Vorbereitung des Offenen Unterrichts werden die Interessen der
Schüler/-innen umso stärker berücksichtigt (vgl. Traub 2000).
Eine weitere Aufgabe der Lehrkraft ist es nach Traub (2000), den Schüler/-innen alle
Materialien vor ihrem ersten Einsatz vorzustellen und in ihren Verwendungsmöglichkeiten zu
zeigen. Dabei sollte für die Schüler/-innen auch transparent gemacht werden, aus welchen
Gründen bestimmte Materialien ausgewählt wurden (vgl. Traub 2000).
3
Offene Unterrichtsformen sind Regelunterricht. Es wird daher im Folgenden immer von weiterem oder anderem
Regelunterricht gesprochen, sofern andere Unterrichtsformen gemeint sind.
3
Einige Schulen nutzen zudem das Prinzip der Verknappung, welches auf Montessori
zurückgeht. Nach diesem Prinzip sind bestimmte Materialien (z.B. Lernspiele) nur einmal
vorhanden, so dass sich die Schüler/-innen abwechseln und Materialien teilen müssen. Dies
soll den Schüler/-innen in unserer heutigen, stark vom Konsum geprägten Welt, helfen zu
lernen, dass man nicht immer alles sofort bekommen kann, sondern auch mal warten muss
(vgl. Lähnemann 2009).
Im Offenen Unterricht gelten die didaktischen Prinzipien der Wahlfreiheit, Selbsttätigkeit,
Selbstständigkeit und Selbstkontrolle, die auch auf den Umgang mit den Materialien einen
Einfluss haben: Die Schüler/-innen können aus einem vorhandenen Pool von Aufgaben eine
Aufgabenstellung auswählen und entscheiden sich damit auch für ein bestimmtes Fach und
einen Schwierigkeitsgrad. Des Weiteren obliegt es ihnen, mit welchen der angebotenen
Materialien, in welcher Sozialform und in welchem Tempo und Arbeitsrhythmus sie die
Aufgabe bearbeiten wollen (vgl. Jürgens 2006). Traub (2000) weist jedoch darauf hin, dass
die Wahlfreiheit in der Praxis nie vollkommen gegeben, sondern durch verschiedene
Bedingungen eingeschränkt ist. So geben bestimmte Aufgabenstellungen z.B. bereits eine
bestimmte Sozialform (z.B. Partnerdiktat) oder Technik (z.B. Recherche mit Hilfe von Lexika
oder Atlanten) vor und einige Schulen beschränken den Offenen Unterricht auf bestimmte
Fächer, so dass bestimmte Einschränkungen in Bezug auf die Auswahlmöglichkeiten
gegeben sind. Auch die Zeit steht nie völlig unbegrenzt zur Verfügung. Da Offener Unterricht
in den meisten Schulen nicht als durchgängiges Unterrichtsprinzip praktiziert wird, sondern
i.d.R. eine bestimmte Anzahl an Unterrichtsstunden für die Durchführung Offener
Unterrichtsformen zur Verfügung steht, kann auch nur dieser vorgegebene Zeitrahmen für
die Bearbeitung genutzt werden (vgl. Traub 2000).
Das Prinzip der Selbsttätigkeit ist eng mit dem der Wahlfreiheit verknüpft. „Selbsttätigkeit
ist eine Tätigkeit aus eigenem Antrieb und mit einer Zielvorstellung. Sie kann entweder
spontan einsetzen oder durch die Lehrkraft provoziert werden. Sie zwingt zu eigenen
Überlegungen, die dann zu verschiedenen Lösungsversuchen führen. Dadurch wird das
Problembewusstsein gefördert und Selbstständigkeit im Denken, Handeln und Urteilen
erreicht. Voraussetzung für Selbsttätigkeit ist die innere Anteilnahme an den zu lösenden
Problemen und die Bereitstellung von Arbeitsmaterialien. Durch die Vermittlung von
Arbeitsmethoden kann der Lehrer die Selbsttätigkeit seiner Schüler fördern.“ (Böhm 1988,
536). Selbsttätigkeit ist eine notwendige Handlungsbedingung von Selbstständigkeit.
