5. Jahrgang | Heft 1 | 2013 Psychotherapie Aktuell Versorgungsstrukturgesetz und neue Bedarfsplanungsrichtlinie Tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie in der ambulanten Psychotherapie Wandel der Beziehung der Psychotherapeuten in Ausbildung zur Klinik Hingabe und Abgrenzung Fachbeiträge Mohammad Tabatabai Hingabe und Abgrenzung Verantwortung für sich selbst und Verbundenheit mit dem Partner „In einer kalten Nacht hatten zwei Igel ein Problem. Wenn sie einander zu nahe rückten, um sich zu wärmen, stachen sie sich gegenseitig mit ihren Stacheln. Rückten sie aber zu weit voneinander, froren sie. Es kam für sie darauf an, so nahe beieinander zu liegen, dass sie sich wärmten, aber weit genug, um sich nicht gegenseitig zu stechen.“ (Persische Geschichte) Wir leben in einer Gesellschaft, in der aufgrund der Akzeptanz nichtehelicher Beziehungen leicht Partnerschaften entstehen. Mit dem Begriff Liebe ist unter anderem ein gewisses Maß an Intimität und Nähe gemeint. Zunächst geht es um eine persönliche gemeinsame Erfahrung. Dabei spielen die sexuellen Attraktionen für die Entstehung der Paarbeziehung eine wichtige Rolle. Damit besteht aber auch die Gefahr, dass weitere wichtige Komponenten eines partnerschaftlichen Prozesses, nämlich Selbstverantwortung, Verantwortung und Verpflichtungen gegenüber dem Partner zunächst vernachlässigt werden bzw. in den Hintergrund geraten. Wenn zwei Personen eine feste und dauerhafte Beziehung eingehen, sind sie mit Verpflichtungen, Herausforderungen und Aufgaben konfrontiert, die für ihre Paarentwicklung notwendig sind. Zwei aufeinander treffende Partner sind sich zunächst „fremd“ und müssen sich neu definieren. Das dabei entstehende Beziehungsschema repräsentiert die jeweiligen Beziehungserfahrungen und -erwartungen der beiden Partner. Es kommt nicht selten vor, dass nur die Befriedigung eigener emotionaler Bedürfnisse und möglicherweise die Kompensation unbewusster Konflikte im Vordergrund einer Partnerschaft stehen. Sobald Auseinandersetzungen, Konfliktpotenziale und Meinungsverschiedenheiten auftreten, werden bestimmte partnerschaftliche Kompetenzen und Ressourcen, nämlich Selbstkritik, Empathie, Reflexionsfähigkeit, Kompromissbereitschaft, Tole- finden. Dabei handelt es sich um Fragen wie: Wer bin ich als Individuum? Welche Erwartungen habe ich an diese Beziehung? Welche Rolle nehme ich in dieser Beziehung ein? Welche Rollenverteilungen nehme ich in dieser Beziehung wahr? In wieweit bin ich bereit, Verantwortung zu übernehmen? Im Gegensatz zu einer kurzfristigen Partnerschaft, die sich auf die Gegenwart bezieht, wird die Ehe mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft gegründet. In diesem Zusammenhang sei auf folgende Feststellung einiger „Paarentwicklung bedeutet Herausforderung, Verpflichtung und Aufgabe.“ ranz und Kommunikation in Anspruch genommen. Aus psychodynamischer Perspektive ist bei diesen Konflikten interessant, die unbewussten Motive, Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen der beiden Partner zu hinterfragen und zu analysieren. Nach der Kennenlern- und Verliebtheitsphase findet eine tiefgreifende Interaktion zwischen den Partnern statt, wobei die Paare vor der Aufgabe stehen, die Zukunftsperspektive der Partnerschaft zu hinterfragen und eine gemeinsame Antwort darauf zu Familiensoziologen wie auch bei NaveHerz hingewiesen: Trotz der Akzeptanz nichtehelicher Beziehungen lässt sich