Deshalb gilt noch heute die pädagogische Maxime, die Diesterweg bereits 1958 aufstellte:
Erziehung zur Selbstständigkeit durch Erziehung zur Selbsttätigkeit. Die Schüler/-innen
haben „Handlungskompetenz erworben, die Voraussetzung für Selbsttätigkeit ist und eine
wichtige Kompetenz für das Alltags- und Berufsleben in unserer Gesellschaft darstellt“
(Lähnemann 2009, 39), wenn sie in der Lage sind, ihre Arbeit selbst zu organisieren, d.h.
sich eigenständig Aufgaben zu suchen und sie zu bearbeiten, eigene Fragestellungen und
Lerninteressen zu formulieren, Entscheidungen bezüglich des eigenen Zeitmanagement zu
fällen und die Verantwortung für die eigene Zeitplanung zu übernehmen. All diese
Kompetenzen lernen die Schüler/-innen im Offenen Unterricht Schritt für Schritt (vgl.
Lähnemann 2009).
Das Prinzip der Selbstkontrolle ist wiederum mit dem der Selbsttätigkeit und
Selbstständigkeit verknüpft. Die im Offenen Unterricht bearbeiteten Aufgaben und
Materialien sollen und können nicht generell von der Lehrkraft korrigiert werden. Vielmehr
übernehmen die Schüler/-innen dies selbst. Dazu können Selbstkontrollbögen oder
Methoden der Partnerkontrolle genutzt werden. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle muss von
4
den Schüler/-innen jedoch ebenfalls erst erlernt und von der Lehrkraft angeleitet werden und
erfordert eine hohe Konzentration sowie die Befähigung, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein
(vgl. Traub 2000). Zudem ist es wichtig, vorher gemeinsam Regeln zur Kontrolle zu
erarbeiten, an denen sich die Schüler/-innen orientieren können (vgl. Lähnemann 2009).
4. Auswahl von Forschungsergebnissen zum Einsatz von Materialien im
Offenen Unterricht
Der Einsatz von Materialien im Offenen Unterricht spielt in einigen Untersuchungen, die sich
generell mit der Erforschung Offener Unterrichtsformen beschäftigen, eine Rolle: So stellt
Lähnemann in ihrer Untersuchung von 2009 negative Effekte eines zu häufigen Einsatzes von
Arbeitsblättern und Lernspielen fest. Diese haben für die Schüler/-innen zwar zunächst eine
recht hohe Attraktivität, verlieren mit der Zeit jedoch ihren Reiz und die Bearbeitung wird dann
von den Schüler/-innen als sinnlos empfunden. Zudem sei der Wert der Arbeitsblätter,
insbesondere der Übungseffekt für zukünftige Klassenarbeiten und eine langfristig eintretende
Verbesserung im Unterricht für viele Schüler/-innen kaum oder gar nicht erkennbar (vgl.
Lähnemann 2009). Peschel (2002) weist zudem darauf hin, dass die Lerneffektivität stark von
der Gestaltung und dem Inhalt des Arbeitsblatts sowie vom Kontext, in dem es eingesetzt wird
abhängt. Arbeitsblätter können daher methodisch durchaus anspruchsvoll sein und zur
Differenzierung beitragen. Gleichzeitig bestehe jedoch die Gefahr einer zu großen
Einheitlichkeit der Aufgaben, die zudem zu wenig zum Forschen, Kombinieren und
Kreativwerden anregen sowie des ‚Abarbeitens‘ möglichst vieler Arbeitsblätter durch die
Schüler/-innen (vgl. Peschel 2002).
Röbe (1986) beobachtet, dass während der Freiarbeit anfangs spielerische Aktivitäten und
Bastelarbeiten vorgezogen werden, sich die Schüler/-innen später jedoch mehr und mehr für
Materialien entscheiden, die in engerer Verbindung zum Unterrichtsstoff stehen. Schüler/innen, die anfangs Schwierigkeiten haben, sich frei für eine Aufgabe zu entscheiden und sich
kontinuierlich mit dieser zu befassen, arbeiteten mit der Zeit konzentrierter und mit mehr
Ausdauer.
Lernhilfen werden von allen Schüler/-innen gleichermaßen genutzt, wie eine Studie von
Kammermeyer/Kohlert (2002) zeigt, die das Verhalten von leistungsschwachen und
leistungsstarken4 Schüler/-innen im Offenen Unterricht gegenüberstellt.
Huber/Roth (1999) vergleichen die Arbeitsweisen von ungewissenheitsorientierten und
gewissenheitsorientierten Schüler/-innen5 und stellen fest, dass ungewissenheitsorientierte
Schüler/-innen im Offenen Unterricht eher Aufgaben auswählen, die leicht zu bewältigen sind
sowie Aufgaben, für die sich auch andere Mitschüler/-innen entschieden haben.
Gewissenheitsorientierte Schüler/-innen suchen dagegen die Herausforderung und sind an
systematischen Analysen interessiert.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Lipowsky (1999) bei der Untersuchung von
konzentrationsschwächeren Schüler/-innen. Er stellt fest, dass diese sich bei der Auswahl von
Aufgaben weniger an der Aufgabe selbst orientieren, sondern an den Tätigkeiten ihrer
Mitschüler/-innen. „Lipowsky schließt daraus, dass konzentrationsschwächere Schüler/-innen
mehr Anleitung und Einübung für den Umgang mit Materialien (…) brauchen, um die Lernzeit
intensiver zu nutzen.“ (Lähnemann 2009, 49). Hartinger (2006) stellt zudem fest, dass von
4
5
Bezeichnung und Einteilung nach Kammermeyer/Kohlert (2002)
Bezeichnung und Einteilung nach Huber/Roth (1999)
5
Schüler/-innen, die sich weniger kompetent einschätzen, das Vorhandensein von
Wahlmöglichkeiten grundsätzlich negativer bewerten.
Laus/Schöll (1995) finden heraus, dass in der Freiarbeit mehr Lernzeit aufgabenbezogen
genutzt wird, als im lehrerzentrierten Unterricht. Leistungsschwächere Schüler/-innen6
brauchen mehr Zeit für die Organisation ihrer Arbeit, lassen sich dafür jedoch weniger leicht
ablenken, als leistungsstärkere Schüler/-innen.7 Zudem weisen sie die längste
Aufmerksamkeitsdauer auf, d. h. sie beschäftigen sich am längsten mit einer bestimmten
Aufgabe.
Meisterjahn-Knebel (1995) kommt in seiner Untersuchung dagegen zu dem Schluss, dass
Schüler/-innen mit mehr Ausdauer und Konzentration an einer Aufgabe arbeiten, je mehr Zeit
sie für deren Bearbeitung bekommen. Unruhe und Unterbrechungen sind verstärkt nach
lehrerzentrierten Unterrichtsstunden sowie vor Beginn des Offenen Unterrichts gegeben.
Eine Studie von Jürgens/Standop/Hericks (2012) untersucht die subjektiven
Überzeugungen, Meinungen und Reaktionen von Lehrkräften, Eltern und Schüler/-innen zur
Durchführung Offener Unterrichtsformen (hier als ELA-Unterricht bezeichnet) eines
Gymnasiums in NRW. Das Spektrum der verwendeten Materialien an der Schule ist groß. So
stehen neben Nachschlagewerken (Lexika, Wörterbücher, Fremdsprachenlexika,
Grammatikbücher, Atlanten), Schul-, Sach- und Wissensbüchern, mathematische
Instrumente (wie Zirkel, Geodreieck, Lineal und Taschenrechner), Arbeitsblätter,
Abspielmedien für CDs, DVDs und Filme sowie Zeichenmaterialien zur Verfügung. Hinzu
kommt die Möglichkeit der Bearbeitung einzelner Aufgaben am PC in einem gesonderten
Raum, die auch die Internetrecherche sowie die Nutzung von Lernprogrammen und
Lernspielen einschließt (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012).