beobachten, dass, wenn perspektivisch die Bildung einer neuen Kernfamilie angestrebt wird, dies ein Anlass für die Gründung einer ehelichen Partnerschaft ist. Da geht es nicht um das „Hier und Jetzt“, sondern um die „Zukunft“. Infolgedessen gewinnen Solidarität sowie Verpflichtungen innerhalb der Partnerschaft und gegenüber weiteren Mitgliedern der Familie an Bedeutung für die Entstehung der Partnerschaft. Partnersuche und das Führen einer partnerschaftlichen Beziehung stellen einen wichtigen Baustein im Leben eines Individuums dar. Der Schweizer Paartherapeut Jürg Willi ist der Auffassung, dass man zur Entfaltung des persönlichen Potenzials einen Partner braucht. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Komponenten für die Aufrechterhaltung eines Paarsystems von großer Bedeutung sind. Das Gelingen einer Paarbeziehung, in der die Auseinandersetzungen ein wichtiger Bestandteil der Partnerschaft sind und mitunter Ängste auslösen, ist davon abhängig, inwieweit beide Partner Entwicklungsbereitschaft und Offenheit zeigen, um Konflikte und Unstimmigkeiten zu verarbeiten, zu überwinden und an ihnen gemeinsam zu wachsen. Das Kernmerkmal einer stabilen und ausgewogenen Paarbeziehung besteht darin, einerseits auf eigene Bedürfnisse und Wünsche zu achten und sich eigene Grenzen bewusst zu machen, welches Abgrenzung vom Partner erfordert. Andererseits beinhaltet es die Bereitschaft, durch Liebe und Mitgefühl dem Partner entgegenzukommen und durch Hingabe auf seine Bedürfnisse und Wünsche einzugehen – auch wenn es Kraft und Opfer kostet. Auf dieser Basis wird beidseitig freier Raum für individuelle Bedürfnisse und Psychotherapie Aktuell 1/13 21 Fachbeiträge Hingabe und Abgrenzung Dr. Mohammad Tabatabai Diplom-Psychologe, geboren in Teheran/Iran. Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie (WIAP). Tätigkeitsschwerpunkte: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Positive Psychotherapie, Hypnose, interkulturelle Kommunikation sowie Paar- und Familientherapie. Wünsche zugelassen und klare Grenzen untereinander respektiert. Dabei bleibt die Notwendigkeit, gemeinsame Interessen, Aktivitäten und Wünsche zu definieren, die zur gleichen Zeit als ergänzender wichtiger Bestandteil der Beziehung bestehen. Hingabe ohne Wahrnehmung eigener Grenzen führt zur Überforderung. Dagegen benötigt Abgrenzung und Selbstbehauptung auch Hingabe. Eine Balance zwischen diesen beiden Polen ist „die Kunst des Liebens“, wie es Erich Fromm formuliert: „Die reife Liebe (ist) EinsSein unter der Bedingung, die eigene Integrität und Unabhängigkeit zu bewahren, und damit auch die eigene Individualität. Die Liebe des Menschen ist eine aktive Kraft, die die Mauern durchbricht, durch die der Mensch von Überlegenheit und Selbstbehauptung und andererseits starke Hingabe und mangelnde Abgrenzung praktiziert wird. Entscheidend ist es in diesem Zusammenhang, eine Balance zwischen Grundpolaritäten Verbundenheit versus Autonomie, Durchsetzung versus Anpassung und Geben versus Nehmen innerhalb der Paarbeziehung zu schaffen, welche im Sinne von „Nähe-DistanzRegulation“ verstanden werden kann. Es gibt eine Reihe von Merkmalen und Strategien, die für die Aufrechterhaltung und Zufriedenheit in der Partnerschaft eine zentrale Rolle spielen. Ein wichtiger Bestandteil ist Kommunikationsfähigkeit und Kommunikationsbereitschaft. Schneewind weist darauf hin, dass in einer Reihe von Studien, in „Gelungene Partnerschaft erfordert Entwicklungsbereitschaft.