Es zeigt sich, dass die Schüler/-innen mit der Ausstattung und der Verfügbarkeit der
Materialien recht zufrieden sind (72%8). 80%9 der Schüler/-innen geben an, unter den
Materialien Themen zu finden, die zu ihren selbst wahrgenommenen Fähigkeiten passen und
62% sehen die Möglichkeit, sich mit Themen ihrer unmittelbaren Lebens- und Erfahrungswelt
auseinandersetzen zu können. 89% der Schüler/-innen haben laut eigenen Angaben den
Anspruch, die geplanten Aufgaben vollständig zu erledigen und 83% sind nicht entmutigt,
wenn die Lösung nicht sofort gelingt. 65% der Schüler/-innen sind bereit, auch Aufgaben
ausdauernd zu bearbeiten, die auf den ersten Blick nicht interessant erscheinen. Darüber
hinaus geben 61% der Schüler/-innen an, selbstständig Material zu organisieren und
zusätzliche Quellen zu nutzen und 81% der Schüler/-innen kontrollieren ihre Arbeitsschritte
nach eigenen Angaben selbstständig.
Die Lehrkräfte sind mit den verwendeten Materialien dagegen wesentlich unzufriedener:
So sind für 13%10 die Eignung und die Qualität nicht angemessen und nur 21% empfinden
die Ausstattung als ausreichend. In Bezug auf die Schüler/-innen gehen lediglich 29% der
Befragten davon aus, dass diese Materialien finden, die zu ihren selbst wahrgenommenen
Fähigkeiten passen oder die ihnen die Möglichkeit geben, sich mit Themen ihrer
unmittelbaren Lebens- und Erfahrungswelt auseinanderzusetzen (40%). Diese negative
Sichtweise überrascht, da die Materialien vom Kollegium selbst erstellt und ausgewählt
werden und es daher in ihrer Verantwortung liegt, dass diese Kriterien erfüllt sind. Laut
6
Bezeichnung und Einteilung nach Laus/Schöll (1995)
Bezeichnung und Einteilung nach Laus/Schöll (1995)
8
Die Angaben in den Kategorien „sehr zufrieden“ oder „eher zufrieden“ wurden zusammengefasst.
9
Die Antworten in den Kategorien „trifft voll zu“ und „trifft eher zu“ wurden bei dieser und den folgenden
Prozentangaben jeweils zusammengefasst.
10
Offene Antworten zusammengefasst
7
6
Angaben des Kollegiums ist es jedoch „sehr schwierig, Material zur Verfügung zu stellen, bei
dem es völlig egal ist, wann und ob die Schüler/-innen es bearbeiten. Ggf. sind
Voraussetzungen noch nicht da oder es ergeben sich fachliche Vorteile einiger Schüler/innen.“11 Als weiterer Grund wird die fehlende Zeit für die Entwicklung hochwertiger
Materialien genannt.
Auch in Bezug auf die Motivation und die Selbstständigkeit der Schüler/-innen haben die
Lehrkräfte Zweifel: So geht weniger als die Hälfte der Lehrer/-innen davon aus, dass die
Schüler/-innen den Anspruch haben, angefangene Aufgaben zu beenden, auch Aufgaben
ausdauernd bearbeiten, die auf den ersten Blick nicht interessant erscheinen und nicht
entmutigt sind, wenn die Lösung nicht sofort gelingt. Dass selbstständige Organisieren und
Nutzen zusätzlicher Materialien und Quellen durch die Schüler/-innen nehmen lediglich 23%
der Lehrer-/innen wahr, die selbstständige Kontrolle der Arbeitsschritte 44%.
Kritik wird von Lehrerseite auch am Umgang mit den Materialien geübt. So seien die
Schüler/-innen „oft lustlos und unmotiviert“12 und würden Materialien eher oberflächlich und
unordentlich bearbeiten und die Ergebnisse oft „lieblos gestaltet“. Einige Schüler/-innen
würden zudem „häufig auf sehr leichtes Material ausweichen“. Für viele Schüler/-innen ginge
es darum, „möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, Genauigkeit bleibt daher auf
der Strecke“. Für 50% der Lehrkräfte stehen die Vorbereitung und die Effektivität
(Lernwirksamkeit) des ELA-Unterrichts damit in keinem ausgewogenen Verhältnis.
Gleichzeitig sind 58% der befragten Lehrer/-innen der Ansicht, dass sich die vorhandenen
Materialien für einen wiederholten und langfristigen Einsatz eignen und 66% sehen eine
Möglichkeit der Differenzierung und Individualisierung durch die Aufgabenstellungen (vgl.
Jürgens/Standop/Hericks 2012).
Es stellt sich die Frage, warum es auf Seiten der Lehrkräfte und Schüler/-innen überwiegend
zu derart unterschiedlichen Einschätzungen kommt. Beurteilen die Lehrkräfte die Situation zu
kritisch oder bewerten sich die Schüler/-innen zu positiv? Die starken Unterschiede in der
Wahrnehmung sind ein wichtiges Indiz dafür, dass der Austausch zwischen den Lehrer/-innen
und Schüler/-innen an der Schule offenbar nicht optimal stattfindet und dadurch vielleicht
Missverständnisse entstehen. Zudem sind die Lehrkräfte im Vergleich zu den Schüler/-innen
mit der Durchführung und der Organisation des ELA-Unterrichts an der Schule insgesamt
wesentlich unzufriedener und betrachten diesen dadurch gegebenenfalls durch eine ‚negative
Brille‘ (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012).
Recht ungünstig wirkt sich in diesem Zusammenhang die Aufgabenverteilung der am
ELA-Unterricht beteiligten Lehrkräfte aus. Anstatt einer festen Gruppe von Lehrer/-innen, die
über einen längeren Zeitraum kontinuierlich mitarbeiten und vom Konzept und seinen Zielen
überzeugt sind, wirken an der Schule offenbar alle Lehrkräfte mehr oder weniger mit. So
übernehmen die Klassenlehrer/-innen automatisch die Aufsicht in den ELA-Stunden und die
Fachlehrer/-innen sind dafür zuständig, für ihr Fach Materialien zu erstellen bzw. käufliches
Material zu überarbeiten. Korrigiert werden die abgegebenen Aufgaben ebenfalls von den
Fachlehrer/-innen, die die Arbeitsblätter danach in ein bestimmtes Fach legen, aus dem die
Schüler/-innen sie sich im ELA-Unterricht wieder herausnehmen. Die Fachlehrer/-innen
müssen somit Aufgaben für Klassen ausarbeiten, in denen sie zum Teil selbst gar nicht
unterrichten. Zudem wissen sie nicht, ob das von ihnen erstellte Material überhaupt bearbeitet wird, ob die Aufgabenstellung verständlich und die Thematik für die Schüler/-innen
11
12
Auszug aus den Antworten der Lehrkräfte auf offene Fragen.
Auszüge aus den Antworten der Lehrkräfte auf offene Fragen.
7
von Interesse ist und an deren Wissens- und Erfahrungsstand anknüpft. Die
Aufsichtslehrkräfte haben wiederum das Problem, die Bearbeitung von Materialien zu
beaufsichtigen, die von Kolleg/-innen zusammengestellt wurde. Bei Fehlern oder Fragen
können sie daher nur unzureichend weiterhelfen und müssen an die entsprechenden
Fachlehrer/-innen verweisen. So entstehen unter Umständen mehr oder minder große
Zeitlücken, in denen die Schüler/-innen nicht an ihren aktuellen Aufgaben weiterarbeiten können, sondern zunächst die Möglichkeit der Rücksprache mit der entsprechenden Lehrkraft
abwarten müssen (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012).