“ seinen Mitmenschen getrennt ist, und die ihn mit den anderen vereint. […]. In der Liebe ereignet sich das Paradox, dass zwei Wesen eins werden und doch zwei bleiben“. Mit dieser Aussage hebt Fromm das Grundprinzip hervor, dass eine stabile und ausgewogene Paarbeziehung Selbstverantwortung und Verantwortung für den anderen verlangt. Auch wenn es nicht immer konfliktfreit sein wird. Um eigene Bedürfnisse muss in der Beziehung gekämpft werden. Sonst besteht die Gefahr einer Überanpassung bzw. Rückzugsstrategie. Bei dieser Art der Überanpassung kann nicht von einer fruchtbaren Beziehung gesprochen werden, auch wenn sie lebenslang funktioniert und von außen als gelungen wahrgenommen wird. Bei solcher Paardynamik wäre es interessant zu beobachten, warum einerseits 22 Psychotherapie Aktuell 1/13 denen Paare befragt wurden, welche Strategien sie in krisenhaften Situationen für die Stabilisierung ihrer Beziehung angewandt haben, folgende Verhaltensweisen und Einstellungen genannt wurden: Positivität, offene Kommunikation, Zuneigung, gemeinsame Aktivitäten/Kontakt sowie Aufgabenteilung. In diesem Zusammenhang weist Gottmann darauf hin, dass vier Kommunikationsmuster – die von ihm als vier apokalyptische Reiter bezeichnet werden – wichtige Prädikatoren für die Auflösung einer Partnerschaft sind. Diese vier Muster sind Kritik, Defensivität, Verächtlichkeit und Rückzug. Um eine Balance zwischen Hingabe und Abgrenzung zu gewährleisten, ohne sich selbst zu verlieren bzw. der Tendenz einer egoistischen und selbst- bezogenen Abgrenzung vorzubeugen, besteht in der Partnerschaft die Aufgabe, unterschiedliche Denkweisen, Werte, Lebensweisen Alltagsroutinen zu diskutieren bzw. zu definieren. Diese Auseinandersetzungen hören nicht auf und begleiten die Paare lebenslang. Es wird keine Partnerschaft konfliktfrei verlaufen. Nelson-Jones hat eine Reihe von Merkmalen aufgelistet, die Stabilität und Kompromissbildung in einer Partnerschaft kennzeichnen. Dazu gehören: – Verantwortung zeigen – Achtung zeigen – innere Verpflichtung zeigen – fürsorglich sein – selbstöffnungsbereit sein – sich sicher fühlen beim Geben und Empfangen von Feedback – Verstehen zu erkennen geben – Ärger konstruktiv gebrauchen – Konflikte gemeinsam regeln – Zärtlichkeit und Sexualität – gemeinsame Aktivitäten – Zeit zusammen verbringen. Auf der Basis positiver gemeinsamer Erfahrungen und gegenseitiger Wertschätzung kann die Abgrenzung im Interesse der eigenen Bedürfnisse vom Partner toleriert werden, wobei manchmal dafür gekämpft werden muss. Entscheidend ist die Wiederholung der Erfahrung, dass jeder der Partner die Bereitschaft zeigt, sich auf die Bedürfnisse und Wünsche des anderen einzulassen und sie mit Respekt behandelt. ■ Literaturhinweise Nave-Herz, R., 2006 (2. Auflage): Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde. Weinheim: Juventa Verlag Schneewind, K.A., 2000: Entwicklung von Paarbeziehungen. In: Partnerschaft und Paartherapie. (Hrsg.) Kaiser. Göttingen: Hogrefe Willi, J., 2006: Was hält Paare zusammen? Reinbek: Rowohlt Verlag Fromm, E., 1979: Die Kunst des Liebens. Frankfurt a. M.: Ullstein Verlag Gottmann, J.M., 1994: What predicts divorce? The relationship between marital processes and marital outcomes. Hillsdale, N.J.: Erlbaum Nelson-Jones, R., 1990: Human relationship skills. London: Cassell
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