5. Fazit
Schulentwicklung, deren Ziel die Verbesserung von Schule ist (vgl. Dalin 1999, 216), kann
nach Rolff et al. (1998) als Trias von personaler Entwicklung, Unterrichtsentwicklung und
Organisationsentwicklung bezeichnet werden (vgl. Rolff et al. 1998,14). Systematische
Schulentwicklung hat die gesamte Schule im Blick, richtet sich jedoch auf den Kern von
Schule, den Unterricht. In einer guten Schule macht das Lernen Freude, „sind Schüler wie
Lehrer an Leistung interessiert, der Unterricht findet in einer guten Atmosphäre statt“ (Rolff et
al. 1998, 14) und die Betroffenen übernehmen Verantwortung für ihre Schulkultur und die
darin realisierte Qualität von Schule (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012, 223).
Offene Unterrichtsformen erfüllen die Forderung nach einer grundlegenden
Neubestimmung schulischen Lernens (vgl. Jürgens 2009) und damit nach
Schülerorientierung und Individualisierung sowie der Ausbildung von Schlüsselkompetenzen
für eine modernisierten Arbeitswelt, wie kreatives und selbstständiges Arbeiten, Flexibilität,
Verantwortungsbewusstsein, Kritikfähigkeit, Teamfähigkeit, fächerübergreifendes und
strukturiertes eigenes Denken als Reaktion auf gewandelte gesellschaftliche Kontexte und
Zeitsignaturen (vgl. Bildungskommission NRW 1995, 21).
Viele Kriterien guten Unterrichts, wie u.a. von Meyer (2004) und Helmke (2009)
herausgearbeitet, finden sich in Offenen Unterrichtsformen wieder: Eine vielfältige und
Interesse weckende Auswahl an Materialien, abwechslungsreiche und lebensnahe Aufgaben
sowie die Akzentuierung der Nützlichkeit des Lernstoffes im Hinblick auf andere Fächer oder
den zukünftigen Beruf, sollen zu einer „Motivierung“ (vgl. Helmke 2009) der Schüler/-innen
führen. Die Materialien regen ferner zur „Aktivierung“ (vgl. ebd.) an, fördern eigenständiges
Lernen, ermuntern dazu, die eigene Meinung zu äußern und eigene Lösungswege zu
entwickeln. Dadurch, dass die Schüler/-innen im Offenen Unterricht Schritt für Schritt lernen,
ihre Arbeit selbst zu organisieren, sich eigenständig Aufgaben zu suchen und sie zu
bearbeiten, eine Wahl bezüglich der Sozialform zu treffen, die ihnen passend zum Inhalt
erscheint, eigene Fragestellungen und Lerninteressen zu formulieren, Entscheidungen
bezüglich des eigenen Zeitmanagement zu fällen sowie die Verantwortung für die eigene
Zeitplanung übernehmen (vgl. Lähnemann 2009), ist im Offenen Unterricht zudem ein „hoher
Anteil echter Lernzeit" (vgl. Meyer 2004) gegeben.
Aufgaben unterschiedlicher Art, mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad, die allein, zu
zweit oder im Team gelöst werden sowie die Vermittlung verschiedener Lerntechniken und
Methoden, sorgen für eine „Angebots- und Methodenvielfalt“ (vgl. Helmke 2009). Die
Einteilung in Aufgaben zur Übung, Vertiefung, Wiederholung und Weiterführung von aktuellen
Unterrichtsinhalten ermöglichen zudem die „Konsolidierung und Sicherung“ (vgl. ebd.) des
Gelernten. Dabei sollen die Aufgaben klar, strukturiert und verständlich formuliert sein,
anschauliche Beispiele enthalten und das Vorwissen der Schüler/-innen aktivieren (vgl.
Helmke 2009; Meyer 2004). Hilfreich ist hierbei die Darbietung der Materialien in Form eines
8
didaktisch aufbereiteten Materialienpools, also in Form einer vorbereiteten Umgebung, die
eine gute Ordnung, eine funktionale Einrichtung sowie brauchbares Lernwerkzeug aufweist
und von den Schüler/-innen für die Bearbeitung der Aufgaben genutzt werden kann (vgl.
Meyer 2004).
Moderner Unterricht ist nach Helmke (2009) ferner durch „vielfältige organisatorische und
didaktische Maßnahmen der Differenzierung und Individualisierung [gekennzeichnet, die] der
Heterogenität der Schüler-Eingangsvoraussetzungen gerecht werden sollen“ (Helmke 2009, S.
246). Studien zeigen jedoch, dass Differenzierung und Individualisierung im regulären
Schulalltag nach wie vor wenig verbreitet sind. Zwei Drittel der Schüler/-innen lernt nach wie
vor in einem Unterricht, der eine fiktive Homogenität voraussetzt. Finden Formen von
Differenzierung und Individualisierung statt, so handelt es sich vorwiegend um Maßnahmen
für leistungsschwächere13 und langsamer arbeitende Schüler/-innen sowie um
Zusatzaufgaben für leistungsstarke14 Schüler/-innen (vgl. Helmke 2009). Offene
Unterrichtsformen versuchen, den Königsweg zu gehen, indem die Prinzipien der
Individualisierung und Differenzierung15 mit Formen des sozialen Lernens verbunden werden
(vgl. Jürgens 2000, 107). Im Offenen Unterricht arbeiten die Schüler/-innen nach den
Maßgaben eines offen gelegten Plans selbstständig und eigenverantwortlich. Dies ermöglicht
einen variablen Umgang mit zeitlichen Ressourcen und fordert eine neue Organisation des
Lernens (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012, 36 ff).
Dies alles soll in einem lernförderlichen Klima geschehen, welches von
Verantwortungsübernahme, gegenseitigem Respekt, wechselseitiger Unterstützung,
Gerechtigkeit und Fürsorge geprägt ist. Dies schließt die Erarbeitung gemeinsamer Arbeitsund Verhaltensregeln sowie die Absprache von Ritualen und Freiräumen ein und garantiert
den Erfolg des Unterrichts (vgl. Meyer 2004; Helmke 2009).
Für die Umsetzung dieser Kriterien sind die Schüler/-innen im Offenen Unterricht in einem
hohen Maße mitverantwortlich.
Schulen unterliegen einem ständigen Wandel in Form von Anpassungsprozessen.
Beispielsweise weil es im schulischen Umfeld zu veränderten Lebensbedingungen
gekommen ist, was nicht ohne Auswirkungen auf die soziokulturelle Zusammensetzung der
Schülerschaft bleiben konnte (vgl. Rolff et al. 1998, 13). Schulentwicklung ist von daher ein
stetig sich ereignender Vorgang. Offener Unterricht muss ebenfalls als Prozess gesehen
werden, in den Schüler/-innen wie Lehrkräfte langsam hineinwachsen und der mit
zunehmender Erfahrung der Beteiligten weiter ausgebaut und optimiert wird. Parallel dazu
werden die Rahmenvorgaben (z.B. zeitlicher Rahmen, Verhältnis von Pflicht- und
Wahlaufgaben,
Selbstkontrollmöglichkeiten,
Arbeitsanweisungen)
sowie
die
Wahlmöglichkeiten der Schüler/-innen nach und nach ausgedehnt (vgl. Lähnemann 2009;
Traub 2000).
Materialien spielen dabei eine zentrale Rolle. Das alleinige Vorhandensein eines großen
Materialienpools reicht jedoch nicht aus. Das Lernen mit Hilfe von Materialien stellt vielmehr
bestimmte Herausforderungen an die Lehrkräfte und Schüler/-innen. So ist die Lehrkraft
dafür verantwortlich, qualitativ hochwertige Materialien zu erstellen bzw. gekaufte Materialien
13
Bezeichnung und Einteilung nach Helmke (2009)
Bezeichnung und Einteilung nach Helmke (2009)
15
Berücksichtigung individueller Lernstile, Abstimmung auf den Entwicklungsstand, Orientierung an kindlichen
Vorstellungen, Einbezug von Vorwissen und daraufhin Nutzung von unterschiedlichen Materialien und
Methoden (vgl. vier Lernmerkmale, die im Hinblick auf Heterogenität in einer Klasse berücksichtigt werden
müssen nach Helmke (2009).
14
9
didaktisch zu überarbeiten und an die Rahmenbedingungen der Klasse und die individuellen
Besonderheiten der Schülerschaft anzupassen. Des Weiteren ist eine Anleitung im Umgang
mit den Materialien durch die Lehrkraft sowie das schrittweise Einüben von Formen des
selbstständigen Lernens und der Selbstkontrolle nötig.
Wie insbesondere die Studie von Jürgens/Standop/Hericks (2012) zeigt, spielt die
Einstellung der Beteiligten zur Erprobung Offener Unterrichtsformen bzw. die Akzeptanz der
Durchführung an der Schule sowie eine sinnvolle Aufgabenverteilung im Kollegium eine
entscheidende Rolle. Auf Seite der Lehrer/-innen sind daher eine Veränderungsbereitschaft,
die Aufrechterhaltung der Motivation über eine anfängliche Wohlgestimmtheit hinaus, die
Überzeugung von der Sinnhaftigkeit sowie die Mitarbeit über den engen Bereich des eigenen
Fachunterrichts hinaus relevante Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Implementation
neuer Unterrichtsformen (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012, 232).
Die Schüler/-innen wiederum müssen die Chance zum selbstständigen Lernen und
Arbeiten anhand von Materialien nutzen und bereit sein, Verantwortung für ihren
Lernprozess zu übernehmen. Die Lehrkraft darf im Offenen Unterricht nicht als „lebendige
Informationsquelle und ständige Nachfrage-Institution“ (Lähnemann 2009, 202) gesehen
werden, an die sich die Schüler/-innen ständig wenden können. Vielmehr sind die Schüler/innen angehalten, bei Unsicherheiten und Fragen zunächst selbst zu überlegen, wie ihr
Problem zu lösen ist und dazu die angebotenen Materialien zu Rate zu ziehen. Darüber
hinaus können die Mitschüler/-innen um Hilfe gebeten werden. Erst im letzten Schritt sollte
die Lehrkraft hinzugezogen werden. Diese wiederum muss sich ihrer neuen Rolle bewusst
sein. Lehrkräfte sind es vielfach gewohnt, stark zu lenken und Einfluss auszuüben. Es kann
ihnen daher schwerfallen, sich zurückzunehmen und den Schüler/-innen mehr
Gestaltungsfreiraum zu gewähren. Die Lehrkraft muss bereit sein, „den Kindern
Eigenverantwortung zuzutrauen und selber die Strukturierungshoheit aus der Hand zu geben
(vgl. Lähnemann 2009).
Ein weiterer wichtiger Faktor für positiv verlaufende Schulentwicklungsprozesse ist eine
gelingende interne Kommunikation. Die regelmäßige Information der Beteiligten wie des
Gesamtkollegiums über Planungsschritte, Realisierungsformen, Erfolge und Misserfolge
sowie eine breite, fachwissensbasierte Diskussion stellen grundlegende Voraussetzungen
dar, um Akzeptanz und Motivation dauerhaft zu sichern (vgl. Jürgens/Standop/Hericks 2012,
232).
Offener Unterricht kann nicht von heute auf morgen an einer Schule eingeführt werden
und sofort hundertprozentig gelingen. Anfangs ist für die Erstellung geeigneter Materialien,
eine erhebliche Mehrarbeit nötig, derer man sich bewusst sein muss. Diese zahlt sich später
jedoch aus, da die Materialien, wenn sie sich bewährt haben, wiederholt eingesetzt werden
können. Strukturelle und inhaltliche Weiterentwicklungsprozesse im Kontext des Unterrichts
können daher nur dann erfolgreich bewältigt werden, wenn alle Beteiligten die gemeinsame
Verantwortung übernehmen und Schul- und Unterrichtsentwicklung als gemeinsam
getragenes Projekt von Schulleitung, Lehrer/-innen, Schüler/-innen und Eltern gesehen wird
(vgl. ebd.).
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Dipl.-Pädagogin Nicola Hericks
Koordinatorin für Modulevaluation im Projekt „InVECTra“ (Kompetenzentwicklung in Lehre und Studium) an der Universität Vechta
Zuvor: Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG „Schulpädagogik und
Allgemeine Didaktik“, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität
Bielefeld
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